Vergessenes Schicksal von CharleyQueens ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 - SKULD ---------------------------- Sie stand an der Reling und blickte auf das große, weite Meer, während der Wind ihr blondes Haar zerzauste. Der salzige Geruch des Meeres stieg ihr in die Nase und sie atmete ihn genussvoll ein. Endlich würde sie ihre Heimat wiedersehen. „Madeline!“ Seufzend schlug sie das Buch wieder zu. Madeline. Was für ein schöner Name. Die Heldin in diesem Buch schien ihr ähnlich zu sein, das spürte sie einfach. Und der Name Madeline klang wirklich sehr schön. Ein Name, der zu ihr passte. Sie legte das Buch auf den Nachttisch neben dem Bett und schwang sich hoch, doch augenblicklich wurde ihr schwindlig und sie setzte sich wieder auf die Bettkante, massierte sich mit den Fingern ihre Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie kratzte sich am Hinterkopf und wieder fiel ihr Blick auf das Buch. Auf dem Buchrücken stand nur ein einziger Satz. Wer bist du, wenn du dich nicht erinnern kannst? Sich erinnern… Madeline – so würde sie sich von nun an nennen – fragte sich, warum sie das nicht konnte. Sie war auf einmal wachgeworden, hatte das Buch in ihren Armen umklammert und einem Instinkt folgend den ersten Satz auf der Seite gelesen. Und der Name Madeline hatte sie so angesprochen, dass sie beschlossen hatte, sich von nun an so zu nennen. Aber hätte sie nicht selbst einen eigenen Namen haben müssen? Als sie aufgewacht war, hatte sie sich gefühlt, als würde ihr etwas fehlen und sich einen Namen zu geben, schien diese Leere in ihrem Kopf irgendwie auszufüllen. Irgendwie, doch nicht komplett. Sie fühlte sich immer noch … leer. Wieder stieg sie aus dem Bett, dieses Mal langsamer, und stützte sich mit einer Hand an der aprikosenfarbigen Wand ab. Nun sah sie sich zum ersten Mal richtig in dem Zimmer um. War es ihr Zimmer? Es war in einem freundlichen aprikosenfarbigen Ton gestrichen, eingeräumt mit einem Schreibtisch auf dem einige Zettel und ein Federmäppchen lagen, dazu ein einfacher Kleiderschrank und ein Regal vollgestellt mit Büchern. Neugierig ging sie darauf zu und las die Titel auf den Buchrücken. Pippi Langstrumpf … Die Verwandlung … Wallanders erster Fall und andere Erzählungen … Andersens Märchen waren nur wenige der Titel, die ihr ins Auge sprangen und sie fragte sich, ob sie die alle wirklich schon gelesen hatte. In ihrem Kopf hatte sie keine Erinnerungen an die Geschichten. Sie strich mit den Fingern über die Buchrücken. Ja, sie hatte jedes einzelne von ihnen gelesen, da war sie sich sicher. Doch konnte sie sich nicht erklären, weshalb sie sich dann nicht mehr daran erinnern konnte. Irgendwann würde sie die Bücher wieder lesen, beschloss sie und umklammerte das Buch in ihren Händen. Jedes einzelne, schwor sie sich. Nachdem sie noch einige Minuten lang auf das Regal geblickt hatte, wandte sie sich ab und trat nun zu dem großen Schrankspiegel. Sie war neugierig, wie sie überhaupt aussah. Ein normales Mädchen mit leicht gewellten, blonden Haaren und etwas runderem Körper. Zwar nicht dick, aber auch nicht gerade dünn. Ihre Haut war blass und die Nase fand Madeline etwas zu groß. Trotzdem, alles in allem konnte sie von sich selbst sagen, dass sie hübsch aussah. Sie warf einen Blick auf das Cover des Buches, dass ein junges Mädchen – wahrscheinlich der Hauptcharakter Madeline – gekleidet in einen roten Mantel und einem großen Sonnenhut, während ihr gelber Schal im Wind flatterte, an der Reling eines Schiffes stand. Auf dem blauen Himmel stand in großen einfachen Buchstaben MADELINE, FINDE DEINEN WEG! Wie ähnlich sie doch dieser Buchfigur war. Auch sie musste ihren Weg finden. Eine Erklärung dafür, wer sie war. Sie öffnete die Schranktür und zog sich ein rotes, langärmliges Kleid an, dazu eine graue Strumpfhose und band sich schließlich ein gelbes Tuch um den Hals. Jetzt sah sie wirklich aus wie diese Madeline in dem Buch. Naja, fast jedenfalls. Entschlossen ging sie auf die Tür zu. In diesem Raum konnte sie keine Antworten darauf finden, wer sie war. Vorsichtig öffnete sie die Tür und übertrat tief ausatmend die Grenze, die sie von der Außenwelt getrennt hatte. Der Flur war nur spärlich beleuchtet, trotzdem konnte Madeline die Fotos erkennen, die an der Wand hingen. Sie zeigten eine Frau im mittleren Alter, die die gleiche Nase wie Madeline und das gleiche blonde Haar hatte. Sie hielt ein schlafendes Baby in den Händen und Madeline fragte sich, ob sie dieses Baby war. Doch ihre Hoffnung wurde schnell zerstört, als sie die weiteren Fotos betrachtete, auf denen das Baby zu einem zehnjährigen Mädchen mit hellbraunen, langen Haaren heranwuchs. Die Bilder zeigten ihre Einschulung, den Besuch im Schwimmbad, der Urlaub in den Bergen. Eine glückliche Mutter mit ihrer glücklichen Tochter. Doch wenn Madeline hier lebte, warum gab es dann kein Foto von ihr? Auch wenn es warm war, so begann sie trotzdem zu frösteln. Hier schien es nichts zu geben, dass ihr dabei helfen würde, sich wieder zu erinnern. Nichts gab ihr einen Hinweis darauf, wer sie überhaupt war. Alles was sie hatte, war ein Name, von dem sie nicht einmal wusste ob es ihr richtiger Name war, und die Vermutung, dass sie gerne las. Doch mehr wusste sie nicht. Und nichts davon konnte ihr eine Antwort geben. Nichts davon gab ihr eine Identität. Seufzend drehte sie sich von den Bildern weg, als jemand an ihrem Rockzipfel zupfte. „Wer bist du denn?“ Überrascht blickte Madeline an sich runter. Das Mädchen von den Fotos stand vor und sah mit offenem Mund und Zahnlücke neugierig zu ihr auf. Die zweite Tür neben dem Zimmer, aus dem Madeline gekommen war, stand nun etwas offen. Von dort musste das kleine Mädchen wohl kommen. Ob sie dahinter eine Antwort finden würde? Zögernd trat sie einen Schritt auf die Tür zu, als sich diese wieder öffnete. „Anika?“ Eine Frau trat auf den Flur und Madeline erkannte sie als die Frau von den Fotos. Die Mutter der Kleinen, die nun besorgt nach ihrer Tochter rief. „Mama, wer ist das?“ Das Mädchen lief auf seine Mutter zu und versteckte sich hinter ihren Beinen, ließ es sich aber nicht nehmen, immer wieder neugierig mit dem Kopf hervorzugucken und sie interessiert zu beobachten. Die Blicke der beiden Frauen trafen sich nun. Blaue Augen trafen auf blaue Augen, die abschätzend das blonde Haar und die große Nase der anderen registrierten. Mutter, schoss es Madeline durch den Kopf. Diese Ähnlichkeit konnte kein Zufall sein. Bitte, sag du mir, wer ich bin. Doch die Augen der anderen Frau wurden nun schmaler und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Trotz des blauen Nachthemdes, das sie trug, schien sie nun gefährlich zu wirken. Wie ein Raubtier, das sein Junges schützen wollte. „Wer bist du?“, fragte die Frau und schob ihre Tochter mit einer Hand zurück ins Zimmer. „Wie bist du hierher gekommen? Antworte mir!“ Madeline schluckte und umklammerte das Buch enger. Nein, so redete eine Mutter nicht mit ihrer Tochter. Die warme und freundliche Stimme, mit der sie zu der kleinen Anika gesprochen hatte, war nun weg, stattdessen war sie kühl und ausdruckslos. „Ich – ich – ich weiß nicht“, stotterte Madeline nun nervös und blinzelte hastig ein paar Tränen weg. Sie wollte nicht weinen. „Ich habe keine Ahnung, wie du hierein gekommen bist und ich will es gerade auch nicht wissen. Trotzdem solltest du jetzt von hier verschwinden“, sprach die Frau mit ernstem Ton in der Stimme und sah Madeline kühl an. „Raus. Hier.“ Madeline ging langsam rückwärts. Warum?, schoss es ihr durch den Kopf. Warum? „Bitte, ich ...“, setzte sie an, doch dann verstummte sie sofort wieder. Sie hatte doch selbst keine Antwort auf die Frage, wer sie war und wie sie überhaupt hierhergekommen war. Alles, was sie wusste, war dass sie in dem Zimmer aufgewacht war. Das Zimmer! Ja, dort würde es Antworten geben. Wenn die Frau das Zimmer sah, die Sachen, die ihrer Tochter zu groß und ihr selbst zu groß waren und das Bett, indem Madeline gelegen hatte, dann würde sie sich bestimmt irgendwie erinnern. Oder etwas anderes. Es war einen Versuch wert. „Bitte, geh in das Zimmer“, bat sie flehend und deutete mit der Hand zur Wand hin. „Bitte!“ „In welches Zimmer?“, fragte die Frau jedoch verwundert und schüttelte leicht den Kopf, so als fragte sie sich, ob Madeline verrückt war. Nun, vielleicht war sie das ja auch, dachte sie amüsiert. „Da ist nur eins.“ Irritiert blickte Madeline an die Wand und keuchte entsetzt auf. Die braune Tür, mit eingeschnitzter Holzmaserung, die vor wenigen Sekunden noch da gewesen war, war mit einem Mal verschwunden. Sie stolperte nach vorne, hämmerte gegen die weiße Wand, strich über diese und versuchte irgendwie einen Hinweis darauf zu finden, dass vor wenigen Augenblicken noch eine Tür dort gewesen war. „Das darf nicht wahr sein“, flüsterte sie immer wieder entsetzt, bis die Fremde ihr ihre Hand auf die Schulter legte und sie sanft, aber bestimmt von der Wand wegzog. „Du solltest jetzt wirklich gehen“, verlangte sie von ihr. „Geh, bevor ich die Polizei rufen werde. Und wenn ich dich das nächste Mal hier erwischen sollte, dann sehe ich mich gezwungen, die Polizei zu rufen, das ist dir klar, oder?“ Madeline nickte abwesend und ging den Flur entlang. Sie spürte den neugierigen Blick der kleinen Anika und den kühlen Blick der Mutter. In ihren Händen umklammerte sie das Buch und kurz bevor sie die Haustür erreichte, blieb sie stehen. „Darf ich es behalten?“, fragte sie und drehte sich um, hielt den Roman hoch. „Bitte, ich – ich möchte es gerne behalten.“ Anikas Mutter blickte auf das Buch in Madelines Händen und ihr Blick änderte sich, beinahe so, als würde sie sich an etwas erinnern. Sie wirkte irritiert und für einen Moment sah sie Madeline beinahe liebevoll an. Doch dann fasste sie sich wieder. „Ich habe das Buch nie gesehen“, erklärte sie, doch Zweifel schwangen in ihrer Stimme. „Also behalte es ruhig.“ „D-danke“, stotterte Madeline und ging dann aus dem Haus, das Buch fest an ihre Brust gepresst. Sie verließ das Haus ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging den kleinen Vorgarten entlang, der durch einen weißen Lattenzaun von den anderen Gärten getrennt war. Ihre Füße trugen sie fort, die Straße entlang, die noch halb am Schlafen war. Das Licht der Sonne war noch nicht hell und die ersten Frühlingsblumen reckten ihre Köpfe gen Himmel. Doch Madeline beachtete die idyllische Szenerie gar nicht. Sie setzte einen Fuß vor den anderen ohne darauf zu achten, an welchen Ort ihre Füße sie trugen. Sie begegnete keinem Menschen auf ihrem Weg und irgendwie war Madeline darüber auch ganz froh. Sie wollte mit niemandem reden, denn niemand konnte ihr eine Antwort geben. Das hatte sie nun erkannt. Sie war alleine. „Oh, entschuldige!“ Jemand lief beinahe gegen sie und überrascht blickte sie in das Antlitz einer jungen Frau, etwa in ihrem Alter. Ihr dunkles Haar hing wirr und ungekämmt von ihrem Kopf, der Pullover den sie trug, war ihr viel zu groß und rutschte immer wieder von ihren Schultern. Die graue Hose hatte Löcher und schien ihr zudem etwas zu eng zu sitzen. Doch noch bevor Madeline etwas sagen konnte, war die Fremde an ihr vorbeigehuscht und rannte die Straße hinunter. Verwundert blickte sie ihr nach. Sie war barfuß gewesen, fiel ihr auf und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob sie ihr hinterherlaufen sollte. Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sie wusste ja nicht einmal, in welche Richtung die Andere gelaufen war und überhaupt, wie konnte Madeline ihr helfen, wenn sie sich nicht einmal selbst helfen konnte? Auf einer Bank nahm sie Platz – sie war nass vom Regen, doch das störte sie nicht – und schlug das Buch auf. Der Roman hatte ihr einen Namen gegeben, vielleicht konnte er ihr ja noch mehr geben. Als die Dämmerung eingebrochen war, klappte Madeline seufzend das Buch zu. Madeline, die Heldin der Geschichte, hatte durch einen Unfall ihr Gedächtnis verloren. Alles, was sie hatte, war ein Wickeltuch, in das ihr Name gestickt war und eine Adresse, die auf einem Taschentuch gestanden hatte. Zusammen mit ihrer Pflegerin, in die sie sich im Laufe der Geschichte zu verlieben begann, machte sie sich auf den Weg zu der Adresse um mehr über ihre Herkunft herauszufinden. Am Ende fand sie ihre Eltern wieder und versöhnte sich auch wieder mit ihren beiden besten Freundinnen, die Schuld an ihrer Amnesie hatten, da beide nicht mit Madelines Sexualität klargekommen waren. Der Roman war ziemlich schnulzig, aber aus irgendeinem Grund mochte sie die Geschichte. Diese Madeline hatte ein Happy End bekommen. Betrübt blickte sie in den klaren Himmel und fragte sich, ob das Schicksal auch für sie ein Happy End vorgesehen hatte. Seufzend betrachtete sie ihre Hände und stellte fest, dass sie an ihrem linken Daumen eine Narbe hatte. Verwundert blickte sie auf ihren Finger und fragte sich, wie sie sich diese Verletzung zugezogen hatte. Erschrocken stöhnte sie auf, als dunkle Blitze in ihrem Kopf aufleuchteten und sie sich fühlte, als würde jemand einen Presslufthammer gegen ihre Schädeldecke drücken. Sie wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Verzweifelt presste sie das Buch an ihre Brust und wippte vor Schmerzen auf und ab. Lass es aufhören, flehte sie stumm und drückte das Buch – ihr einziger Halt – immer fester an ihren Körper. Sie wollte diese Schmerzen nicht mehr spüren. Sie wollte diese Leere nicht mehr spüren. Sie wollte gar nichts mehr spüren. So plötzlich wie der Schmerz gekommen war, so plötzlich verschwand er auch wieder. Schwer atmend lag Madeline auf dem Boden und versuchte sich wieder aufzurappeln. Nur mit Mühe konnte sie sich wieder auf die Bank hochziehen. Eine junge Frau, die vorbeikam und ihr ihre Hilfe anbieten wollte, schickte sie mit barscher Stimme wieder weg. Sie wollte keine Hilfe. Endlich nach einer halben Ewigkeit hatte sie es wieder nach oben geschafft. Und mit einem Mal wusste sie wieder, an welchem Ort sie eine Antwort kriegen würde. Zitternd und doch entschlossen stolperte sie vorwärts, umklammerte den Gegenstand in ihrer Hand, der sie stützte, wenn sie zu Boden stürzte und ihr wieder aufhalf. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie endlich an. Die Nacht war angebrochen und die Straße lag so ruhig vor ihr wie heute Morgen. Das Ganze kam ihr so unwirklich vor. Kaum zu glauben, dass sie vor wenigen Stunden noch hier gewesen war. Zwei junge Frauen standen vor ihr. Sie erkannte die eine, als diejenige, die in sie gelaufen war und die andere, war die, die ihr vorhin aufhelfen wollte. Etwas an ihnen schien ihr vertraut und sie umklammerte die Waffe in ihren Händen noch fester. Das Schwert, das eigentlich ihr Buch war. Die Klinge würde ihr im Kampf beistehen, sowie schon immer. Ihr rotes Kleid flatterte im Wind, während sie langsam auf die beiden anderen zuging. Sie würde sich zurückholen, was man ihr genommen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)