Creepypasta Extra 3: Last Judgement von Sky- (Die Thule-Verschwörung) ================================================================================ Kapitel 1: Anthonys Misstrauen ------------------------------ Die Nacht im Hotel war wesentlich angenehmer gewesen als im Krankenhaus und obwohl Anthony für gewöhnlich die Nacht lang wach blieb und von morgens bis mittags schlief, war er durch die Erlebnisse in Somnia so erschöpft gewesen, dass er trotz der vielen Sorgen und Probleme ziemlich schnell einschlief. Gegen zehn Uhr wurde er jedoch bereits wieder aus dem Schlaf gerissen, da Evan und Viola spielten und auf den Betten turnten. Eigentlich hörte er nur Viola, denn Evan war seit einer schweren Krankheit stumm. Er hörte schließlich Vincent, der die beiden ermahnte, etwas ruhiger zu sein, da andere Leute vielleicht noch schlafen wollten. Es nützte aber nichts, an Schlaf war einfach nicht mehr zu denken. Müde schlurfte Anthony ins Bad und legte im Nachhinein seine Schutzkleidung an, die kein UV-Licht durchließ und ihn somit vor dem Licht schützte, welches ihm Schmerzen und Ausschläge bereitete. Dank Vincent und Viola hatte er seine panische Angst vor Licht bereits sehr gut im Griff und mit der Schutzkleidung konnte er auch tagsüber das Haus verlassen, solange er eine Sonnenbrille trug. Auf dem Gang stieß er mit Evan zusammen, der dabei nach hinten fiel und unsanft auf dem Boden landete. „Hey, hast du dir wehgetan?“ Der 15-jährige schüttelte den Kopf und entschuldigte sich mittels Gebärdensprache bei Anthony, dass er ihn geweckt hatte. Dieser lächelte und half ihm hoch. „Schon gut. Aber pass beim nächsten Mal etwas besser auf.“ Evan versprach es und ging zurück zu Viola, die ungeduldig auf ihn wartete. Schließlich tauchte Vincent neben ihm auf, der nun ebenfalls aus dem Zimmer kam und den beiden Kindern hinterher sah. Auch er sah etwas übermüdet aus und schien dringend einen Kaffe zu brauchen. „Guten Morgen Vincent. Sag mal, wo ist Sally?“ „Die ist schon recht früh aufgestanden und telefoniert mit ihrer Familie. Sie kommt gleich nach…“ Sie gingen zusammen mit Evan und Viola runter zum Speisesaal. Sowohl Anthony als auch Vincent brauchten jetzt eine Stärkung nach den Strapazen der letzten Tage und vor allem einen richtig starken Kaffee, um wach zu werden. Harvey saß bereits an einem Tisch und las die Zeitung, von Christine war keine Spur zu sehen. Wahrscheinlich würde sie irgendwann auftauchen, wenn es ihr gerade passte. Evan und Viola setzten sich zusammen und es war dem Lichtallergiker ein Rätsel, wie sie nach den traumatischen Ereignissen in Somnia so unbeschwert lachen konnten. Naja, die beiden waren glücklich zusammen und das war ein gutes Zeichen, dass sie das alles ziemlich gut verarbeitet hatten. Da Viola Evans Gebärdensprache nicht verstehen konnte, setzte sich Vincent zu ihnen, Anthony hingegen gesellte sich zu Harvey, der ganz alleine saß. Zumindest machte es so den Anschein für andere, denn da war jemand bei ihm, auch wenn ihn sonst niemand außer Harvey und seinen Mitbewohner Johnny sehen konnte: Chris Dullahan, Harveys verstorbener Freund, dessen Hirn man ihm transplantiert hatte. Seitdem litt Harvey an einer Bewusstseinsanomalie und besaß ein primäres und sekundäres Bewusstsein und Unterbewusstsein, nämlich sein eigenes und das von Chris. Deshalb konnten sie miteinander kommunizieren und sich gegenseitig sehen. „Guten Morgen“, grüßte Anthony und nickte Harvey zu. Dieser sah von seiner Zeitung auf und lächelte, aber seine Augen sahen trotzdem unglücklich aus. „Guten Morgen Anthony. Hast du wenigstens ein bisschen Schlaf gefunden?“ „Eigentlich schon, aber wenn man mit lebhaften Kindern zusammenlebt, ist die Zeit begrenzt. Und wie geht es dir?“ „Ich hab kaum geschlafen, weil ich mir wegen Johnny und der Sache, die wir gestern besprochen hatten, noch Sorgen mache. Es ist zwar schon oft vorgekommen, dass Johnny einfach abhaut, ohne etwas zu sagen, aber er meldet sich dann auch sehr schnell wieder bei mir und hat dann wenigstens eine vernünftige Erklärung. Aber sein Handy ist ausgeschaltet und ich hab auch sonst keine Möglichkeiten, ihn zu erreichen. Sag mal, wie geht es eigentlich Sally? Sie war ja ziemlich niedergeschlagen, als sie erfahren hat, dass sie die vierte Schlüsselträgerin ist.“ Anthony erklärte, dass es ihr gut ging und sie noch mit ihrer Familie in Frankreich telefonierte. Immerhin sorgte sich diese um sie und Sally musste ihnen noch sagen, dass sie noch dringend gebraucht wurde und die Ausführung des Genozides verhindern musste. Harvey war erleichtert, das zu hören. „Mir hat die Kleine echt Leid getan, dass ich ihr das sagen musste. Sie ist eigentlich echt süß. Chris jedenfalls hat sie gern.“ „Hast du denn keine Angst vor ihr?“ „Wer seine Angst vor dem Tod überwunden hat, der verliert damit auch seine instinktive Angst vor den Nekromanten. Deshalb haben die meisten von euch keine Angst vor Sally. Außerdem versuche ich, die Menschen allein nach ihrem Charakter zu nehmen und nicht nach dem, wer oder was sie sind. Deshalb ist es mir auch herzlich egal, wie verkorkst die Verwandtschaft ist, oder was man für Fähigkeiten hat. Solange man sie verantwortungsbewusst einsetzt…“ Harvey legte die Zeitung beiseite und schüttete sich noch etwas Milch in den Kaffee. Offenbar war er kein großer Freund von Frühstück, denn er rührte nichts an. Oder ihm war noch schlecht von den Dingen, die er gestern offenbart hatte und die ihm dabei selbst auf den Magen geschlagen waren. Da Anthony diesen seltsamen Menschen noch nicht wirklich einzuordnen wusste und er sein Unterbewusstsein auch nicht ausspionieren konnte, hatte er trotz seiner Müdigkeit die Gelegenheit genutzt, um ihn ein wenig näher kennen zu lernen und mehr über ihn zu erfahren. Immerhin hatten er und Johnny ihm geholfen, die Standuhr zu finden, in welche der Dream Weaver Belphegor eingesperrt war. Und außerdem würden sie noch einige Zeit mit Harvey zu tun haben, da war es nur ratsam, so viel wie möglich über ihn zu erfahren. Zuerst befürchtete Anthony, dass Harvey nicht gerade der Redseligste war, aber er irrte sich. Nachdem Harvey seinen Kaffee zu Ende getrunken hatte, erzählte er ohne Umschweife von seiner Zeit an der Universität und was er damals alles angestellt hatte. Dabei kehrte wieder ein wenig Leben in ihn zurück. „Als ich noch ein kleiner Junge war, hab ich sämtliche Streber verprügelt und nur Ärger gemacht. Im Grunde war ich fast genauso problematisch wie Johnny und habe es sogar so weit getrieben, dass mich meine Eltern zur Adoption freigeben wollten.“ „Und was ist dann passiert?“ „Chris wechselte zu meiner Schule. Zuerst wollte ich ihn genauso fertig machen wie die anderen Streber, aber als ich heimlich in die Aula ging, um den Kunstunterricht zu schwänzen, stand plötzlich Chris auf der Bühne und sagte völlig fehlerfrei Hamlets Rede zu seinem berühmten Zitat „Sein oder nicht sein“ auf. Er spielte das alles so überzeugend und gut, dass ich völlig ergriffen war und von dem Augenblick an wusste ich, dass die Schauspielerei mein einzig wahrer Beruf sein würde. Aber meine Eltern hatten andere Pläne mit mir. Nachdem sie erfahren hatten, dass ich hochintelligent war, wollten sie aus mir einen Arzt, einen Anwalt oder einen Psychologen machen. Sie ließen mich Dramaturgie nur unter der Bedingung studieren, wenn ich auch einen dieser drei Berufe einschlage. Da ich Anwälte nicht ausstehen kann und Ärzten nicht traue, hab ich eben Psychologie studiert. Die Kombination mit der Schauspielerei ist sehr effektiv. Schauspieler gaukeln anderen vor jemand zu sein, der sie nicht wirklich sind und Psychologen demaskieren systematisch ihre Zielpersonen und locken sie aus der Reserve. Das war mir oft zum Vorteil im Gefängnis, ohne gleich vergewaltigt oder totgeprügelt zu werden.“ „Du warst im Gefängnis?“ „Sechs Monate, bin aber wegen guter Führung nach der Hälfte der Zeit freigekommen. Die Polizisten, die den Mord an Chris und den versuchten Mord an mir verschleiern wollten, haben mich als Schuldigen dargestellt und ich wurde wegen Widerstandes gegen die Polizei, falscher Verdächtigung und Verleumdung verurteilt.“ „Warst du nicht wütend? Ich an deiner Stelle hätte es den Kerlen heimgezahlt.“ Harvey schüttete sich und Anthony Kaffee nach und gab Milch und ein Stück Würfelzucker hinein. „Natürlich war ich wütend, ich hab sie regelrecht gehasst. Aber was hätte mir persönliche Rache gebracht? Befriedigung? Gerechtigkeit? Rache kann nichts an der Vergangenheit ändern. Shakespeare sagte mal Bedaure nicht, was nicht zu ändern ist, sondern ändere, was zu bedauern ist. Ich will mich auf die Zukunft konzentrieren und verhindern, dass solche und auch ähnliche Tragödien sich wiederholen. Und ich will andere für meine Ideen gewinnen, damit die Bevölkerung gegen ihre kriminellen Beamten und Juristen ankämpft und eine Veränderung erzwingt. Und ich…“ Harvey unterbrach und sah zur Seite, als hätte er plötzlich etwas Verdächtiges gesehen oder gehört. Offenbar war es Chris, der etwas sagte. Und tatsächlich sagte Harvey „Ja du hast Recht, das könnte einige Schwierigkeiten geben…“ Dann wandte er sich wieder Anthony zu und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich bin manchmal ein wenig zu redselig. Tut mir Leid.“ Wieder wurde Anthonys Misstrauen geschürt, als Harvey so plötzlich das Gespräch beendete und offensichtlich Chris der Grund dafür war. Was hatte dieser bloß gesagt, dass Harvey mitten im Satz einfach zu reden aufhörte? Irgendetwas stimmte mit diesem Typen nicht und Anthony musste irgendwie herausfinden, was es war. Seine Fähigkeiten konnte er jedenfalls nicht so einfach bei Harvey einsetzen, weil er aufgrund der Hirntransplantationsgeschichte eine Bewusstseinsanomalie hatte und somit vor jeglichen Zugriff durch die Konstrukteure geschützt war. Und ihn gegen seinen Willen unter Hypnose zu manipulieren, verstieß gegen seine Prinzipien und Regeln. Nein, er musste sich etwas anderes einfallen lassen, um hinter Harveys Geheimnis zu kommen. Aber eines wollte er von ihm persönlich wissen: „Kann ich mich darauf verlassen, dass du uns keine Probleme machen wirst?“ Zuerst war der Schauspieler ein klein wenig verwundert über diese Frage, verstand dann aber und erklärte „Ich will euch helfen, das ist die volle Wahrheit. Zuerst wollte ich diese Thule-Verschwörung öffentlich machen und der Welt zeigen, dass sogar heute noch Experimente an Menschen durchgeführt werden. Aber als ich gesehen habe, wie sehr du dich um deine Freunde sorgst und Angst hast, sie könnten wegen so etwas in Gefahr geraten, wollte ich lieber schweigen.“ „Wo… woher weißt du das?“ „Ich hab mich während meines Studiums sehr intensiv mit der Mikroexpression beschäftigt. Durch kleinste Gesichtsregungen und Augenbewegungen kann ich erkennen, was du fühlst oder denkst. Jetzt im Moment fühlst du dich verunsichert und siehst mich als eine potentielle Bedrohung. Du misstraust mir und versuchst, mich zu durchschauen und meine wahren Ziele herauszufinden.“ Voll ins Schwarze getroffen, dachte Anthony und war sprachlos. Aus so kleinen Gesichtsbewegungen konnte Harvey ihn vollständig lesen und durchschauen, ohne dass sein Gegenüber etwas merkte? Wie viel hatte Anthony bereits unbewusst von sich preisgegeben und wie viel wusste Harvey bereits von ihm? Schließlich lächelte dieser freundlich und sagte „Eigentlich wende ich diese Fähigkeiten nicht bei Freunden und Mitstreitern an, aber mache ich es aus Gewohnheit und kann es nur schlecht abstellen. Aber wenn du willst, kann ich dir das gerne beibringen und dir alles über Mikroexpression beibringen. So brauchst du nicht unbedingt deine Fähigkeiten als Konstrukteur einsetzen und damit riskieren, dass deine eigene Psyche Schaden nimmt.“ „Du weißt ja ziemlich gut über uns Bescheid.“ „Johnny erledigt seine Arbeit sehr gründlich und außerdem ist es immer gut, bestens über seine Kameraden und Gegner informiert zu sein. Wir sind eben beide misstrauische Menschen, du und ich.“ Schließlich tauchte Sally auf und sah genauso erschöpft und müde aus wie die anderen, aber sie wirkte wenigstens nicht mehr so niedergeschlagen wie gestern. Das Telefonat mit ihrer Familie hatte ihr wohl gut getan und offenbar hatte diese das kleine Mädchen wieder sehr gut aufmuntern können. Harvey jedenfalls war froh darüber, dass es ihr gut ging und als Sally gerade zu Vincent, Viola und Evan gehen wollte, hielt er sie auf und erkundigte sich nach ihrem Befinden. „Es geht mir gut, keine Sorge.“ Kaum hatte Viola Sally gesehen, sprang sie von ihrem Platz auf und lief zu ihr hin, woraufhin sie die Nekromantin stürmisch umarmte. Viola und Sally hatten ein schon fast schwesterliches Verhältnis zueinander, immerhin hatte Sally ihr im Kampf gegen einen monströsen Traumfresser das Leben gerettet und ihr geholfen, ihre Ängste zu bekämpfen. Auch Evan und Vincent hatten sie ins Herz geschlossen, während Anthony hingegen etwas distanziert ihr gegenüber war. Nicht, dass er sie hasste oder schlecht von ihr dachte. Ihm war einfach nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie als Nekromantin und letzte Schlüsselträgerin fähig war, die Apokalypse über die Welt zu bringen. Sally wusste von seinem Misstrauen ihren Fähigkeiten gegenüber, aber sie war ihm nicht böse drum. Im Gegenteil, sie hatte Verständnis dafür, weil sie selbst wusste, zu was sie fähig war und was sie in der Vergangenheit angerichtet hatte. Und in Somnia hätte sie beinahe ihre Freunde getötet, als sie wieder die Kontrolle verloren hatte und wieder zu „Happy Sally“ geworden war. Hätte Amara den Alptraum nicht aus ihrem Körper entfernt, dann wäre weiß Gott noch was passiert. Sie konnten von Glück reden, dass Sally nicht völlig durchgedreht und ihre ganze Macht entfesselt hatte. Sonst hätte sie ganz Somnia zerstören können. Aber zum Glück hatte Sally gelernt, ihre Kraft so gut zu unterdrücken, dass sie selbst in dem Fall, wenn sie wieder zu „Happy Sally“ wird, nur begrenzten Schaden anrichten konnte. Das hatte ihr Christine wohl beigebracht. Schließlich, als Harvey seinen Kaffee ausgetrunken hatte, verabschiedete er sich mit der Erklärung, dass er noch etwas zu erledigen habe. Daraufhin gesellte sich Anthony zu Vincent und den anderen und beobachtete aus den Augenwinkeln Sally, die in ein Geschichtsbuch vertieft war. Jede freie Minute nutzte sie, um für die Schule zu lernen, denn sie versuchte so gut es ging, ein ganz normales Leben zu führen. Selbst als Nekromantin und potentielle Auslöserin der Apokalypse. Da sie mit ihrer Familie jetzt in Frankreich lebte, musste sie eine neue Sprache lernen und hatte sehr viel zu lernen. Das war auch nicht immer einfach, wenn sie nebenbei helfen musste, einen bevorstehenden Massenmord von rechtsextremistischen Größenwahnsinnigen zu verhindern. Vincent, welcher der französischen Sprache mächtig war, half ihr dabei und erklärte ihr einiges. Evan und Viola, die schließlich mit ihrem Frühstück fertig waren, wollten gehen, um Hannah und Amara zu besuchen. Die beiden hatten während der Ereignisse in Somnia den größten Schaden davongetragen. Hannah hatte die ganze Aufregung kaum verkraftet und einen Herzinfarkt erlitten, woraufhin man eine Herztransplantation durchführen musste, um sie zu retten. Und Amara hatte all ihre Kraft aufgebraucht, um die monströsen Alpträume, die der Dream Weaver Belphegor erschaffen hatte, zu verschlingen. Auch wurde sie von seiner Kettensäge sehr schwer verletzt und war schließlich völlig erschöpft zusammengebrochen. Harvey war es zu verdanken gewesen, dass sie nicht noch einem hohen Blutverlust erlag. Inzwischen hatte sich das Mädchen gut erholt und hatte Thomas abgelöst, der die meiste Zeit lang Wache hielt und letzte Nacht nicht ein einziges Mal von der Seite seiner Verlobten gewichen war. Amaras Verletzungen heilten ungewöhnlich schnell, was wohl daran lag, dass sie kein Mensch war, sondern eine Mischung aus Dream Weaver und Traumfresser. Ihre beiden Seiten hatte sie voneinander abspalten können, sodass sie selbst und ihr Körper die Kräfte eines Dream Weavers innehatten und sie somit ein menschliches Aussehen annehmen konnte. Ihr Regenschirm, der sowohl Waffe als auch Werkzeug und Schild war, verkörperte ihre destruktive Hälfte. Es war ein wirklich unheimliches Ding mit einem Eigenleben. An den Außenseiten besaß der Schirm scharfe Zähne und das Innere war eine schwarze Leere mit unzähligen rot glühenden Augen. Alles, was im Inneren dieses Schirms verschwand, wurde verschlungen und kam nie wieder heraus. Amara benutzte ihn, um andere Traumfresser zu absorbieren, Menschen hingegen griff sie für gewöhnlich nicht an, obwohl Traumfresser eigentlich genau zu diesem Zweck existierten. Amara hatte sich von Belphegor ausnutzen lassen, als sie noch kein menschliches Aussehen besaß und sich so sehr wünschte, ein Dream Weaver zu werden und unter ihnen oder den Menschen leben zu können, ohne ausgestoßen und getötet zu werden. Aus diesem Grund hatte sie auch Hannahs und Thomas’ Sohn Noah entführt. Als sie aber erkannt hatte, was Belphegor für ein hinterhältiges Spiel trieb und dieser sogar über Leichen ging, schloss sie sich Anthony und den anderen an und konnte Noah retten und ihm seine Kräfte als Dream Weaver nehmen, sodass er ein ganz gewöhnlicher Mensch war. Dass sie Noah entführt und in Gefahr gebracht hatte, um sich ihren einzigen Traum zu erfüllen, hatten Thomas und die anderen ihr verziehen und nun war sie fest entschlossen, alles zu tun, um ihrer neuen Familie zu helfen. Und jemand wie sie konnte vielleicht vorteilhaft sein, denn Amara besaß weitaus mehr Fähigkeiten als Evan und Viola, die lediglich über konstruktive Kräfte verfügten. Sie besaß auch destruktive und war im Kampf manchmal effektiver als die anderen beiden. Ihr einziges Problem war, dass sie nicht sehr viel Selbstbewusstsein besaß und sich oft einschüchtern ließ. Als Anthony das Zimmer betrat, saß Hannah aufrecht im Bett und hielt Noah im Arm. Sie sah zwar noch erschöpft aus, aber sie hatte wieder Farbe im Gesicht und strahlte richtig. „Hey Hannah, du siehst ja richtig gut aus. Und du auch Amara. Ihr beide scheint euch gut erholt zu haben.“ „Ja, ich fühl mich zwar noch ziemlich müde, aber ich bin einfach so froh, endlich mein Kind im Arm zu halten. Noah ist auch ganz munter.“ „Amara hat sich auch wirklich gut um ihn gekümmert und mit ihr und Thomas kann euch beiden eigentlich gar nichts passieren.“ Hannah nickte schweigend und man sah ihr an, dass sie sich Gedanken machte. Sie wusste, dass die Sache noch nicht vorbei war und immer noch Gefahr drohte. Zwar war sie bei der Versammlung nicht dabei gewesen, aber Thomas hatte sie eingeweiht, dass der wahre Feind immer noch aktiv war und das Risiko hoch war, dass man sie und Noah entführen könnte. Hannah hatte einen menschlichen Dream Weaver zur Welt gebracht und das könnte sich die Thule-Gesellschaft zunutze machen, um weitere in die Welt zu setzen und ihre Macht für ihre Zwecke einzusetzen. Ein schrecklicher Gedanke. Deshalb wusste sie auch sofort, dass Thomas sie bald wieder verlassen musste, um den anderen zu helfen. Zwar konnte er als Konstrukteur nicht viel ausrichten, da er nur sein eigenes Unterbewusstsein manipulieren konnte, aber er war der beste Kämpfer unter ihnen. Im Nahkampf war er unschlagbar und das konnte ihnen helfen. Außerdem zeichnete er sich besonders durch seinen pragmatischen und beherrschten Charakter aus, sodass er stets die vernünftigen Entscheidungen treffen konnte, ohne sich von Emotionen leiten zu lassen. „Wie wird es denn eigentlich weitergehen?“ fragte sie schließlich und sah Anthony mit ihren rehbraunen funkelnden Augen an. Dieser setzte sich zu ihr ans Bett und nahm ihre Hand. „Das müssen wir noch besprechen. Aber sei unbesorgt. Wir werden uns etwas einfallen lassen, damit dir und Noah nichts passiert. Immerhin haben wir Sally als Nekromantin, Vincent und ich sind Konstrukteure und Thomas ist der beste Nahkämpfer. Harvey scheint ein sehr gutes Know-How zu haben und Evan, Viola und Amara können zwischen Realität und Traumdimension hin- und herreisen. Nicht zu vergessen haben wir auch noch Christine. Bei so einem bunten Haufen wie uns kann doch gar nichts schief gehen.“ „Harvey?“ fragte Hannah neugierig. „Meinst du den Schauspieler mit den Narben im Gesicht?“ „Äh ja… war er hier gewesen?“ „Vor zwei oder drei Stunden. Er hat mit Thomas irgendetwas auf Englisch besprochen und sich dann ein wenig mit mir unterhalten. Also dafür, dass er Amerikaner ist, spricht er richtig akzentfrei Deutsch.“ „Worüber habt ihr gesprochen?“ Etwas unsicher zuckte Hannah mit den Achseln und erzählte nach einigem Zögern „Er wollte sich meine Geschichte anhören. Wie ich Thomas kennen gelernt habe und was im Institut passiert ist. Ich dachte, ich könnte ihm das erzählen, weil er doch auf unserer Seite ist. Oder habe ich etwas falsch gemacht?“ Anthony schüttelte den Kopf und konnte sie beruhigen. „Nein, ist schon okay. Hat er auch etwas von sich erzählt?“ „Nicht viel. Er hat mir dafür eine kleine Kostprobe von seiner Schauspielkunst gegeben. Dank ihm muss ich jetzt unbedingt Shakespeare lesen. Netterweise hat er mir eine deutsche Sammelausgabe da gelassen.“ Mit einem fröhlichen Lächeln präsentierte Hannah Anthony ein etwas dickeres Buch, welches aussah, als wäre es aus einem Antiquitätengeschäft. Aus irgendeinem Grund fühlte sich der Lichtallergiker überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dass Harvey einfach bei Hannah gewesen war und sie über ihre Vergangenheit ausgehorcht hatte. Er kannte sie und die anderen überhaupt nicht und trotzdem schien er herumzuschnüffeln. Warum? Irgendetwas stimmte mit Harvey nicht und das würde Anthony noch in Erfahrung bringen. Zuerst kam ihm die Idee, einen gängigen Konstrukteurtrick anzuwenden, um sich für die Augen der Leute quasi unsichtbar zu machen, aber das würde auch nichts bringen. Dazu müsste er auch Harveys Unterbewusstsein beeinflussen und das konnte er nicht. Nein, er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Nachdem er sich von Hannah und Amara verabschiedet hatte, ging er zurück ins Hotel. Von der Frau an der Rezeption erfuhr er, welches Zimmer Harvey bewohnte und es gelang ihm mithilfe seiner Überzeugungskunst, an die Schlüsselkarte zu gelangen. Vielleicht hatte er ja Glück und er fand etwas in Harveys Zimmer. Kapitel 2: Aufs Ganze --------------------- Als Anthony Harveys Zimmer betrat, fand er kaum persönliche Dinge vor, höchstens Kleidung und einen E-Book Reader, auf welchem sich unzählige klassische literarische Werke in deutscher, englischer und französischer Sprache befanden. Auch fand er ein Fotoalbum, wo sich Bilder von ihm und Chris befanden. Es waren Fotos aus unbeschwerter Zeit, als beide noch fröhlich gelacht und auf der Bühne ihre Rollen gespielt hatten. Die neuesten Fotos waren ohne Chris, dafür aber war nun Johnny auf ihnen zu sehen. Auf einem lag Harvey schlafend im Bett und ihm war mit einem schwarzen Filzstift ins Gesicht gemalt worden, während er auf einem anderen Bild auf den Rücken lag und mit Akupunturnadeln bearbeitet worden war. Nur bildeten diese den etwas zweideutigen Satz „Got Nailed by Johnny“. Da musste selbst Anthony lachen. Zwar sah Harvey nicht gerade begeistert auf den Fotos aus, aber dass er diese Fotos ins Album geklebt hatte, sprach dafür, dass er sich gerne von Johnny veralbern ließ. Ansonsten fand er einen diversen Haufen Filme, die Harvey sich wohl gerne ansah. Angefangen von „Titanic“ über „A Million Dollar Baby“ bis hin zu „Forrest Gump“, „Schindlers Liste“ und „Green Mile“. Offenbar war er nicht nur ein Schauspieler und Liebhaber der klassischen Literatur, sondern sammelte wohl auch gerne bewegende Filme. Geschmack hatte der Kerl jedenfalls, aber das war es nicht, wonach Anthony suchte. Er brauchte ein Indiz dafür, dass dieser Harvey ein schmutziges Geheimnis hatte. Unter dem Bett fand er eine Tasche, an der mehrere Buttons mit diversen Sprüchen hingen. Sie sah aus, als würde sie einem Jugendlichen gehören und nicht einem Psychologen und Schauspieler. War das vielleicht Johnnys Tasche? Offenbar hatte Harvey seine Sachen auch mitgenommen, aus welchem Grund auch immer. Neugierig öffnete Anthony sie und holte einen Schnellhefter heraus, in welchem sich Listen befanden. Es waren Namen von Polizisten und Priestern mitsamt Anschrift und außerdem stand dort geschrieben, was für Verbrechen sie begangen hatten. Anthony war verwirrt und fragte sich, wieso Johnny solche Listen anfertigte und warum die Verbrechen vermerkt waren. Der Konstrukteur begann sich die Namen einzuprägen, dann legte er den Schnellhefter wieder in die Tasche und schob sie unters Bett, wo sie zuvor gelegen hatte. Schnell verließ er das Zimmer, bevor er noch gesehen wurde, gab die Schlüsselkarte an der Rezeption ab und borgte sich den Laptop eines anderen Hotelgastes, der ihn mit ein wenig „Überzeugungskunst“ Anthony gab. Er wollte die Namen auf der Liste überprüfen, denn ihn beschlich ein merkwürdiges Gefühl, was diesen Harvey betraf. Und der Schauer überkam ihn, als er herausfand, dass fast alle diese Personen tot waren. Sie alle waren gehäutet und dann regelrecht abgeschlachtet worden. Wiederum waren andere von ihnen noch am Leben. Was hatte das zu bedeuten und warum waren Johnny und Harvey im Besitz solcher Listen? Ein Online-Zeitungsartikel berichtete von einem Serienmörder, der auch international aktiv war. Er wurde „The Skinner“ genannt. Von ihm hatte Anthony bereits einiges gehört. In seinem Manifest prangerte er die korrupten Politiker, Polizisten und Justizbehörden und kriminellen Machenschaften der Priester und des Vatikans an. Er bezeichnete sich selbst als Demaskierer, der mit seiner grausamen und brutalen Art die ganze Welt erschüttern wollte, um die vorherrschenden Zustände zu ändern. Wenn Anthony über Harveys Worte nachdachte, schien es langsam ein Gesamtbild zu ergeben. „…ich bin lediglich ein Mann mit einer Idee und einem Ziel. Und um diese Idee umzusetzen, bin ich gezwungen, entsprechende Mittel einzusetzen, um den Leuten meine Idee zu vermitteln und für mein Ziel zu gewinnen.“ Konnte es etwa sein, dass Harvey der Skinner war? Hatte er etwa diese 35 Menschen bei lebendigem Leibe gehäutet und sie dann auf solch bestialische Art und Weise massakriert? Es musste so sein, da sprachen einfach zu viele Indizien dafür. Doch wie sollte er jetzt mit diesem Wissen weiterverfahren? Er musste die anderen darüber in Kenntnis setzen und beratschlagen, was sie tun sollten und ob sie ihm überhaupt vertrauen konnten. Anthony rief Vincent, Viola, Evan, Sally, Amara und Thomas zusammen und traf sich mit ihnen in Hannahs Krankenzimmer, wo sie ungestört waren und letztere gleichzeitig im Auge behalten konnten. Zuerst waren sie verwundert, warum Anthony so schnell ein Treffen einberufen hatte, ohne Harvey und Christine hinzuzuziehen. Schließlich erzählte er ihnen von der Liste, die er gefunden hatte und dass die meisten von ihnen Opfer des Skinners geworden waren. „Ich gehe davon aus, dass Harvey der Skinner ist, der insgesamt 35 Menschen zuerst die Haut abgezogen und sie dann auf besonders brutale Art und Weise umgebracht hat. Da das nicht nur mich allein betrifft, will ich eure Meinung dazu hören.“ Evan, der noch nie etwas von diesem Serienmörder gehört hatte, enthielt sich seines Urteils. Auch die anderen waren sich nicht sicher. Schließlich war Sally die Erste, die eine klare Entscheidung traf und auch deutliche Worte fand. „Mag sein, dass Harvey ein Serienmörder ist, aber wir sollten eines nicht vergessen: Ich habe noch mehr angerichtet und sicherlich hundertmal mehr Menschen umgebracht. Wenn also jemand ausgeschlossen werden sollte, dann ich. So wie ich das sehe, tötet Harvey böse Menschen auf diese Weise, weil er in der Welt etwas verändern will. Im Grunde tut er fast das Gleiche wie Christine und wenn wir in Betracht ziehen, dass er uns geholfen hat, Belphegors Uhr zu finden und er auch Amara das Leben gerettet hat, hat er zumindest eine Chance verdient. Und außerdem scheint er nicht boshaft zu sein. Jedenfalls hat er weder der Öffentlichkeit preisgegeben, dass ich hinter Happy Sally stecke, oder dass ihr Konstrukteure seid. Auch hat er deine Verwandtschaft zu Dr. Helmstedter nicht an die große Glocke gehängt. Ich jedenfalls bin bereit, ihm eine Chance zu geben.“ Und diese Worte schienen auch die anderen zu überzeugen. Viola konnte zwar keinen richtigen Entschluss treffen, aber Vincent war auch der Meinung, man dürfe nicht einfach so über ihn urteilen. Amara brauchte eine Bedenkzeit, aber schließlich schloss sie sich Sally an. Immerhin hatte sie selbst auch schlimme Dinge getan und man hatte ihr diese verziehen. Hannah war der Überzeugung, dass Harvey ein guter Mensch sei und man ihm vertrauen sollte. Nun war Thomas an der Reihe, seine Meinung kundzutun und seine Meinung war Anthony besonders wichtig. Thomas war aufgrund seiner jahrelangen Ausbildung zum Auftragskiller ein pragmatischer Denker, der alles aus einer ganz anderen Perspektive betrachten konnte. Meist war er es, der die vernünftigsten Entscheidungen traf, ohne sich von seinen Emotionen leiten zu lassen. „Sie hat Recht“, sagte er schließlich. „Er ist zwar ein Mörder, aber Sally hat weitaus mehr Menschen auf ähnlich grausame Art und Weise getötet. Schuldige und Unschuldige. Für sein Handeln hatte er einen für viele Menschen nachvollziehbaren Grund. Und Christine sagte, er sei ein Mensch mit guten Absichten. Ich kenne sie seit mehr als fünfzig Jahren und weiß deshalb, dass sie niemals leichtfertig ein solches Urteil fällt.“ Anthony nickte bedächtig, als er das hörte. Zwei Enthaltungen, eine Befürwortung und vier Stimmen für eine Chance. Es war also ein eindeutiges Ergebnis und so erklärte er sich einverstanden, dass sie Harvey die Chance geben sollten, seine Geheimnisse zu erklären. Während Amara bei Hannah blieb und die anderen beiden Kinder in Evans Galerie verschwanden, gingen Vincent, Sally, Anthony und Thomas los, um Harvey zur Rede zu stellen. Dieser befand sich auf dem Dach des Hotels, saß direkt am Rand und betrachtete den wolkenverhangenen Himmel. Christine saß neben ihm und die beiden schienen miteinander zu reden. Als sie die anderen bemerkten, standen sie auf und kamen auf sie zu. „Gibt es irgendetwas Neues?“ „Allerdings“, sagte Anthony und blieb direkt vor Harvey stehen. „Ich habe da etwas Interessantes herausgefunden, was dich betrifft. Möchtest du uns vielleicht etwas erzählen?“ Christine hob die Augenbrauen, als sie das hörte und atmete laut aus. „Tja Harvey, da hast du den Salat.“ Doch dieser wirkte überhaupt nicht beunruhigt oder nervös. Nein, er war ganz entspannt und spielte, zu Anthonys Überraschung, sofort mit offenen Karten. „Ich führe ein Doppelleben. Für gewöhnlich bin ich Harvey Charles Dahmer, Schauspieler und Psychologe. Aber es gibt eine andere Seite von mir, eine Maske, die ich mir erschaffen habe und die ich zutiefst verachte und hasse: Den Skinner. Ich habe ein Monster erschaffen, um der Menschheit einen Alptraum und Schrecken zu bereiten, der sie wachrütteln soll, damit sie sich gegen das Unrecht zur Wehr setzen, das ihnen angetan wird. Unzählige Leben wurden zerstört, weil Polizisten ihre Macht und ihren Einfluss missbraucht haben, um ihre Verbrechen zu vertuschen. Genauso wie sich Richter und Staatsanwälte kaufen lassen und die Gesetze mit Füßen treten. Ich war es einfach Leid, das ganze Elend mit anzusehen und selbst ertragen zu müssen. Ich habe die Kinder gesprochen, die von den Priestern vergewaltigt wurden und niemals Gerechtigkeit erfahren haben. Stattdessen wurden diese Pädophilen vom Papst in den Vatikan zurückgeholt und können unbehelligt weiter ihrer Tätigkeit nachgehen. Ich weiß, dass eine Straßendemonstration, eine Petition oder eine Kampagne überhaupt nichts bewirkt. Die Menschen interessieren sich nur für negative Schlagzeilen und deshalb kann ich ihre Aufmerksamkeit erregen, indem ich das Monster erschaffe, welches ich eigentlich nicht sein will. Indem ich genau solche Menschen jage und töte, werden auch die Polizei und das FBI versuchen, neue potentielle Opfer zu finden, um dem Skinner zuvorzukommen und werden dann endlich auf den Schmutz in den eigenen Reihen aufmerksam. Erst dann werden sie wirklich aktiv.“ „Und du glaubst dass das, was du tust, richtig ist?“ fragte nun Vincent und sah ihn genauso ernst an wie Anthony. Dennoch blieb Harvey ruhig, so als hätte er überhaupt keine Angst. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein, oder als hätte er rein gar nichts mehr zu verlieren. „Notwendigkeit bedeutet noch lange nicht, dass es auch richtig ist. Sei es moralisch oder gesetzlich gesehen. Ich weiß dass das, was ich tue, ein unverzeihliches Verbrechen ist und ich eines Tages dafür büßen werde. Der Skinner bleibt nur solange bestehen, bis ich zumindest eine Hand voll Menschen von meinen Zielen überzeugen konnte, damit sie sich auf ihre Weise gegen diese Ungerechtigkeit zur Wehr setzen. Wenn man schon nicht die Vergangenheit ändern kann, dann wenigstens die Zukunft, das ist meine Sicht der Dinge. Johnny ist als mein Informant tätig und hilft mir, weil er an mein Ziel glaubt. Und außerdem vertrete ich folgenden Grundsatz: Wer nicht bereit ist, selbst getötet zu werden, der sollte auch keine anderen Menschen töten.“ Anthony betrachtete Harvey eine Weile und sah nicht das geringste Zögern in seinen Augen. Nicht den leisesten Anflug von Unsicherheit. Er war fest entschlossen, für sein Ziel, nämlich für eine bessere Welt zu kämpfen, auch wenn er dafür ein Monster erschaffen musste. Und vor allem hatte er keine Angst vor dem Tod. Aber Anthony war noch nicht so recht überzeugt. Er zog seine Pistole und richtete sie direkt auf Harveys Stirn. Zwar waren einige Meter Abstand zwischen ihnen beiden, aber auf die Entfernung konnte er ihm durchaus den Schädel wegschießen. Als Vincent das sah, wollte er eingreifen, aber Thomas, der Anthony durchschaute, hielt ihn stumm zurück. „So wie du redest, klingt das nach einem selbstverherrlichenden Psychopathen. Warum sollten wir einem wie dir vertrauen?“ „Ich habe nie verlangt, dass ihr mir vertrauen sollt. Das ist allein eure Entscheidung. Genauso wie es eure Entscheidung ist, ob ihr mich nun als einen geistesgestörten und narzisstischen Psychopathen einstuft, oder nicht.“ Entweder wusste er, dass Anthony nicht schießen würde, weil er es aus seinen unbewussten Bewegungen lesen konnte, oder er war tatsächlich bereit, hier und jetzt zu sterben. Harvey versuchte nicht einmal, seine Taten zu rechtfertigen oder sie von seiner Ehrlichkeit zu überzeugen. Er pokerte hoch. „Ist es Wahnsinn, so hat es doch Methode“, so ging doch dieses Zitat, oder? Entweder war es eiskalte Berechnung von Harvey, oder er meinte es wirklich so. Da er offenbar merkte, dass Anthony ein wenig unsicher geworden war, nahm er einfach ein Tuch aus seiner Jackentasche, verband sich damit die Augen und sagte „Wer der Meinung ist, ich verdiene den Tod, der soll mich entweder hier und jetzt vom Dach hinunterstoßen oder mich erschießen. Na los, ich bin bereit!“ Dieser Verrückte macht wirklich ernst, dachte Anthony und legte den Finger um den Abzug. Zwar besaß er nicht die gleiche Fähigkeit, aus den kleinen unbedachten Bewegungen seines Gegenübers seine Gefühle und Gedanken zu erraten, aber er merkte, dass Harvey wirklich bereit war, hier und jetzt sein Leben zu lassen. Er gab ihnen sozusagen sein Leben in die Hand. Was bedeutete das denn nun? Dass Harvey ein eiskalter und berechnender Killer war, der ihnen bloß etwas vorspielte, oder ein guter Mensch, der Böses tat, um die Welt zu verbessern? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Ein Schuss wurde schließlich abgefeuert und zwar aus Anthonys Waffe. Die Kugel pfiff haarscharf an Harveys Kopf vorbei und selbst da zuckte rein gar nichts in seinem Gesicht. Er war tatsächlich bereit gewesen, dem Tod ins Auge zu sehen. Anthony senkte die Waffe und atmete tief durch. Harvey nahm seine Augenbinde wieder ab und irgendwie wirkte er in diesem Moment furchtbar unglücklich und leer. Eine lange Schweigepause herrschte, dann sagte er „Es ist mir egal, ob ihr mich für meine Verbrechen verachtet, mich für verrückt haltet, oder mir einfach nur misstraut. Wenn ihr meine Hilfe nicht wollt, respektiere ich das natürlich. Dann werde ich auf eigene Faust nach Johnny suchen und Thule aufhalten, solange ihr mich nicht aufhaltet.“ Und damit ging Harvey an ihnen vorbei und verließ das Dach. Christine blieb bei den anderen, sah dem Schauspieler noch hinterher und wandte sich dann an den Rest der Gruppe. „So, da habt ihr es jetzt. Und was wollt ihr nun tun? Wollt ihr ohne ihn weitermachen?“ „Also ich denke, dass wir ihm helfen sollten“, sagte Sally schließlich. „Ich bin zwar bei weitem nicht so ein neutraler Denker wie Thomas, aber ich erkenne sehr wohl, wann jemand ein falsches Spiel treibt und wann nicht. Mir tut Harvey ehrlich gesagt Leid und wenn ihr mich entschuldigt, ich gehe jetzt.“ Damit lief Sally ihm hinterher und verließ ebenfalls das Dach. Anthony wandte sich an Thomas. „Wie schätzt du ihn ein?“ „Er scheint selbst zu leiden, wenn er Menschen tötet. So wie ich das sehe, hat Christine Recht: Er ist im Grunde ein guter Mensch, der sich in seiner Hoffnungslosigkeit und in seinem Schmerz an den Wunsch klammert, dass er etwas bewegen kann und er diese Menschen nicht sinnlos umgebracht hat. Er selbst ist kein Mörder, sondern der Skinner.“ „Anthony“, sagte nun Vincent und sah seinen besten Freund eindringlich an. „Der Kerl hat in Kauf genommen, dass du ihn erschießt. Was für Beweise willst du denn noch? Schön und gut, dass er das Lesen von Mikroexpressionen beherrscht, aber mit verbundenen Augen hätte er unmöglich sehen können, ob nicht jemand bereit ist, auf ihn zu schießen. Also ich finde, wir haben es weit genug mit ihm getrieben.“ Damit ging auch Vincent und Thomas folgte ihm. Anthony blieb nun alleine mit Christine zurück und schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.“ „Wenn ich dir einen persönlichen Rat geben darf, Schätzchen“, sagte die Rothaarige schließlich und klopfte ihm auf die Schulter, „dann regle es mit Harvey doch genauso wie mit Sally. Vertraue ihm als Menschen, aber nicht als Monster. Das wäre zumindest ein sehr vernünftiger Kompromiss. Ich kann dich verstehen, aber ich kenne Harvey besser als er selbst glauben würde. Er hat wirklich damit gerechnet, dass du auf ihn schießen würdest. Lass dir das alles noch mal ganz in Ruhe durch den Kopf gehen, ich werde noch mal nach Hannah und Amara sehen. Danach sollten wir uns ernsthaft zusammensetzen und besprechen, wie wir gegen Thule vorgehen sollten.“ Als dann schließlich Christine auch ging, war Anthony erst einmal alleine und lief unruhig auf und ab. Er haderte immer noch mit sich selbst und wusste nicht was er tun sollte. Einem Serienmörder vertrauen, der Menschen gesetzlich gesehen aus niederen Beweggründen tötete? Wenn er wenigstens sein Unterbewusstsein lesen könnte. Schließlich kam Anthony zu einem Entschluss. Er lief Harvey hinterher und fand ihn in seinem Zimmer. Mit gesenktem Kopf saß er auf seinem Bett und sah aus, als wollte er sich gleich die Kugel geben. „Hör mal“, sagte Anthony schließlich, als er das Zimmer betrat. „Nimm es nicht persönlich, aber ich muss anderen Leuten misstrauen, weil ich die anderen beschützen will. Vor der Regierung, vor Thule und vor Menschen, die sie ausnutzen wollen. Ich lebe schon seit fast 82 Jahren und habe den Krieg und noch vieles mehr miterlebt.“ „Das verstehe ich ja auch“, sagte Harvey schließlich, aber seine Stimme klang irgendwie kraftlos. „Die Tatsache, dass dein Halbbruder Hinrich für all das verantwortlich ist, was dir, Hannah, Thomas und Vincent zugestoßen ist, hat dich sehr geprägt. Du siehst dich in der Pflicht, immer das Richtige zu tun und die anderen zu beschützen. Auch vor einer potentiellen Gefahrenquelle wie mir.“ „Normalerweise vertraue ich Menschen erst, wenn ich hundertprozentig weiß, dass sie ehrlich sind. Und weil du Mikroexpressionen lesen kannst und zudem Psychologe und studierter Schauspieler bist, kann ich trotz allem nicht sagen, ob das auf dem Dach bloß Show war, oder nicht. Ich möchte mich gerne selbst überzeugen. Da ich dich in deinem wachen Zustand nicht lesen kann, möchte ich etwas anderes versuchen. Als gelernter Hypnotherapeut kann ich dich hypnotisieren und dein Unterbewusstsein das von Chris filtern, sodass ich uneingeschränkten Zugriff habe. Das würde bedeuten, dass ich dich vollständig steuern kann. Ich kann sogar dein Unterbewusstsein und Bewusstsein komplett umschreiben und einen ganz anderen Menschen aus dir machen. Allerdings tue ich das niemals ohne die Einwilligung desjenigen, den ich hypnotisieren will. Das würde gegen meine Prinzipien verstoßen, weil ich meine Macht niemals so missbrauchen will wie Hinrich. Ich biete dir also die Wahl an: Lässt du dich von mir hypnotisieren und auslesen, oder lehnst du ab?“ „Wenn es dir Gewissheit verschafft, dann hast du mein Einverständnis. Sag mir, was ich tun muss und ich tue es.“ Harvey musste wissen, dass Hypnose gleichzeitig bedeutete, dass er rein gar nichts spielen konnte. Er legte damit seine höchstpersönlichen Erlebnisse offen dar und rein gar nichts würde verborgen bleiben. Da er über die Fähigkeiten der Konstrukteure Bescheid wusste, war er sich auch im Klaren darüber, wozu Anthony in der Lage war. Und trotzdem erklärte er sich einverstanden, weil er offenbar auf dessen Urteil vertraute. Also führte Anthony die Hypnose durch und tatsächlich gelang es ihm, Harveys Erinnerungen zu lesen. Und was er da sah, schockierte ihn teilweise. Nicht bloß der Anblick der Leichen, sondern auch die abgespeicherten Emotionen. Er spürte selbst den unsagbaren Ekel vor dem grausamen Mord an den Opfern, er spulte die Gespräche ab und sah die Momente, in denen Harvey emotional völlig am Ende war und fruchtbare Angst davor hatte, verrückt zu werden oder zu scheitern. Auch sah er die Gespräche mit dem Polizisten, der ihm in den Kopf geschossen hatte und dass er trotz allem seine schwerkranke Tochter rettete, indem er ihr eine Niere spendete. Innere Konflikte, Verzweiflung, schöne Erinnerungen an eine glückliche Zeit mit Chris, Freundschaft und Liebe, Hass und Verachtung… wirklich alles lag vor Anthony offen und als er genug gesehen hatte, beendete er die Hypnose und ließ Harvey wieder aufwachen. Dieser sah, dass Anthony bedrückt war, er erkannte es auch ohne das Lesen der Mikroexpressionen. Eine Weile schwiegen beide, es war ein unangenehmes Schweigen. Dann fragte Harvey „Und? Zu welchem Schluss bist du gekommen?“ „Dass es mir Leid tut, dass ich so reagiert habe.“ „Schon gut, ich verstehe dich. Ich weiß, dass man mir aufgrund meiner Fähigkeiten nicht so einfach vertrauen kann. Aber das, was ich dir jetzt sage, ist wirklich ehrlich gemeint: Ich werde alles tun, um diesen ganzen Alptraum mit der Thule-Gesellschaft zu beenden und damit zukünftige Leben zu retten und Menschen wie euch Sicherheit geben zu können.“ Sie gingen schließlich in den Speisesaal, da es nun Mittagszeit geworden war. Viola und Evan waren inzwischen wieder zurück und auch die anderen hatten sich eingefunden, sogar Christine. Da die anderen sowohl ihn als auch Anthony zusammen sahen, glaubten sie, dass jetzt alles geklärt sei und fragten sofort nach. Der Hypnotherapeut erklärte schließlich, dass Harvey jetzt offiziell zum Team gehöre und vertrauenswürdig sei. Damit waren alle zufrieden und sogleich wurde der Neuzugang der Gruppe aufgenommen. Sie alle vertrauten auf Anthonys Urteil und waren glücklich mit seiner Entscheidung. Auch Christine war ihre Zufriedenheit anzusehen, auch wenn sie rein gar nichts dazu sagte. Angeregt unterhielten sie sich und schließlich kam Amara dazu, die von Thomas abgelöst worden war und sich mit den anderen unterhalten wollte. Die Gespräche waren ausgelassen und auch in Harvey kehrte wieder das Leben zurück. Er konnte witzige Anekdoten erzählen oder Ausschnitte aus Stücken zitieren und das mit so guter Schauspielerei, dass er jeden zum Lachen bringen konnte. Obwohl er vor wenigen Minuten aussah, als wollte er sich am liebsten aus dem Fenster stürzen, schien er sich gut berappelt zu haben. Offenbar half ihm die Schauspielerei über seinen Kummer, über das ihm erlittene Unrecht und über den Tod von Chris Dullahan hinweg. Christine, die neben Anthony saß, stieß ihm sanft in die Seite und schaute ihn mit ihren roten Augen an, in welchen ein Fegefeuer zu lodern schien. „Ich hatte zuerst echt gedacht gehabt, du würdest es ohne seine Zustimmung tun.“ „Dann wäre ich nicht besser als Hinrich.“ „Jedenfalls bin ich froh, dass ihr das endlich geklärt habt. Es hätte ja auch nicht wirklich funktioniert, wenn ihr nicht vernünftig zusammenarbeiten würdet. Um gegen Thule gewinnen zu können heißt es auch, sich gegenseitig zu vertrauen und sich auf den anderen verlassen zu können. Pristine wird eure Schwächen ausnutzen und versuchen, euch zu manipulieren oder zu ködern. Sie ist ein genauso abgebrühtes Miststück wie ich, wobei ich Böses tue, um Gutes zu bewirken, ähnlich wie Harvey. Ich allerdings tue das ganz offiziell und legal.“ „Für wen?“ „Für meinen derzeitigen Vorgesetzten.“ „Und wer wäre das?“ „Nachdem ich den Kult verließ, bin ich sozusagen konvertiert und zum wirklichen Teufel geworden. Ich bestrafe die bösen Jungs auf meine eigene bösartige und hinterhältige Weise. Du kannst mich ruhig als eine Art Staatsanwältin der höheren Instanz sehen.“ Da sie offenbar nicht so recht mit der Sprache rausrücken wollte, beließ Anthony es also bei diesen Worten, auch wenn es ihm schwer fiel, sich Christine als Staatsanwältin vorzustellen. Ausgerechnet sie, die sich ihre Freizeit mit Motocross-Rennen, Monster Truck Shows und Armwrestling vertrieb… Kapitel 3: Der Aufbruch ----------------------- Nach dem Mittagessen trafen sie sich alle im gleichen Konferenzraum des Krankenhauses, wo sie zuvor die Lage besprochen und von Harvey die Wahrheit über Thules Pläne erfahren hatten. Hannah war inzwischen fit genug, dass sie im Rollstuhl sitzen konnte und auch die anderen waren alle da. Fehlte nur Johnny, der immer noch verschwunden war. Nun waren es Harvey und Anthony, die gemeinsam das Wort hatten, während Thomas für Hannah ins Deutsche übersetzte. „Also wir haben folgende Baustellen, an denen wir arbeiten müssen: Erstens muss Hannahs und Noahs Sicherheit gewährleistet sein. Es besteht immer noch das hohe Risiko, dass beide von der Thule-Gesellschaft entführt werden könnten. Zweitens muss Johnny unbedingt gefunden werden. Falls er sich in Gefangenschaft befindet, könnten seine Fähigkeiten zu einer Gefahr für uns werden und drittens muss Pristine an der Ausführung des Johannesprojektes gehindert werden. Da dies ein äußerst gefährlicher Kampf werden wird, schlage ich vor, dass wir die Gruppe in Teams aufteilen.“ Die anderen waren verwundert, als sie das hörten und sahen einander an. Bei ihren letzten „Abenteuern“ waren sie stets darauf bedacht gewesen, immer zusammenzuhalten. Dass sie jetzt aufgeteilt wurden, war neu. Harvey nahm einen Overhead-Projektor zu Hilfe, um auf einer Folie genau aufzuzeigen, wie die Verteilung aussehen sollte. „Bei der Aufteilung habe ich die Fähigkeiten und Einschränkungen jedes Einzelnen in Betracht gezogen. Viola, Amara und Evan bilden das Team „Dreamer“ und können aufgrund ihrer Fähigkeiten zwischen zwei Welten reisen. Die der unseren und die der Träume. Evan ist durch die Tatsache eingeschränkt, dass er in unserer Welt stumm ist, weshalb er nicht mit uns über Funk kommunizieren könnte. Viola ist ein Dream Weaver, allerdings verfügt sie noch nicht über ihre vollständigen Kräfte und ist physisch im Kampf unterlegen. Amara als Mischling ist sowohl in der Defensive als auch in der Offensive klar im Vorteil. Mein Plan für euer Team sieht so aus: Hannah wird sich in der Traumdimension versteckt halten, zusammen mit Viola und Evan. Ihr werdet, wenn wir eure Hilfe brauchen, für die nötigen Portale sorgen, sodass wir über Evans Galerie an gewünschte Orte kommen, für die wir ansonsten zu viel Zeit verlieren würden. Das nächste Team bildet die direkte Angriffsgruppe und wird sich auf Nahkämpfe und Ablenkungsmanöver konzentrieren, während die andere Gruppe sich um die Befreiung von Johnny und die eventuelle Beseitigung von Waffen oder Gefahrengut kümmert. Die Offensive muss aus ausdauernden Kämpfern bestehen, die auch erforderliches Geschick dafür haben. Das Offensivteam wird deshalb aus Christine, Thomas und Sally gebildet. Anthony, Vincent und ich bilden das Passivteam, da unsere Stärken in der Strategie liegen. Amara wird unsere Reserve sein. Falls es zu einem unerwarteten Zwischenfall kommen sollte, wird sie bereit stehen, um entweder die Angriffsgruppe oder das strategische Team zu unterstützen. Solange sie aber nicht gebraucht wird, wird sie sich bei Viola und Evan aufhalten. Es könnte durchaus von Vorteil sein, wenn die Thule-Gesellschaft nichts von ihr weiß.“ „Gibt es irgendwelche Einwände oder Fragen?“ fragte Anthony schließlich und sah in die Runde. Er und Harvey hatten alles genau besprochen und versucht, eine möglichst ausgeglichene Verteilung zu gewährleisten. Evan und Viola waren weder in der Offensive noch in der Defensive hilfreich, weil Viola schnell Angst bekam und womöglich nur im Wege war und Evan konnte nicht vernünftig kommunizieren. Und da sie sich in der Traumdimension besser bewegen konnten, war es die einzig vernünftige Entscheidung, Hannah genau dort zu verstecken. Hätte Pristine die Macht besessen, die Traumdimension zu betreten, hätte sie Vincent und Hannah bei ihrer Flucht verfolgt. So wäre Hannah sicher und Evan könnte gleichzeitig für Abkürzungen über die Portale in seiner „Galerie“ sorgen. Thomas als ausgebildeter Killer, Sally als Scyomantin und Christine als höheres Wesen waren die Stärksten und vor allem Sally und Christine waren dadurch im Vorteil, dass sie nicht durch Kugeln und Messerstiche sterben konnten. Deswegen war es nur vernünftig, wenn sie zusammen mit Thomas die Angriffslinie bildeten und den anderen Rückendeckung gaben. Vincent war durch sein fehlendes Auge eingeschränkt in seinem Sichtfeld und genauso wie Anthony kein guter Nahkämpfer. Vielmehr zeichneten sich beide durch ihre Fähigkeiten als Konstrukteure aus und konnten ihre Gegner manipulieren, indem sie ihr Unterbewusstsein infiltrierten. Harvey war zwar ein gewöhnlicher Mensch ohne übersinnliche Fähigkeiten, aber dafür ein sehr guter Stratege, Schauspieler und Psychologe. Er konnte Lügen und andere Emotionen und Gedanken seiner Gegner durchschauen und so an Informationen kommen. Außerdem wollte er unbedingt Johnny befreien und davon konnte ihn niemand abhalten. Also würden Anthony und Vincent ihm den Rücken freihalten. Für alle Eventualitäten war Amara da. Sollte für irgendjemanden die Situation eskalieren, wäre sie die ideale Wahl. Sie war offensiv als auch defensiv gut ausgeglichen und konnte durch ihre Fähigkeiten als Dream Weaver und Traumfresser das Ruder herumreißen, wenn die Lage eng wurde. Alle waren mit dieser Aufteilung einverstanden und sogleich galt es zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollten. Sie wussten weder, wo sich Johnny befand, noch wo Thule ihren Hauptsitz hatte. Aber da trumpfte Harvey mit neuen Erkenntnissen auf. „Als Johnny und ich den Stützpunkt in Bayern unter die Lupe genommen haben, konnten wir Forschungsunterlagen von Dr. Helmstedter finden, in welchen auch Namen verzeichnet waren. So konnten wir herausfinden, dass es noch mehr Familienmitglieder gibt, die für die Organisation arbeiten. Die meisten sind inzwischen gestorben, aber einen lebenden Verwandten gibt es noch, nämlich einen gewissen Nathaniel Helmstedter. Er ist der zweitälteste Sohn von Alfred Helmstedter, was ihn zu Hinrichs jüngeren Bruder und zu Anthonys älterem Halbbruder macht.“ Fragende Blicke wanderten zu Anthony, der ebenfalls verwundert war. „Ich… ich habe keinen Bruder namens Nathaniel. Meine anderen Brüder hießen Karl und Markus, ansonsten hatte ich nur eine Schwester namens Sarah. Und die drei sind schon seit einer Ewigkeit tot.“ „Es ist wirklich gar nichts über Nathaniel bekannt“, erklärte Harvey schließlich. „Es gibt weder Fotos von ihm, noch irgendwelche Urkunden oder Dokumente über eine Schullaufbahn. Er ist sozusagen ein Phantom. Der einzige Hinweis auf seine Existenz sind die Notizen von Hinrich Helmstedter. Zwar beherrsche ich die deutsche Sprache und auch ein wenig Plattdeutsch, aber da die Aufzeichnungen sehr unleserlich geschrieben wurden, konnte ich nur Fragmente entziffern. Deshalb möchte ich dich um deinen Rat bitten, Anthony. Vielleicht kannst du etwas damit anfangen.“ Anthony nahm die Notizen entgegen und sah, dass Harvey nicht untertrieben hatte. Es war so krakelig geschrieben und außerdem waren die Seiten bereits vergilbt und eingerissen. Auch er konnte nur sehr wenig entziffern. „Also ich kann kaum etwas lesen, aber hier unten steht ein Vermerk, der zumindest halbwegs leserlich ist. Moment… „Ohne meinen Bruder Nathaniel hätte ich es nie geschafft, meine Theorie über die Existenz von höheren Wesen zu beweisen, die in der Lage sind, Einfluss auf unsere Träume zu nehmen. Dank ihm habe ich endlich den entscheidenden Durchbruch geschafft und habe nun die Genehmigung der Vorsitzenden, meine Forschungen auf die nächste Ebene weiterzuführen.“ Also so wie das für mich klingt, hat Hinrich mit diesem Nathaniel zusammen an den Dream Weaver Experimenten gearbeitet.“ Anthony reichte schließlich das Notizbuch an Thomas, Hannah und Vincent weiter, damit auch sie ihr Glück versuchen konnten. Aber keiner konnte mehr herauslesen. Diese Aufzeichnungen waren auch sehr alt. Dem Datum zufolge stammten sie aus dem Jahre 1922 und da war Hinrich offenbar schon Mitglied der Thule-Gesellschaft. Und so wie die Sache jetzt aussah, schien ein Großteil der Familie Helmstedter dabei gewesen zu sein. Und dieser Nathaniel spielte bei diesen Dream Weaver Experimenten offenbar eine große Rolle, wenn dank ihm Hinrich der Durchbruch gelungen war. Und dass es so gut wie gar keine Informationen zu ihm gab, sprach dafür, dass er ein Profi sein musste und sich im Hintergrund hielt. Höchstwahrscheinlich führte er jetzt Hinrichs Arbeit nach seinem Tod fort. „Also ich denke, wir sollten diesen Nathaniel suchen und ins Kreuzverhör nehmen. Wenn er wirklich mit unserem KZ-Arzt gemeinsame Sache gemacht hat, steckt er bis zum Hals drin und hat mit Sicherheit auch Informationen über Thule oder Johnnys Aufenthaltsort.“ Auch die anderen hielten das für eine gute Idee und so mussten sie nur noch herausfinden, wo sich Nathaniel befand. Gerade wollte Harvey wieder zum Reden ansetzen, da unterbrach ihn ein lautes Surren und er holte aus seiner Jackentasche ein Handy. Sein verwunderter Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass es sich um Johnny handeln musste. Nun war Christine auch neugierig geworden und rief „Stell mal laut!“ Harvey tat es und ging zu den anderen hin, damit sie besser hören konnten. „Hallo? Johnny?“ rief Harvey, während er das Handy von sich hielt. „Johnny, sag doch etwas!“ Keine Antwort, nur das blecherne Rauschen einer schlechten Verbindung. Er glaubte so etwas wie Atemgeräusche zu hören und wie zwei Stimmen im Hintergrund miteinander redeten. „Johnny, was ist los? Kannst du nicht reden? Gib wenigstens ein Zeichen!“ Wieder zwei leise Stimmen, dann wurde aufgelegt. Christine und Harvey sahen beunruhigt aus. „Das klingt nicht gut“, sagte sie und ihr Blick verdüsterte sich. „Normalerweise antwortet er, wenn jemand am anderen Ende der Leitung ist. Da ist irgendetwas faul. Harv, gib mir mal das Handy, ich werde mal versuchen herauszufinden, von wo der Anruf kam.“ Aus ihrer Tasche holte sie einen Laptop heraus und begann auf der Tastatur zu tippen. Sie war so schnell, dass man ihren Bewegungen kaum folgen konnte. „So, ich hab sein Handy geortet. Er befindet sich derzeit in Deutschland.“ „Dann muss er sich also tatsächlich in der Gewalt der Thule-Gesellschaft befinden.“ „Und wo genau?“ fragte Harvey ein wenig unruhig und schon sah Christine nach. „Das ist… die Klaus-Hoffmann-Straße 44 in Würzburg.“ Anthony glaubte nicht recht zu hören, als Christine diese Adresse nannte und starrte sie fassungslos an. „Bist du dir auch sicher?“ Sie nickte und zeigte es ihm. Ganz eindeutig war es jene Adresse und genau das war es, was den Lichtallergiker so vom Hocker riss. Sally fragte schließlich „Wieso? Was ist dort?“ „Genau dort habe ich früher mit meiner Familie gewohnt. Johnny befindet sich in meinem alten Elternhaus.“ Das erklärte seine Reaktion, aber zumindest hatten sie schon mal einen sehr guten Anhaltspunkt. Dann war es beschlossene Sache, dass sie sich auf den schnellsten Weg nach Würzburg machen sollten, um Johnny zu befreien. Dies war sozusagen der Startschuss für die Abreisevorbereitungen. Sie brauchten eine gute Ausrüstung, um für alle Eventualitäten bereit zu sein. Waffen, Verbandszeug, Funkgeräte und noch anderen Schnickschnack. Sally war die Einzige, die keine Waffe brauchte, Christine begnügte sich mit Schlagringen, und ihrer eigenen Ausrüstung. Vincent besprach noch mit Viola, Amara und Evan alles Weitere und half Hannah, die noch nicht fit genug war, um alleine zu laufen. Thomas selbst wollte sich noch von seiner Verlobten und seinem Sohn verabschieden und Christine war beschäftigt, aber dafür gesellte sich Harvey zu Anthony, der ein wenig bedrückt aussah. „Du machst dir wegen diesem Nathaniel Gedanken, nicht wahr? Du hast Angst, dass es mit ihm genauso schlimm werden könnte wie mit Hinrich.“ „Ist das so offensichtlich?“ „Als Psychologe kann ich manchmal einfach nicht aus meiner Haut. Und selbst wenn ich keiner wäre, könnte jeder erraten, was dir so durch den Kopf geht. Ich kann dich gut verstehen, dass du dich für deine Familie schämst, ich würde es auch. Wobei… ich schäme mich ja schon genug für meine leiblichen Eltern.“ „Wieso?“ „Sie kennen so etwas wie Liebe gar nicht, weshalb ich immer nur eine Art Kostgänger für sie war. Deswegen habe ich auch immer wieder Unfug angestellt und mich geprügelt, weil ich Aufmerksamkeit von ihnen wollte. Ich hab sogar mal meinen Tod inszeniert, ohne dass etwas dabei herauskam. Das Schlimmste aber kam, als ich ihnen von meinen Plänen erzählt habe. Nicht nur bezüglich der Schauspielerei, sondern auch von anderen Dingen. Ich will lieber nicht sagen, was mein Vater da gesagt hat. Er hat mich hochkant rausgeschmissen und meine Mutter sagte, ich wäre nicht mehr ihr Kind und sei es auch nie gewesen. Ich fand diese beiden Menschen einfach nur widerlich, trotzdem muss ich ihren Namen tragen. Versuch es einfach positiv zu sehen: Zwar hast du noch so einen Bruder wie Hinrich, aber mit vereinten Kräften werden wir diesen Schandfleck für immer aus der Welt entfernen. Jeder steht für den anderen ein und alle unterstützen sich gegenseitig. Etwas Besseres kann es gar nicht geben. Und es sind alle so wunderbare Menschen… Chris sagt auch gerade: Familien kann man sich nicht aussuchen, aber dafür Freunde. Und wer so wunderbare Freunde hat, kann sich eigentlich wirklich glücklich schätzen.“ Da hatten Harvey und Chris wohl recht. Egal wie furchtbar seine Familie war, er hatte Vincent, Thomas und die anderen als Freunde. Auf sie konnte er sich immer verlassen und sie setzten ihr Leben aufs Spiel, um ihn bei seinem Kampf gegen Thule zu unterstützen. „Weißt du Anthony, eigentlich sind wir beide uns sehr ähnlich. Wir haben viel erlebt und würden alles tun, um unsere Freunde zu beschützen. Aber in meinem Falle ist es leider schon zu spät. Ich konnte meinen besten Freund nicht beschützen und ich konnte auch nicht den Menschen retten, den ich geliebt habe. Deshalb ist es mir so wichtig, euch zu helfen, damit du nicht auch noch diesen Alptraum durchleben musst. Ach, da fällt mir noch etwas ein… Entschuldige mich bitte.“ Harvey stand auf und ging zu Amara, die ein wenig nervös da saß und ihren Regenschirm umklammert hielt. Anthony beobachtete, wie Harvey mit ihr redete. Sie nickte und gemeinsam gingen sie weg. Schließlich, als alle fertig waren, kam der Abschied für jene, die nicht mitkommen würden. Gemeinsam hatten sie Hannah und ihren Sohn durch ein Portal gebracht, welches in Evans Galerie führte. Da Evan mit einem Dream Weaver (nämlich Viola) verbunden war, konnte er sich eigene Traumwelten erschaffen und sie sogar betreten. Er hatte in der Vergangenheit unzählige Träume über Portale miteinander verbunden, die wie Gemälde aussahen, durch welche man in die Traumdimension gelangen konnte. Sogar zu Orten in der wirklichen Welt hatte er Portale geschaffen, sodass man zwischen Ländern und Kontinenten hin- und herreisen konnte. Man musste nur in seine Galerie als Zwischenstation. Da sie von England aus schnellstmöglich nach Würzburg kommen wollten, nahmen sie gleich schon mal die Abkürzung und nachdem Evan und Viola vorgegangen waren, halfen Thomas und Vincent Hannah hindurch. Harvey konnte zuerst nicht glauben, was er da sah, stellte aber keine Fragen und tat es den anderen gleich. Schon als er hindurchstieg, bemerkte er, dass dieses Bild oder Portal fast genauso wie eine Art Fenster war und tatsächlich kam er in einer großen Bildergalerie raus, in welcher unzählige Bilder hingen, die Evan gemalt hatte. Er staunte nicht schlecht, denn zum ersten Mal betrat er eine parallele Dimension. Hannah setzte sich in den Rollstuhl, der für sie bereitgestellt wurde und man brachte sie zum Ende der langen Galerie durch eine Tür, hinter der sich Evans „Spielzimmer“ befand, das Zentrum seiner Traumwelt und seiner Überzeugung nach der sicherste Ort. „Also gut, dann zeige ich euch mal jetzt das Portal, durch welches ihr nach Würzburg gelangt.“ Evan führte die Gruppe den langen Gang entlang und suchte die Wände nach dem richtigen Bild ab. Harvey stieß Vincent an, der neben ihm lief. „Ich dachte, der Junge kann nicht sprechen.“ „In unserer Welt nicht. Aber in seinen Träumen kann er es, weil er ja erst durch seine schwere Krankheit seine Stimme verloren hat.“ Neugierig sah sich Harvey um und entdeckte Bilder, von denen er glaubte, das Motiv schon mal gesehen zu haben. Es zeigte reale Städte, aber auch Motive, die tatsächlich danach aussahen, als würden sie einem Traum entspringen. Schließlich blieb Evan bei einem Bild stehen, welches eine große Villa mit einem wunderschönen Blumengarten zeigte. Das Grundstück war von einem Zaun eingegrenzt. „Das ist eure Station. Ich hab mich extra bemüht, euch so nah wie möglich ranzubringen. Ich werde hier in der Galerie auf euch warten, zusammen mit Amara. Viola bleibt währenddessen bei Hannah.“ Thomas, Sally und Christine gingen als Erstes hindurch, dann folgten Vincent und Harvey und zu allerletzt Anthony. Sie kamen auf einem Dachboden raus, auf welchem es ziemlich staubig war und es befanden sich ziemlich viele alte Möbel dort, die mit Tüchern abgedeckt waren. Wo genau sie jetzt waren, wussten sie nicht so genau, aber es schien so, als befänden sie sich bereits im Haus. Christine ging zum Kippfenster, öffnete es und sah nach draußen. „So wie ich das von hier aus überblicken kann, befinden wir uns in einer zweistöckigen Prachtvilla. Sag mal Anthony, hatte es deine Familie schon immer so dicke gehabt?“ Verwundert runzelte er die Stirn und erklärte „Nein, meine Familie war normaler Mittelstand. Aber wahrscheinlich hat dieser Nathaniel ziemlich viel verdient mit seinen Forschungen und denen von Hinrich. Oder aber wir sind im falschen Haus gelandet.“ „Nö, das Haus gegenüber hat die Nummer 45, wir sind richtig.“ Nun gingen auch die anderen zum Fenster, nur Harvey und Anthony begannen sich ein wenig auf dem Dachboden umzusehen und die Möbel unter die Lupe zu nehmen, die man hier abgestellt hatte. Einige von ihnen erkannte er tatsächlich aus seiner Kindheit wieder. Ein lauter Schrei alarmierte sie schließlich, aber es war nur Sally, die sich vor einer Ratte erschreckt hatte. Christine verschaffte dem sogleich Abhilfe, indem sie der Ratte den Absatz ihres Stiefels in den Rücken rammte und sie somit zerquetschte. „Man kann sich auch anstellen“, sagte sie schließlich. „Ist ja nur eine Ratte.“ „Hoffentlich hat uns niemand gehört.“ Vincent sah ein wenig nervös aus und alle blieben regungslos stehen, um zu horchen. Da aber niemand auf den Dachboden kam und auch nichts zu hören war außer dem aufgeschreckten Quieken einer weiteren Ratte, ging man davon aus, dass niemand Sallys Schrei gehört hatte. „Offenbar haben wir Glück gehabt. Aber wir sollten trotzdem aufpassen. Wir wissen nicht, wie viele Leute dort unten sind.“ „Für den Fall kann ich helfen“, meldete sich Sally, die sich von dem Schreck wieder erholt hatte. „Ich kann Seelenenergie spüren und daran feststellen, wie viele Menschen sich in der Nähe aufhalten. Bleibt mal alle bitte kurz stehen und bewegt euch nicht.“ Die kleine Nekromantin atmete tief durch und schloss die Augen. Sie musste sich konzentrieren und dabei versuchen, die Seelen um sie herum auszuklammern und die anderen im Haus zu lokalisieren. Eine hatte sie schon mal gefunden. Soweit so gut… Sie suchte weiter und fand dann schließlich eine zweite Person. Doch kaum, dass sie diese erfasst hatte, nahm sie eine so unfassbar starke Aura wahr, die ihr fast den Atem raubte. Unglaublich, dachte sie und bekam regelrecht Angst. Diese Aura war stärker als alle, die sie zuvor gespürt hatte. Die eine war vergleichbar mit der von Christine, die ihre eigene sehr gut unterdrücken konnte, um unerkannt zu bleiben. Aber diese andere Aura war so gewaltig, dass sie das ganze Haus erfasste. Sally wurde blass und taumelte ein paar Schritte zurück. Ihre Knie gaben nach, doch Harvey hielt sie fest. „Sally, was ist los? Was hast du?“ „Es sind außer uns zwei Personen im Haus. Die eine ist nicht menschlich und scheint ähnlichen Ursprungs zu sein wie Christine.“ „Ist es Johnny?“ „Das weiß ich nicht genau. Aber die andere… mein Gott… Sie ist unglaublich stark.“ „Wie stark?“ fragte nun Thomas, der sein Schwert fester umklammerte und sich innerlich auf das Schlimmste vorbereitete. Sally wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, einen ähnlichen Vergleich zu finden. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass diese Aura genauso stark ist wie meine. Aber sie ist nicht wiederum nicht so wie meine. Es ist keine Nekromantenaura, ich weiß auch nicht. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gespürt.“ Allein zu sehen, dass sogar Sally Angst vor dieser Aura hatte, beunruhigte die anderen. Wenn es stimmte und da war jemand im Haus, der Sally ebenbürtig war (und sie besaß die Macht, die ganze Welt zu zerstören), würde ihnen noch ein sehr harter Kampf bevorstehen. Schlimmstenfalls würden sie diesen nicht überleben. Kapitel 4: Nathaniel Helmstedter -------------------------------- Nachdem die kleine Nekromantin tief durchgeatmet und sich wieder beruhigt hatte, begann sie zu überlegen, was sie jetzt machen sollten. Fakt war, dass da eine Person nichtmenschlichen Ursprungs war und die andere besaß eine Kraft, die Sally ebenbürtig war. Einfach so auf Konfrontation zu gehen war glatter Selbstmord, sie mussten sich etwas überlegen. Ein Gedanke kam Harvey schließlich. „Kann es sein, dass diese gewaltige Kraft von einem Schlüsselträger kommt? Immerhin besitzen Christine und Sally allein schon eine enorme Kraft.“ „Möglich wäre es“, sagte Christine und verschränkte die Arme. „Aber garantieren kann ich für nichts.“ Harvey ging langsam auf und ab, während er nachdachte. Auch Anthony und Thomas überlegten, wie sie vorgehen sollten. Problem war außerdem, dass nicht feststand, ob die nichtmenschliche Aura nun Johnny gehörte, oder nicht. Es konnte genauso gut ein Feind sein, der Nathaniel Helmstedter beschützen sollte. Zumindest war es kein Nekromant, das hätte Sally sofort gespürt. Schließlich aber wandte sich Vincent an die anderen. „Also gut. Es macht keinen Sinn, sich hier auf dem Dachboden zu verstecken. Deshalb schlage ich Folgendes vor: Wir werden uns aus dem Hinterhalt anschleichen. Solange wir nicht wissen, wem diese starke Aura gehört, müssen wir mit allem rechnen. Das Haus scheint sehr weitläufig zu sein, das verschafft uns einen Vorteil. Wir könnten diese Person so lange umgehen, bis wir wissen, wie gefährlich sie in Wirklichkeit ist. Das erscheint zwar etwas feige, ist aber immerhin besser, als einfach blindlings von vorne anzugreifen oder hier zu sitzen und sich den Kopf zu zerbrechen.“ Dem stimmten auch die anderen zu. So ging Sally als Erste die Treppen hinunter, Christine blieb dicht hinter ihr. Nach und nach folgten die anderen und fanden sich schließlich im Flur des oberen Stockwerks wieder. Alles wirkte auf Hochglanz poliert und das Haus machte einen vornehmen Eindruck. Es erinnerte ein wenig an Anthonys Anwesen, nur standen hier nicht so viele Antiquitäten herum, aber dafür mehr Kunstgegenstände und Designermöbel, gefertigt aus allerlei Dingen. Da war eine Stehlampe, gefertigt aus Eisstielen und Spiegelscherben waren in Form einer Sonne an die Wand geklebt worden. Neugierig sah Harvey sich einen Sessel an, der vollständig aus Korken gefertigt worden war. Schließlich nickte er und sagte „Ja stimmt, du hast Recht. So etwas hab ich mir auch schon irgendwie gedacht.“ „Was hat Chris gesagt?“ „Das hier ist Recycling-Design. In der Künstlerbranche ist so etwas momentan wirklich gefragt. Hier ist jemand, der aus Müll Möbel anfertigt, oder aber er sammelt solche Dinge.“ Wie es schien, war Harvey nicht nur ein Schauspieler aus Leidenschaft, sondern auch ein kleiner Kunstliebhaber. Anthony hingegen war ein wenig unruhig und sah sich immer wieder um, da er befürchtete, sie könnten gleich überrascht werden. Schließlich winkte Sally ihnen zu, um ihnen zu signalisieren, dass sie weitergehen sollten. „Da kommt jemand auf uns zu.“ Sie folgten Sally und versteckten sich um eine Ecke. Langsame Schritte waren zu hören und kurz darauf spürte Thomas etwas an seinem Bein und als er heruntersah, entdeckte er eine schwarze Katze. Sie trug eine rote Schleife mit einem Glöckchen und hatte an ihrer linken Vorderpfote drei goldene Ringe. Für ein paar Sekunden ruhten die Augen der schwarzen Katze auf Thomas, dann lief sie davon und verschwand schließlich, als sie die Treppe hinunter in den ersten Stock eilte. „Komisch“, murmelte Sally und wandte sich an die anderen. „Die Aura ist ganz plötzlich verschwunden, als hätte sich derjenige in Luft aufgelöst.“ Sie schloss wieder die Augen und konzentrierte sich. „Oh verdammt, die andere Aura kommt direkt in unsere Richtung.“ Sie hörten Stimmen von unten her und als sie sich aus der Ecke hervorwagten und über das Geländer lugten, sahen sie jemanden die Treppe hinaufeilen. Und er war schnell. Sofort machten sich Christine, Sally und Thomas bereit, sofort zu reagieren, wenn die Person sie erreicht hatte. Anthony stellte sich schützend vor Harvey und Vincent und entsicherte seine Pistole. Thomas hielt sein Schwert bereit zum Angriff, während Christine eher gelassen blieb und ihre Fingerknöchel knacken ließ. Die Nekromantin sah beunruhigt aus und hielt sich instinktiv an Christine fest, so als suche sie Schutz, weil sie selbst Angst hatte. Diese legte aufmunternd eine Hand auf die Schulter des Mädchens. Schließlich trat der Besitzer dieser gewaltigen Aura am unteren Ende der Treppe zum Vorschein und alle waren gleichermaßen überrascht als sie sahen, dass es ein Junge war. Er hatte langes blondes Haar, graue Augen und sah nicht älter als 15 Jahre aus. Zuerst war er selbst überrascht, aber dann strahlte er übers ganze Gesicht und kam direkt auf sie zugerannt. Und schnell war klar, dass es Anthony war, den er ins Auge gefasst hatte. Er war vollkommen unbewaffnet und sah auch nicht danach aus, als wolle er angreifen. Nein, er rannte an Sally vorbei und warf sich direkt auf Anthony. Dieser als auch die anderen waren viel zu überrascht, als dass sie hätten reagieren können, besonders als der Junge Anthony auch noch umarmte. „Oh wie schön, endlich besucht mich mal jemand. Und dann auch noch Menschen! Ach ich freue mich, dich endlich mal kennen lernen zu können, Anthony.“ Irgendetwas war seltsam mit diesem Jungen, das stand schon mal fest. Sofort drückte der Konstrukteur ihn von sich weg und hielt ihn auf Abstand. Woher zum Teufel kannte er seinen Namen und war er tatsächlich derjenige mit dieser unfassbar starken Aura, von der Sally gesprochen hatte? Ihr Blick zumindest verriet, dass sie ebenfalls völlig verwirrt war. Christine hingegen schien sich über diese Szene zu amüsieren und grinste. „Moment mal“, rief Anthony und ging von dem Jungen auf Abstand. „Wer bist du eigentlich und woher kennst du meinen Namen?“ „Na du bist doch Hinrichs kleiner Bruder Anthony, richtig?“ „Du kennst Hinrich Helmstedter?“ „Na klar, er ist doch mein großer Bruder.“ Nun war auch Thomas verblufft, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Harvey schien schon die Sache durchschaut zu haben und verschränkte die Arme. „Dann bist du also tatsächlich…“ „Ich heiße Nathaniel. Schön euch kennen zu lernen.“ Das gibt es doch wohl nicht, dachte Anthony und hoffte zuerst, dass das bloß so etwas wie versteckte Kamera war. Sein älterer Halbbruder war ein Kind? Das war eigentlich völlig unmöglich es sei denn, Nathaniel war ebenfalls ein Konstrukteur. Und wenn er tatsächlich der gleiche Nathaniel aus Hinrichs Aufzeichnungen war, dann musste er doch mindestens 96 Jahre alt sein. Aber davon war überhaupt nichts zu sehen, der benahm sich wie ein Kind. Was zum Teufel wurde hier bloß gespielt und was hatte das zu bedeuten? Schließlich ergriff Nathaniel Anthonys Hand und zog ihn mit sich. „Kommt schon, wir gehen in den Salon, da ist es viel gemütlicher. Amducias hat auch schon Kaffee und Tee vorbereitet.“ Doch Anthony riss sich los und zielte mit der Pistole auf Nathaniel. Dieser war völlig verwirrt und verstand die Reaktion nicht. „Wa-warum machst du das, Bruderherz? Bist du etwa böse auf mich?“ „Erklär mir lieber was das zu bedeuten hat. Was spielst du für ein Spiel mit uns überhaupt? Erzähl mir lieber, was du mit Hinrich zu schaffen hast und warum du uns hier jetzt den naiven kleinen Jungen vorspielst!“ Nathaniels Unterlippe begann zu zittern und in seinen Augen sammelten sich Tränen. Vincent bekam Mitleid mit dem Jungen, Sally war das alles immer noch nicht geheuer, ebenso wie Thomas, nur Harvey und war rein gar nichts anzumerken. Nein, er sah Nathaniel prüfend an, so als wollte er aus seinen Bewegungen schließen, was es mit diesem Verhalten auf sich hatte. „Warum sagst du so gemeine Sachen? Ich hab doch nichts Böses getan. Ich wollte dich doch bloß kennen lernen!“ Er begann sich nun die Tränen wegzuwischen und sank zusammen. „Da bekomme ich zum ersten Mal Besuch von dir und du bist so gemein, obwohl ich doch gar nichts getan habe. Ich will doch nur, dass du mein Bruder bist!“ Als er das rief, packte er Anthonys Hand und in dem Moment war etwas deutlich zu spüren. Irgendeine gewaltige Kraft strömte aus und war selbst für die anderen zu fühlen. Es war, als würde eine fremde Energie ihren Körper durchdringen und sie sofort wieder verlassen. Zuerst geschah nichts, aber dann ließ Anthony die Waffe fallen und fasste sich mit einer Hand an die Brust. Er stöhnte vor Schmerz auf und rang nach Luft. Vincent und Sally waren sofort bei ihm und versuchten ihm zu helfen, waren aber selbst überfragt, was mit ihm los war. Ein unsagbarer Schmerz durchfuhr Anthonys Körper und er brach zusammen, während unzählige Krämpfe seinen Körper durchzuckten. Für Thomas stand fest, dass dies ein gefährlicher Angriff auf Anthony war und mit dem Schwert bewaffnet ging er auf Nathaniel zu, der langsam vor ihm zurückwich. „Was hast du mit Anthony gemacht?“ „Ich… ich…“ Nathaniel bekam kein Wort heraus und wieder flossen Tränen. Schließlich drehte er sich um und ergriff die Flucht. Während Sally und Christine bei Anthony blieben, eilten die anderen dem Flüchtigen hinterher, um ihn einzufangen. Zwar wussten sie nicht, was mit Anthony passiert war, aber offenbar hatte Nathaniel irgendeine Kraft angewandt, die ihm unsagbare Schmerzen bereitete. Während Vincent und Thomas loseilten, um Nathaniel aufzuhalten, zögerte Harvey einen Moment, bevor er ebenfalls hinterher lief. Schließlich erreichte er die beiden, die offenbar die Spur verloren hatten, da Nathaniel wohl zu schnell gewesen war. Vincent wandte sich an Thomas. „Ich werde zur Haustür gehen und ihn dort abfangen. Du suchst ihn im Erdgeschoss.“ So teilten sich beide auf, aber Harvey blieb stehen und dachte nach. Die beiden reagierten völlig falsch. Sie hatten es nicht mit einem hinterhältigen Psychopathen zu tun, der nur vorgab, ein Kind zu sein. Nein, Nathaniel war ein Kind. Aus irgendwelchen Gründen hielt er sich für ein kleines Kind und benahm sich dementsprechend auch so. Es konnte eine geistige Behinderung, selbstverursacht oder das Werk von Hinrich Helmstedter sein. Also war es völlig falsch, bewaffnet hinter ihm herzurennen und zu versuchen, ihn in die Mangel zu nehmen. Und so wie Harvey die Sache einschätzte, würde Nathaniel gar nicht versuchen, das Haus zu verlassen. Nein, er versteckte sich sicherlich. Also ging er los und suchte die Räume ab. Er war sich sicher, dass Nathaniel sich irgendwo versteckte, wo man ihn nicht so schnell finden würde. Nachdem die Durchsuchung des ersten Stockwerks nichts gebracht hatte, ging er ins Erdgeschoss. Von Thomas und Vincent war nichts zu sehen. Dafür aber traf er jemand anderen. Einen Jungen, der ungefähr Johnnys Alter hatte und eine ebenso unmenschliche Ausstrahlung hatte. Er trug einen Anzug ohne Jackett, trug am linken Handgelenk drei goldene Ringe und an seiner Weste eine Art goldene Brosche mit seltsamen Symbolen darauf. Ob das dieser Amducias war, von dem Nathaniel gesprochen hatte? „Entschuldigung, haben Sie vielleicht Nathaniel gesehen? Ich möchte mit ihm reden.“ „Mit Sicherheit befindet er sich im Keller. Dort versteckt er sich immer, wenn er sich fürchtet.“ Er führte Harvey zu einer versteckt liegenden Treppe, die hinunter in den Keller führte. Diese ging er alleine hinunter, öffnete die Tür und betrat einen Gang, der schließlich zu einem kleinen Raum führte. Der Keller war fensterlos, besaß ein rostiges altes Bett mit einer fleckigen Matratze und es befanden sich dort auch ein Waschbecken und eine Toilette. Dieser Raum sah aus wie eine Gefängniszelle. Unter dem Bett kauerte Nathaniel und er schien völlig verängstigt zu sein. Harvey kniete sich hin und sah in seine staubgrauen Augen, die denen von Anthony so ähnlich waren. „Hey, es ist alles in Ordnung. Du brauchst keine Angst zu haben, ich tu dir nichts.“ „Ich wollte das nicht, wirklich nicht! Ich weiß doch selbst nicht, was da gerade passiert ist. Das ist die Wahrheit!“ Der Junge log nicht, das sah Harvey sofort. Wenn er tatsächlich der Besitzer dieser mächtigen Aura war, musste er ähnlich wie Sally übersinnliche Fähigkeiten besitzen und hatte sie unbewusst eingesetzt. Offenbar wurde diese Kraft durch starke Emotionen freigesetzt. Harvey hielt es für vernünftig, ihn erst einmal zu beruhigen, bevor noch ein Unglück geschah. „Ich glaube dir! Aber sag mal, warum versteckst du dich hier im Keller?“ „Weil ich mich hier am sichersten fühle. Ich hab Angst, dass die anderen mich hassen und mir schlimme Dinge antun wollen.“ „Keine Sorge, das werden sie nicht. Wie wäre es, wenn du unter dem Bett hervorkommst? Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dir nichts tun werde. Aber erst mal möchte ich mich vorstellen: Ich bin Harvey und es freut mich, dich kennen zu lernen, Nathaniel.“ Langsam kam er unter dem Bett hervor und reichte Harvey eine Hand, welche er ergriff, damit er den Jungen auf die Beine helfen konnte. „Ich mache dir einen Vorschlag: Ich rede mit den anderen und sorge dafür, dass dir nichts passiert, okay? Dafür verlässt du mit mir den Keller.“ Nathaniel schien einer von der zutraulichen Sorte zu sein, da er sich bereit erklärte, mit Harvey zu gehen. Er hielt aber seine Hand fest und ließ sie nicht los. „Die anderen sind eigentlich gar nicht böse. Sie haben sich nur sehr erschrocken, als das mit Anthony passiert ist und wussten nicht, was passiert war.“ Schließlich erreichten sie wieder das Erdgeschoss und wollten wieder nach oben gehen, da kam Thomas auf sie zu und hatte immer noch sein Schwert bereit. Harvey wollte schon reagieren und ihm signalisieren, er solle die Waffe wieder einstecken, da geriet Nathaniel in Panik und rief „Nein! Bleib weg!“ Und Thomas blieb stehen. Er ließ sein Schwert fallen und bewegte sich keinen Zentimeter. Harvey ahnte, dass da etwas nicht stimmte. „Thomas, alles in Ordnung?“ „Ich kann mich nicht bewegen…“ Offenbar besaß Nathaniel tatsächlich die Fähigkeiten eines Konstrukteurs und diese war so stark, dass er sogar andere Konstrukteure beeinflussen konnte, obwohl sich diese gegen solche Angriffe abschirmten. Die einzige Lösung bestand also darin, Nathaniel zu beruhigen. „Keine Angst Nathaniel, Thomas wollte dir nichts tun. Er ist eigentlich ganz nett, wenn man ihn besser kennt. Also beruhige dich.“ Und Harveys beruhigende Worte schienen tatsächlich zu wirken. Nathaniels Angst wich und tatsächlich konnte sich Thomas wieder bewegen. Harvey wandte sich ihm zu, während er den Jungen tröstete. „Steck dein Schwert weg. Wir dürfen Nathaniel nicht so sehr emotional aufwühlen. Ich erkläre es dir später, aber lass uns erst einmal wieder zurück zu den anderen. Vielleicht können wir Anthony helfen.“ Thomas merkte wohl, dass Harvey die Sache durchschaut hatte und hielt es für das Vernünftigste, wenn er seine Waffe wieder einsteckte. Schließlich kam auch Vincent wieder, dem ebenfalls nahe gelegt wurde, Nathaniel nicht so zu erschrecken und zusammen gingen sie wieder ins zweite Stockwerk hinauf, wo die anderen noch bei Anthony waren, der das Bewusstsein verloren hatte. Vincent kniete sich neben ihm hin und betrachtete ihn besorgt. „Wie geht es ihm?“ „Er ist einfach ohnmächtig geworden, aber er lebt noch. Aber sagt mal, was war das vorhin?“ „Nathaniel besitzt die Fähigkeiten eines Konstrukteurs so wie es aussieht. Und seine sind bei weitem stärker als die von Anthony, Thomas und Vincent.“ Nathaniel nahm schließlich Anthonys Hand und senkte traurig den Kopf. „Ich wollte das wirklich nicht, ehrlich nicht. Es tut mir wirklich Leid.“ Langsam kam Anthony wieder zu sich und presste eine Hand gegen seinen Kopf. Die Erleichterung bei den anderen war groß und sofort gingen sie zu ihm hin. Nathaniel, der mit diesem Gedränge überfordert war, ging auf Abstand und Harvey blieb bei ihm. Vincent half seinem besten Freund hoch und fragte besorgt „Alles in Ordnung bei dir, Anthony? Hast du irgendwelche Schmerzen?“ „N-nein, überraschenderweise gar nicht.“ Um zu prüfen, ob auch wirklich alles mit ihm in Ordnung war, nahm Vincent ihm die Sonnenbrille ab und sah ihn genauer an. Anthony kniff die Augen zusammen, da das Licht ihn blendete und er wirkte ein wenig blass, wobei er eigentlich schon immer einen sehr blassen Hautton hatte. „Vincent lass das, das Licht…“ Anthony versuchte sein Gesicht vor dem Licht zu schützen, da es ihm furchtbare Schmerzen bereitete, aber dann hielt er inne und öffnete langsam die Augen. „Was zum…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern nahm seine Kapuze ab und riskierte damit, dass das Licht von den Fenstern direkt sein Gesicht traf. „Sag schon, was ist los?“ fragte der einäugige Vincent ungeduldig und sah zu Harvey, Christine und Nathaniel, als hätte er diese Frage ihnen gewidmet, aber keiner sagte etwas. Dann aber erklärte Anthony „Das tut gar nicht weh…“ Nun zog er seine Jacke aus und ließ sich die Sonnenstrahlen direkt auf seine Arme scheinen. „Aus irgendeinem Grund schmerzt das Licht gar nicht und ich sehe auch keinen Ausschlag. Nathaniel, was hast du mit mir gemacht?“ Doch der war selbst verwirrt und verstand nicht, was mit Anthony los war. Er wusste nicht, dass er eine genetisch bedingte Lichtallergie hatte und er deswegen zu einem Leben in Dunkelheit verdammt war. Und jetzt war diese Allergie plötzlich weg, als hätte sie niemals existiert. Keiner konnte sich das wirklich erklären, aber Christines Augen verrieten, dass sie die Antwort zu ahnen schien. „Der erste Schlüssel befindet sich im Besitz eines Engels“, sagte sie schließlich. „Und der Name Nathaniel steht für den ersten Engel, den Gott erschuf und als Erzengel ist er der Wächter des Feuers. Ich schätze mal, wir haben den ersten Schlüsselträger und damit das erste Kind der Apokalypse gefunden, welches die Pest und die Seuche ins Haus bringt. Mich wundert aber, dass er in der Lage ist, diese Fähigkeiten einfach so umzukehren. Es muss wohl an seiner extrem starken positiven Energie liegen.“ Damit sie in Ruhe miteinander reden und auch von Nathaniel vernünftige Informationen bekommen konnten, schlug Harvey vor, dass sie andere Räumlichkeiten aufsuchen sollten, um in Ruhe miteinander zu reden. Auf Nathaniels Vorschlag hin gingen sie in den Salon, wo bereits für sie alle der Tisch gedeckt war. Nathaniel bediente sich am Süßgebäck und schien sich deutlich zu entspannen. Harvey hatte Anthony geraten, bei seinem älteren Halbbruder zu sitzen, da dieser offenbar Sympathien für ihn zu hegen schien und Harvey nahm ihm gegenüber Platz, um ihn besser sehen zu können. Außerdem hatte er dafür gesorgt, dass Thomas sich etwas weiter weg von Nathaniel befand, da dieser das Talent besaß, wirklich jedem Menschen mit seinem finsteren Blick Angst einzujagen. „Also Nathaniel, erzähl doch mal, warum du hier ganz alleine lebst.“ Unsicher zuckte er mit den Achseln und wich Harveys Blick aus. „Ich hab schon immer allein gelebt in diesem Haus. Alleine mit meinem Bruder Hinrich.“ „Das kann aber nicht sein“, warf Anthony ein und schüttelte den Kopf. „Ich hab doch mit meiner Familie auch hier gelebt, aber da war das hier noch keine Villa. Und mir hat niemand etwas gesagt.“ „Hast du im Keller gewohnt?“ fragte Harvey, ohne Anthonys Worten Beachtung zu schenken und er bekam ein Nicken zur Bestätigung. „Seit ich denken kann, habe ich im Keller gelebt und keinen anderen Menschen außer Hinrich gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass es auch etwas anderes außer dem Keller gibt.“ „Dann heißt das also“, sagte Sally schließlich und sie sah schockiert aus. „Du hast den Keller niemals verlassen?“ „Erst als Johnny mich rausgeholt hat. Er sagte, dass Hinrich verschwunden sei und ich nun ganz alleine bin. Aus eigener Kraft konnte ich den Keller nicht verlassen, also hat Johnny mir geholfen.“ „Wann war das?“ Nathaniel begann an den Fingern abzuzählen, da ihm das Rechnen im Kopf wohl schwer fiel. „Vor sechs Jahren, glaub ich.“ Nun waren alle fassungslos, denn das hieß ja, dass Nathaniel knapp 90 Jahre in einem fensterlosen Keller verbracht hat und in der Zeit niemals einen anderen Menschen zu Gesicht bekam als Hinrich. Aber das würde zumindest erklären, warum er sagte, dass er Besuch von Menschen bekam. Johnny war ja kein Mensch und dieser Amducias offensichtlich auch nicht. Harvey stellte schließlich die nächste Frage „Warst du überhaupt schon mal draußen?“ Ein Kopfschütteln war die Antwort und Nathaniel erklärte „Ich wollte zwar immer raus, aber ich hatte Angst. Mein Keller war so klein, aber ich kannte jedes Versteck und das Haus hier ist schon riesig. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlassen will, krieg ich Panik und kann nicht mehr atmen. Deshalb bleibe ich lieber hier drin und bastle tolle Sachen. Ich nähe Stofftiere, repariere Spielzeug und aus den Sachen, die Amducias bringt, mache ich Neues.“ Mit einem kindlichen Stolz zeigte Nathaniel auf eine Sitzgruppe nicht weit weg. Die Stühle waren aus Autositzen und anderem Zubehör gemacht und der Tisch bestand unter anderem aus einer Motorhaube. Harvey war tief beeindruckt. „Das alles machst du?“ „Ja, Johnny und Amducias haben mir gezeigt wie das geht und ich hab großen Spaß daran. In anderen Dingen bin ich da eher ziemlich ungeschickt. Die meisten Sachen verkauft Amducias, aber die Lieblingsstücke behalte ich.“ Nathaniels ganzer Charakter schien etwas Warmherziges, Fröhliches und Unbeschwertes zu haben. Er wirkte tatsächlich wie ein Kind, das nicht älter als acht oder neun Jahre alt sein konnte. Aber warum war er so? Was war die Ursache gewesen? Sie mussten wohl auf Harveys Urteil warten. Als dieser schließlich Fragen zu Hinrich stellte, da verschwand das strahlende Gesicht und Nathaniel schrumpfte in sich zusammen. Mit dem Namen schien er schlimme Erinnerungen zu verbinden. Harvey ging ganz vorsichtig vor und fragte „Hat er dir mal wehgetan?“ Ein stummes Nicken, Nathaniel senkte den Kopf so weit, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte. „Er hat mir sehr oft wehgetan und nicht aufgehört, als ich gesagt habe, dass ich das nicht will.“ „Was genau hat er denn getan?“ Aber Nathaniel antwortete nicht, sondern begann leise zu schluchzen. An dieser Stelle unterbrach Harvey und wies Anthony, Vincent und Thomas an, mit ihm zu kommen. Christine und Sally sollten bei dem Jungen bleiben. Harveys Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er schon ungefähr eine Ahnung hatte, was mit Nathaniel passiert war und wieso er sich so seltsam benahm. Kapitel 5: Johnnys Verrat ------------------------- Als sie auf dem Flur waren, schloss Harvey die Tür und fuhr sich durchs Haar. „Also so wie ich das sehe, spielt der Junge uns nichts vor und er ist auch nicht geistig behindert. Ich kann noch nichts Genaues sagen, aber so wie es scheint, hat er unbewusst seine Fähigkeiten eingesetzt, um sich selbst zu einem Kind zu machen, das niemals erwachsen wird. Wenn sein älterer Bruder ihn tatsächlich 90 Jahre lang im Keller gefangen gehalten und ihn psychischer und physischer Folter ausgesetzt hat, muss er schwere Traumata davongetragen haben. Viele Menschen würden an dieser Isolation und den Schmerzen zugrunde gehen und verrückt werden. Weil sich Nathaniels Hirn vor diesen Schäden schützen wollte, hat sein Unterbewusstsein eigenmächtig reagiert und ihn in diesen Zustand versetzt. Er scheint seine Fähigkeiten immer dann unbewusst einzusetzen, wenn er sich in Bedrängnis fühlt oder er stark schwankende Gefühle hat. Es ist aber auch nicht ganz auszuschließen, dass Hinrich ihn manipuliert und in diesen Zustand versetzt hat. Allerdings halte ich das persönlich für eher unwahrscheinlich. Er hätte doch seine Nekromantenkräfte nutzen können, um Nathaniel sofort zu töten.“ Dem stimmte Anthony zu, aber trotzdem war er sich nicht sicher, was er von der Sache halten sollte. Denn er fragte sich, was es mit diesem rätselhaften Anruf auf sich hatte, der von Johnnys Handy kam. Vielleicht wusste Nathaniel ja die Antwort. Also gingen sie wieder rein und trafen außer den beiden Mädchen und Nathaniel noch einen Jungen an, den Harvey als diesen von vorhin wiedererkannte, der ihm den Hinweis gegeben hatte, Nathaniel im Keller zu suchen. Er grüßte Christine in einer unterwürfigen Art und Weise, als würde ein Bauer sich vor seinem König verbeugen und sprach sie mit „Herrin“ an. „Kennt ihr euch etwa?“ fragte Thomas ein wenig schroff, was aber auch daran liegen konnte, weil er noch ein wenig sauer wegen vorhin war, als Nathaniel ihn lahm gelegt hatte. „Das ist Amducias, er war vor langer Zeit mein Diener, als wir dem alten Kult noch angehörten. Eine wirklich loyale Seele, ein guter Musiker und auch sehr zuverlässig. Er hat sich später um Johnny gekümmert.“ „Der junge Herr Johnny bat mich vor sechs Jahren, mich um Nathaniel zu kümmern und auf ihn aufzupassen. Derzeit bin ich sein Freund, Lehrer, Diener und Spielgefährte.“ „Und hast du Johnny gesehen? War er hier?“ Hier holte Amducias eine Taschenuhr hervor, die an einer Kette befestigt war und sah sich die Uhrzeit an. „Er war heute Morgen da gewesen, um nach dem Rechten zu sehen. Danach ist er wieder gegangen und sagte, er habe etwas sehr Wichtiges zu tun.“ „Und warum kam dann dieser Anruf von seinem Handy?“ Harvey wählte die Nummer und rief Johnnys Handy an. Ein bis zwei Sekunden verstrichen, dann hörten sie das etwas blechern klingende Lied „Trololo“ von Eduard Khil. Irgendwie klang es in diesem Moment verdächtig danach, als würde Johnny sich über sie lustig machen und ihnen sagen, dass er sie verarscht habe. Harvey ließ sein Handy sinken und mit einem genervten Gesichtsausdruck sagte er „Jep, das ist eindeutig Johnnys Handy…“ Nathaniel holte das klingelnde Handy aus seiner Hosentasche und sah es sich ein wenig ratlos an. „Wie kriegt man das Ding denn aus?“ Und offenbar hatten weder Amducias noch Johnny dem Jungen erklärt, wie ein Handy funktionierte. Wahrscheinlich war er versehentlich auf die Taste gekommen, mit der man das Gespräch annahm und hatte dann so lange herumprobiert, bis er zufällig aufgelegt hatte. Das hieß also, dass das alles bloß falscher Alarm war und Johnny sich eventuell gar nicht in Gefahr befand. Aber warum zum Teufel ließ er einfach sein Handy zurück und haute ab, ohne etwas zu sagen? Das alles war ihnen ein Rätsel und selbst Christine war nicht gerade begeistert. „Diese miese kleine Ratte treibt mich noch in den Wahnsinn. Wenn ich den in die Finger kriege, kann er sich warm anziehen.“ Anthony wandte sich schließlich an Nathaniel, der immer noch ratlos das Handy anstarrte und nicht die geringste Ahnung hatte, was er damit machen sollte. „Weißt du vielleicht, wo Johnny hingegangen ist und was er vorhat?“ „Nein, er hat mir nur gesagt, dass mein Bruder Anthony mich besuchen kommen wird. Und ich hab mich da riesig drauf gefreut, weil ich dich unbedingt kennen lernen wollte! Johnny sagte, dass du viel netter bist, als Hinrich.“ Dann hatte es Johnny also vorausberechnet, dass sie hierherkommen würden, wenn Nathaniel mit dem Handy zu experimentieren begann, weil er telefonieren wollte? Wie viel wusste Johnny und warum machte er das alles? Diese Frage stellte auch Thomas, dem die Sache nicht ganz geheuer war, aber selbst Harvey und Christine waren ratlos. „Johnny war schon immer sehr eigensinnig gewesen und hat einigen Unfug angestellt. Selbst auf mich hat er nie gehört. Stattdessen verpasst er der Mona Lisa im Louvre einen Schnurbart, malt dem Jesus vom letzten Abendmahl Hörner und der Venus von Botticelli hat er bunte Handabdrücke auf den Brüsten hinterlassen. Ganze Museen hat er auf ähnliche Weise verschandelt und sich Scherzanrufe mit Stalin erlaubt, wodurch der Kalte Krieg fast eskaliert wäre, wenn Kennedy das nicht wieder ausgebügelt hätte. Nun gut, man kann sich im Notfall auf ihn verlassen und er würde alles tun, um den Genozid zu verhindern. Aber selbst ich kann seine bescheuerten Aktionen manchmal nicht ganz nachvollziehen.“ Was sie da sagte, passte exakt in Harveys Bild. Nach einer Weile meldete sich überraschenderweise Sally zu Wort, der eine Frage auf der Seele lastete. „Ich würde ja gerne wissen, ob Nathaniel jetzt bloß ein Konstrukteur ist, oder nicht. Und woher kommt diese starke Kraft?“ „Das liegt doch auf der Hand“, erklärte Christine. „Das höchste Gesetz besagt, dass es immer ein Gegenstück geben muss. Und Nathaniel ist dein bislang fehlendes Gegenstück, nämlich ein Vivomant.“ Mit dem Begriff konnte wirklich niemand etwas anfangen, weshalb Christine es ausführlicher schildern musste. „Vivo leitet sich vom lateinischen Vivus ab und bedeutet „lebendig“. Diese Vivomanten können Einfluss auf alles Lebende nehmen, ohne es dabei zu zerstören. Du Sally, beherrschst alles Tote, selbst leblose Materie. Ich denke, dass Nathaniel kein Konstrukteur ist, sondern dass das, was er mit Thomas gemacht hat, seine eigene Kraft war. Er ist in der Lage, das Bewusstsein und Unterbewusstsein aller anderen zu beherrschen, selbst Konstrukteure können sich nicht dagegen wehren. Vivomanten sind extrem selten und können für gewöhnlich solch eine Macht gar nicht ausüben. Der letzte, der solch eine Kraft besaß, hat vor knapp 2000 Jahren gelebt. Jedenfalls beherrscht Nathaniel die gleichen Fähigkeiten wie ein Konstrukteur, nur sind diese bei weitem stärker und lassen sich nicht abwehren. Ein Vorteil ist natürlich, dass er durch diese immense positive Energie seine Kraft als Schlüsselträger umkehren kann. Statt also Krankheiten und Seuchen zu verbreiten, hat er zum Beispiel Anthony von seiner Krankheit geheilt, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Demnach müssen wir eigentlich keine Gefahr von ihm befürchten, dass er uns alle umbringen könnte.“ „Woher weißt du eigentlich, dass Nathaniel Krankheiten verursachen kann?“ „Wenn ihr die Bibel gut studiert hättet, dann wüsstet ihr die Antwort.“ Na super, schon wieder ein Bibelquiz, dachte Anthony und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Fragend ging der Blick durch die Runde, aber kaum jemand schien genug von der Offenbarung zu wissen. Selbst Harvey schien sich nicht ganz sicher zu sein, bis man schließlich Sally fragte, die bereits zuvor gezeigt hatte, dass sie die Offenbarung des Johannes inhaltlich ganz gut kannte. Sie selbst dachte gerade nach und begann langsam an den Fingern abzuzählen. Dann aber fragte sie „Kann der dritte eine Hungersnot verursachen?“ „Das will ich wohl meinen. Alles, was er anfasst, verdirbt und verfault.“ „Hast du etwa die Antwort?“ kam es von Thomas, der die ganze Zeit schon sehr ruhig war und immer wieder zu Nathaniel schaute und ihn mit einem prüfenden Blick an. Sally nickte und erklärte „Die Reiter der Apokalypse!“ „Geht es etwas genauer?“ „Es gibt vier apokalyptische Reiter und sie decken sich mit den Fähigkeiten der Schlüsselträger. Der erste Reiter, nämlich der weiße Reiter mit dem Bogen, symbolisiert die Gerechtigkeit, aber er besitzt die Fähigkeit, die schlimmsten Krankheiten über die Welt zu bringen, um die Sünder von der Erde zu vertilgen. Der zweite Ritter mit seinem roten Pferd wird den Krieg und die Zerstörung ins Land bringen und die Flüsse in ein Meer aus Blut verwandeln. Der dritte Reiter auf seinem schwarzen Pferd trägt eine Waage und wird die Inflation und den Hunger bringen und alle Felder verdorren lassen. Der vierte Reiter auf einem fahlen Pferd wird mit einer Lanze kommen und den Tod und das Leid bringen. Das heißt, dass die apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung für die vier Schlüsselträger stehen, die das jüngste Gericht einläuten werden. Demnach ist Nathaniel der erste Reiter, Christine der zweite und ich der vierte. Fragt sich nur, wer der dritte ist und wer das Buch besitzt. Leider weiß ich den Rest nicht mehr so genau…“ „Wenn ich euch mal etwas Interessantes erzählen darf“, meldete sich Christine und nahm einen Schluck Tee. „Bevor der Schlüssel an einen Menschen überging, war Pristine die erste Trägerin.“ Ungläubige Blicke kamen von allen Seiten und sogar Thomas war verwundert und fragte „Und warum sie?“ „Weil der erste Reiter die Gerechtigkeit und Reinheit bringt und Pristine stand für diese ein, bevor sie uns alle verraten hat. Da sie aber besessen von Reinheit war, grauste sie sich davor, den Genozid mittels Krankheiten auszuführen. Deshalb wollte sie unbedingt die anderen Schlüssel haben, einschließlich meinen. Während ich gegen sie gekämpft hatte, gelang es Johnny mit einem Trick, ihr den Schlüssel abzunehmen, weshalb Pristine nicht mehr länger ein Kind der Apokalypse ist. Es war eine notwendige Schadensbegrenzung.“ Also soweit sie schon mal wussten, hatten sie drei von vier apokalyptischen Reitern gefunden, die die Schlüssel für die sieben Siegel des Buchs besaßen, nachdem Johnny sie entwendet hatte. Es fehlte der dritte Schlüsselträger, der die Hungersnot und Inflation brachte. Und vor allem war fraglich, wo das Buch war. Sally strengte ihre grauen Zellen an und versuchte sich an die genauen Textabschnitte zu erinnern. „Ach ich wünschte, meine Schwester Christie wäre noch am Leben. Sie hat damals die Bibel bis in die letzte Zeile auswendig gekannt und mir oft vorgelesen. Ich weiß nur, dass da Tiere im Spiel waren, als das Buch geöffnet werden sollte. Da war etwas von einem Löwen und einem Lamm.“ „Ein Lamm mit sieben Augen und sieben Hörnern“, ergänzte Harvey. „Ein Lamm wird von Gott als würdig befunden und ist als Einziges in der Lage, das Buch zu öffnen.“ „Sollen wir jetzt in einem Zoo suchen gehen?“ fragte Thomas und Christine, Sally und Vincent mussten sofort lachen, als sie das hörten. Er selbst schien aber nicht zu verstehen, was denn so lustig war. Dann aber erklärte Christine „Das Lamm symbolisiert für die Christen alle Gläubigen und auch Jesus Christus. Allerdings besaß er weder sieben Augen noch sieben Hörner, das weiß ich selbst! Mir würde auch so jetzt niemand einfallen, der infrage käme. Aber das ist auch eigentlich nicht so wichtig. Selbst wenn Pristine das Buch schon längst in ihrem Besitz haben sollte, kann sie ohne die vier Schlüssel rein gar nichts damit anfangen, außer es als Dekoration für ihr Bücherregal zu benutzen. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren, die vier Schlüssel zu sammeln, bevor sie in falsche Hände geraten. Der Hinweis von Papst Urban lautete, dass der dritte Schlüssel im Besitz einer Hexe ist. Wir müssten also nach einer Frau suchen, die sich mit Okkultismus und schwarzer Magie beschäftigt.“ Dies würde nicht ganz so einfach werden, denn mit den anderen Schlüsselträgern hatten sie bislang Glück gehabt. Nathaniel waren sie mehr oder weniger zufällig über dem Weg gelaufen, wobei sie eher davon ausgehen konnten, dass alles von Johnny fingiert war. Schließlich fragte Vincent, ob es nicht einfacher wäre, die Schlüssel ganz einfach zu zerstören. Das Problem aber lag nur leider darin, dass es nicht so einfach war, immerhin waren es keine normalen Schlüssel. Selbst wenn man die Schlüsselträger tötete, würde ihre Kraft auf einen anderen übertragen werden. Deshalb gab es auch überhaupt Nekromanten, weil Sally die Kraft von ihrem Vorgänger „geerbt“ hatte. „Theoretisch könnten wir einen Vorteil gewinnen, wenn wir die drei Schlüsselträger beseitigen. Aber ich würde das lieber vermeiden, weil ich nur ungern unschuldige Menschen opfere, wenn es sich vielleicht vermeiden lässt. Sally hat eine Familie, die auf sie wartet und sie hat Freunde. Nathaniel hat nie einer Fliege etwas zuleide getan und kann nichts dafür, dass er diese Kraft in sich trägt und ich beiß auch nur ungern ins Gras.“ Also war das Finden des dritten Schlüsselträgers die beste Alternative, die sie hatten. So konnten sie sich zumindest das lange Suchen nach Pristine sparen. Wenn sie erfuhr, dass ihre Zwillingsschwester die anderen gefunden hatte und alle wie auf dem Silbertablett präsentiert wurden, konnten sie sie aus der Reserve locken und einen Angriff ausführen. Sie schwiegen eine Weile nachdenklich und Nathaniel, der offenbar nicht viel von alledem verstand, was gesagt wurde und zudem Langeweile hatte, schnappte sich einen weißen Stoffhasen und begann ihn mit Nadel und Faden zu flicken. „Müsst ihr bald wieder gehen?“ fragte er und sah Anthony mit seinen großen Augen an. Irgendwie wirkte er niedlich und Anthony konnte nicht anders, als bei diesem Hundeblick zu schmunzeln. „Ja, wir müssen eine Gruppe von Leuten aufhalten, die sehr schlimme Dinge tun. Noch schlimmere Dinge als Hinrich.“ Nathaniel nickte und fragte überraschenderweise „Und kann ich irgendwie helfen? Ich weiß, dass ich eine Heulsuse bin und schnell Angst habe, aber vielleicht ich irgendetwas tun, um…“ „Vergiss das lieber“, warf Thomas in einem kalten und strengen Ton ein, woraufhin Nathaniel zusammenzuckte und den Stoffhasen an sich klammerte. „Solange du deine Kraft nicht unter Kontrolle hast, bist du eine Gefahr für uns alle. Du würdest uns nur behindern, oder unser Leben gefährden.“ „Also das musst du doch nicht gleich so hart sagen“, kam es überraschend von Anthony und legte tröstend einen Arm um Nathaniels Schultern. Offenbar war dieser davon überzeugt, dass sein älterer Halbbruder vollkommen unschuldig und selbst nur ein Opfer war, dem er helfen musste. Sein Beschützerinstinkt war geweckt und außerdem war es auch Dankbarkeit, dass dieser seine Lichtallergie geheilt hatte. „Mag sein, dass er uns keine große Hilfe sein wird, aber wir können ihn allein deshalb nicht zurücklassen, weil er ein Schlüsselträger ist.“ „Und wie will er das Haus verlassen, wenn er noch nie draußen war und unter Agoraphobie leidet?“ Auch das war ein Argument, aber Christine musste Anthony zustimmen. Amducias sei zwar ein guter Diener, aber vom Kämpfen habe er überhaupt keine Ahnung und wenn Pristine aufkreuzen würde, hätte sie mit beiden ein leichtes Spiel. Sie waren in der Zwickmühle und mussten sich etwas einfallen lassen. Hierbleiben war auch keine Lösung. Schließlich schlug Harvey vor „Dann teilen wir uns auf. Ein paar von uns bleiben bei Nathaniel, die anderen gehen weiter. Oder noch besser: Wir beordern Amara hierher und sie passt auf ihn auf.“ Gerade wollten die anderen sich zu dem Vorschlag äußern, da klingelte es an der Tür und Nathaniel wollte hingehen, aber Sally hielt ihn zurück. „Sally, was ist los?“ „Eine starke Energie… ich glaube nicht, dass das bloß irgendwelche Menschen sind. Besser ist, wenn ich nachsehen gehe. Ihr bleibt hier und passt auf Nathaniel auf!“ Damit erhob sich die kleine Nekromantin und verließ den Salon. Gespannt warteten die anderen und es wurde still. Sie hörten nur ihre Schritte auf dem Flur und wie etwas später die Eingangstür geöffnet wurde. Wieder trat Stille ein und eine Minute verstrich, in der nichts geschah. Vincent war beunruhigt. „Ich glaube, da stimmt etwas nicht. Wir sollten nachsehen gehen…“ Gemeinsam mit Thomas und Christine ging er schon zur Salontür, da wurde sie regelrecht aufgestoßen und sofort hatten alle ihre Waffen bereit, da sahen sie Johnny, der ihnen breit grinsend entgegen kam. „Hey Ladies, habt ihr mich vermisst?“ Nun war selbst Christine sprachlos, als sie ihn sah und konnte es nicht glauben. „Johnny? Was zum Henker machst du denn hier?“ „Hey alte Frau, lang nicht mehr gesehen. Oh Harvey-boy, du siehst ja auch absolut blendend aus. Der bescheuerte Blick in deinem Gesicht steht dir echt gut.“ Irgendwie verstand keiner so wirklich, was das alles zu bedeuten hatte und sie alle bekamen kein Wort raus. Nathaniel hingegen war überglücklich und stürmte direkt auf Johnny zu, woraufhin er ihn umarmte. Er umarmte ihn liebevoll wie einen großen Bruder. „Schön dass du vorbeikommst, Johnny. Ich hab dich so vermisst!“ „Könntest du mir bitte mal erklären, Freundchen, was das alles soll?“ fragte Christine und ihr war anzusehen, dass sie zwar auf der einen Seite froh war, ihn zu sehen, aber auf der anderen Seite auch richtig wütend war. „Wir machen uns alle Sorgen um dich und glauben, du wärst von Pristine entführt worden. Und jetzt kommst du hier einfach reinspaziert und tust so, als wäre nichts. Wo hast du dich wieder rumgetrieben, junger Mann? Und überhaupt: Du sollst mich nicht so nennen!!!“ Johnny ignorierte die Schimpftirade seiner Ziehmutter und ließ kurz den Blick durch die Runde schweifen. „Hast dir ein buntes Grüppchen zusammengesucht, Harv. Nicht schlecht.“ Auch Harvey kämpfte mit gemischten Gefühlen, denn er war auch nicht gerade begeistert davon, dass Johnny mal wieder mit seinen Aktionen ein absolutes Chaos verursacht hatte. „Wo bist du gewesen und wieso hast du dein Handy einfach da gelassen?“ „Ich hatte etwas zu erledigen und das Handy hätte nur gestört. Es ist mir gelungen, den dritten Schlüsselträger zu finden.“ Erstaunen und Verwunderung in der Gruppe und selbst Harvey konnte es noch nicht so wirklich glauben. „Du… du hast den Schlüsselträger gefunden? Und wo ist er?“ Johnny antwortete nicht, sondern sah seinen Freund und Mitbewohner mit einem seltsamen Blick an. In seinen roten Augen leuchtete etwas Unheilvolles. Etwas stimmte hier nicht und so fragte Harvey beunruhigt „Johnny… was ist hier los?“ Wieder keine Antwort, dafür aber ein verschlagenes und boshaftes Grinsen und sie alle ahnten Schlimmes. Harvey wurde blass, wich einen Schritt zurück und fragte „Und wo ist Sally?“ Jetzt wo er es sagte, merkten auch die anderen, dass Sally gar nicht zurückgekommen war. Selbst wenn bewaffnete Soldaten sie angegriffen hätten, wäre es für sie überhaupt kein Problem gewesen, sie zu überwältigen und zurückzukommen, um die anderen zu warnen. Aber sie kam nicht. Nun ahnte auch Christine nichts Gutes und stellte sich vor die anderen. „Johnny, was hast du getan?“ Als sie wieder dieses breite Grinsen sahen, merkten sie langsam, dass hier ein falsches Spiel getrieben wurde und Johnny nichts Gutes im Schilde führte. Er stieß Nathaniel einfach beiseite, sodass dieser beinahe gestürzt wäre, wenn Anthony ihn nicht aufgefangen hätte. Thomas ergriff sein Schwert und richtete es direkt auf Johnny, woraufhin dieser stehen blieb und ihn mit einem giftigen Blick musterte. „Ich habe meine Pläne ein klein wenig geändert, Mum. Ich werde alle vier Schlüssel in meinem Besitz bringen und selbst das Buch benutzen, um Thule auszulöschen. Zwei habe ich schon mal, fehlen nur noch du und Nathaniel, dann brauche ich nur noch das Buch.“ Christines Hände ballten sich zu Fäusten und ihr Blick wurde so düster, dass sie schon richtig furchteinflößend aussah. Schließlich holte sie mit ihrer Rechten aus und verpasste Johnny einen so verheerenden Faustschlag, dass er durch die Tür krachte und quer durch die Eingangshalle segelte, bis er gegen die Wand prallte und zu Boden stürzte. „Ich glaube, ich hör wohl nicht richtig!“ rief sie und kam direkt auf ihn zu, wobei sie ihre Schlagringe anlegte und sich die Ärmel hochkrempelte. „Wofür hab ich dich all die Jahre erzogen und dir beigebracht, dass man mit solchen Dingen vorsichtig umgehen soll? Du weißt genauso gut wie ich, dass sich das Buch nicht unter Kontrolle halten lässt, wenn erst einmal die Siegel geöffnet werden. Hab ich einen Vollidioten großgezogen, oder was? Wie es scheint, muss dir mal jemand beibringen, dass kleine Kinder nicht mit dem Feuer spielen sollten. Ich werde es jedenfalls nicht zulassen, dass du eine solch gefährliche Waffe in die Finger kriegst und…“ Christine brachte den Satz nicht zu Ende, da mehrere Messer auf sie zuschossen und sie in den Kopf, in den Hals und in die Brust trafen. Sie fiel nach hinten und blieb liegen. Johnny kam wieder auf die Beine und wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Mundwinkeln. „Halt doch den Rand, alte Frau. Du bist weich geworden, das ist alles. Ich werde das Buch und die vier Schlüssel in meinen Besitz bringen und wer mich aufhalten will, den bringe ich ganz einfach um. So sieht es aus. Dann werde ich die Macht besitzen, die Apokalypse einzuleiten!“ Wieder wurden Messer geworfen, jedoch waren sie dieses Mal gegen die anderen gerichtet. Thomas konnte sie mit seinem Schwert abblocken und ging selbst zum Angriff über, während Vincent und Anthony Nathaniel beschützen wollten. Harvey stand regungslos da und verstand das alles einfach nicht. Johnny war doch sein Freund und Mitbewohner und er hatte ihn trotz seines miesen Charakters immer geschätzt und auch seine anderen Seiten gekannt. Normalerweise war Johnny ein Mistkerl, aber er würde niemals seine Freunde und Mitstreiter verraten. Oder hatte er ihn komplett falsch eingeschätzt und ihn niemals richtig gekannt? Fakt war jedenfalls, dass Johnny ihnen die Schlüssel abnehmen wollte und er würde auch nicht zögern, sie umzubringen. Kapitel 6: Ein herber Rückschlag -------------------------------- Johnny war so schnell, dass man seinen Bewegungen kaum folgen konnte. Zwar leistete Thomas erheblichen Widerstand und tat alles, damit Johnny nicht an ihm vorbei kam, aber er konnte kaum mit seiner Geschwindigkeit mithalten. Vor allem die Schläge, die auf ihn einprasselten, hatten es in sich. Schließlich schleuderte ihn eine gewaltige Druckwelle weg und so kam Johnny direkt auf die beiden Konstrukteure zu, seine Wurfmesser hatte er parat. Schließlich aber stellte sich Harvey ihm in den Weg. „Johnny, jetzt hör endlich auf mit diesem Schwachsinn und erklär mir, was das soll! Warum tust du das? Ich dachte, du wärst auf unserer Seite.“ „Das habe ich nie gesagt“, erklärte Johnny und blieb stehen. „Ich habe lediglich gesagt, dass ich den Genozid verhindern will, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich auf eurer Seite bin. Und da ich bereits den dritten und vierten Schlüssel in meinem Besitz habe, brauche ich euch eigentlich gar nicht mehr. Alles, was ich will, sind die anderen zwei Schlüssel. Was aus euch wird, interessiert mich nicht die Bohne.“ Diese Worte waren zu viel und Harvey verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht. Nun gut, er war bei weitem nicht so verheerend wie der von Christine, aber er hatte es trotzdem in sich. Wütend packte der Schauspieler ihn am Kragen und hob ihn fast von den Füßen hoch. „Warum ziehst du so eine linke Nummer mit uns ab? Wir sind Freunde verdammt und Chris und ich haben dir vertraut.“ „Ist euer Pech“, entgegnete Johnny kalt und befreite sich aus Harveys Griff, dann verpasste er ihm eine Kopfnuss und schleuderte ihn einige Meter weg. Als Harveys Flug ähnlich wie Johnnys vorhin gebremst wurde, warf dieser zwei Messer nach ihm und diese verfehlten seinen Kopf nur um Haaresbreite. „Als Freundschaftsbonus gebe ich dir noch eine Chance. Hau ab nach Hause, ich hab keine Verwendung mehr für dich.“ Gerade wollte er seine nächsten Messer werfen, da hielt Christine seinen Arm fest, packte ihn mit beiden Händen und schleuderte ihn mit einer fast unheimlichen Kraft durch das Haus, dann verschwand sie urplötzlich und tauchte etwas weiter weg wieder auf und stellte sich direkt in Johnnys Flugbahn. Sie holte nun mit ihrer Linken aus, um ihm einen weiteren Schlag zu verpassen, doch dieses Mal gelang es ihrem Ziehsohn, den Angriff zu kontern, indem er mit seinem Messer gegen ihre Schlagringe hielt. Mit einem gezielten Tritt in die Magengrube konnte er sie lange genug außer Gefecht setzen, um Thomas’ Schlag abzuwehren, der von hinten kam. „Ich hab es doch schon tausend Mal gesagt, dass ich es absolut nicht leiden kann, wenn mir jemand von hinten zu nah rankommt.“ Johnny bekam das Schwert zu fassen, welches augenblicklich zu rosten begann. „Und ein Schlüsselträger zu sein, hat durchaus Vorteile. Jetzt besitze ich nicht nur Sallys Kraft, sondern kann auch alles verfaulen, verrotten und zerfallen lassen, was ich will. Und wenn ich die anderen beiden Schlüssel besitze, werde ich in der Lage sein, einen Krieg nach dem anderen zu entfesseln und jede Krankheit auf die Menschheit loszulassen. Und diese Kraft werde ich nutzen, um Pristine den Garaus zu machen und den ganzen Thule-Laden in den Boden zu stampfen.“ Das Schwert zerbrach, als es völlig durchgerostet war und so zog Thomas die Pistole und richtete sie auf Johnnys Stirn. Dieser war aber schneller, verdrehte dem Ex-Stasi den Arm und es kam zu einem heftigen Handgemenge, wobei es dem Johnny gelang, seinem Kontrahenten den Arm zu brechen und ihn somit auf die Matte zu schicken. Christine hatte sich wieder berappelt und wollte von hinten zuschlagen, doch sie tat es nicht. Aus irgendeinem Grund zögerte sie und das nutzte Johnny und griff daraufhin zuerst an. Er stieß sie gegen die Wand und holte etwas hervor, das wie ein langer metallener Pfahl aussah und rammte ihr diesen in die linke Handfläche. Christine schrie vor Schmerz auf und war nicht imstande, sich zu wehren, da packte Johnny sie an der Kehle. „Wie ich schon sagte: du bist echt zu weich geworden, alte Frau. Du hättest mich ganz einfach an meinem wunden Punkt erwischen können, aber dein Mitleid für die Mischlinge und deine Liebe zu mir haben dich schwach gemacht. Außerdem wäre es klüger gewesen, wenn du die sieben Pfähle des Purgatoriums nicht am Körper getragen hättest. Vergiss nicht: Ich bin nicht nur ein Betrüger mit einem absolut miesen Charakter, sondern auch ein verdammt guter Taschendieb.“ Damit rammte er den nächsten in ihre andere Handfläche und nagelte sie regelrecht fest. Christine war nicht imstande, sich zu befreien und Thomas war schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Johnny legte eine Hand auf ihre Brust und kurz darauf spürten sie alle eine unheimliche Anspannung im Raum. Es war, als wäre die Luft wie elektrisiert und als würde sich eine große Energie ansammeln. Dann plötzlich schrie Christine auf. Es klang entsetzlich, als würde sie gleich sterben, während Johnny sie eiskalt anfunkelte. Die Augen seiner Ziehmutter verdrehten sich und sie begann nach Luft zu schnappen. Der entsetzliche Prozess dauerte aber nicht lange, da nahm Johnny seine Hand wieder weg und kraftlos ließ Christine den Kopf hängen. Die anderen konnten nicht fassen, was sie da gesehen hatten. Johnny hatte es tatsächlich geschafft, Christine zu überwältigen und ihr den Schlüssel abzunehmen. Dabei hatten sie gedacht, dass nichts und niemand sie besiegen könnte. Harvey reagierte sofort und wandte sich an die anderen beiden Konstrukteure, die das Geschehen entsetzt beobachtet hatten. „Lauft weg, ich halte ihn auf!“ Zwar wusste Harvey, dass er keine Chance gegen Johnny hatte, da er keinerlei übermenschliche Fähigkeiten besaß wie die anderen, aber er wollte nicht zulassen, dass Johnny Nathaniel etwas antat. Er richtete seine Pistole auf Johnny und sah fest entschlossen aus, ihn nicht so einfach vorbei zu lassen. Doch sein Mitbewohner sah ihn nur amüsiert an und fragte „Soll das ein Witz sein? Du weißt doch, dass du mich mit so etwas nicht umbringen kannst. Und abhauen nützt euch auch nichts. Dank meiner Fähigkeiten finde ich euch sowieso.“ „Ich will dich nicht töten, sondern aufhalten“, erklärte Harvey und umklammerte die Pistole fester. „Ich weiß nicht, warum du dieses Theater mit uns abziehst und warum du deiner eigenen Mutter so etwas angetan hast, aber ich werde dich nicht so einfach gehen lassen. Da musst du mich schon töten!“ Zuerst grinste Johnny amüsiert, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus und konnte sich kaum einkriegen. Es war allzu offensichtlich, dass er sich über Harvey lustig machte und ihn nicht für voll nahm. „Große Töne für einen Schmalspurpoeten wie dich. Aber wenn du eins auf die Fresse haben willst, da kann ich dir gerne behilflich sein.“ Harvey schoss und traf Johnny in die Stirn, aber das machte ihm nicht viel aus. Stattdessen schlug er zu und verpasste dem Schauspieler mehrere Tritte und Schläge, bis dieser kaum noch stehen konnte. Schließlich packte er ihn am Kopf und stieß ihn mit der Stirn gegen die Wand, woraufhin Harvey bewusstlos zu Boden sank. Regungslos blieb er liegen und es sah nicht gut mit ihm aus. Nun kam Johnny auf Anthony und Vincent zu, die sich schützend vor Nathaniel stellten. Doch dann drängte sich dieser einfach an ihnen vorbei und sah Johnny mit Augen an, die von Tränen glänzten. Er sah ihn so unendlich traurig und verzweifelt an, dass es einem nur das Herz brechen konnte. „Warum machst du das? Warum tust du ihnen weh? Du hast doch gesagt, dass du mein großer Bruder sein und auf mich aufpassen wirst!“ Genervt verdrehte Johnny die Augen und packte ihn grob am Arm, woraufhin Nathaniel vor Schmerz zu schreien anfing. „Das ist Vergangenheit und ich hab es mir eben anders überlegt. Ich hab doch gesagt, dass ich ein Dreckskerl bin. Und wer so dumm ist, mir zu vertrauen, hat eben Pech gehabt. Und jetzt gib mir den Schlüssel freiwillig, oder ich breche Anthony auf der Stelle das Genick.“ „Nein, tu das nicht“, rief Vincent und wollte einschreiten, doch da setzte Johnny eine Druckwelle frei, die die beiden Konstrukteure wegschleuderte. Nathaniel wusste, dass er ernst machte und sein Halbbruder tatsächlich getötet werden könnte. Immerhin hatte Johnny keinerlei Skrupel gehabt, seine eigene Ziehmutter so grausam zuzurichten, um an ihren Schlüssel zu kommen. Und er hatte seinen Freund und Mitbewohner zusammengeschlagen, weil dieser sich ihm in den Weg gestellt hatte. Nathaniel senkte schluchzend den Kopf und sagte „Nimm ihn, aber lass bitte die anderen in Ruhe.“ „Du bist so ein naiver Quälgeist…“ Johnny hielt Nathaniel weiterhin am Arm fest und legte dann eine Hand auf seine Brust. Nathaniel schrie nicht so laut wie Christine, aber auch er litt Schmerzen und als die Prozedur vorbei war, brach er bewusstlos zusammen und blieb dort liegen. Anthony war sofort bei ihm, machte aber keine Anstalten, Johnny aufzuhalten. Er wusste, dass er keinerlei Chancen gegen ihn hatte und er nur unnötig sein Leben aufs Spiel setzte. Gegen Johnny konnte keiner von ihnen etwas ausrichten. Mit einem verschlagenen Grinsen wandte sich Johnny schließlich ab und sagte nur noch „Ciao Mädels“, bevor er schließlich verschwand. Während Anthony sich um Nathaniel kümmerte, eilte Vincent zu Harvey, der schlimm zugerichtet war, aber zumindest schnell wieder zu Bewusstsein kam. Gemeinsam halfen sie Christine und zogen die metallenen Stäbe aus ihren Handflächen heraus. Als sie nach Sally suchten, fanden sie diese neben der Haustür. Auch sie war bewusstlos, aber sie kam langsam wieder zu sich. Die Stimmung war auf dem absoluten Tiefpunkt und Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Sie waren so nah dran gewesen und waren so vernichtend geschlagen worden. Im Alleingang hatte Johnny die restlichen Schlüssel in seinen Besitz gebracht und nicht einmal Christine hatte ihn aufhalten können. Thomas’ Arm war gebrochen, Harvey konnte kaum stehen und Sally war lediglich noch im Besitz ihrer Nekromantenkräfte. Am Schlimmsten aber ging es Nathaniel, obwohl dieser körperlich unversehrt war. Die Tatsache, dass Johnny ihn so eiskalt hintergangen hatte, obwohl dieser wie ein Bruder für ihn war, hatte ihm das Herz gebrochen und ihm die wohl wichtigste Bezugsperson genommen. Ähnlich ging es Harvey, der genauso verzweifelt und traurig aussah und das Gesicht in den Händen verbarg. Zusammengesunken kauerte er da, starrte ins Leere und führte Selbstgespräche oder sprach zumindest mit Chris, den nur er sehen und hören konnte. „Ich verstehe das nicht“, sagte er schließlich nach einer Weile. „Ich verstehe das einfach nicht. Was ist nur mit Johnny los?“ „Er ist ganz offensichtlich ein Verräter“, sagte Anthony schließlich und erhielt sogleich die Zustimmung von Thomas. „Er hat deutlich gezeigt, dass er uns töten wird, wenn wir ihm lästig werden, also sollten wir ihn auch als Feind betrachten.“ „Aber das kann ich nicht glauben!“ rief Harvey schließlich. „Johnny ist zwar ein Arschloch, das stimmt. Aber er ist kein Verräter. Ihr kennt ihn nicht so wie ich und ich weiß, dass das gerade eben überhaupt nicht seine Art war. Zwar prügelt er sich oft und er pöbelt auch rum, aber er hat niemals jene angegriffen oder gefährdet, die ihm wichtig waren. Er hat mir in der Vergangenheit mehrmals das Leben gerettet.“ „Dann hast du ihn offenbar nicht richtig gekannt, denn immerhin hat er dich vorhin fast krankenhausreif geprügelt. Selbst vor seiner Mutter hat er nicht Halt gemacht.“ Doch Harvey schüttelte nur traurig den Kopf, dann ging er zu Christine. Sie hatte zwar wieder das Bewusstsein wiedererlangt, litt aber immer noch starke Schmerzen und ihre Hände bluteten. Er begann damit, ihre Verletzungen zu versorgen, obwohl er selbst Erste Hilfe dringend nötig hätte und er blutete stark am Kopf. „Wie konnte das überhaupt passieren, Christine?“ fragte Thomas, während er seine Konstrukteurkräfte darauf konzentrierte, seinen verletzten Arm wieder zu richten. „Du hättest ihn von hinten überwältigen können, aber du hast gezögert. Warum?“ „Ich konnte das einfach nicht tun“, erklärte sie unglücklich und schien selbst nicht wirklich glauben zu wollen, was in ihren Ziehsohn gefahren war. „Es stimmt schon, dass Johnnys Rücken seine wohl einzig wirkliche Schwachstelle ist, aber ich hab es einfach nicht übers Herz gebracht, ihn ausgerechnet dort zu verletzen. Nicht nachdem, was passiert ist.“ „Wieso? Was ist passiert?“ „Als Pristine die Säuberung, also den Genozid einleiten wollte, hat sie unzählige Mischlinge einsperren lassen, darunter auch Johnny. Und sie hat jeden von ihnen gebrandmarkt, damit man sie immer als Abschaum identifizieren kann. Ich konnte leider nicht verhindern, dass sie auch Johnny so ein Brandzeichen verpasste. Die Verletzung ist niemals verheilt und bis heute hat er Schmerzen.“ „Verstehe“, murmelte Harvey und nickte. „Deshalb hat er sich ständig geweigert, einen Rucksack zu tragen und wollte nicht, dass jemand dicht hinter ihm ist. Und deshalb ist er auch schmerzmittelabhängig.“ „Schön und gut“, sagte Thomas und sein gereizter Ton war nicht zu überhören. „Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er uns verraten hat.“ „Johnny ist kein Verräter“, warf Christine ein und schien dieselbe Meinung wie Harvey zu teilen. „Ich hab auch keine Ahnung, was diese Scheißaktion sollte, aber das ist einfach nicht seine Art und ich muss es wissen: Ich hab diesen kleinen Bastard großgezogen wie mein eigenes Kind. Zwar ist der Bengel kackendreist und frech obendrein, aber so etwas Bescheuertes würde selbst er nicht tun. Außerdem verstehe ich nicht, warum er Harvey und Nathaniel so behandelt hat. Nun gut, Johnny hat einen echt miesen Charakter und viele schlechte Angewohnheiten hat er sich von mir abgeguckt, aber dass er so heftig vorgeht, passt einfach nicht zu ihm. Irgendetwas ist da faul.“ Nachdem Christines Hände verbunden waren, begann sie nun selbst damit, sich Harveys Verletzungen anzusehen und die Platzwunde provisorisch zu nähen. Sally, die inzwischen wieder vollständig bei Bewusstsein war, hielt sich an Vincent fest, da sie zum Laufen noch etwas zu schwach war. „Wenn es stimmt was du sagst, dann stellt sich die Frage, warum er sich so aufführt.“ „Besteht die Möglichkeit, dass er von deiner Schwester manipuliert wurde oder mit irgendetwas erpresst wird?“ Tatsächlich war Christine dieser Gedanke auch schon gekommen und sie musste zugeben, dass Vincents Theorie gar nicht mal so unwahrscheinlich war. Als Nathaniel das hörte, schöpfte er neue Hoffnung. „Dann… dann ist Johnny gar nicht so gemein?“ „Sicher nicht. Ich gehe eher davon aus, dass dieser kleine Rotzbengel entweder manipuliert oder erpresst wird. Oder aber die dritte Variante: Er hat irgendeinen Plan, den er unter allen Umständen allein durchziehen will, aus welchem Grund auch immer. Jedenfalls hat er jetzt alle vier Schlüssel und es fehlt nur noch das Buch. Doch weder Papst Urban, noch irgendein anderer Mensch im Laufe der Geschichte, der mit Johnnys entfernten Erinnerungen geboren wurde, hat etwas über das Buch gesagt.“ Das war wirklich ein Problem. Wenn Christine Recht hatte und Johnny von seiner leiblichen Mutter erpresst wurde, dann würde es noch extrem gefährlich werden, wenn sie nicht nur die Schlüssel, sondern auch das Buch in ihrem Besitz hätte. Es wäre also besser, sie würden das Buch vor Johnny finden und ihn aufhalten, bevor noch ein Unglück geschah. Christine kam schließlich wieder auf die Beine und wandte sich zum Gehen, Harvey folgte ihr. Zuerst sahen die anderen ihnen schweigend nach, da rief Anthony „Und wo wollt ihr hin?“ „Das Buch suchen und Johnny als auch Pristine aufhalten gehen.“ „Und ihr glaubt, ihr könnt euch einfach so aus dem Staub machen?“ Harvey drehte sich um und sah den Konstrukteur verwundert an. „Wie meinst du das?“ „Na hör mal, wir sind als Gruppe losgezogen, um Thule aufzuhalten. Und jetzt bildet euch mal nicht ein, ihr könnt daraus jetzt eine Solo-Nummer machen, weil ihr glaubt, es ginge uns nichts mehr an, oder dass ihr Schuld an dieser Situation habt.“ „Aber die Situation ist zu gefährlich“, warf Christine schließlich ein. „Und ich kann nicht riskieren, dass ihr dabei alle draufgeht.“ „Das mag ja sein“, entgegnete Anthony und ging auf sie zu, wobei Nathaniel geduckt hinter ihm ging. „Aber als Freunde hilft man einander eben. Christine, du hast Sally und ihrer Familie beigestanden, als sie Hilfe gebraucht haben. Du bist für Thomas da gewesen und dank dir konnten wir Hannah retten. Dank Harvey haben wir es geschafft, Belphegor zu töten und ich denke, es ist an der Zeit, dass ihr auch mal unsere Hilfe annehmen solltet.“ Harvey war auf der einen Seite bewegt durch die Tatsache, dass Anthony ihn als Freund bezeichnete, aber er war auch besorgt. „Aber als Konstrukteure könnt ihr nichts gegen Johnny und Pristine ausrichten.“ „Wir haben schon genug andere Sachen geschafft, ohne unsere Gabe einsetzen zu können“, erklärte Vincent und deutete damit die Erlebnisse in der Traumwelt an. Immerhin hatten sie Belphegor, Mary Lane in Menschen- und Traumfressergestalt als auch Violas Spinnentraumfresser erledigt und waren noch am Leben. Nun gut, sie wurden vom Spinnentraumfresser getötet und im Anschluss von Sally wieder zurückgeholt… Aber beim zweiten Abenteuer in Somnia hatten sie sich besser geschlagen. Christine seufzte und schüttelte den Kopf. Aber dann musste sie schmunzeln. „Das ist das erste Mal, dass ein Mensch mich seinen Freund nennt. Oh Mann, ich muss völlig verrückt sein. Also gut, ihr könnt mitkommen. Aber ich kann nicht für eure Sicherheit garantieren.“ Als Anthony das hörte, wandte er sich zu Nathaniel. Diesem war anzusehen, dass er gerne mitkommen würde, aber sie wussten beide, dass das keine gute Idee war. Nathaniel konnte nicht kämpfen, geschweige denn, dass er seine Vivomantenkräfte unter Kontrolle hatte. Außerdem hatte er Angst davor, das Haus zu verlassen. Also strich er seinem Halbbruder über den Kopf und sagte ihm „Hör mal Nathaniel, es wäre vielleicht besser, wenn du hier bei Amducias bleibst, bis wir die Sache geklärt haben.“ „Aber meine Kräfte sind viel stärker als eure. Vielleicht kann ich Johnny und diese Pristine aufhalten, wenn ich mich anstrenge. Johnny war immer für mich da, jetzt möchte ich für ihn da sein. Bitte gib mir eine Chance.“ Er schien fest entschlossen zu sein und Anthony kannte es gut, wenn es bedeutete, jemandem helfen zu wollen, der einem wichtig war. Er musste sich an Thomas erinnern, der über 50 Jahre damit verbracht hatte, nach einer Möglichkeit zu suchen, seine Verlobte Hannah zu retten, die zu einem Monster namens Umbra geworden war. Und Vincent hatte im Institut unter Einsatz seines Lebens Anthony und den anderen Konstrukteuren damals zur Flucht verholfen. Wenn Nathaniel wirklich so fest entschlossen war, auch dieses Risiko auf sich zu nehmen und Johnny aufzuhalten, dann konnte er schlecht nein sagen. „Wenn du unbedingt möchtest, kann ich dich wohl schlecht abhalten.“ „Anthony“, kam es mahnend von Thomas. „Der Junge ist eine Gefahr für uns, wenn er seine Fähigkeiten nicht unter Kontrolle hat.“ „Deshalb werden wir uns aufteilen“, schlug Anthony vor. „Die einen werden nach Hinweisen zum Buch suchen, die anderen werden sich auf dem Weg zum Hauptsitz der Thule-Gesellschaft machen und Johnny dort abfangen. Ich schlage also vor: Thomas, Vincent und Christine, ihr werdet die Thule-Gesellschaft aufmischen. Sally, Harvey, Nathaniel und ich werden in der Zwischenzeit versuchen, das Versteck des Buches zu finden. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Ihr geht los, sobald Sally es geschafft hat, Pristine aufzuspüren. Das sollte doch nicht so schwer sein, oder?“ Sally war sich nicht ganz so sicher, denn seit Johnny ihr den vierten Schlüssel abgenommen hatte, war ihre Kraft nicht mehr dieselbe. Nun gut, sie war immer noch eine unglaublich starke Nekromantin, die eine zweite Backwater-Tragödie verursachen konnte, aber ob sie eine nichtmenschliche Aura auf der ganzen Welt orten konnte, war eine andere Sache. Sie versprach aber, es trotzdem zu versuchen und ihr Bestes zu geben. Da sie sich erst einmal von der heftigen Abreibung erholen mussten, legten sie eine Zwangspause ein, in der Amducias für sie eine kleine Stärkung vorbereitete. Anthony selbst verbrachte auffällig viel Zeit mit Nathaniel, was besonders Vincent und Harvey sofort bemerkten. „Wie es scheint, hat Anthony geschwisterliche Gefühle für Nathaniel entdeckt.“ „Ich denke eher, es ist sein angeborener Beschützerinstinkt, weil Nathaniel ein sehr hilfloser und unselbstständiger Mensch ist“, entgegnete Harvey, während sie sich diese Szene ansahen. „Dass Nathaniel auch ein Opfer von Hinrich war, hat bei ihm sozusagen einen Schalter umgelegt. Anthony sieht sich immerhin in der Verantwortung, alle Untaten Hinrichs wieder gutzumachen. Aber ich denke, dass die geschwisterlichen Gefühle noch kommen. Nathaniel scheint durch seine überaus starke positive Energie schnell bei anderen Vertrauen zu erwecken und die Sympathien anderer Menschen zu gewinnen.“ Vincent nickte und betrachtete die beiden Halbbrüder zufrieden. Harvey sah schließlich zur Seite und bemerkte wenig später „Was? Du auch? Hey pass auf, sonst werde ich noch eifersüchtig.“ „Offenbar scheint Chris ihn auch zu mögen.“ „Er findet ihn so niedlich, dass er ihn am Liebsten umarmen würde.“ Harvey entschuldigte sich kurz und ging zu Christine, um mit ihr zu reden. Da Sally sich auf ihre Suche konzentrieren musste, gesellte sich Vincent zu Thomas, der immer noch ziemlich gereizt war und sich auf die Heilung seines Arms konzentrierte. „Und? Was macht der Arm?“ „Es dauert noch ein paar Minuten. Aber eines steht fest: Sollte ich herausfinden, dass Johnny uns wirklich aus böser Absicht betrogen hat, werde ich ihm den Kopf abschlagen. Ganz egal, was die anderen sagen werden.“ Wirklich verübeln konnte Vincent ihm das nicht, immerhin war das eine echt fiese Aktion gewesen und es fiel ihm auch schwer, wirklich zu glauben, dass Johnny nicht aus Bosheit so gehandelt hatte. Aber er kannte ihn auch nicht so gut wie Harvey und Christine und konnte sich deshalb kein Urteil bilden. Selbst Anthony und Sally, die schon vorher in Bayern mit Johnny Bekanntschaft gemacht hatten, wussten ihn nicht wirklich einzuschätzen. Aber wenn Harvey und Christine der Auffassung waren, dass das alles eine Scharade von Johnny war, um seine wahren Absichten zu verschleiern, dann mussten sie die Wahrheit herausfinden. Kapitel 7: Ein neuer Mitspieler ------------------------------- Sally hatte es schließlich geschafft, Pristine zu orten. Sie befand sich tatsächlich in Deutschland, nämlich in einem sehr abgeschiedenen Teil von Bayern, wo die Thule-Gesellschaft ihren Hauptsitz hatte. Sogleich machten sich Christine, Thomas und Vincent auf den Weg, während Harvey, Anthony, Nathaniel und Sally das Buch suchen wollten. Sie gingen auf den Dachboden und kletterten durch das Gemälde, durch welches sie in Evans Galerie gelangten. Nathaniel zögerte aber, denn ihm war das alles nicht geheuer. „Was genau ist das?“ „Ein Portal, durch welches wir in eine andere Dimension gelangen. Diese Dimension besteht aus unendlich vielen verschiedenen Welten, die aus den Träumen der Menschen erschaffen wurden und sie werden durch Wesen erhalten, die wir Dream Weaver nennen.“ Zwar verstand Nathaniel nicht alles, was sein Halbbruder da erzählte, aber er gab sich damit zufrieden. Dennoch war deutlich zu sehen, dass er große Angst hatte, denn er würde zum ersten Mal sein Haus verlassen. Hilfesuchend klammerte er sich an Anthony, der ihm zärtlich den Kopf streichelte. „Keine Angst, wir sind alle bei dir. Wir passen auf dich auf und dann wird dir auch nichts passieren.“ Nachdem er auch einen guten Zuspruch von Harvey bekam, nahm Nathaniel all seinen Mut zusammen und kletterte schließlich auch durch das Bild. Kaum, dass er die Galerie betreten hatte, sank er in die Knie und bekam leichte Atemprobleme, sodass Harvey erst einmal helfen musste. Sie hörten Schritte und sahen, wie Amara und Evan herbeigeeilt kamen. „Hey, wie ist es gelaufen? Habt ihr Johnny gefunden?“ „Fragt nicht“, gab Thomas schroff zurück und schon ahnten sie, dass da etwas gehörig schiefgelaufen sein musste. Sie sahen die Bandagen an Christines Händen und erfuhren von Vincent schließlich, was geschehen war. Evan schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber hat Harvey nicht gesagt, Johnny wäre auf unserer Seite?“ „Wir vermuten, dass es nur Show war, weil er seine wahren Absichten verschleiern wollte. Jedenfalls müssen wir das Buch vor ihm finden und ihm die Schlüssel wieder abnehmen.“ „Und wie wollt ihr das anstellen, wenn er euch dermaßen verprügelt hat?“ fragte Amara unsicher und hantierte mit ihrem Regenschirm herum. „Soll ich euch helfen?“ „Wir wurden überrascht und waren nicht vorbereitet. Du solltest hier bleiben und dich bereithalten, falls etwas passieren sollte. Evan, wir teilen uns in Gruppen auf und brauchen zwei verschiedene Portale. Einen Standort kann Sally dir schon mal nennen. Fragt sich nur, wie wir herausfinden wollen, wo das Buch ist.“ Das war tatsächlich eine sehr schwierige Frage, da es überhaupt keine Hinweise gab, die irgendjemand hinterlassen hatte, der mit Johnnys Erinnerungen geboren wurde. Doch dann kam Harvey eine Idee und er wandte sich an Anthony. „Könnten wir es nicht noch einmal mit einer Hypnose versuchen und sehen, ob es nicht vielleicht doch noch irgendeinen Hinweis in Chris’ Erinnerung geben könnte? Einen Versuch wäre es jedenfalls Wert.“ Hier musste der Konstrukteur aber überlegen, denn das war etwas kniffliger, als Harveys Erinnerungen im hypnotisierten Zustand zu lesen. Immerhin war Chris lediglich ein sekundäres Bewusstsein, das heißt, sie mussten erst einmal an Harvey vorbei. „Ist Chris überhaupt damit einverstanden?“ „Also er sagt gerade Egal was nötig ist, um eine Katastrophe zu verhindern, tu es einfach. Ich hab nichts zu verbergen. Na hör mal Chris, da sind auch sehr private Dinge dabei.“ „Keine Sorge, ich bin Profi. Aber ich fürchte, dass ich es alleine nicht schaffen werde. Wir müssen euer beider Unterbewusstsein voneinander getrennt halten, sonst bringe ich noch irgendetwas durcheinander, oder komme gar nicht erst zu Chris durch. Vincent, ich brauch deine Hilfe. Du musst dafür sorgen, dass ich uneingeschränkten Zugriff auf Chris’ Erinnerungen habe, ohne dass Harvey im Weg ist. Das dürfte für dich ja kein Problem darstellen.“ Vincent, der zurzeit eine Ausbildung machte, um ebenso wie Anthony Hypnotherapeut zu werden, kam hinzu und nachdem Anthony Harvey hypnotisiert hatte, begannen sie nun mit ihrer Arbeit. Die anderen sahen ihnen gespannt zu, nur Nathaniel war nicht ganz sicher, was das zu bedeuten hatte und wandte sich fragend an Christine. „Was machen die mit Harvey?“ „Sie haben ihn in Trance versetzt. Er schläft also quasi und das macht es für Anthony und Vincent einfacher, an seine Erinnerungen zu kommen. Sie können diese sozusagen wie einen Film abspielen und sogar Gefühle, Charaktereigenschaften und andere Dinge bei Harvey ändern und ihn sozusagen zu einem völlig anderen Menschen machen, wenn sie wollen. Sie können ihn sogar dazu bringen, dass er alles tut, was sie wollen. Das ist eine äußerst gefährliche Gabe, deswegen setzt Anthony sie auch nur dann ein, wenn diejenigen einverstanden sind, oder wenn es absolut notwendig ist. Er hat auch Hinrich auf diese Weise getötet.“ Als Nathaniel das hörte, war er zunächst erschrocken. Sein Bruder Anthony sollte Hinrich getötet haben? Aber er machte gar nicht den Anschein, als könne er so etwas tun. Christine erklärte, dass Anthony das tun musste, weil Hinrich seine Freunde in ernsthafte Lebensgefahr gebracht hatte und er auch Sally retten wollte. Um Hinrich besiegen zu können, hatte Anthony ihn hypnotisiert und ihn dazu gebracht, sich selbst die Kehle durchzuschneiden. Nach einer Weile holte Anthony Harvey aus der Trance raus und erklärte „Das Buch befindet sich in einer gesicherten Anlage, die schwer bewacht ist. Offenbar ist es Thule schon längst gelungen, es sicherzustellen.“ „Dann klauen wir es ganz einfach“, sagte Sally schließlich und schien sich das Ganze recht einfach vorzustellen. „Wir haben ja Anthony und der kann uns für die anderen quasi unsichtbar machen. Ich werde ein Ablenkungsmanöver starten und ihr geht los und holt das Buch. Im Anschluss machen wir uns auf den Weg zu den anderen und werden Pristine einheizen.“ Tatsächlich klang Sallys Plan gar nicht mal so schlecht und wenn Anthony so darüber nachdachte, war es tatsächlich der perfekte Plan. Wenn Sally alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte und Chaos stiftete, konnten Anthony, Nathaniel und Harvey mühelos bis zum Tresor, in welchem sich das Buch befand. Denn selbst wenn sie sich für die Augen der Männer unsichtbar machen konnten, so würde man sie trotzdem auf den Überwachungskameras sehen. Und da Sally durch ihre Fähigkeiten klar im Vorteil war, war sie die ideale Wahl. Auch Harvey war einverstanden. „Falls doch noch etwas schief laufen sollte, wird Amara uns wieder rausboxen.“ Evan und Viola machten sich sogleich an die Arbeit, das zweite Portal zu erstellen, um die anderen so nah wie möglich an das Buch heranzubringen. „Es gibt leider ein Problem“, sagte Evan schließlich. „Ich kann leider kein Portal im Tresor erstellen und mitten im Gebäude wäre auch zu gefährlich, weil andere es entdecken und hierhergelangen könnten. Damit würden wir uns dieser Pristine auf dem Silbertablett präsentieren.“ „Schon gut, es genügt, wenn du uns nahe genug heranbringst, dass wir keine Ewigkeit brauchen, um zum Stützpunkt zu kommen.“ Thomas verabschiedete sich derweil kurz und stieg durch ein anderes Bild. Offenbar wollte er sein Schwert ersetzen, das Johnny zerstört hatte. „Warum kämpft Thomas eigentlich immer mit so einem altmodischen Ding?“ fragte Vincent und wandte sich schließlich an Christine, die den etwas eigensinnigen Ex-Stasi schon über 50 Jahre kannte. „Damals gab es keine Schalldämpfer, um lautlos zu töten. Außerdem kann Pistolen und Gewehren die Munition ausgehen. Ein Schwert hingegen ist immer eine lautlose und effektive Waffe. Thomas ist ein Nahkämpfer und kann deshalb mit einem Schwert besser kämpfen.“ Wenig später kam Thomas mit voller Montur zurück und erklärte in kurzen und knappen Worten, dass er wieder kämpfen könnte. Sein Arm war wieder vollständig geheilt und nachdem er sein Schwert mit dem Generator verbunden hatte, war auch seine Spezialausrüstung fertig. Thomas hatte eine Abneigung gegen Blut, weshalb er sich eine Konstruktion gebaut hatte, die auf das Prinzip eines Elektroskalpells basierte: Der kleine tragbare Generator an seinem Gürtel leitete Wechselstrom in die Klinge, sodass nur sehr wenig Blut austrat und das Gewebe gleichzeitig viel besser zerschnitten werden konnte. In der Chirurgie wurde so etwas sehr häufig verwendet. Nachdem sie alle bereit waren, verteilten sie sich auf ihre jeweiligen Gruppen und Viola ging zurück in Evans Zimmer, um Amara wieder abzulösen. Sie wünschten einander viel Glück und so trennten sich ihre Wege. Nathaniel hielt sich an Anthony fest und atmete tief durch. Christine klopfte ihm aufmunternd zum Abschied auf die Schulter. „Alles wird gut werden, keine Sorge. Anthony und die anderen werden gut auf dich aufpassen.“ Doch Nathaniel hatte trotzdem Angst, denn hier in der Galerie war immer noch geschlossener Raum. Aber wenn er durch dieses Bild kletterte, würde er zum ersten Mal in seinem Leben offenes Gelände betreten. Keine Decken und Wände, sondern ein unendlich weiter Himmel mit Horizont und eine Landschaft, die er nicht vollständig überblicken konnte. Und genau das machte ihm Angst. Aber Christine hatte Recht: Wenn er bei Anthony und den anderen blieb, konnte eigentlich nichts passieren. Harvey war ja auch ganz nett und Sally war so stark, dass sie mit Sicherheit die anderen beschützen konnte. Jetzt lag es auch an ihm, stark zu sein. Seine Fähigkeiten waren stark genug, um andere Menschen zu steuern. Vielleicht konnte er sie einsetzen, um Anthony und den anderen zu helfen, ohne sie dabei in Gefahr zu bringen. Vorsichtig kletterte er als Nächster durchs Bild, Harvey war der Letzte. Tatsächlich kamen sie in einer kleinen Hütte raus, die wohl in der Vergangenheit mal ein Schäferverschlag gewesen war. Hier drin war es eng, es roch muffig und nur eine marode Holztür trennte sie vor dem offenen Gelände. Nun hielt sich Nathaniel auch an Harvey fest, so als bräuchte er jetzt doppelten Halt. Da die Tür aufgrund der rostigen Scharniere klemmte, setzte Sally eine Druckwelle frei, die das alte Ding vollständig aus den Angeln schleuderte. Grelles Sonnenlicht fiel in die Hütte und Anthonys Augen, die immer noch lichtentwöhnt waren, schmerzten und er musste seine Sonnenbrille wieder aufsetzen. Aber wenigstens verspürte er auf der Haut keine Schmerzen mehr. Kein Brennen, als würden seine Knochen wie geschmolzenes Blei glühen und keine Ausschläge auf der Haut, die wie schwere Verbrennungen aussahen. Und seltsamerweise hatte er auch überhaupt keine Angst mehr, obwohl er in den letzten Wochen so hart gekämpft und trotzdem kaum Fortschritte gemacht hatte. Und jetzt konnte er jetzt einfach so in die Sonne gehen. Er spürte die angenehme Wärme auf seiner Haut und war so überwältigt, dass ihm sogar die Tränen kamen. Was von Nathaniel ein schreckliches Versehen und für die anderen augenscheinlich ein hinterhältiger Angriff gewesen war, war für ihn die Befreiung von seiner Krankheit, die ihm immer ein normales Leben verwehrt hatte. Nun konnte er endlich hinaus in die Welt, ohne das Licht meiden zu müssen aus Angst vor Schmerzen. Nathaniel hatte ihm aus einer Unbedachtheit heraus seine Lebensqualität zurückgegeben. Nein… nicht zurückgegeben. Er hatte sie ihm erst geschenkt. Sein Blick wanderte zu seinem Halbbruder, der starr geradeaus starrte und dem die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Kein Wunder, denn vor ihm lag eine riesige Welt, die er noch nie zuvor gesehen hatte. In seinen Augen war die gleiche Angst zu sehen, wie einst bei ihm, als er noch nicht einmal das Licht einer Lampe ertragen konnte. In diesem Augenblick war ihm sofort klar, dass er Nathaniel jetzt beistehen musste. Dieser Junge mit der unglaublichen Gabe brauchte einen großen Bruder. Anthony beugte sich hinunter, nahm die Sonnenbrille ab und sah ihm tief in die Augen. „Hab keine Angst, ich bin ja bei dir. Versuch einfach auf den Boden zu sehen, wenn es dir hilft.“ Nathaniel nickte und klammerte sich fest an ihn. Harvey klopfte dem Konstrukteur auf die Schulter und flüsterte ihm zu „Das machst du wirklich gut. Er beruhigt sich langsam wieder. Er scheint ein so großes Vertrauen in dich zu haben, dass er sogar seine größte Angst überwindet.“ Sally wurde ein wenig ungeduldig und drängte die anderen, endlich zu gehen. Jeden Moment konnte Johnny auftauchen und gegen ihn hatten sie nicht gerade die besten Karten. Der Stützpunkt befand sich knapp eine Viertelstunde Fußmarsch entfernt und in der Zeit leistete Anthony wirklich gute Arbeit, Nathaniel Mut zu machen und dafür zu sorgen, dass er nicht noch versehentlich seine Fähigkeiten freisetzte. Und die Ruhe, die die anderen ausstrahlten, halfen Nathaniel, sich deutlich zu entspannen und sich langsam auf seine neue Umgebung einzulassen. Zwar erschrak er sich, wenn er neue Geräusche wie etwa Vogelgezwitscher oder das Rauschen des Windes hörte, aber die Gelassenheit der anderen machte ihm schnell klar, dass es keinerlei Bedrohung gab. Schließlich, als sie einen kleinen Hügel erreicht hatten, blieben sie stehen und sahen in einem Tal eine große Anlage. „Da drin befinden sich mindestens 100 Menschen, ich kann aber keine sonderlich starke Aura wahrnehmen, die entweder von Johnny oder Pristine stammen könnte.“ „Aber vermutlich wird er bald hier aufkreuzen, weil er durch unsere Augen sehen kann und damit weiß, was wir gerade tun. Darin liegt ja der Trick: Wir werden uns das Buch schnappen, Amara wird uns einen Durchgang öffnen und uns direkt zu Christine und den anderen bringen. Johnny kommt uns hinterher und dann werden wir ihm die Schlüssel abluchsen. So sieht der Plan aus. Wer weiß, vielleicht reicht Nathaniels Kraft aus, um sogar ihn lahmzulegen. Dann könnten wir ihm selbst die Schlüssel wieder wegnehmen.“ „Fragt sich nur, wie wir die Schlüssel aus seinem Körper kriegen sollen. Immerhin sind es keine Schlüssel zum Anfassen, sondern konzentrierte Energie.“ Da hatte Harvey nicht ganz Unrecht, aber Sally war sich sicher, dass sie das schon irgendwie hinkriegen würde. Und sie war optimistisch, dass sie es mit Nathaniel zusammen schaffen konnte, wenn sie ihm die richtigen Anweisungen gab. „Ich kann nur beherrschen, was tot ist und kein Eigenleben besitzt. Die Nekromantie erlaubt es mir, auch kinetische Kräfte auszuüben und elektrische Felder zu manipulieren. Deshalb kann ich Menschen Brust und Kopf zerfetzen, oder elektrische Geräte manipulieren. Aber Nathaniel ist zu weitaus mehr in der Lage. Nicht nur, dass er den Verstand der Menschen beherrschen kann, er kann auch Einfluss auf die Vitalität nehmen, sei es bei Menschen, Tieren oder Pflanzen. Und ebenso kann er auch die Energie aller Lebewesen beeinflussen. Nur kann er diese Kraft nicht beherrschen, zumindest noch nicht. Ich denke aber, wir kriegen das schon irgendwie hin.“ Sie gingen gemeinsam zum Stützpunkt hin und während Sally sämtliche Überwachungskameras sabotierte, begann Anthony damit, das Unterbewusstsein der Söldner zu infiltrieren und ihre Wahrnehmung zu manipulieren. Es war kein großer Aufwand dafür zu sorgen, dass man sie zwar sah, aber nicht bemerkte. Im Grunde wurden die Informationen, die von den Augen über die Nerven zum Gehirn gesendet wurden, so weit gefiltert, damit das Bewusstsein nicht allzu stark belastet wurde. Also sortierte es Dinge aus, die als nicht wichtig erachtet wurden, sodass man sie zwar mit den Augen sah, aber nicht wahrnahm. Das machte Anthony und die anderen quasi unsichtbar. Schließlich, als Anthony den Wachmann am Tor dazu gebracht hatte, ihm die Tür zu öffnen, teilten sie sich auf, nachdem Sally auch den Rest der Überwachungssysteme zerstört hatte. Indem sie alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte, konnten die anderen ungehindert weiter. Wenig später hörten sie Schüsse und laute Schreie. Nathaniel bekam Angst und fragte besorgt, ob mit Sally alles in Ordnung sei. „Keine Sorge“, sagte Anthony schließlich. „Sally ist bereits seit 200 Jahren tot.“ „Was? Wie… wieso ist sie dann hier?“ „Sie ist eine so starke Nekromantin, dass sie keinen menschlichen Körper mehr braucht. Sie hat sich einen eigenen erschaffen, der unserem zwar ähnlich ist, aber er funktioniert anders. Soll also heißen, dass sie gewisse Ähnlichkeiten mit Johnny hat.“ Das beruhigte den Jungen und so setzten sie ihren Weg fort. Anthony, der sich nach Chris’ Erinnerungen richtete, ging voran und Harvey blieb hinter Nathaniel. Eine Sirene ertönte und eine Reihe schwer bewaffneter Söldner lief an ihnen vorbei. Zuerst war Harvey ein wenig nervös und griff schon zur Waffe, aber zu sehen, dass diese Männer sie gar nicht beachteten, war schon etwas seltsam. „Unglaublich, wozu Konstrukteure in der Lage sind. Theoretisch könnt ihr ja wirklich alles machen. Menschen dazu bringen, euch all ihr Erspartes zu überlassen, oder sie dazu zu bringen, Selbstmord zu begehen. Wirklich unheimlich. Chris fragt gerade, ob das schon mal einer gemacht hat.“ „Ja, ihr Name war Mary Lane. Sie hat Schüler dazu gebracht, Selbstmordclubs zu gründen. Es war immer das gleiche Schema: Die Gruppe wird von einer Mary Lane Doppelgängerin angeführt, diese begeht mit den anderen Selbstmord. Eine überlebt aber und wird die neue Mary Lane. Das ging eine ganze Zeit lang so, bis es Hannahs Sohn gelang, sie zu töten, indem er ihren Körper zerstörte.“ „Wie? Ein Baby hat sie getötet?“ „Noah war ein menschlicher Dream Weaver, weil Thomas ein Konstrukteur und Hannah eine Träumerin war. Beide ergänzten sich in ihren Fähigkeiten und weil Noah seine Mutter beschützen wollte, setzte er instinktiv seine Kräfte ein. Also eine ähnliche Situation wie bei Nathaniel. Zum Glück ist es Amara gelungen, seine Kräfte vollständig zu absorbieren, bevor noch ein Unglück geschehen konnte. Der Kleine hätte schlimmstenfalls die ganze Realität zerstören, oder die schlimmsten Alpträume in unsere Welt holen können.“ Sie bogen um eine Ecke ab und blieben an einem Aufzug stehen. In diesen stiegen sie ein und fuhren ins untere Stockwerk. Harvey holte sein Handy heraus und begann eine Nummer zu wählen. Anthony sah ihn neugierig an und fragte „Wen rufst du an?“ Doch er antwortete nicht. Irgendwie schien sich der Glanz in seinen Augen geändert zu haben und er spürte, dass sich die Gehirnströme verändert hatten. Ja, sie waren nicht mehr so chaotisch und fühlten sich nicht wie zwei verschiedene Lieder an, die zur gleichen Zeit gespielt wurden. Nein, es war jetzt so, als würde jetzt eine völlig andere Musik gespielt werden. Aber sie passte weder zu Chris, noch zu Harvey. Was zum Teufel passierte hier nun? Harvey hielt sich das Handy ans Ohr und begann nun mit seinem Telefonat. „Hi Ezra, ich bin jetzt drin. Ja, du kümmerst dich um die anderen. Okay, ich brauch auch sicherlich nicht lange. Wir verfahren, wie geplant. Bis später.“ Damit legte er wieder auf und nun spürte es Anthony deutlich: Das war eindeutig nicht Harvey, sondern eine ganz andere Person. Lag etwa eine gespaltene Persönlichkeit vor? Nein, selbst wenn, dann würden sich die Gehirnströme immer noch stark ähneln. Diese waren wie Fingerabdrücke, aber diese Ströme waren gänzlich anders. Und außerdem spürte er etwas Unmenschliches an Harvey. Er überlegte schon, ob er seine Waffe ziehen sollte, aber das würde auch nichts bringen. Dann würde er ja Harvey verletzen und Nathaniel könnte seine Kräfte versehentlich freisetzen und sie alle in Gefahr bringen. Stattdessen stellte er sich schützend vor seinem Halbbruder und fragte „Wer zum Teufel bist du und was hast du mit Harvey gemacht?“ Der Schauspieler hob die Augenbrauen und schien erst jetzt die beiden zu bemerken, dann aber lächelte er gutmütig und erklärte „Mein Name ist Cedric und ich hab mir die Freiheit erlaubt, den Körper eures Freundes kurz auszuborgen, indem ich meine Seele in seinen Körper transferiert habe. Nun gut, mit drei Seelen ist es zwar etwas eng hier drin, aber Nathaniel ist eindeutig zu stark für mich und ich wollte mich lieber nicht mit dir anlegen.“ „Du… du hast deine Seele in Harveys Körper transferiert? Und warum?“ „Es würde zu lange dauern, auch meinen Körper herzuschaffen. Und da es dringend ist, hab ich eben diesen Weg gewählt.“ „Und was willst du überhaupt von uns?“ „Von euch will ich nichts. Von Thule will ich etwas und das könnte euch sicherlich auch interessieren: Ich bin Detektiv für Parapsychologie und ein guter Freund von Johnny. Thule hält hier in diesem Gebäude unzählige Mischlinge gefangen und experimentiert an ihnen. Viele von ihnen sind schon gestorben, andere werden es bald.“ Nathaniel verstand nicht, was das bedeutete und warum sich Harvey auf einmal Cedric nannte. Aber er spürte wohl, dass da etwas passiert war und so machte er sich ganz klein in der Ecke. Cedric sah das und hob die Hände. „Ich will euch nichts tun, okay? Alles was ich will ist, die anderen zu befreien.“ „Welche anderen?“ „Die Mischlinge, die hier gefangen gehalten werden. Einige von ihnen haben schon die ersten Säuberungsversuche miterlebt und sollen nun endgültig hingerichtet werden. Zusammen mit einigen anderen führe ich eine Befreiungsaktion durch. Wir holen zum letzten großen Schlag gegen Thule aus und werden Pristine ein für alle Male das Handwerk legen.“ „Wie viele werden gefangen gehalten?“ „Mindestens 20. Sie befinden sich im untersten Kellergeschoss und sollen heute vergast werden. Ich hab die Gelegenheit genutzt, während Ezra zum Hauptsitz geht.“ „Und wer ist Ezra?“ „Mein älterer Bruder.“ Anthony betrachtete Harvey oder besser gesagt Cedric misstrauisch, denn ihm war nicht entgangen, dass er erwähnt hatte, dass er ein Freund von Johnny war. Was zum Teufel wurde hier bloß gespielt? „Was hast du mit Johnny zu schaffen?“ „Nun, er will sich um Pristine kümmern und hat mir und Ezra die Befreiung der Mischlinge anvertraut. Es steht euch natürlich frei zu entscheiden, ob ihr uns dabei helfen wollt. Keine Sorge, ich passe gut auf Harveys Körper auf. Ich hab auch kein Interesse daran, jetzt hier mit euch zu diskutieren.“ Der Aufzug hielt an und Cedric ging einfach los, Anthony folgte ihm mehr oder weniger zusammen mit Nathaniel. Er wusste nicht, wie er diese seltsame Situation nun deuten sollte und was das zu bedeuten hatte. Offenbar war dieser Cedric übernatürlich begabt. Womöglich ähnlich wie Sally oder Nathaniel, weil er Seelen transferieren konnte, oder aber… „Bist du ein höheres Wesen?“ „Zur Hälfte. Meine Mutter war eine Menschenfrau. Ezra und ich waren damals beim letzten großen Krieg dabei gewesen und unsere Eltern wurden damals getötet. Mich hätten sie beinahe auch umgebracht, wenn Ezra, Christine und Johnny uns nicht gerettet hätten. Also liegt es nur in meinem Interesse, alles zu tun, um Thule aufzuhalten und die gefangenen Mischlinge zu retten.“ Da Anthony momentan die Hände gebunden waren, weil dieser Cedric quasi Harvey als Geisel genommen hatte, folgte er ihm, bis sie ein tiefes Kellergeschoss erreichten. Mehrere Wachen standen schwer bewaffnet da, doch da feuerte Cedric mehrere Schüsse aus Harveys Pistole ab und tötete sie durch gezielte Kopfschüsse. „Johnny hat wirklich ein gutes Timing. Da ihr schon mal hier seid, macht es mir die Sache umso einfacher, die anderen zu befreien.“ „Was meinst du damit?“ „Nun ja, Johnny ist ein ziemlich guter Stratege. Er hat euch mit dem Buch geködert und sozusagen vorausberechnet, dass ihr hierher kommen würdet. Auf diese Weise kann ich die Gefangenen ohne allzu große Verluste befreien.“ „Er wusste, dass das Buch hier ist?“ „Natürlich. Er hat sogar zugelassen, dass Thule das Buch in die Hände kriegt.“ Kapitel 8: Ezra und Cedric -------------------------- Nachdem alle Wachen erledigt waren, öffneten sie mehrere Zellentüren und sowohl Nathaniel als auch Anthony bot sich ein entsetzlicher Anblick: Unzählige abgemagerte kahl geschorene Gestalten, darunter auch Kinder, waren auf engsten Raum zusammengepfercht worden und sie sahen entsetzlich aus. Viele von ihnen waren verletzt, offenbar Spuren von Folterungen. Anthony hatte nur ein Mal so schlimm zugerichtete Menschen gesehen und das war während des Holocausts. „Mein Gott“, brachte er fassungslos hervor. „Ich glaub das nicht.“ Harveys oder besser gesagt Cedrics Blick wurde zunehmend trauriger. Er ging in die Zellen und sprach tröstend mit den anderen. Schließlich erklärte er „Das ist Pristines Vorstellung von einer vollkommen reinen Welt: Elend, Angst, Terror und Massenabschlachtung. Wir haben alle zu ihr aufgesehen, weil sie das Licht unserer Welt war… unsere Hoffnung. Sie war wie Gott für uns und Gott hat uns alle verraten und begonnen, uns zu jagen, zu foltern und dann hinzurichten, weil wir nirgendwo hingehören. Ezra und ich haben dabei unsere Familie verloren und so eine Tragödie wollen wir und Johnny verhindern.“ „Aber was hat er mit dem Buch und den vier Schlüsseln vor? Wieso hat er das Buch hier gelassen und es Pristine in die Hände gespielt?“ „Weil das Buch wertlos ist, selbst mit den vier Schlüsseln. Das Buch selbst hat Johnny nicht wirklich gut versteckt und das war sein Trick. Überlegt mal gut: Nur das Lamm ist in der Lage, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen und die Apokalypse zu entfesseln. Was glaubt ihr, bedeutet das?“ Anthony verstand nicht, worauf Cedric hinaus wollte und verstand erst mal nur Bahnhof, auch Nathaniel konnte nicht wirklich begreifen, was das bedeuten sollte. Dann aber kam ihm ein Gedanke und ein verrückter noch obendrein: Cedric sagte, dass die Mitglieder des alten Kultes Pristine für sie wie Gott war. Johnny war ihr Sohn und damit quasi der Sohn Gottes. Und das Lamm symbolisierte Jesus Christus, den Sohn Gottes. Jetzt dämmerte es ihm endlich. „Johnny ist dieses Lamm?“ „Ganz richtig“, bestätigte Cedric und holte nun die Gefangenen aus den Zellen. „Zwar habe ich keine Erinnerungen an damals, aber ich weiß von Johnny so viel: als er die Schlüssel versteckte, war ihm klar, dass ein Buch irgendwann gefunden werden kann. Entweder durch Zufall, oder durch gezieltes Suchen. Also absorbierte er die versiegelte Kraft, sodass das Buch selbst nicht mehr als bloße Dekoration ist. Weder Pristine noch ihre Schwester, oder sonst irgendjemand weiß davon und damit konnte Johnny seine Mutter täuschen und von sich ablenken. Und da er die Kraft des Buches in sich aufgenommen hat, kann nur er die sieben Siegel öffnen.“ Dann waren sie also umsonst hergekommen… Johnny hatte eiskalt berechnet, dass sie nach dem Buch suchen würden, um ihn aufzuhalten und das hatte er für sich genutzt. Indem er vorausberechnen konnte, dass ein paar aus Anthonys Gruppe hierherkommen würden, konnte er Cedric einschleusen, um die Gefangenen zu befreien. Irgendwie war es schon unheimlich, wie gut Johnny vorausplanen konnte. Aber andererseits schien es in seinem Interesse zu sein, diese Mischlinge vor der Vergasung zu retten und das musste ihm zugute kommen. Also beschloss Anthony, Cedric zu helfen, die Gefangenen rauszubringen. Aber nur unter der Bedingung, dass er wieder aus Harveys Körper verschwand. „Keine Sorge“, sagte Cedric schließlich. „Ich hab gesagt, dass ich ihn mir nur ausborgen werde. Wenn die Gefangenen frei sind, verschwinde ich wieder.“ Nathaniel ging zu einem kleinen Jungen hin, dem ein Auge entfernt worden war und der bitterlich weinte und tröstete ihn. Und tatsächlich gelang es Nathaniel mit seiner unglaublich positiven Ausstrahlung, den kleinen Jungen, aber auch die anderen Gefangenen zu beruhigen. Nachdem sie sichergegangen waren, dass auch alle befreit waren, machten sie sich auf den Weg, Cedric führte den Trupp an. In den oberen Etagen hörten sie einen lauten Knall und eine leichte Vibration ging durch den Boden. Offenbar ging Sally richtig zur Sache. Hoffentlich schafften sie es rechtzeitig, bevor noch die ganze Anlage zerstört wurde. Aber eines beschäftigte Anthony immer noch: seit wann wusste Johnny davon, dass das Buch selbst im Grunde wertlos war, wenn er doch seine eigenen Erinnerungen entfernt hatte? Konnte es etwa sein, dass er sie sich quasi wieder aneignete, als er die von Chris entfernt hatte? Das würde zumindest Sinn machen, nur würde ihn auch interessieren, wie weit Johnny das hier alles geplant hatte. Und was hatte er selbst vor? Wieso spielte er dieses Spiel eigentlich? „Was genau hat Johnny mit den Schlüsseln und dem Buch vor und wieso schlägt er seine Freunde zusammen und droht ihnen, sie umzubringen?“ „Keine Ahnung. Johnny ist eben Johnny und er lässt sich von niemandem in die Karten gucken.“ „Und du vertraust ihm einfach so?“ „Natürlich. Er hat schon einmal den Genozid verhindert und uns alle gerettet und deshalb glaube ich an ihn.“ Nachdem sie wieder oben waren, kam ihnen Sally entgegen. Sie sah etwas gehetzt aus und war verwirrt, als sie die vielen Leute sah. Und vor allem, als sie diese fremdartige Energie spürte, die von Harvey ausging. „Was… was geht hier vor sich?“ „Ein Typ namens Cedric ist in Harveys Körper eingedrungen und will die Gefangenen hier befreien. Er ist ein Freund von Johnny. Und? Wie kommst du voran?“ „Alle erledigt, wo ist das Buch?“ Anthony schüttelte den Kopf und musste gestehen, dass sie umsonst hergekommen waren. Tatsächlich war die Enttäuschung bei Sally nicht zu übersehen, aber sie begnügte sich damit, dass sie nicht ganz umsonst hergekommen waren. Aber eine Sache wollte Anthony dennoch wissen. „Hätte Pristine denn nicht gemerkt, dass das Buch keine Macht mehr besitzt?“ „Witzigerweise nein. Da das Buch ja durch sieben Siegel verschlossen gehalten wird, dringt nichts von seiner Kraft nach draußen. Nun gut, es strömt eine unverkennbare Aura aus, aber auch das hat Johnny bei seinem Plan berücksichtigt. Indem er dem Buch die Aura selbst gelassen hat, war Pristine irrtümlich davon ausgegangen, dass es noch seine Kraft besäße und hat die Schlüssel eingesetzt, um die Siegel zu öffnen. In dem Moment hat Christine sie angegriffen und Johnny hat sich mit Buch und Schlüsseln aus dem Staub gemacht. Bis heute hat Pristine diesen Trick nicht durchschaut und glaubt immer noch, das Buch wäre noch zu gebrauchen.“ Eines musste man Johnny lassen. Obwohl er einen miesen Charakter hatte, war er cleverer, als er aussah und erschien. Aber gleichzeitig war er auch ziemlich abgebrüht und hinterhältig. Es fiel Anthony nicht gerade einfach, ihm und seinen Plänen überhaupt ansatzweise zu vertrauen, doch jene, die ihn länger kannten, schienen von seinen guten Absichten überzeugt zu sein. Plötzlich blieb Sally stehen und ergriff Anthonys Arm. Ihr Blick verriet mehr als Worte. Jemand mit einer starken unmenschlichen Aura war aufgetaucht. „Wer ist es?“ „Johnny“, erklärte sie und sah zu Nathaniel, der den kleinen einäugigen Jungen an die Hand genommen hatte. „Er ist draußen und scheint zu warten.“ „Na super… das wird ja immer besser.“ Da es keinen Sinn machte, sich im Gebäude zu verstecken, blieb ihnen keine andere Wahl, als direkt auf Konfrontation mit Johnny zu gehen. Kaum, dass sie draußen waren, kehrte Leben in die Gefangenen zurück und sie liefen in alle Richtungen davon. Diejenigen, die zu schwach oder zu verletzt zum Laufen waren, wurden getragen. Es war wirklich das gleiche schreckliche Bild wie damals vor fast 70 Jahren und Anthonys Brust schnürte sich zusammen, wenn er an diesen entsetzlichen Terror von damals dachte, den Thule und die Nazis damals über die Welt gebracht hatten. Ebenso wie Stalin und seine Diktatur. Johnny stand breit grinsend da und nahm Cedric in Empfang. „Hey super, die Befreiungsaktion hat ja gut geklappt wie ich sehe. Und? Hast du das Buch?“ Aus seiner Tasche holte Cedric ein dickes Buch, welches mit sieben Schlössern gesichert war. Anthony war verwirrt und konnte sich gar nicht erinnern, dass Harvey oder Cedric dieses Buch irgendwann mitgenommen hätten. Offenbar war dieser auch ein äußerst geschickter Dieb wie es schien. Johnny nahm es an sich und wandte sich Anthony, Nathaniel und Sally zu. „Vielen Dank für eure nette Hilfe die Damen. Und schön, dass du dich auch mal vor die Tür traust, Nathy.“ „Was hast du mit dem Buch vor?“ „Na was wohl? Ich werde meine Mutter schön aufs Kreuz legen, bevor es richtig zur Sache geht. Das ist doch meine Spezialität. Also dann, wenn ihr mich entschuldigt… ich hab noch ein Date mit meiner anderen Alten und euren Freunden. Cedric, wir sehen uns später.“ Und damit verschwand Johnny von einer Sekunde auf die andere und kaum, dass er verschwunden war, wich auch diese andere unmenschliche Aura in Harvey und auch seine Gehirnströme waren wieder die alten. Verwirrt sah er sich um und war erst einmal völlig orientierungslos. „Was… was ist passiert und wieso sind wir wieder draußen? Habe ich irgendetwas verpasst?“ Offenbar war Cedric tatsächlich aus seinem Körper verschwunden und da Harvey nicht bei Sinnen gewesen war, erinnerte er sich an gar nichts. Nathaniel erklärte es ihm in seiner etwas kindlichen Art und bedächtig nickte der Schauspieler. „Aber ich hab doch hoffentlich nichts Schlimmes getan, während ich weggetreten war.“ „Nein, keine Sorge. Wir sollten uns aber schnell auf den Weg zu den anderen machen und ihnen Bescheid geben, was passiert ist.“ Wie verabredet kam ihnen Amara entgegen und öffnete mit ihrem Regenschirm einen Zugang, durch welchen sie ohne Umwege direkt zum Hauptsitz kamen, zu welchem die anderen aufgebrochen waren. Hoffentlich hatten sie in der Zwischenzeit mehr Erfolg gehabt… Christine ließ ungeduldig ihre Fingerknöchel knacken und sah zu ihren Begleitern, die ebenfalls unruhig waren, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Vincent fürchtete sich ein klein wenig vor der Konfrontation mit Pristine und Thomas wollte einfach so schnell wie möglich die Sache beenden und fertig aus. Sie waren in einer Art großer unterirdischer Halle rausgekommen, in welcher unzählige hochmoderne Gerätschaften standen, von denen keiner so wirklich wusste, wozu sie da waren. Die Wissenschaftler und Söldner zu überwältigen, die sich in der Halle befunden hatten, war kein sonderliches Problem für sie gewesen. Aber etwas beschäftigte Christine. Sie konnte die unsagbar starke Aura ihrer jüngeren Zwillingsschwester deutlich spüren, ohne Frage. Aber da war noch eine andere Aura. Sie hatte etwas von einem Menschen und wiederum auch nicht und sie war stark, wenn auch nicht stark genug, um für sie selbst eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Für sie ließ das nur einen Schluss zu: Ein Mischling hatte sich Zutritt verschafft, oder aber er wurde gefangen gehalten. Nein warte, es waren eigentlich zwei gewesen, aber eine war von der einen Sekunde auf die andere verschwunden. Irgendetwas war merkwürdig hier. Hatte Johnny etwa seine Finger im Spiel und sich Unterstützung geholt? Aber wozu? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Sie machten sich gemeinsam auf den Weg und wer sie aufzuhalten versuchte, dem wurde die Hölle heiß gemacht. Christine war richtig in Fahrt gekommen und ihre Faustschläge waren so verheerend, dass sie einem Menschen regelrecht den Schädel zerschmettern konnten. Vincent nutzte seine Fähigkeiten, um die Söldner dazu zu bringen, sich gegenseitig zu erschießen, während Thomas mit seinem Schwert kurzen Prozess machte. Sie bogen schließlich um die Ecke und da sahen sie das Unfassbare: Mehrere Soldaten lagen tot auf dem Boden. Mindestens 15. Thomas sah sich das Genauer an und stellte fest, dass sie alle durch einen Schnitt in den Nacken getötet worden waren. Auch Vincent und Christine begutachteten neugierig die Verletzungen. „Da hat jemand einen Teil des Nackens mit einem keilförmigen Schnitt herausgetrennt. Was hat das zu bedeuten?“ „Ich bin mir nicht sicher“, murmelte Thomas und sah sich den Rest der Leiche an. „Ich gehe davon aus, dass der Mörder zwei Klingen verwendet, wahrscheinlich Macheten oder Kurzschwerter. Er scheint zudem sehr schnell und wendig zu sein, wenn er seine Gegner stets an der gleichen Stelle von hinten angreift.“ „Ob das dieser Mischling war?“ Christine zuckte unsicher mit den Achseln, denn sie konnte sich an niemanden von früher erinnern, der eine derart seltsame Tötungstechnik anwandte. Aber dann spürte sie, dass diese halbmenschliche Aura dicht hinter ihr war und blitzartig drehte sie sich um. Keine Sekunde zu früh, denn da verfehlte sie knapp der Schlag einer Klinge, die tatsächlich von einer Machete herkam. Sofort holte sie zum Gegenschlag aus, aber ihr Angreifer wich geschickt aus und zeigte dabei eine unglaubliche Wendigkeit, die man nicht erwartet hätte. Vor ihnen stand ein Junge, vielleicht ein paar Jahre älter als Johnny. Er trug einen graublauen Kapuzenpullover, darunter einen weiteren dunkelroten Rollkragenpullover und khakifarbene Hosen. Sein dunkelbrünettes Haar war lang, was ihm etwas Androgynes verlieh, aber das Besondere an ihm waren seine Augen: Das rechte war blau, das andere braun. Er hielt seine beiden Macheten bereit zum Angriff. Christine starrte ihn verdutzt an und fragte „Du?“ „Kennst du ihn?“ fragte Vincent unsicher und ging ein paar Schritte zurück, um Thomas und Christine das Feld zu überlassen. „Das will ich mal meinen“, antwortete Christine und verschränkte die Arme. „Er hat früher zusammen mit mir und Johnny die Widerstandstruppe gegen Pristine angeführt. Unter anderem wollte er seinen kleinen Bruder und die anderen Mischlinge vor der Hinrichtung retten.“ „Das stimmt, aber inzwischen lebe ich unter dem Namen Ezra Trigger mit meinem kleinen Bruder zusammen und unterstütze ihn bei seiner Arbeit. Aber nun haben wir andere wichtige Dinge zu klären, nämlich die Befreiung der Mischlinge aus den Instituten und dafür zu sorgen, dass Johnny seine Pläne durchführen kann. Und deshalb kann ich euch nicht zu ihm lassen.“ „Warum? Was hat er vor?“ „Keine Ahnung.“ „Und wieso sollst du verhindern, dass wir zu Johnny und Pristine kommen?“ „Keine Ahnung.“ Dieser Ezra hatte irgendetwas von Thomas, das merkte Vincent sofort. Er besaß ein ähnlich kühles Wesen, allerdings schien er nicht ganz so ein Arsch zu sein, sondern eher etwas verschlossen. Aber was sie irritierte war die Tatsache, dass dieser Ezra offenbar überhaupt keine Ahnung hatte, was Johnny genau vorhatte und warum er damit beauftragt wurde, niemandem zu ihm zu lassen. „Willst du uns für dumm verkaufen?“ „Nein. Ich hinterfrag meine Aufträge nicht, ich führe sie nur aus.“ Das genügte Thomas schon und er griff an. Mischling hin oder her, er betrachtete jeden als Feind, der ihn aufhalten wollte und das mit Gewalt. Schnell musste er aber erkennen, dass Ezra unglaublich gelenkig war. Er wich jedem Angriff blitzschnell aus und wenn er selbst angriff, wirbelte er mit seinen Klingen herum, als würde er tanzen. Thomas konnte kaum Schritt halten, obwohl er durchaus in der Lage war, sämtliche Angriffe zu blocken. Aber Ezra war unfassbar schnell. Schließlich aber stoppte der Mischling, ging ein paar Schritte zurück und starrte Thomas mit einem seltsamen Blick an. „Wie gesagt, keiner von euch kommt hier vorbei. Das war eine Warnung.“ Sie hörten Schritte und eine Tür hinter Ezra öffnete sich. Ein junger Mann mit langem schwarzem Haar, himmelblauen Augen und einer androgynen Figur kam zu ihnen. Vincent glaubte nicht richtig zu sehen und rief „Das… das kann doch nicht sein.“ Ezra drehte sich um und lächelte zufrieden. „Du hast es also doch rechtzeitig geschafft. Und? Hast du die anderen befreit?“ „Jep. Die vier restlichen der Gruppe dürften auch jeden Moment hier auftauchen. Es läuft alles nach Plan, wir müssen Johnny nur noch genügend Zeit verschaffen.“ Die Augen des Neuankömmlings wanderten zu Vincent, dem das Entsetzen deutlich anzusehen war. „Alles in Ordnung bei dir, Junge?“ „Was hat das zu bedeuten und warum siehst du aus wie Harveys toter Freund Chris?“ Allmählich schien er zu verstehen und lächelte herzlich. „Das ist nicht mein richtiger Körper, ich hab ihn mir bloß ausgeborgt. Dieser Körper hier ist ein von Thule geschaffener Klon, weil man sich erhofft hat, irgendwie doch noch an Erinnerungen zum Buch zu kommen. Es ist ein Körper ohne Geist und Seele. Und da ich Seelen vertauschen oder in andere Körper transferieren kann, hab ich gleich meine Seele auf die Reise geschickt und mir den Klonkörper ausgeborgt. Mein Name ist übrigens Cedric Raven, ich bin Ezras jüngerer Bruder.“ Er nickte jedem zur Begrüßung zu und wandte sich schließlich an seinen älteren Bruder. „Also ich schlage vor, dass du… äh… Ezra, was ist mit dir? Hey Ezra!“ Doch dieser hörte gar nicht zu, sondern starrte die ganze Zeit Thomas an. Seine Wangen erröteten leicht und sein Blick nahm irgendwie etwas Schwärmerisches an. Dann schließlich seufzte er leise und murmelte „Heichou…“ Zuerst konnte niemand damit etwas anfangen, aber dann begann Ezra erneut zu seufzen und sagte „Er sieht genauso aus wie Levi-heichou… Der gleiche düstere Blick, der gleiche Ernst und fast das gleiche Aussehen. Ich glaub, ich bin verliebt…“ Cedric stöhnte auf und verdrehte genervt die Augen. „Verdammt Ezra, hör endlich mit deinem bescheuerten Animewahn auf und konzentrier dich endlich.“ Und kurz darauf schien sich Ezra wieder zu fangen. Stattdessen machte er sich wieder bereit zum Angriff. „Also gut, ich werde sie solange aufhalten, du bleibst hinter mir. Hier, die habe ich dir mitgebracht.“ Ezra holte eine kleine Tasche hervor und reichte sie seinem Bruder, in welchem sich mehrere Wurfmesser befanden. Dankend nahm Cedric sie entgegen, nahm eines heraus und hielt es bereit zum Werfen. Thomas ahnte, dass dieser Cedric offenbar die gleiche Kunst wie Johnny beherrschte. Womöglich hatte er sich das von ihm abgeschaut. Ezra griff an und schlug mit beiden Macheten auf Thomas’ Schwert ein. Durch die Wucht konnte er sich genug Zeit verschaffen, um über den Ex-Stasi drüberzuspringen, ihm eine Achillessehne durchzuschneiden und sich dann auf Vincent zu stürzen, doch da stellte sich Christine in den Weg. Mit ihrem Schlagring konterte sie den Angriff, hatte aber selbst ein klein wenig Schwierigkeiten, mit Ezras Wendigkeit mitzuhalten. Sie bemerkten schnell, dass er eine absolut perfekte Körperbeherrschung hatte und akrobatisch sehr begabt war. Gerade wollte Christine zurückschlagen, da durchbohrte eines der Messer ihre Stirn. „Verdammt, sind wir hier in einer Zirkusshow?“ „Nun, ich war tatsächlich bis vor kurzem auch als Artist in einem Zirkus“, antwortete Ezra mit einem gleichgültigen Achselzucken und griff erneut an. Wieder verdrehte Cedric genervt die Augen. „Das interessiert aber niemanden, Ezra!“ Thomas erwischte den Angreifer mit dem Schwert am Rücken und schnitt eine tiefe Wunde. Zwar zuckte dieser kurz, aber er ließ sich nicht beirren und griff weiterhin an. Vincent wusste, dass er irgendetwas tun musste und richtete seine Waffe auf Cedric, aber er brachte es nicht fertig, auf ihn zu schießen. Er hatte Harveys Erinnerungen während der Hypnose gesehen und wusste, dass Chris ein äußerst wichtiger Mensch in seinem Leben war. Er konnte doch nicht so auf ihn schießen und das schien dieser Cedric wohl zu wissen. „Was für ein hinterhältiges Spiel treibt ihr beide eigentlich? Du benutzt den Körper eines toten Freundes als Geisel und…“ „Moment mal“, unterbrach Cedric ruhig und hielt die nächsten Messer bereit. „Ich habe niemanden als Geisel genommen. Wir gehören nicht zu den Bösen, damit das klar ist! Alles, was wir wollen ist, Thule aufzuhalten und Johnny bei seinem Plan zu helfen, damit es nie wieder zu einer Katastrophe wie damals kommt.“ „Was hat er vor?“ Cedric schwieg und presste unmerklich die Lippen zusammen, so als würde er es gerne sagen, aber er durfte es nicht. Gerade wollte Christine etwas deutlicher werden, da spürte sie die Aura von Johnny und Sally. Offenbar waren die anderen auch eingetroffen und kamen direkt zu ihnen. Das traf sich schon mal gut. Tatsächlich kamen Sally und die anderen direkt um die Ecke geeilt und Harvey fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er Cedric sah oder besser gesagt den Körper, in welchem er steckte. Er verlor mit einem Schlag seine Gesichtsfarbe und musste sich an Anthony festhalten. „Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Chris, was hat das zu bedeuten und warum sehe ich dich plötzlich in leibhaftiger Gestalt vor mir?“ „Das kann ich gerne erklären. Ich bin Cedric, wir hatten ja schon mal das Vergnügen. Die Thule-Gesellschaft ließ einen Klon von Chris herstellen um zu testen, ob es möglich ist, dass er erneut mit den Erinnerungen bezüglich des Buches „geboren“ wird. Aber es blieb eine seelenlose Hülle ohne eigenes Leben oder Bewusstsein, weil du Chris in dir trägst. Und da Johnny mich gebeten hat, den Körper in Sicherheit zu bringen, hab ich kurzerhand meine Seele hineintransferiert.“ „Johnny wusste davon?“ „Ja. Er hatte einen Deal mit Pristine. Er überlässt ihr das Buch und die Schlüssel und im Gegenzug bekommt er diesen Körper. Und während er das Buch übergibt, war es meine Aufgabe, schnellstmöglich mit Ezra den Körper von hier wegzuschaffen, bevor seine Mutter den Schwindel bemerkt. Denn wenn er gezwungen wird, die sieben Siegel des Buches zu öffnen, wird sich herausstellen, dass das Buch selbst keine Macht mehr besitzt. Die hat Johnny in sich selbst aufgenommen. Deshalb musste er schnell handeln, bevor die Aktion nach hinten losgeht. Es stand auch zur Befürchtung, dass sie dann die ganzen Gefangenen hinrichten lässt.“ Das sah Johnny nun doch wieder ähnlich, dass er nicht nur seine Freunde, sondern auch seine leibliche Mutter hinters Licht führte. Dieser Kerl war doch wirklich mit allen Wassern gewaschen. Er hatte wirklich jeden in seinem Umfeld belogen und betrogen und sogar verletzt, nur um andere zu retten und sogar eine Möglichkeit zu finden, Chris wieder zurückzuholen. Christine schüttelte den Kopf und konnte es gar nicht fassen. „Aber warum diese ganze Aktion? Wieso hat Johnny Harvey zusammengeschlagen und uns angegriffen? Wieso hat er nicht mit mir gesprochen, ich hätte ihm doch helfen können.“ „Johnny wollte es alleine tun, weil er wusste, dass ihr ihn aufhalten würdet, wenn ihr von seinen Plänen erfahrt.“ „Sagt schon endlich, was er vorhat!“ „Johnny will nicht nur die Mischlinge und diese Welt retten, sondern auch seine leibliche Mutter. Und dazu will er sich töten lassen und sowohl die Kraft des Buches als auch die vier Schlüssel mit in den Tod nehmen. Das ist die einzige sichere Möglichkeit, diese gefährlichen Waffen für immer aus dieser Welt zu verbannen, damit sie keinen Schaden mehr anrichten.“ Stille trat ein. Sie waren allesamt geschockt und glaubten, nicht recht zu hören. Nathaniels Augen weiteten sich und in ihnen sammelten sich Tränen. „Johnny wird sterben?“ Cedric nickte und erzählte weiter. „Zuerst hatte er vorgehabt, Pristine ganz einfach zu töten, aber er konnte es nicht tun.“ „Und warum nicht?“ „Weil ich ebenfalls sterben würde“, antwortete Christine und senkte den Blick. „Erinnert ihr euch noch an meine Worte als ich sagte, Pristine und ich verkörpern das erste und höchste Gesetz? Für alles gibt es ein äquivalentes Gegengewicht und ohne das eine kann das andere nicht existieren. Heißt also: Wenn eine von uns stirbt, kann die andere nicht überleben. Ich hab es Johnny niemals erzählt, aber er scheint es trotzdem herausgefunden zu haben. Deswegen schafft er es nicht, seine leibliche Mutter zu töten.“ „Stattdessen hat er einen anderen Plan: er will sie so weit in die Ecke drängen, dass er es schafft, seine Kraft einzusetzen, um sie zur Vernunft zu bringen und von diesen kranken Plänen abzulassen, bevor er stirbt. Obwohl Johnny es niemals zugeben würde, liebt er dich wirklich sehr, Christine. Aber er empfindet auch Liebe für Pristine, obwohl sie ihn immer töten wollte. Und er hat nie die Hoffnung aufgegeben, irgendwann eine Möglichkeit zu finden, sie zur Besinnung zu bringen, damit sie wieder das Licht der Hoffnung werden kann.“ „Aber wenn Pristine ihre Ansichten ändert, wird Christine zur Gefahr werden“, entgegnete Thomas schließlich und ließ nun sein Schwert sinken, da er gemerkt hatte, dass Cedric und Ezra tatsächlich keine Feinde waren. „Solange beide Seiten sich im Extremen bewegen, stimmt das. Aber Johnny glaubt, dass es eine Möglichkeit gibt, beides in Einklang zu bringen. Wir Mischlinge sind der beste Beweis, dass es auch einen Mittelweg geben kann. Wir leben zwischen zwei Welten, gehören nirgendwo wirklich dazu, aber wir schaffen es, zwei Gegensätze zusammenzuführen. Wenn Pristine und Christine beide sich auf eine Art Kompromiss einlassen und den Mittelweg gehen, nämlich unseren Weg, ist es ihnen möglich, diese unzähligen Kriege und Anfeindungen zu beenden und ein Miteinander zu finden.“ „Dieser verdammte kleine Scheißkerl“, rief Christine und schlug mit der Faust gegen die Wand, woraufhin sie ein gewaltiges Loch in den Beton riss. Sie zitterte am ganzen Körper und zum ersten Mal sahen Thomas, Harvey, Anthony und die anderen so etwas wie Angst in ihrem Blick. Und sogar Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Spielt einfach so Jesus 2.0. und benimmt sich dabei wie das allerletzte Arschloch. Das ist mal wieder so typisch für Johnny!“ Harvey, dem das alles langsam zu viel wurde, sank zusammen und ihm war anzusehen, dass es ihm nicht gut ging. Anthony und Nathaniel gingen zu ihm und halfen ihm, während Christine und die anderen sich weiterhin auf die beiden Mischlinge konzentrierten. „Jedenfalls hat Johnny uns den Auftrag gegeben, die Gefangenen zu befreien, den Körper von Chris in Sicherheit zu bringen und euch so lange es geht aufzuhalten, damit er freie Bahn hat. Er wird das schon schaffen.“ „Sagt mal, seid ihr völlig bescheuert, oder was?“ rief Christine und sah zunächst danach aus, als wollte sie den beiden eine reinhauen, aber sie beherrschte sich. „Ihr wisst doch, wie wir kämpfen und dass Johnny wegen seines Handicaps kaum Chancen gegen Pristine hat. Selbst mit diesen verdammten Schlüsseln!!!“ „Wieso nicht?“ fragte Thomas stirnrunzelnd. Christine musste sich zusammenreißen, um nicht völlig die Beherrschung zu verlieren. „Wir kämpfen anders als Menschen. Bei euch heißt es, dass ihr bis zum Tod kämpft, aber höhere Wesen sind nicht so einfach totzukriegen und wir müssen uns an strenge Gesetze halten. Deshalb kämpfen wir viel länger, grausamer und brutaler und das so lange, bis der andere vor Schmerz oder Erschöpfung zusammenbricht und nicht weiterkämpfen kann. Und Johnny kann mit der Schwachstelle an seinem Rücken nicht so lange durchhalten wie seine Mutter und ich. Selbst Pristine ist viel stärker als ich!“ Als die anderen das hörten, tauschten sie Blicke aus und überlegten. Schließlich sagte Cedric nach einer Weile „Wenn das so ist und Johnny könnte es nicht schaffen, dann ändern wir die Strategie. Ezra, du wirst mit mir mitkommen und die Klonanlage zerstören, während die anderen sich auf den Weg zu Pristine machen. Ich werde Eneos benachrichtigen, dass er herkommen soll. Die anderen werden sich um die restlichen Institute kümmern.“ „Wie? Es gibt noch mehr von euch?“ fragte Vincent verwirrt und sah abwechselnd zu Ezra und Cedric. Letzterer nickte und erklärte „Wir sind eine Gruppe von Mischlingen, die genauso wie ihr gegen Thules Machenschaften kämpft und Johnny unterstützt. Es sind auch Träumer, also Experimente des alten DDR-Projektes dabei. Aber nun sollten wir uns wirklich beeilen. Ihr geht schon mal vor, Ezra und ich werden nachher zu euch stoßen und euch helfen.“ Und damit gingen die beiden einfach. Zögernd sahen die anderen ihnen noch hinterher und waren sich nicht sicher, was das bedeuten sollte. Gerade eben noch hatte Ezra versucht, sie mit allen Mitteln zurückzuhalten und ganz plötzlich hieß es, sie würden helfen. Die beiden änderten offenbar schnell ihre Meinung. Aber wenn sie tatsächlich bereit waren, ihnen und vor allem Johnny zu helfen, dann wäre es doch verrückt, ihre Hilfe nicht anzunehmen. Denn sie ahnten, dass das noch ein sehr harter Kampf werden würde. Kapitel 9: Nathaniels Verzweiflung ---------------------------------- Eine gewaltige Explosion erschütterte das ganze Gebäude und die Kraft, die dahintersteckte, war selbst für Menschen deutlich spürbar. Anthony bekam eine Gänsehaut und ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Blick wanderte zu Sally, die sehr beunruhigt aussah. Harvey schien jedenfalls fest entschlossen zu sein, weiterzugehen und zu kämpfen, denn zu wissen, dass die Möglichkeit bestand, Chris zurückzuholen, weckte lang vergessene Lebensgeister in ihm. Christine hingegen wirkte ein klein wenig neben der Spur, was wohl an der Nachricht lag, dass Johnny sich opfern wollte. Als sie um die Ecke bogen, verstellte ihnen eine Gruppe maskierter Männer den Weg, die allesamt schwer bewaffnet waren. Gerade wollten Anthony und Vincent Angriff ansetzen, indem sie einfach ihre Gabe einsetzten, doch da erkannten sie, dass etwas anders war. Diese Männer hatten eine seltsame Ausstrahlung, als wären sie nicht menschlich. Christine verzog das Gesicht als sie das sah und ging weiter. „Na super, meine Schwester hat die Kavallerie geschickt, um euch zu töten. So einfach kommen wir nicht an denen vorbei.“ Doch da stellte sich Sally vor sie und was sie vorhatte, war ihr deutlich anzusehen. „Ihr geht weiter und ich kümmere mich um die. Zwar hat Johnny mir meinen Schlüssel geklaut, aber ich bin trotzdem noch fähig genug, mich um die da zu kümmern. Also verschwindet.“ „Und du meinst wirklich, du schaffst das alleine?“ Sally wandte sich zu den anderen und Anthony erschrak, als er sah, wie sich ihre Augen veränderten. Sie wurden pechschwarz und verwandelten sich in zwei leere Höhlen, aus denen sie blutete. Ihre Haut wurde schneeweiß und selbst ihre Kleidung verlor jegliche Farbe. Sie nahm die Gestalt von ihrer dunklen Seite „Happy Sally“ an. Wenn sie das tat, konnte sie eine unfassbare Zerstörung anrichten, mit oder ohne Schlüssel. Doch dann lächelte sie zuversichtlich und es war immer noch ihr altes Lächeln. „Keine Sorge, dieses Mal werde ich ganz sicher nicht die Kontrolle verlieren, weil ich ganz genau weiß, was hier auf dem Spiel steht. Und ich werde euch ganz sicher nicht einfach so sterben lassen. Immerhin sind wir Freunde.“ Da Sallys Entschluss feststand und es auch die beste Lösung war, dass sie ihnen den Rücken freihielt, gingen die anderen ohne sie weiter. Die Nekromantin sah ihnen noch hinterher, dann begann sie leise zu kichern und ein manisches Grinsen zog sich über ihr Gesicht. „Und euch werde ich hier stückchenweise auf dem Flur verteilen, wenn ich mit euch fertig bin…“ Sie hatten ihr Schritttempo nun deutlich erhöht und Nathaniel kam kaum hinterher, da er alles andere als sportlich war. Obwohl sie Sally schon weit hinter sich gelassen hatten, spürten sie dennoch diese unheimliche Aura, die von ihr ausging. Anthony war besorgt und wandte sich an Christine. „Glaubst du, sie wird es schaffen, die Kontrolle zu bewahren?“ „Das wird sie, keine Sorge. Sie hat sehr hart an sich und ihren Fähigkeiten gearbeitet und auch wenn sie in diesem Zustand sehr bedrohlich und furchteinflößend wirkt, ist sie immer noch die Gleiche. Ihre Erinnerungen an ihre Freunde und ihre Familie helfen ihr dabei, nicht wieder in alte Verhaltensmuster zu fallen.“ „Und warum wird sie wieder zu Happy Sally?“ „Weil sie in diesem Zustand weniger Hemmungen hat, ihre Kräfte auch einzusetzen und sie kann sie in einem viel stärkeren Ausmaß einsetzen.“ Sie bogen um eine Ecke und stießen wieder auf Ezra und Cedric, die offenbar mit ihrer Arbeit fertig waren. Da Cedric in diesem Körper offenbar nicht ganz so schnell laufen konnte, hatte Ezra ihn kurzerhand auf die Schulter genommen und war mit ihm zusammen losgelaufen. Sofort aber setzte der Mischling ihn wieder ab und gemeinsam liefen sie mit den anderen weiter. „Das ging ja schnell“, bemerkte Christine erstaunt, denn es waren tatsächlich keine fünf Minuten vergangen, seit sich ihre Wege getrennt hatten. „Wir sind es gewohnt, möglichst schnell und effektiv zu arbeiten.“ Sie bogen um eine weitere Ecke und wurden direkt beschossen. Ezra reagierte sofort und warf sich auf seinen Bruder, schrie laut auf, als sich mehrere Pfeile in seinen Rücken bohrten. „Ezra!“ rief Cedric und kroch unter ihm hervor. Der Verletzte stöhnte leise und atmete schwer. Fünf Pfeile hatten ihn getroffen und so wie es aussah, würde er es nicht lange schaffen. Doch Cedric bewahrte die Ruhe und begann die Pfeile herauszuziehen. „Keine Sorge Ezra, das kriegen wir schon wieder hin. Bleib ruhig liegen…“ Doch anstatt seine Wunden zu versorgen, nahm Cedric einfach die beiden Hände seines Bruders in die seinen und schloss die Augen. Und während er das tat, beobachteten die anderen, wie das Leben aus Ezras Körper wich. Was machte Cedric da bloß? Als Ezras Blick leer wurde, stand Cedric auf und zog Ezra beiseite, in eine sichere Ecke. „Was hast du mit ihm gemacht?“ fragte Vincent verwirrt. Cedric musste kurz verschnaufen, da sein Bruder deutlich größer und schwerer war als er selbst. „Ich hab seine Seele vom Körper getrennt und in meinem echten Körper transferiert. Als Nekromant des Typs Seelenräuber bin ich auch in der Lage, mehrere Seelen in einen Körper zu pflanzen, allerdings hat diese Fähigkeit einen entscheidenden Haken: Sollte mein echter Körper sterben, weichen auch alle transferierten Seelen und das gilt auch für den Körper, den ich zurzeit besetze. Heißt also, dass ich diese Gabe nur so lange aufrechterhalten kann, wie ich am Leben bin. Deshalb nehme ich meinen originalen Körper nur sehr ungern zu solchen Missionen mit und mach mich stattdessen in einem anderen Körper breit. Sollte dieser verletzt werden, kann ich ihn jederzeit wieder verlassen. Bis Eneos eintrifft und Ezras Körper wieder zusammenflickt, wird Ezras Seele erst einmal bei mir bleiben.“ „Und wer ist dieser Eneos?“ „Unser Doktor Frankenstein. Er besitzt die Fähigkeit, alles zusammenzunähen und hat im Laufe der Jahre echt abartige Dinge geschaffen. Nun ja, da er zur Hälfte negative Kraft in sich trägt, besitzt er einen ähnlich miesen Charakter wie Johnny. Man kann sich aber auf ihn verlassen. Kommt, wir sollten weitergehen!“ Da es keinen Sinn machte, den leblosen Körper mitzunehmen, ließen sie ihn zurück und gingen weiter. Wieder flogen ihnen Pfeile entgegen, welche Thomas dieses Mal abwehren konnte. Schnell erkannten sie, dass Schussanlagen installiert worden waren und die Pfeile waren Waffen des alten Kultes, die sogar höheren Wesen gefährlich werden konnten. Als sie um eine Ecke bogen, trafen sie auf weitere maskierte Männer, die zu Pristines Leuten gehörten. Cedric wandte sich an Harvey. „Es ist das Beste, wenn ich jetzt tausche. Halt bitte meine Hand fest, dann geht es einfacher.“ Harvey gehorchte und kaum, dass sich ihre Hände berührten, bekam er ein ganz unheimliches Gefühl. Es war wie ein kalter innerer Sog, als würde ihm etwas gewaltsam entrissen werden. Ein unheimliches Gefühl, doch es dauerte nur für knapp zwei Sekunden an, da sank Cedric zusammen und Harvey fing ihn auf. Im nächsten Moment beobachteten sie, wie einer der Maskierten die anderen angriff. Cedric hatte es geschafft, den Körper zu wechseln und nutzte die Verwirrung, um die Maskierten anzugreifen. Im nächsten Moment öffnete der andere Körper die Augen und wanderten zu dem Schauspieler. „Harvey?“ Seine Freude war gar nicht in Grenzen zu halten. Kaum, dass er erkannt hatte, dass es tatsächlich Chris war, brach er in Tränen aus und umarmte ihn fest. „Bitte lass das kein Traum sein…“ Als Nathaniel das sah, kamen auch ihm Freudentränen und er lehnte seinen Kopf an Anthonys Schulter. Und auch der sonst so misstrauische Konstrukteur freute sich für seinen neu gewonnenen Freund, den er jetzt zum ersten Mal vor Freude strahlen sah. Christine kam Cedric schließlich zur Hilfe und dann auch Thomas. Nach einer Weile gelang es ihnen, ihre Angreifer unschädlich zu machen und somit den Weg freizumachen. Sie erreichten schließlich eine Tür, welche in einen riesigen Hof führte. Dort standen mindestens 200 schwer bewaffnete Soldaten und richteten direkt ihre Maschinengewehre auf sie. Abrupt blieben sie stehen und Harvey stellte sich schützend vor Chris, während sich Nathaniel ängstlich hinter Anthony versteckte. Christine ließ den Blick über den Platz schweifen und seufzte. „Das sind ganz schön viele. Es könnte ein klein wenig schwierig werden, sie allesamt umzubringen, ohne zu riskieren, dass die anderen verletzt werden.“ „Keine Sorge“, sagte Cedric schließlich. „Ich werde ein wenig Verwirrung stiften und dann geht’s rein ins Getümmel.“ „Gut. Thomas, du kommst mit mir, Harvey und Chris gehen zusammen mit Nathaniel in Deckung. Anthony und Vincent, ihr macht euch unauffällig für die anderen und mischt ordentlich mit. Wir machen keine Gefangenen!“ Als Cedric umkippte und kurz darauf innerhalb der Menge geschossen wurde, war dies das Stichwort für die anderen und der Angriff begann. Überall wurde geschossen, Menschen schrieen und Blut floss. Schnell eilten Harvey, Chris und Nathaniel zu einer Säulengruppe und versteckten sich, während die anderen alles taten, um ihre Angreiferzahl zu dezimieren. Chris hielt Nathaniel schützend an sich gedrückt und wandte sich an Harvey. „Sag mal, fragst du dich nicht auch, wo Pristine und Johnny sind?“ „Wahrscheinlich kämpfen sie irgendwo anders. Aber mich würde auch interessieren, was Sally so lange braucht. Vielleicht ist…“ Harvey brachte den Satz nicht zu Ende, da wurde es auf einmal düster am Himmel und ein lautes, unheilvolles Donnern war zu hören. Nathaniels Blick wanderte hinauf zu den Wolken und ein seltsamer Glanz war in seinen Augen zu sehen. Er wirkte irgendwie völlig abwesend und murmelte leise „Es ist offen…“ „Was meinst du?“ „Das erste Siegel ist geöffnet worden…“ Ein gewaltiger Blitz schlug in einem Baum ein, doch anstatt ihn zu spalten, zerbarst dieser in tausende von Holzsplittern und sie alle überkam ein Frösteln. Plötzlich rannte Nathaniel los, als hätte er sich erschreckt und nun von dem Gewitter fliehen wollte. Chris rief ihm noch nach und eilte ihm hinterher, Harvey folgte ihm. Obwohl sie beide nicht übersinnlich begabt waren so wie die anderen, spürten sie, dass Nathaniel genau in die Richtung lief, wo diese monströse Energie am Stärksten war. Abrupt blieb er aber stehen, als er sah, wie eine schneeweiß gekleidete Gestalt auf sie zukam. Es war eine Frau mit strahlend blauen Augen und langen weißen Haaren. Sie war atemberaubend schön und hatte etwas so Anmutiges und zugleich Ehrfurchtgebietendes an sich, als wäre sie ein Engel. Fehlten nur noch die Flügel und das Bild wäre vollkommen gewesen. Ein warmherziges Lächeln war auf ihren Lippen und sie wirkte freundlich und liebevoll, dass sich gar nicht an ihren guten Absichten zweifeln ließ. Aber Harvey durchschaute diese Maske sofort und es erschauderte ihn, als er diese abgrundtiefe Verachtung in diesen Augen sah. Diese Frau war niemand anderes als Pristine. Die Mutter von Johnny und die Anführerin der Thule-Gesellschaft. In ihrer rechten Hand hielt sie eine geladene Armbrust. Dass sie hier war, ließ nur den Schluss zu, dass Johnny es nicht geschafft hatte und er womöglich schwer verletzt war. Chris zog Nathaniel zurück und Harvey stellte sich schützend vor die beiden. „Du bist Christines Schwester, nicht wahr?“ „Wenn sie sich jetzt so nennt, dann ja. Namen spielen für uns sowieso keine Rolle.“ „Wo ist Johnny und was hast du mit ihm gemacht?“ „Ihn seiner gerechten Strafe zugeführt. Er glaubte, mich betrügen und hintergehen zu können, aber letzten Endes hat er sich leider überschätzt. Genauso wie die kleine Sally-Ann.“ Harvey ahnte nichts Gutes, als er das hörte und richtete seine Pistole auf Pristine. Zwar wusste er, dass er sie damit nicht töten konnte, aber zumindest würde ein Schuss in den Kopf genügen, damit sie weglaufen konnten. Ansonsten würde einer von ihnen garantiert mit der Armbrust getötet werden. Pristine belächelte ihn nur und fügte hinzu. „Ich werde die Welt von ihrem Schmutz säubern und eine perfekte Welt erschaffen, in der es nur schwarz und weiß gibt. Denn so steht es im allerhöchsten Gesetz geschrieben: Alles hat einen äquivalenten Gegenpol. Und dieser Mischlingsabschaum ist ein einziges Verbrechen gegen dieses Gesetz, deshalb muss er vom Angesicht der Welt vertilgt werden.“ „Aber das können Sie doch nicht tun“, rief Chris, als er das hörte. „Niemand hat das Recht, einfach so über Leben und Tod zu entscheiden. Und einfach so Menschen oder Nichtmenschen auszulöschen, nur weil diese nicht in Ihre Anschauungsweise hineinpassen, ist grausam und falsch!“ „Ich präsentiere das höchste Gesetz und somit ist es meine Pflicht, dieses unter allen Umständen einzuhalten. Und jene, die sich nicht diesem Gesetz anpassen, werden ausgelöscht!“ Als sie die Armbrust hob, reagierte Harvey sofort und schoss ihr mehrmals in den Kopf, woraufhin Chris und Nathaniel flüchteten. Harvey blieb hinter ihnen und drängte sie, so schnell zu laufen, wie sie nur konnten. Denn lange würde es nicht dauern, bis sich Pristine erholt hatte. Während er lief, durchzuckte ihn ein irrsinniger Schmerz, als sich etwas tief in seinen Rücken bohrte. Seine Beine versagten und er fiel zu Boden. Chris, der Nathaniel an der Hand hielt, sah das und wollte zuerst zurück. Doch als er sah, dass Pristine erneut ihre Armbrust hob, rannte er weiter. Harvey, der wohl wusste, dass es sie trotzdem gleich erwischen und er Chris noch mal verlieren würde, mobilisierte all seine Kräfte. Obwohl der Pfeil tief in seinem Rücken steckte und er Schmerzen hatte, wollte er sich nicht einfach so geschlagen geben. Nicht, wenn er dadurch Chris und Nathaniel retten konnte. Da er nicht aufstehen konnte, zog er sein Messer und rammte es mit aller Kraft in Pristines Bein, als sie erneut schießen wollte. Sie schrie auf, als sich die Klinge in ihren Oberschenkel bohrte, dann trat sie Harvey gegen den Kopf, was ihm fast das Bewusstsein raubte. „Du dreckiger Mensch wagst es, mich anzugreifen? Dafür wirst du büßen!“ „Glaub bloß nicht, dass ich um Gnade flehen werde, du Hexe.“ „Dann stirb mit dem letzten Rest deiner erbärmlichen Würde.“ Gerade wollte Pristine einen weiteren Pfeil abfeuern, da trafen sie mehrere rot glühende Messer und weitere durchbohrten ihre Brust und ihre Kehle. Sie taumelte nach hinten und stöhnte leise, wobei sie die Armbrust sinken ließ. „Das gibt es doch nicht“, brachte sie hervor, während sie versuchte, sich irgendwie auf den Beinen zu halten. „Du solltest dich doch nicht mehr bewegen können!“ „Ach halt doch die Schnauze, alte Hexe!“ Harvey glaubte, nicht richtig zu sehen, als doch tatsächlich Johnny auf sie zugeeilt kam und ihr einen kräftigen Tritt in die Magengrube verpasste, was sie mehrere Meter wegschleuderte. Doch auch Johnny sah bereits ziemlich mitgenommen aus. Er hatte mehrere Verletzungen am ganzen Körper und Blut lief sein Gesicht runter. In seinem Rücken steckten mehrere Pfeile und ihm war anzusehen, dass er furchtbare Schmerzen hatte, auch wenn er es mit seiner typisch unverschämten und vorlauten Art zu verbergen versuchte. Er beugte sich zu Harvey hinunter und zog den Pfeil aus seinem Rücken. „Mann, die hat dich ja richtig genagelt…“ „Spar dir die dummen Sprüche, du Vollidiot“, gab Harvey zurück und gab Johnny ungeachtet der Tatsache, dass dieser noch schlimmer verletzt war, eine Kopfnuss. „Zuerst führst du dich wie das absolute Arschloch auf und ich erfahr dann, dass du eine Kamikazenummer abziehen willst. Hast du wirklich geglaubt, wir lassen dich so einfach sterben? Wir sind doch Freunde, hast du das vergessen?“ Und das listige Funkeln in den Augen und das Grinsen, was Johnny immer geziert hatte, schwanden und zum ersten Mal wirkte er nicht mehr wie ein abgebrühter Betrüger, sondern viel menschlicher. „Eben weil du mein Freund bist, musste ich das tun. Komm, ich bring dich erst einmal zu den anderen in Sicherheit, dann kümmere ich mich um meine Mutter.“ „Lass uns doch erst mal diese Pfeile aus deinen Rücken ziehen.“ Gerade wollte Harvey einen der Pfeile greifen, obwohl Johnny ihn gleichzeitig warnte, er solle das nicht tun, da durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz und ein Stromschlag schoss durch seinen Körper. Sofort ließ er den Pfeil wieder los, seine Hand war dennoch taub und leicht verbrannt. Mein Gott, dachte er und sah Johnny entsetzt an. Diese Pfeile sendeten Stromstöße in seinen Körper, um ihn zusätzlich zu foltern. Dass er sich überhaupt noch bewegen konnte, grenzte an ein Wunder! Aber so schnell wollte Harvey nicht aufgeben. Er musste seinen Freund von diesen entsetzlichen Dingern befreien und das am Besten so schnell wie möglich. Da er leider keine Gummihandschuhe dabei hatte, musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Also nahm er seinen Gürtel ab, schützte seine Handflächen mit den Jackenärmeln und wickelte den Gürtel vorsichtig um den Pfeil. Als die Konstruktion stabil war, zog er ihn heraus, wobei Johnny nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. Die Prozedur wiederholte Harvey auch bei den anderen, wobei er aber trotzdem leichte elektrische Schläge in den Händen abbekam, die sich wie kleine Nadelstiche anfühlten. Doch der Schmerz, der von seiner Verletzung durch den Pfeil herrührte, war weitaus dominanter und half ihm, durchzuhalten und auch den letzten Pfeil aus Johnnys Körper zu ziehen. Erschöpft sank Harvey zusammen und spürte, wie das Blut seinen Rücken hinunterlief. „Danke Harv, ich glaub, jetzt geht es wieder einigermaßen. Komm, ich helf’ dir.“ Damit nahm Johnny den Verletzten auf seinen Rücken und brachte ihn weg. „Ich dachte, du hasst es, wenn dir jemand am Rücken klebt.“ „Ernsthaft? Mir tut wirklich alles gleichermaßen weh, da macht es auch keinen großen Unterschied mehr.“ Als sie die anderen erreicht hatten, setzte Johnny Harvey wieder ab und machte sich auf den Weg. Währenddessen hatte sich die Lage weiter zugespitzt. Anstatt, dass es immer weniger Soldaten wurden, schienen es immer mehr zu werden und selbst mit ihren Fähigkeiten waren sie kaum in der Lage, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Während Thomas wortwörtlich die Köpfe rollen ließ, führte Christine so verheerende Schläge aus, dass sie Einzelnen sogar den Schädel zerschmetterte. Der Kampf schien kein Ende nehmen zu wollen, da blitzte etwas auf und ein Pfeil traf Vincent mitten in die Brust und tötete ihn sofort. Pristine hatte das Schlachtfeld betreten und machte nun kurzen Prozess. Einen weiteren Pfeil, der auf Anthony zielte, konnte gerade noch von Thomas abgewehrt werden, der nächste war zu schnell und bohrte sich in seine Schulter. Christine sah dies und eilte selbst zu Pristine, um sie aufzuhalten. Die schneeweiße Frau lächelte, als sie sie sah. „Hallo Schwesterherz. Wie schön, dass du auch der Einleitung der absoluten Säuberung beiwohnst. Ich hab dich zuerst gar nicht bemerkt, aber du warst ja schon immer sehr geschickt darin gewesen, deine Präsenz vor mir zu verbergen.“ „Spar dir das Geschwafel und hör auf, diese Leute da anzugreifen. Und überhaupt: Was hast du mit Johnny und Sally gemacht?“ „Sallys Kraft ist wieder vollständig im Buch versiegelt worden und damit war sie auch nicht mehr in der Lage, ihren Körper weiter zu erhalten und ist verschwunden. Und Johnny wird auch gleich den gerechten Zorn zu spüren bekommen.“ „Nicht, wenn ich das verhindern kann. Du bist ja völlig übergeschnappt. Du schlachtest Unschuldige ab und versuchst sogar, dein eigenes Kind zu töten. So eiskalt bin ja nicht mal ich!“ Doch Pristine blieb die Ruhe selbst und ihr warmherziges und engelsgleiches Lächeln schwand nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde. „Ach Christine, du wirst niemals meine Ziele verstehen, aber ich bin dir nicht böse drum. Du weißt, ich könnte dich niemals hassen, selbst wenn du mich zu töten versuchst. Aber deshalb war ich ja immer die Stärkere von uns beiden, damit das niemals passiert.“ Nun hatte Christine endgültig genug. Sie holte mit der Faust aus und schlug zu. Zwar konnte Pristine diesen mit ihrem Arm abblocken, aber die Kraft, die dabei freigesetzt wurde, erzeugte eine Druckwelle, die einige der Umstehenden von den Füßen riss. Cedric wollte die Chance nutzen und sie von hinten angreifen, da drehte sich Pristine um und schoss ihm den Pfeil direkt ins Auge. Bevor sie den nächsten Schuss abfeuern konnte, setzte Christine wieder zum Angriff an und schlug immer wieder zu. Doch kein einziger Schlag traf Pristine, sie wehrte sie allesamt ab und konterte ganz einfach. „Wann willst du denn endlich ernst machen, Schwesterherz? Oder bist du abgelenkt, weil du dir Sorgen um diesen Bastard machst?“ „Dieser Bastard von dem du da sprichst, ist dein Sohn!!!“ Nun gelang Christine ein Treffer und die Wucht riss Pristine von den Füßen. Sie fing sich aber und setzte mit ihrer Armbrust an. Sie schoss und in dem Moment setzte eine versteckte Schussanlage ein, die einen Regen aus Pfeilen abfeuerte. Zwar gelang es Christine, die meisten von ihnen abzuwehren, jedoch besaßen die Geschosse eine so heftige Durchschlagskraft, dass sie dennoch zwei Treffer einstecken musste. Die anderen, schoss es ihr durch den Kopf, als die Pfeile auf sie niederregneten. Großer Gott, was war mit den anderen? Christine drehte sich zu ihren Begleitern um und fürchtete schon, sie könnten es nicht überlebt haben, aber da sah sie etwas äußerst merkwürdiges: Unzählige Arme hatten die Pfeile wie Schilder abgefangen und die anderen beschützt. Ein kleines Mädchen mit Zöpfen, einer roten Regenjacke und einem schwarzen Kleid war aufgetaucht und sah ein wenig abgehetzt aus. Direkt unter ihrem rechten Auge war eine grüne Regentropfentätowierung zu sehen. Es war Amara, die noch im allerletzten Moment gekommen war und den Angriff abgewehrt hatte, um ihre Freunde zu beschützen. Und diese unzähligen Arme, die von unheimlichen glutroten Augen bedeckt waren, kamen aus dem Inneren ihres monströsen Regenschirms, der mit rasiermesserscharfen Zähnen bestückt war. „Das war echt knapp“, rief Anthony, der sich geistesgegenwärtig auf Nathaniel geworfen hatte, um ihn zu schützen. Amara grinste breit und fragte „Heißt es nicht, dass Helden immer erst im letzten Moment kommen?“ „Eine Sekunde später und wir wären tot gewesen!“ „Hauptsache, wir haben Verstärkung“, unterbrach Thomas und machte sich wieder zum Angriff bereit, denn da kam schon die nächste Gruppe maskierter Soldaten. Anthony nickte ihm zu und nahm seine Waffe wieder in die Hand. „Chris, du bleibst bei Harvey und Nathaniel. Wir werden hier erst einmal aufräumen.“ Und gemeinsam gingen sie zum erneuten Angriff über, doch dieses Mal erwies sich der Kampf deutlich schwerer als zuvor, denn da die Maskierten keine Menschen waren, funktionierte Anthonys Fähigkeit nicht und gegen alle auf einmal hatte Thomas selbst als ausgebildeter Killer keine guten Karten. Amara tat ihr bestes und spießte jeden mit ihrem Regenschirm auf, der ihr zu nahe kam oder schleuderte ihn weg. Aber egal was sie taten, ihre Gegner wollten einfach nicht sterben und dann geschah das Unfassbare: Ein Schuss traf Thomas in den Kopf und tötete ihn auf der Stelle. Amara schrie auf, als sie das sah und sank neben ihm in die Knie. Weinend umklammerte sie ihn und rief immer wieder seinen Namen. Einer der Männer packte sie schließlich am Schopf, riss sie vom Boden hoch und Amara, unfähig sich zu bewegen, sah ihn angsterfüllt und mit Tränen in den Augen an. Dann schob er ihr den Lauf einer Pistole in den Mund und drückte ab. Fassungslos sah Anthony, was passiert war und konnte es nicht glauben. Thomas und Amara waren tot… Vincent war tot… und Sally war fort… warum nur starben alle seine Freunde und wieso konnte er es nicht verhindern? Gerade wollte der Mörder die Waffe auf ihn richten und schießen, da traf ihn ein Messer in die Stirn und tot fiel er zu Boden. Johnny, der sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte, hatte ihn noch im letzten Moment gerettet. „Steh nicht so dumm rum und schlag Wurzeln, sondern mach, dass du hier wegkommst!!“ Anthony zögerte nicht lange und lief zu den anderen, während Johnny langsam auf die Männer zuging, wobei unablässig Blut aus seinen unzähligen Wunden tropfte. Er hielt seine Messer bereit und atmete schwer. Sein Blick war ernst und seine Augen leuchteten infernalisch. Plötzlich spürten sie eine leichte Vibration in der Erde und eine unheimliche Kraft, die von Johnny ausging. Und dann begann er etwas zu murmeln. Es war kaum hörbar, aber Anthony, der Lippenlesen konnte, bemerkte schnell, dass es eine Art Rezitation war. „Und als das zweite Siegel geöffnet wurde, hörte ich eine Stimme die rief: Komm! Und ich sah aus den Tiefen des Feuers einen Reiter emporsteigen in einer von Blut rot gefärbten Rüstung auf einem roten Pferd. Seine Klinge ist geschmiedet in den nie erlöschenden Fegefeuern und er wird es sein, der den Krieg ins Land bringen und die Meere und Ozeane in einen Strom aus Blut verwandeln wird.“ Doch während er diese Worte sagte, wurde er von unsagbaren Schmerzen ergriffen und erbrach einen Schwall von Blut. Als er die Rezitation beendet hatte, ballte sich diese monströse Kraft und wurde mit solch einer Wucht wieder freigesetzt, dass es zu einer Explosion kam. Alle umstehenden Soldaten wurden in Stücke gerissen und Blut regnete auf sie nieder. Chris schrie auf, als er das sah und ging in Deckung, wobei er sich an Harvey klammerte, während Anthony Nathaniel beschützte. „Was passiert hier nur?“ fragte Chris verängstigt und zitterte am ganzen Körper. Nathaniel war der Einzige, der nicht entsetzt war, er schien irgendwie apathisch geworden zu sein und erklärte beinahe tonlos „Das zweite Siegel wurde geöffnet.“ Obwohl Johnny erneut Blut erbrach, nahm er seine Messer, deren Klingen rot zu glühen begannen und warf sie in Pristines Richtung. Diese wich aus und feuerte mit der Armbrust zurück. Den Pfeilen auszuweichen fiel Johnny in seinem Zustand schwerer, aber er steckte den Treffer in seinen Arm weg und schoss auf seine Mutter zu, dann verpasste er ihr einen Schlag ins Gesicht und hielt sie am Arm fest. Diesen verdrehte er, bis der Knochen brach, dann trat er ihr in den Bauch und dann in den Brustkorb. Jeder Schlag und jeder Tritt war so gewaltig, dass er fast ein Erdbeben verursachte. Mein Gott, dachte Anthony, während er den Kampf aus sicherer Distanz beobachtete. Die kämpften wirklich mit einer enormen Kraft. Wahrscheinlich würde das ausreichen, um einen ganzen Berg zu zertrümmern. Sich da einzumischen war glatter Selbstmord. Johnny war nun richtig wütend und ging mit aller Kraft vor, zu der er fähig war. Doch obwohl er Pristine enorm zusetzte, schien er selbst in einer schlechten Verfassung zu sein. Und tatsächlich gelang es seiner Mutter, ihn mit einem Schlag in den Rücken so lange außer Gefecht zu setzen, dass sie ihm ein Messer in die Brust rammen und ihn zu Boden treten konnte. Obwohl ihr Gesicht ziemlich übel zugerichtet war, lächelte sie verächtlich und drückte mit dem Fuß das Messer noch tiefer in seine Brust hinein. „Sieh dich doch mal an. Obwohl du die ersten beiden Siegel geöffnet hast und stärker geworden bist, zerfrisst es nach und nach deinen Körper. Genauso wie es Sally damals getötet hat, als sie ihre ganze Kraft freisetzte. Fragt sich nur, wann dein Körper völlig zerstört wird. Beim dritten oder vierten Siegel? Lass mich raten, du willst auch diese öffnen, weil du nur auf diese Weise Sally wieder zurückholen kannst, nicht wahr?“ „Natürlich, weil ich meine Freunde ganz sicher nicht im Stich lassen werde.“ „Nein Johnny, tu das nicht“, rief Christine, die die Pfeile aus ihrem Körper herausgezogen hatte und nun zu ihm geeilt kam. „Das musst du nicht tun. Ich werde eine andere Lösung finden!“ „Hört endlich beide auf, mir ständig zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Ernsthaft, ich lasse mir von niemandem etwas vorschreiben und es ist mir scheißegal, was du davon hältst, alte Frau.“ Da Worte nichts bewirkten, wollte Christine ihn mit Gewalt abhalten, doch da setzte Johnny eine enorme Druckwelle frei und schleuderte sie beide weg. Doch das war zu viel für ihn. Er bekam kaum noch Luft und sank in die Knie, wobei er erneut Blut hervorwürgte und unter Schmerzen und Röcheln das Messer aus der Brust zog. Es schien, als würde ihn nur sein Wille zum Weiterkämpfen auf den Beinen halten. Doch da versagte ihm die Kraft und er fiel zu Boden, wo er reglos liegen blieb. Christine stürzte sich sofort auf ihre Zwillingsschwester und der Kampf der ungleichen Schwestern wurde fortgesetzt. Nathaniel, der sich schreckliche Sorgen um Johnny machte, riss sich von seinem Halbbruder los und eilte zu seinem großen Freund hin. „Nein Nathaniel, warte!“ rief Anthony und wollte schon hinterher, da sprang Harvey auf und versuchte, den Jungen einzuholen. Kaum, dass er diesen erreicht hatte, wurden sie gepackt und weggezogen und das nicht zu früh, denn da schossen mehrere Pfeile auf sie nieder. Ihr Retter war niemand anderes als Ezra. „E-Ezra?“ „Da komm ich ja noch gerade rechtzeitig. Los jetzt, wir müssen sofort weg hier. Wenn ihr hier bleibt, ist das euer sicherer Tod.“ „Aber ich dachte, du wärst…“ „Eneos hat meinen Körper wieder zusammengeflickt und Cedric konnte meine Seele somit wieder zurücktransferieren.“ Doch da Nathaniel sich weigerte, Johnny einfach so zurückzulassen, musste er von Ezra getragen werden. Anthony und Chris schlossen sich an und gemeinsam eilten sie in Richtung des Eingangs ins Gebäude, um von dort aus wegzukommen. Wenn die Zwillinge so weiterkämpften, würde das noch ziemlich gefährlich werden, wenn man ihnen zu nahe kam. Nathaniel wehrte sich nach Leibeskräften und weinte heftig und reagierte nicht auf beruhigende Worte. Er hatte entsetzliche Angst um Johnny. Kein Wunder, denn dieser war wie ein großer Bruder und ihm hatte er es zu verdanken, dass er nicht im Keller gestorben war. Und kurz davor waren auch Menschen gestorben, die er gut kannte und in sein Herz geschlossen hatte. Ezra riss die Tür auf und blickte direkt in die Läufe mehrerer Maschinengewehre. Ein junger blonder Mann mit einem lilafarbenem Stirnband fiel ihm tot entgegen und entsetzt ließ Ezra Nathaniel fallen. „Cedric!“ rief er und kniete sich hin. „Cedric, sag doch was! Bitte mach die Augen auf!“ Weinend drückte Ezra seinen toten Bruder an sich und machte keine Anstalten zu fliehen. Harvey reagierte sofort und stellte sich schützend vor Chris, während Anthony sich mit Nathaniel zur Seite warf. Das Feuer wurde eröffnet und Chris, Harvey und Ezra waren auf der Stelle tot. Nathaniel zitterte am ganzen Körper und konnte kaum atmen, als sich seine Brust zusammenschnürte. Warum nur? Warum geschah das alles und warum mussten alle sterben? Dabei hatte er doch gerade erst seinen Bruder Anthony kennen gelernt und zum ersten Mal in seinem Leben Freunde gefunden, nachdem er fast 96 Jahre ganz alleine war. War es etwa seine Schuld, dass sie alle sterben mussten? Wieder wurde geschossen, doch dieses Mal waren es die Soldaten, die sich gegenseitig töteten. Anthony hatte es geschafft, wieder die volle Kontrolle über seine Fähigkeiten zurückzuerlangen, nachdem er durch den Schock über den Tod seiner Freunde wie gelähmt war. Er wandte sich zu Nathaniel und dieser sah entsetzt, dass auch Anthony schwer verletzt war. „Los, du musst gehen, solange ich sie noch in Schach halten kann.“ Aber Nathaniel konnte es nicht, seine Beine gehorchten ihm einfach nicht. Stattdessen musste er hilflos mit ansehen, wie Anthony zusammenbrach und er starb. Einen Augenblick blieb Nathaniel wie erstarrt, dann kroch er auf seinen Halbbruder zu und streckte seine Hand nach ihm aus. „Anthony?“ Keine Reaktion, die Augen waren leer und Nathaniel spürte auch keine Lebenskraft mehr in ihm. Trotzdem hoffte er noch, irgendwie eine Reaktion von ihm zu bekommen und drehte ihn auf den Rücken. Seine Augen starrten ins Leere und als Nathaniel das viele Blut an seinen Händen sah, schrie er laut auf und sein Schrei zeugte von unendlicher Verzweiflung. Und in diesem Moment explodierte etwas in seinem Kopf und erfasste die gesamte Anlage. Kapitel 10: Ändere das Schicksal! --------------------------------- Die Kraft, die von Nathaniel ausging, war so enorm, dass es den Soldaten schlagartig das Bewusstsein raubte und einige erstarrten zur Salzsäule und ließen ihre Waffen fallen. Mit einem Male war Ruhe eingekehrt, selbst das Gewitter war verschwunden. Wahrscheinlich hätte dieser Ausbruch noch verheerender werden können, hätte Johnny nicht seine Kräfte mobilisiert und Nathaniel in den Arm genommen, um ihn zu beruhigen. Und tatsächlich wich diese Kraft wieder, die dem Jungen beinahe das Bewusstsein geraubt hatte. Immer noch unter Schock stehend brachte er keinen Ton hervor, sondern weinte nur bitterlich. „Johnny“, schluchzte er schließlich und vergrub sein Gesicht in dessen Schulter. „Sie… sie sind alle…“ „Ja ich weiß“, sagte Johnny traurig und streichelte ihm sanft den Kopf. „Es tut mir wirklich Leid. Ich wollte nicht, dass es dermaßen schrecklich wird. Aber keine Sorge. Wenn ich es schaffe, die nächsten beiden Siegel zu öffnen, kann ich Sally wieder zurückholen. Vertrau mir einfach.“ „Aber dann wirst du sterben.“ Dazu sagte Johnny nichts. Er ließ Nathaniel los und ging weg. Hilflos sah ihm der Junge nach, wohl wissend, was passieren würde. Aber der Schock über den Verlust seiner Freunde saß noch zu tief, sodass er nicht einmal in der Lage war, aufzustehen und ihn aufzuhalten. Stattdessen blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn unter Tränen anzuflehen „Nein Johnny, bitte geh nicht! Lass mich nicht alleine!!!“ Aber er blieb nicht stehen, oder kam zu ihm zurück. Er ging zu den immer noch kämpfenden Zwillingen, die sich nach wie vor gar nichts schenkten und aufs Ganze gingen. Beide sahen mitgenommen aus, aber um Christine stand es erheblich schlechter, denn egal wie sehr sie sich auch bemühte, Pristine war immer stärker als sie. Johnny hatte versucht, es vor den anderen zu verbergen, aber er war völlig erschöpft. Wirklich jede Bewegung fühlte sich an, als würden seine Knochen brechen, er bekam kaum Luft und sein Innerstes fühlte sich an, als würde es verbrennen. Diese Kraft, die da in seinem Körper tobte und ausbrechen wollte, war einfach zu stark für ihn und er selbst wusste, dass er nie und nimmer das Öffnen des vierten Siegels überstehen konnte. Wahrscheinlich starb er schon, wenn er allein das dritte Siegel öffnete. Aber er musste es tun, nur so konnte er Sally zurückholen, damit sie ihre Freunde retten und Nathaniel beschützen konnte. Er jedenfalls war nicht mehr in der Lage dazu, so sehr er sich das auch wünschte. Dabei hatte er doch alles so gut geplant gehabt. Alle vier Schlüssel waren in seinem Besitz, genauso wie die Kraft des Buches. Und trotzdem waren alle seine Freunde jetzt tot und er hatte es nicht geschafft, Pristine von diesem Wahnsinn zu befreien. Mal wieder hatte er rein gar nichts schaffen können und musste stattdessen mit ansehen, wie alle um ihn herum starben. Genauso wie damals. Wieso nur hatte er es dieses Mal nicht besser machen können, wo er doch wirklich alles durchdacht und mit eingeplant hatte? Warum nur war er so dermaßen unfähig, andere zu retten? Er hasste sich selbst dafür und umso entschlossener war er, nicht kampflos aufzugeben und wenigstens vor seinem Tode Sally zurückholen. Wenn ihm das gelänge, dann bestand noch Hoffnung, dass Anthony, Thomas, Cedric und die anderen nicht gänzlich verloren waren. Johnnys Hand wanderte zu seiner Jackentasche, wo er das Döschen mit dem Vicodin aufbewahrte. Er öffnete den Verschluss und schluckte den Rest der Tabletten, in der Hoffnung, somit noch wenigstens ein paar Minuten durchhalten zu können. Ein klein wenig begannen die Schmerzmittel zu wirken und das reichte fürs Erste, damit er das dritte Siegel öffnen konnte. „Und als das dritte Siegel geöffnet wurde, hörte ich eine Stimme die rief: Komm! Und ich sah einen Reiter auf einem schwarzen Pferd emporsteigen. In seiner Rechten hielt er eine Waage, während seine Linke alles verderben und verfaulen ließ, was sie berührte. So sprach er, es solle das Weizen in Gold aufgewogen werden und die Gerste in Silber. Und so hinterließ er eine unfruchtbare Ödnis und ausgezehrte Leichen und Gerippe pflasterten seinen Weg.“ Beim Öffnen des Siegels durchfuhr Johnny ein weiterer unsagbarer Schmerz und für einen kurzen Augenblick war ihm schwarz vor Augen. Er versuchte Luft zu holen, doch seine Lunge füllte sich erneut mit Blut und er würgte alles unter Krämpfen hervor. Nun komm schon, rief er sich selbst zu. Jetzt stell dich mal nicht so an und öffne das vierte Scheißsiegel! Die ganze Zeit hast du doch stets und ständig eine große Klappe gehabt und brichst dann einfach so kurz vor der Ziellinie zusammen? Wie mies ist das denn? Er biss sich auf die Lippen und versuchte, die letzte Rezitation durchzuführen, doch da versagte ihm die Stimme und er erbrach einen weiteren Blutschwall. Alles in seinem Körper schrie, dass er aufhören sollte. Jeder Muskel, jede einzelne Faser seines Körpers wurde von Krämpfen und Schmerzen gepeinigt, sodass er rein gar nichts mehr wahrnahm. Seine Sicht verschwamm und er hörte kaum noch etwas, da alles wie durch Watte gefiltert klang. Er taumelte benommen, dann versagten ihm die Beine endgültig und er brach zusammen. Bitte nicht, dachte er und vor Verzweiflung kam ihm sogar eine Träne. Bitte jetzt nicht. Warte doch einen Moment, damit ich wenigstens das vierte Siegel öffnen kann. Dann kannst du meinetwegen sterben, aber nicht jetzt, wo du so kurz davor bist. Er wollte wieder aufstehen und weitermachen, aber er war noch nicht mal in der Lage, seine Arme zu bewegen. Sein Körper hatte bereits zu großen Schaden davongetragen und wenn er ein Mensch gewesen wäre, dann wäre er schon gestorben, wenn er allein schon die Kraft eines Schlüssels angewandt hatte, ohne dabei das Siegel zu öffnen. Und jetzt konnte er die Kraft auch nicht mehr zurück auf das Buch übertragen. Dann würde Pristine es für ihre Zwecke missbrauchen und dann wären sie alle umsonst gestorben. Irgendjemand packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Nur unscharf erkannte er die schneeweiße Silhouette seiner leiblichen Mutter. Das war’s, dachte er und seufzte. Jetzt ist es endgültig vorbei. Und ich hab es wieder nicht geschafft. Aber wenigstens würde er das Buch und die Schlüssel mit sich nehmen und dann würde Pristine ihren Plan nicht durchführen können. Er blinzelte und konnte ein klein wenig deutlicher sehen, dass sie ein Messer in ihrer anderen Hand hielt. Sie würde ihm also die Kehle durchschneiden… Na super, dachte Johnny missmutig. Und ich hab noch nicht mal mehr die Kraft, um ihr ins Gesicht zu spucken! Ein bezauberndes aber zugleich abgrundtief falsches und verächtliches Lächeln zeichnete sich auf Pristines Lippen und ihre eisblauen Augen zeugten von einer unmenschlichen Kälte. „Und jetzt wird es Zeit, die unreine Saat auszumerzen.“ Johnny hörte Nathaniel schreien und auch er selbst hätte sich allzu gerne gewehrt, aber selbst die Hand konnte er nicht mehr heben. Er war ihr hilflos ausgeliefert. Pristine hob das Messer und wollte schon zustechen, da erstarrte sie mitten in der Bewegung und ihre Augen weiteten sich. Das Messer glitt aus ihrer Hand und sie ließ Johnny fallen. Stöhnend presste sie eine Hand gegen die Brust und drehte sich zu Christine um, die sich selbst kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie hielt einen ihrer sieben Pfähle fest umklammert, welchen sie sich in die Brust gestoßen hatte. Pristines Augen waren vor Entsetzen geweitet und sie sank in die Knie. „Wa-warum tust du das? Wenn ich sterbe, dann wirst auch du…“ „Ich weiß“, rief Christine und stieß sich den Pfahl erneut in die Brust, wobei sich ihr Gesicht vor Schmerz verzerrte. „Eine Mutter sollte immer bereit sein, solch ein Opfer zu bringen, um ihr Kind zu beschützen. Und Johnny ist dein Fleisch und Blut und mein Sohn!“ Als Johnny das hörte, weiteten sich seine Augen vor Fassungslosigkeit und für einen Moment vergaß er seinen körperlichen Schmerz. Er schaffte es, die Hand nach ihr auszustrecken und rief „Nein Mum, tu das nicht!!“ Doch sie ergriff die Waffe erneut und als sich ihre beiden Blicke trafen, erkannte er, dass es zu spät war, sie jetzt noch aufzuhalten. Ihre Augen waren von Tränen gerötet und trotzdem lächelte sie, als sie sagte „Johnny, ich bin wirklich sehr stolz auf dich und ich werde dich immer lieb haben. Egal was auch passiert.“ „Nein bitte Mum, NEIN!!!“ Ein letztes Mal stieß Christine sich den Pfahl ins Herz und gab damit sich selbst als auch ihrer Schwester den Rest. Nathaniel stand wie betäubt da und sah dieses entsetzliche blutige Schauspiel, was sich ihm bot. Er hörte Johnnys Schreie, wie er nach Christine rief und spürte den unsagbaren Schmerz in seiner Brust. Sein Blick wanderte über das Schlachtfeld und sah all die Toten. Er sah Amara, Vincent und Thomas, die erschossen wurden. Etwas weiter weg lagen die Leichen von Harvey, Chris, Anthony, Cedric und Ezra. Im Zentrum des Schlachtfeldes lagen die beiden Zwillingsschwestern und nicht weit weg davon Johnny, dessen Schluchzen langsam erstarb. Sie alle waren tot… Um Thule aufzuhalten, hatten sie einen hohen Preis bezahlt… einen viel zu hohen. Und Nathaniel war wieder ganz alleine, so wie damals in seinem Keller. Aber dieses Mal war es schlimmer, denn damals hatte er niemanden gehabt, den er hätte verlieren können. Und nun waren all seine Freunde vor seinen Augen gestorben. Warum nur? War es etwa seine Schuld? Hätte er es verhindern können? Um ihn herum wurde es allmählich dunkel und alles um ihn herum schien sich zu drehen. Die Welt um ihn herum rückte in weite Ferne und dann versank die alles um ihn herum vollständig in der Dunkelheit. Wie lange Nathaniel ohne Bewusstsein gewesen war, konnte er nicht sagen. Vielleicht ein paar Minuten, womöglich sogar Stunden oder Tage. Aber er glaubte so etwas wie eine Stimme zu hören, die da zu ihm sprach. Langsam öffnete er die Augen und sah einen riesigen Sternenhimmel, in dessen Zentrum er sich befand. Unter ihm gab es keinen festen Boden, er war völlig schwerelos. Wo war er nur und wie war er hierhergekommen? Konnte es etwa sein, dass er tot war? Ein Kichern hinter ihm ertönte und als er sich umdrehte, sah er einen blonden jungen Mann mit einer schwarzen Kapuzenjacke. Er hatte geringe Ähnlichkeiten mit Anthony, wirkte aber etwas älter und hinzu kam die Tatsache, dass er zwei Schlangen bei sich hatte. Eine schwarze mit roten Augen, die sich um seinen linken Arm gewickelt hatte und eine weiße mit blauen Augen, die sich um seine Schultern schlängelte. „Wer… wer bist du?“ „Ich bin ein Teil von dir, ebenso wie du ein Teil von mir bist. Wir befinden uns in einem Teil der Zwischenwelt, die deine Welt von der anderen, nämlich dem Jenseits abgrenzt.“ „Dann bin ich tot?“ „Nicht direkt, aber ich habe dich trotzdem hierhergeholt, weil ich die Gelegenheit nutzen wollte, um dich mal näher kennen zu lernen. Normalerweise nehme ich ja die Gestalt meiner „Gäste“ an, wenn ich mich schon zeige, aber ich dachte, das würde bei dir zu nur noch mehr Verwirrung führen, also ich hoffe, du bist auch damit zufrieden.“ „Dann ist das nicht deine echte Gestalt?“ Der Mann zuckte mit den Schultern und lächelte. Er hatte irgendwie etwas von Johnny, jedenfalls kam es Nathaniel so vor. „Aussehen und Namen haben hier keinerlei Bedeutung und ich bin schon so lange hier, dass mich weder an das eine, noch an das andere erinnern kann. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Der Grund, warum ich dich hergeholt habe ist der, dass deine Stimme bis zu mir durchgedrungen ist und ich hörte, dass du großen Kummer hast. Es geht um deine Freunde, nicht wahr?“ Nathaniel ließ den Kopf sinken und nickte stumm. Wieder kamen ihm die Tränen, als er sich an die schrecklichen Szenen erinnerte, als sie starben. „Johnny sagte zwar, dass alle wieder zurückkommen, wenn er das vierte Siegel öffnet und Sally zurückholt, aber er hat es nicht geschafft… und jetzt bin ich wieder ganz alleine.“ Der Mann mit den zwei Schlangen steckte die Hände in die Jackentaschen und sah ihn durch seine katzenhaften Augen an, wobei er ihn aufmerksam musterte. „Jetzt haben wir Johnnys Mum aufhalten können, aber jetzt sind alle tot und das ist nicht fair.“ „Was genau willst du, Nathaniel? Wenn du dir etwa wünschen könntest, was wäre das?“ „Ich will so vieles!“ rief er verzweifelt und rieb sich die Tränen mit dem Ärmel weg. „Ich möchte zusammen mit Anthony die Welt sehen und zusammen mit ihm und Johnny lachen. Ich will Vincent und sogar Thomas wiedersehen, obwohl ich Angst vor ihm habe. Er soll wieder bei seiner Familie sein, ebenso wie Sally. Ich möchte Amara wiedersehen und mich bei Cedric und Ezra bedanken. Und ich will, dass Harvey und Chris endlich wieder glücklich werden.“ „Mit anderen Worten, du willst das Schicksal ändern.“ Schluchzend nickte Nathaniel. Der Mann mit den Schlangen kam auf ihn zu und tätschelte ihm lächelnd den Kopf. „Ich kann dich gut verstehen. Auch ich habe damals, als ich noch gelebt habe, schlimme Dinge miterleben müssen, genauso wie du und Sally… Und auch ich wollte dies nicht akzeptieren, sondern dieses grausame Schicksal ändern. Sag mal Nathaniel, erinnerst du dich daran, wie das Buch mit den sieben Siegeln noch genannt wird?“ Zuerst verstand er die Frage nicht und konnte sich zunächst nicht erinnern, dann aber fiel es ihm wieder ein. „Das Buch des Schicksals, oder?“ „Richtig“, bestätigte der blonde Mann. „Es beinhaltet meine ganze Kraft und hat die Macht, das Ende der Welt einzuläuten, aber auch, um das Schicksal zu beeinflussen. Zum Positiven als auch zum Negativen. Zwar gelang mir dies, aber der Preis dafür war, dass ich mein Leben verlor. Die Schlüssel vertraute ich meinen Kindern und Freunden an in dem festen Glauben, dass diese bei ihnen in besten Händen wären. Als ich starb, hatte ich leider keine Gelegenheit mehr dazu gehabt, die Schlüssel und das Buch mit mir zu nehmen. Aber in einem sind sich sowohl die „höheren Wesen“ als auch die Menschen gleich: Alles, was mal zu einem guten Zweck erschaffen wurde, wird irgendwann als Waffe missbraucht. Es wurde zu einem Druckmittel und zum Objekt der Angst, alle kannten es nur noch als Zerstörungswaffe. Daraufhin kam es zu unzähligen Machtkämpfen und Kriegen um den Besitz des Buches. Als ich noch lebte, war ich in der Lage, Christine und Pristine im Einklang zu halten, doch mit meinem Tod änderte sich das. Die beiden bekämpften sich in unzähligen Kriegen und diese forderten so viele Opfer. Da ich selbst nichts tun konnte, versuchte ich ihnen, eine Botschaft zukommen zu lassen, indem ich Johnny als Mischling zur Welt kommen ließ. Ich wollte ihnen somit klar machen, dass selbst die stärksten Gegensätze zusammengehalten werden müssten, sonst würde das Gleichgewicht gestört werden. Die Mischlinge sind sozusagen die Verbindung, die die Gegenpole in Einklang bringen sollten und ich hoffte, dass Johnny an meiner Stelle schaffen konnte, seine Mutter und seine Tante wieder zusammenzuführen. Aber leider verstand nur Christine meine Botschaft, während Pristine sich in ihrer Überzeugung bestätigt sah, dass alles voneinander streng getrennt bleiben sollte und das auch mit radikalen Mitteln. Also habe ich Johnny hergeholt und ihm die Aufgabe erteilt, das Buch mitsamt den Schlüsseln zu verstecken. Ich dachte, dass dies ausreichen würde. Doch ich täuschte mich erneut in die Menschen und höheren Wesen und musste mit ansehen, wie sie weiterhin ihre Wahnideen verfolgten und sich gegenseitig töteten. Ich selbst war dazu verdammt, hierzubleiben und die Tragödie mit anzusehen. Nun ja, zumindest gelang es mir, Teile meines Selbst abzuspalten und in eurer Welt als Menschen leben zu lassen.“ Dabei wies er mit seinem Blick auf seine beiden Schlangen. „Nekros und Vivus. Leben und Tod. Die Nekromanten und Vivomanten sind ein Teil von mir und sie sollten, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, den weiteren Missbrauch des Buches verhindern.“ Nathaniel brauchte erst einmal eine Weile, um zu verstehen, was das überhaupt bedeutete. „Ich… ich bin du?“ „So ungefähr, genauso wie Sally ein Teil von mir ist. Nur leider hat es Sally nicht geschafft und du bist der Einzige, der übrig geblieben ist. Und da du einen Teil von mir, nämlich alles Positive in dir trägst, wirst du wahrscheinlich der Einzige sein, der in der Lage ist, das Schicksal deiner Freunde zu ändern. Nun frage ich dich, Nathaniel: traust du dir zu, das Schicksal zu ändern?“ „Wie... wie soll ich das anstellen?“ „Wenn ich dich zurückschicke und dir die Chance gebe, diese Tragödie abzuwenden, bevor sie geschieht, wirst du es schaffen, deine Freunde zu retten und Pristine aufzuhalten?“ Als Nathaniel hörte, dass er tatsächlich etwas tun konnte und die Chance bekam, seine Freunde zu retten, rief er sofort „Ja!“ und damit schien der der geheimnisvolle junge Mann zufrieden zu sein. „Also gut“, sagte er schließlich. „Aber dafür verlange ich eine Gegenleistung. Wenn ich dich zurückschicke, wirst du mir das Buch und die Schlüssel überlassen. Immerhin sind diese Dinge ja mein Eigentum und sie haben schon zu viel Schaden angerichtet, als dass ich sie in den Händen solch unerfahrener Kinder lassen kann.“ Natürlich war Nathaniel sofort einverstanden und damit kam der Mann mit den Schlangen langsam auf ihn zu. „Gut, dann denke ich, dass es langsam Zeit ist. Und vergiss nicht Nathaniel, das ist die einzige Chance, die ich dir geben kann. Ändere das Schicksal und mach die Tragödie ungeschehen. Aber denk dran: du darfst niemandem erzählen, dass ich dich zurückgeschickt habe. Sonst wird es ein noch viel schlimmeres Unglück geben, weil du dadurch sehr viel durcheinanderbringen wirst.“ „Okay, ich werde mein Bestes geben. Aber… wie soll ich mich bei dir bedanken, wenn ich nicht mal deinen Namen kenne?“ „Du kannst mich nennen, wie du willst.“ „Dann sag ich mal Danke, Eli!“ Er musste schmunzeln, als er diesen Namen hörte und lachte amüsiert darüber. „Ich wünsch dir viel Glück. Gib dein Bestes!“ Irgendeine Kraft, die vergleichbar mit einer Art Sog war, zog Nathaniel zurück in die Dunkelheit und mit einem Male wurde er von einer tiefen Müdigkeit ergriffen. Obwohl er sich dagegen wehrte, fielen ihm schon nach wenigen Sekunden die Augen zu und erneut schwand sein Bewusstsein. Als Nathaniel wieder zu sich kam, hörte er Stimmen und war sich zunächst nicht sicher, was hier vor sich ging und wo er war. Aber als er den Blick durch die Runde schweifen ließ, erkannte er, dass sie alle noch zusammen waren. Sie befanden sich in einem langen Gang vor einer Stahltür, die von jemandem bewacht wurde. Und sofort erkannte Nathaniel Ezra wieder. Ja richtig, er hatte Thomas angegriffen und wollte sie davon abhalten, zu Johnny zu kommen. Christine starrte ihn verdutzt an und fragte „Du?“ „Kennst du ihn?“ fragte Vincent unsicher und ging ein paar Schritte zurück, um Thomas und Christine das Feld zu überlassen. „Das will ich mal meinen“, antwortete Christine und verschränkte die Arme. „Er hat früher zusammen mit mir und Johnny die Widerstandstruppe gegen Pristine angeführt. Unter anderem wollte er seinen kleinen Bruder und die anderen Mischlinge vor der Hinrichtung retten.“ „Das stimmt, aber inzwischen lebe ich unter dem Namen Ezra Trigger mit meinem kleinen Bruder zusammen und unterstütze ihn bei seiner Arbeit. Aber nun haben wir andere wichtige Dinge zu klären, nämlich die Befreiung der Mischlinge aus den Instituten und dafür zu sorgen, dass Johnny seine Pläne durchführen kann. Und deshalb kann ich euch nicht zu ihm lassen.“ „Warum? Was hat er vor?“ „Keine Ahnung.“ „Und wieso sollst du verhindern, dass wir zu Johnny und Pristine kommen?“ „Keine Ahnung.“ Die gleichen Worte, als wäre das ein unheimliches Deja-vu. Nathaniel beobachtete das Gespräch und wie Cedric in Chris’ geklonten Körper hinzukam. Wirklich alles, was die anderen sagten, war haargenau das Gleiche, was sie vorher schon gesagt hatten. Gerade als Christine Ezra die Leviten lesen wollte, wandte sich Nathaniel an Sally, da er sich nicht sicher war, was er den anderen sagen sollte und ob sie ihm glauben würden. Er zupfte an ihrem Ärmel, damit sie ihn bemerkte. „Sally, du musst mir jetzt genau zuhören. Etwas ganz Schlimmes wird nachher passieren und alle werden sterben, wenn wir es nicht verhindern.“ Zuerst war er sich nicht sicher, ob Sally ihm wirklich glauben würde, aber sie war doch auch ein Mensch mit übersinnlichen Fähigkeiten und vielleicht hatte er ja Glück und sie glaubte ihm. „Hast du so etwas wie eine Vorahnung?“ Da Nathaniel sich sehr gut daran erinnerte, dass er nichts über Eli und seinen Deal mit ihm sagen sollte, entschied er sich, es tatsächlich wie eine Vorahnung aussehen zu lassen. Er konnte es doch auf seine Gabe schieben, das war zumindest eine gute Lösung. „Ja. Wenn Ezra und Cedric sich uns gleich anschließen werden, wird uns eine Gruppe Maskierter angreifen und wenn du alleine zurückbleibst, wird Pristine dich für immer verschwinden lassen. Und die anderen werden alle erschossen. Glaubst du mir?“ Sally schien sich noch unsicher zu sein, aber als sie dann zu den anderen schaute und hörte, wie Cedric sich entschloss, mit den anderen mitzugehen und Johnny zu helfen, da schien sie überzeugt zu sein. Als die Gruppe gerade losgehen wollte, rief sie „Wartet mal bitte“, woraufhin alle stehen blieben und sich zu ihr und Nathaniel umdrehten. „Was ist los, Sally? Wir verlieren noch wertvolle Zeit, wenn wir…“ „Ihr werdet diese Zeit aber aufbringen müssen, wenn wir nicht alle sterben wollen!“ Thomas runzelte leicht die Stirn und fragte „Was ist los?“ Auch die anderen ahnten nichts Gutes und sahen einander beunruhigt an, während Christine eher neugierig als besorgt war. Sally warf Nathaniel einen kurzen Blick zu, um zu signalisieren, dass sie besser die Sache erklärte. Ihm war das nur recht, weil er sowieso wahrscheinlich nicht die richtigen Worte finden konnte. „Nathaniel hatte gerade so etwas wie eine Vorahnung gehabt und hat quasi vorausgesehen, dass wir alle sterben werden. Ich weiß, dass das ein wenig verrückt klingt, aber er hat vor wenigen Augenblicken noch gesagt, dass Cedric und Ezra sich uns anschließen werden und kurz darauf ist es tatsächlich eingetroffen.“ „Das heißt also, wir erleben so etwas wie Final Destination?“ fragte Cedric etwas irritiert und wandte sich an Ezra, aber auch der schien überfragt zu sein. „Von so etwas hab ich noch nie gehört.“ „Für mich klingt das eher nach den Fantasien eines Kindes“, erklärte Thomas kurz und bündig und damit schien das Thema für ihn beendet zu sein. Die Angst ergriff Nathaniel, als ihm klar wurde, dass keiner ihm wirklich glaubte. Wieso nur nahm ihn denn niemand Ernst? Na weil ich eben nur ein dummes und naives Kind bin, dachte er betrübt und ließ den Kopf hängen. Doch da hörte er plötzlich Elis Stimme, die zu ihm sprach. „Keine Sorge Kleiner, du wirst es schon schaffen, du brauchst einfach nur Selbstvertrauen!“ Sein Blick wanderte zu Sally und er glaubte zuerst, nicht richtig zu sehen, als doch tatsächlich eine Art Schatten in Form einer Schlange um Sallys Arm zu sehen war. Ein Schatten mit roten Augen. Das war doch Elis Schlange Nekros. Und auch um seine Hand hatte sich eine kleine weiße Schlange gewickelt. Das war doch Vivus. „Also ich denke, dass wir das nicht unterschätzen sollten“, sagte Christine schließlich und legte eine Hand auf Nathaniels Schulter. „Es ist für Vivomanten nicht unüblich, solche Visionen zu haben, wenn tatsächlich etwas Schlimmes bevorsteht. Wenn Nathaniel gesehen hat, dass wir alle sterben werden, dann sollten wir auf ihn hören. Also dann schieß mal los: Was wird passieren?“ Nathaniel kamen fast wieder die Tränen als er hörte, dass Christine ihm glaubte und ihn unterstützte. Das war seine Chance und so erzählte er von seiner „Vision“. Angefangen von Ezras erstem Tod, über die Armee von Soldaten auf dem Platz, wie alle nacheinander erschossen wurden und wie Christine Selbstmord beging, um Johnny zu retten. Auch was Sally passieren würde und dass Johnnys Plan fehlschlagen würde. Er bemühte sich, so detailliert und überzeugend wie möglich zu erzählen und tatsächlich schien es Wirkung zu zeigen. Zumindest machten Harvey, Sally, Cedric und Vincent den Eindruck, als würden sie ihm glauben. Thomas hingegen schien noch hin und hergerissen zu sein, während sich Anthonys und Ezras Gesichtsausdruck gar nicht deuten ließ. Schließlich, als Nathaniel zu Ende erzählt hatte, kehrte einen kurzen Moment lang Schweigen ein, bis Cedric schließlich seufzte, sich am Kopf kratzte und dann an Ezra wandte. „Wenn der Kleine wirklich eine solche Vision hat und sie auch tatsächlich eintreffen wird, müssen wir umdenken. Auf jeden Fall scheint es wichtig zu sein, dass wir Sally bei uns in der Gruppe behalten und dafür sorgen, dass Chris und Harvey in Sicherheit gebracht werden. Wenn ihr wollt, könnte ich euch einen Plan anbieten, wie wir am effektivsten vorgehen und dabei die von Nathaniel genannten Todesfallen bekämpfen können.“ Da sie immer einen guten Plan gebrauchen konnten, waren sie bereit, sich Cedrics Vorschlag anzuhören, da er auch den Eindruck machte, als sei er ein intelligenter Kopf. „Also da die Gefahr besteht, dass die eher Schwächeren unter uns ins Visier geraten, schlage ich vor, dass ich in meinen richtigen Körper zurückwechsle und Chris in diesen hier transferiere. Ich bringe ihn gemeinsam mit Harvey weg und werde euch unterstützen, wenn ich meinen Körper in Sicherheit gebracht habe. Wenn ihr in den Hof kommt, wird Sally mit Christine zum Rundumschlag ausholen, während sich Anthony, Vincent und Nathaniel auf den Weg zu Johnny machen. Ihr bekommt von Ezra und Thomas Rückendeckung, sollte Pristine euch Ärger machen. Ich hab außerdem einen alten Freund von Ezra und mir verständigt, der sich um die Verletzten kümmern wird. Eneos ist Spezialist für solche Dinge und sollte Johnny in ernsthaften Schwierigkeiten stecken, wird er ihn schon wieder zusammenflicken. Aber niemand spielt den Helden, okay? Wenn es zu heikel wird, werden wir uns wieder versammeln und gemeinsam zum Schlag ausholen. Wenn das unsere einzige Chance ist, Johnny zu retten und seine verrückte Mutter aufzuhalten, dann sollten wir sie nutzen.“ Jeder war einverstanden und so trennten sich Cedric und Harvey vom Rest der Gruppe, während die anderen sich gemeinsam auf den Weg machen. Nathaniel, der kaum Schritt halten konnte, wurde von Christine begleitet, die nach hinten alles absichern sollte. Sie klopfte ihm auf die Schulter und zwinkerte ihm zu. „Wenn du beim nächsten Mal so eine Offenbarung hast, dann wende dich gleich an mich, okay? Das alles als eine Art Vorsehung zu tarnen, war übrigens clever von dir.“ „Dann hast du vorhin gelogen?“ „Jep.“ „Und warum?“ „Na weil ich mir schon dachte, dass du nicht mit der Sprache rausrücken kannst, aus welchen Gründen auch immer. Und außerdem hab ich deinen kleinen Freund bereits bemerkt.“ Mit einem wohl wissenden Lächeln deutete sie auf die kleine weiße Schlange an Nathaniels Arm, welche offenbar nur sie beide sehen konnten. „Ich weiß zwar nicht, was er dir gesagt oder gezeigt hat, aber dass er dir geholfen hat, spricht dafür, dass die Sache sehr ernst ist und du unsere Hilfe noch brauchen wirst. Deshalb vertraue ich dir auch.“ „Eli sagte, wenn ich euch die Wahrheit sage, wird etwas Schlimmes passieren.“ „Okay, dann frag ich nicht weiter nach. Aber das Tolle ist ja, dass Johnny ja auch durch deine Augen sehen kann und das bedeutet, dass er jetzt auch Bescheid weiß. Wenn er nicht gerade eine absolute Riesendummheit macht, wird es ihm schon gut gehen.“ Christines Selbstsicherheit machte Nathaniel Mut und er war froh, dass sie auf seiner Seite war. Vielleicht würde es ihm tatsächlich gelingen, seine Freunde zu retten. Aber trotzdem blieb die Angst, dass er vielleicht doch versagen könnte. „Aber eines musst du mir noch erzählen: Was verlangt Eli von dir?“ „Er will das Buch mitsamt den Schlüsseln zurück.“ „Hm, das ist vielleicht wirklich das Beste für alle. Im Grunde gehören sie ihm ja auch und wenn Pristine oder ich sie besitzen würden, würde wahrscheinlich nicht viel Gutes dabei herumkommen. Und Johnny wäre ohne diese Dinge auch besser dran.“ „Sag mal Christine, wer ist Eli eigentlich?“ Hieraufhin musste Christine kichern, wobei Nathaniel nicht so ganz verstand, was so lustig war. Schließlich aber erklärte sie „Eli ist unser Vater.“ Das konnte sich Nathaniel nicht so wirklich vorstellen, aber andererseits war Johnny vom Äußeren her auch nicht viel älter als Christine und war wie ihr eigener Sohn aufgezogen worden. Sie alle waren äußerlich noch sehr jung für ihr Alter, nur Harvey war der einzig Normale in der ganzen Gruppe. Aber dass Eli ausgerechnet der Vater von Christine und Pristine war, musste ja bedeuten, dass er der Großvater von Johnny war. „Wieso ist er denn gestorben und was ist damals passiert?“ „Nun, er hatte auch so etwas wie eine „Vorahnung“, genauso wie du. Und dabei hat er all seine Freunde und auch seine Familie verloren. Also beschloss er, dieses Schicksal zu ändern und opferte dabei sein Leben. Da unsere Mutter bereits während unserer Geburt verstarb, waren wir quasi auf uns allein gestellt.“ Irgendwie ließ Nathaniel das Gefühl nicht los, als wüsste Christine bereits, dass er und Eli nicht bloß Vorahnungen hatten, sondern sozusagen die Zeit zurückgedreht wurde. Aber wie sollte sie das denn wissen? „Sag mal Christine, weißt du etwa, was wirklich passiert ist?“ Wieder musste sie lachen. „Nun, Pristine mag ja die Stärkere sein, aber ich war schon immer die Klügere von uns beiden und wusste, was unser Vater für Pläne hatte. Auch die Sache mit Johnny hatte ich sofort durchschaut. Ich mag zwar nicht den Anschein erwecken, aber ich habe immer zu ihm aufgesehen und mich bemüht, ihn zu verstehen und mich nach seinen Ansichten zu richten. Ich habe ihn immer bewundert, weil er so vieles wusste. Er kannte die Entstehungsgeschichte um unseren Kult und war als Einziger in der Lage, Positives und Negatives in Einklang zu bringen.“ Schließlich bogen sie um die Ecke und Nathaniel erinnerte sich noch an die verborgene Schussanlage. Doch dieses Mal war es nicht Ezra, der vorauslief, sondern Anthony. Panik überkam Nathaniel, denn er wusste, dass er schnell reagieren musste, bevor noch ein Unglück geschah. „Warte!“ rief er und streckte die Hand aus, um Anthony festzuhalten, doch er erreichte ihn nicht. Kapitel 11: Ein neuer Plan -------------------------- Anthony stoppte mitten in der Bewegung und regte sich nicht, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt. Ezra reagierte sofort und zerrte ihn zurück, als auch schon die ersten Pfeile abgefeuert wurden. „Wow, das war knapp“, rief Vincent und eilte zu seinem besten Freund, der sich langsam wieder bewegen konnte. „Da hast du aber echt schnell reagiert.“ „Das war ich gar nicht“, erklärte er und drehte sich zu Nathaniel um, wobei er einen nur sehr schwer zu deutenden Blick hatte. „Du warst das gerade, oder?“ Es klang zunächst wie ein Vorwurf, woraufhin Nathaniel ein klein wenig eingeschüchtert den Kopf sinken ließ. „Ja…“ „Du wusstest also, was passieren wird?“ Ein leichtes Nicken kam zur Antwort. Schließlich aber entspannten sich Anthonys Gesichtszüge und mit einem warmherzigen Lächeln bedankte er sich bei seinem Halbbruder. „Ich hab doch gesagt, dass Nathaniel eine Art Vision hatte“, sagte Sally schließlich und nahm Nathaniel an die Hand, da er einen etwas hilflosen Eindruck auf sie machte. „Und er hatte gesagt, dass Ezra hier sterben würde. Aber offenbar ist dieses Mal etwas anders und deshalb müssen wir gut aufpassen. Wartet kurz, ich sehe mir das mal genauer an.“ Sally ging um die Ecke, als auch schon die nächsten Pfeile auf sie zugeschossen kamen. Diese lenkte sie aber allesamt um und entdeckte schließlich die Schussanlage. Es brauchte nicht viel, um sie zu sabotieren und nachdem auch das erledigt war, konnten sie ungehindert weiter. Sally, Thomas und Ezra töteten jeden, der ihnen in die Quere kam und schließlich, als sie sich der Tür zum Hof näherten, hielt Nathaniel sie erneut auf. Doch da die schrecklichen Bilder, die er gesehen hatte, immer noch sehr präsent waren, konnte er kaum eine gescheite Antwort formulieren, sondern stammelte eher. „Dahinter… da…“ Er bekam furchtbare Angst davor, was sie hinter dieser Tür erwarten würde und ob es dieses Mal genauso schrecklich sein würde wie zuvor. Er verlor gänzlich seine Gesichtsfarbe und ihm wurde schlecht. Die anderen sahen die nackte Todesangst in seinen Augen und ahnten nichts Gutes. Sally wandte sich an die anderen. „Ich spüre eine sehr große Zahl von Menschen, darunter auch einige mit nichtmenschlicher Aura. Die scheinen schon auf uns zu warten.“ „Und was sollen wir tun?“ „Ich werde das klären gehen. Ihr kommt dann nach, wenn die Luft rein ist.“ Sally wandte sich zur Tür und legte eine Hand auf dem Griff. Sie atmete tief durch und langsam begann ihre Haut sich zu verändern. Sie wurde schneeweiß und selbst ihre Kleidung schien sämtliche Farbe zu verlieren. Ein eiskalter und unheimlicher Hauch ging von ihr aus, wie schneidender Dezemberwind in der Dunkelheit. Selbst Thomas überkam eine Gänsehaut, was er sich erst gar nicht erklären konnte. Als Sally sich noch mal kurz zu ihnen umdrehte, sahen sie, dass ihre Augen verschwunden waren. Dort klafften nur noch zwei pechschwarze Löcher, aus denen ebenso schwarzes Blut tropfte. Sofort wichen Vincent und Anthony vor ihr zurück, als sie erkannten, dass Sally sich in ihr abgrundtief böses alter Ego Happy Sally verwandelt hatte. Sie lächelte zwar, aber es sah in diesem Moment irgendwie monströs aus. „Keine Sorge, dieses Mal werde ich ganz sicher nicht die Kontrolle verlieren, weil ich weiß, was hier auf dem Spiel steht. Ich werde meine Freunde ganz gewiss nicht einfach so sterben lassen.“ Sie sah sehr selbstsicher aus und zuerst war Nathaniel froh, dass sie sich um die Soldaten kümmerte. Aber er erinnerte sich auch daran, dass Pristine es dennoch geschafft hatte, Sally in diesem Zustand zu überwältigen. Also wandte er sich an Christine und bat sie, Sally zu begleiten, nur damit er wenigstens Gewissheit hatte, dass sie nicht doch noch angegriffen werden konnte. Sie öffneten die Tür und traten in den Hof, kurz darauf wurde das Feuer eröffnet. Nathaniel sah wieder die blutigen Szenen vor seinem geistigen Auge, als Anthony und die anderen erschossen wurden. Die Angst war so groß, dass er wieder weinen musste und dabei hielt er sich die Ohren zu. Allein nur, um diese Todesschreie nicht mehr hören zu müssen, ohne dabei an den Anblick seiner toten Freunde zu denken. Tröstend nahm Anthony ihn in den Arm und versuchte, ihn zu beruhigen. „Keine Sorge Nathaniel, wir werden es schon schaffen und dann gehen wir alle zusammen nach Hause. Das ist ein Versprechen.“ „Hab nur Selbstvertrauen, dann wirst du es auch schaffen“, hörte er wieder Elis Stimme sagen. „Wenn du lernst, auch auf deine eigenen Stärken zu vertrauen, kannst du das Schicksal ändern.“ Eine gewaltige Explosion ertönte und ließ das Gebäude erzittern. Eine gewaltige Macht wurde freigesetzt und Nathaniel spürte sofort, was da passiert war. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen und auch Ezra spürte, dass da etwas nicht stimmte. „Johnny hat das erste Siegel geöffnet“, bemerkte er etwas trocken. „Offenbar scheint Pristine ein sehr schwieriger Gegner zu sein.“ Nathaniel wollte nicht länger warten und öffnete die Tür. Was er sah, war das reinste Chaos. Er sah, wie Sally die Köpfe der Soldaten zerfetzte oder sie in den Wahnsinn trieb, während Christine auf ihre Weise ihren Weg mit Leichen pflasterte. Einer der Soldaten, der offenbar von Cedric gesteuert wurde, unterstützte sie dabei. Christine winkte den anderen zu. „Geht schon, bevor Johnny noch eine Dummheit begeht!“ Also gingen sie geschlossen los. Während Anthony und Vincent ihre Kraft einsetzten, um sich und die anderen für die Augen der Soldaten unbemerkbar zu machen, griffen Thomas und Ezra die maskierten nichtmenschlichen Soldaten an. Zwar sah die Sache ganz gut soweit aus, aber insgeheim hatte Nathaniel Angst davor, Pristine über den Weg zu laufen. Sie war extrem gefährlich und vor allem stark. „Passt auf, Pristine greift meist mit einer Armbrust an und ihre Pfeile sind extrem gefährlich.“ Nathaniel spürte die gewaltige Kraft, die er nur zu gut kannte, weil es sozusagen seine eigene war, nämlich die des ersten Siegels. Johnny musste ganz in der Nähe sein. Sie erreichten schließlich eine Säulenreihe und sahen Johnny auf dem Boden liegen. Mehrere Pfeile steckten in seinem Rücken und er war schwer verletzt. Sofort wollte Nathaniel zu ihm laufen, da rief Eli „Nein, warte!“ und sofort blieb er stehen. „Das ist eine Falle, Pristine benutzt Johnny als Köder, um euch hervorzulocken und hinterrücks zu töten.“ „Aber ich kann sie nicht spüren…“ „Sie versteht es meisterhaft, ihre Aura genauso zu verbergen wie Christine. Pass also auf!“ Nathaniel wandte sich an Anthony, dem die Sache auch verdächtig vorkam. „Glaubst du auch, das ist eine Falle?“ „Ja und das gefällt mir nicht.“ Johnny gab ein leises Stöhnen von sich und stand langsam wieder auf. Er blutete aus mehreren Wunden und atmete schwer. „Verdammt du alte Hexe!“ rief er wütend und zog sich einen Pfeil aus dem Oberarm. „Hör auf mit mir zu spielen und kämpf endlich ernsthaft mit mir!“ Sein Blick wanderte zu den anderen und als er Nathaniel sah, ließ sich das Entsetzen in seinem Blick kaum verbergen. „Macht, dass ihr wegkommt!“ Nathaniel spürte plötzlich etwas nicht weit von ihm entfernt und er sprang zur Seite und das nicht zu früh. Kurz darauf schoss ein Pfeil an ihm vorbei und verfehlte ihn nur knapp. Johnny warf seine Messer und traf Pristine direkt in den Kopf, als sie erneut auf Nathaniel zielen wollte. Anthony eröffnete seinerseits das Feuer, während Vincent sich und Nathaniel in Sicherheit brachte. Johnny stürzte sich auf seine Mutter und es kam zu einem heftigen Handgemenge. Doch Pristine gelang es schließlich, ihm einen heftigen Schlag in die Magengrube zu verpassen, was ihn vorübergehend betäubte. Sie packte ihn an der Kehle und riss ihn von den Füßen. „So und jetzt werde ich die restlichen Siegel öffnen und mir dann diese Kraft zu Eigen machen. Damit schlage ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich werde dich Mischlingsabschaum endlich los und dann werde ich endlich in der Lage sein, die Welt von ihrem Schmutz zu befreien.“ „Ach fahr doch zur Hölle! Den Teufel werde ich tun!“ Mit aller Kraft trat Johnny ihr ins Schienbein und rammte ihr ein Messer in den Arm, woraufhin seine Mutter ihn losließ. Er versuchte noch, sich irgendwie abzufangen, schaffte es aber nicht und das nutzte Pristine aus und trat ihn ins Gesicht und in die Brust. Johnny krümmte sich vor Schmerzen und stöhnte leise. „Und jetzt öffne das zweite Siegel!“ Als würde eine unsichtbare Kraft ihm unsagbare Schmerzen bereiten, schrie Johnny auf und warf sich von Krämpfen geplagt umher. Eine weitere Druckwelle wurde freigesetzt und die Kraft, die dabei ausbrach, fühlte sich an wie Feuer. Johnny hatte das zweite Siegel geöffnet und wenn er das dritte auch noch öffnete, würde er nicht einmal imstande sein, sich zu bewegen. Nathaniel konnte das nicht mehr mit ansehen. Wenn er jetzt nichts tat, würde Johnny noch sterben. Offenbar hatte Pristine irgendetwas gedreht, woraufhin sie ihren Sohn dazu zwingen konnte, diese zerstörerische Kraft freizusetzen. Und wenn er die Siegel geöffnet hatte, würde sie ihm im Moment seines Todes diese Kraft entreißen und dann den Genozid durchführen. Nathaniel rannte los, direkt auf Pristine zu, obwohl er nicht einmal bewaffnet war. Er hörte, wie die anderen ihm hinterher riefen, aber das war ihm jetzt auch egal. Wenn er Johnny retten wollte, musste er auch sein Leben riskieren und nicht nur das der anderen. Pristine, die noch zu beschäftigt mit Johnny war, bemerkte ihn erst im letzten Moment und dann warf sich Nathaniel auch schon auf sie. Er packte ihren Arm, mit dem sie die Armbrust festhielt und biss zu. Aber als Reaktion kam nur ein spöttisches Lachen. „Und was willst du mit dieser Aktion bezwecken, Junge?“ „Ich werde nicht zulassen, dass du Johnny, meine Freunde oder irgendjemanden sonst tötest. Du hast nicht das Recht dazu, überhaupt irgendjemanden zu töten, egal aus welchen Gründen.“ Pristine packte Nathaniel an den Haaren und zerrte ihn von sich weg. Die Bisswunde an ihrem Arm blutete, aber sie schenkte dieser harmlosen Verletzung keinerlei Beachtung. „Du dummer Menschenjunge hast doch nicht die geringste Ahnung und an deiner Stelle, wäre ich vorsichtig, mit wem du dich anlegen willst. Ich vertrete das höchste Gesetz allen Seins und dulde nichts, was nicht dem Gesetz entspricht. All diese Mischlinge sind ein Verbrechen, eine Abnormalität, die es zu beseitigen gilt. In einer perfekten Welt gibt es nur Positiv und Negativ, Schwarz oder Weiß und sonst nichts.“ „Aber es kann nicht sein, dass sich beide immer bekämpfen müssen. Die Mischlinge sind doch das Bindeglied, welches beide Seiten miteinander verbinden und bewirken, dass sie zusammen harmonieren. Das hat doch dein Papa gesagt!“ Pristine war für einen kurzen Moment etwas verwirrt, aber auch nur für einen sehr kurzen Augenblick. Sie schleuderte Nathaniel zu Boden und richtete die Armbrust auf ihn. „Das ist völliger Unsinn. Wenn wir eine Vermischung von Rassen, Religionen und Kultur zulassen, wird es nur zum Zerfall führen und diesen Zerfall werde ich zu verhindern wissen. Und ihr alle seid notwendige Opfer für eine bessere Welt.“ Damit feuerte sie einen Pfeil ab und er hätte Nathaniel in die Brust getroffen, wenn er nicht im letzten Moment von Johnnys Messer abgeblockt worden wäre. Seine Augen, die denen von Christine so ähnlich waren, sahen Nathaniel mit einem seltsamen Ausdruck an. Was er dachte oder fühlte, konnte man in diesem Moment nur schwer sagen, aber dann stand er auf und zog sich einen weiteren Pfeil aus dem Bein, wobei er erneut das Gesicht vor Schmerzen verzerrte. „Ist dir überhaupt mal in den Sinn gekommen, dass wir so eine Welt gar nicht wollen? Weder in Amerika noch im dritten Reich haben Rassentrennung oder Rassenvernichtung auf Dauer funktioniert, weil die Menschen irgendwann begriffen haben, dass es scheißegal ist, ob man schwarz, weiß oder Asiate ist. Es ist egal, welche Sprache man spricht oder wo man herkommt. Es sind alles immer noch Menschen und es ist auch ebenso egal, ob wir Menschen, höhere Wesen oder Mischlinge sind. Wir leben alle in der gleichen Welt und das ist schon Grund genug, warum wir diese bescheuerten Ideen verwerfen sollten. Großvater war das auch egal gewesen!“ „Du bist doch nur ein verwöhntes und verhätscheltes Kind, deswegen hast du keine Ahnung, was richtig und was falsch ist. Und jetzt wirst du mit ansehen müssen, wie ich euch für eure Frechheit bestrafen werde!“ Pristine schnallte sich die Armbrust wieder auf den Rücken und holte ein Messer hervor. Sie drückte die Klinge an Nathaniels Kehle und funkelte die anderen eiskalt an. „Ich werde euch alle bestrafen!“ Aber da war Ezra zur Stelle und vollführte in einer Drehung zwei Schnitte mit seinen Macheten und traf Pristines Nacken. Der Schnitt war nicht tief genug, dass es ihr den Kopf abtrennte, aber dafür wurde ihr ein beträchtliches Stück herausgetrennt. Als Ezra die zweite Drehung vollführte, fügte er ihr zwei tiefe Schnittwunden in den Rücken zu und wollte ihr schon den Arm abschlagen, mit dem sie Nathaniel festhielt, doch da drehte sie sich herum und nutzte den Jungen als Schutzschild. Ezra kam sofort zum Stehen und in dem Moment griff Johnny an, der sich auf seine Mutter stürzte und ihr mit seinem Messer die Kehle aufschlitzte. „Ezra, bring Nathaniel weg von hier!“ „Nein Johnny, ich will doch…“ „Du machst, dass du wegkommst, Ende der Durchsage.“ Da Nathaniel erheblichen Widerstand leistete, musste er von Ezra getragen werden. Er wusste, was Johnny vorhatte und genau das bereitete ihm Sorgen: Johnny wollte trotz allem immer noch eine Solonummer durchziehen weil er Angst hatte, dass die anderen von seiner Mutter getötet werden könnten. Sie war einfach viel zu stark. Er sah, wie die beiden wieder miteinander zu kämpfen begannen und wie er bereits befürchtet hatte, war Johnny kaum imstande, sich gegen die Angriffe seiner Mutter zur Wehr zu setzen. Zwar konnte er gut zuschlagen und seine Messer verfehlten ihre Ziele nicht, aber die Kraft des Buches machte ihm so zu schaffen, dass er sich nicht entsprechend verteidigen oder Angriffen ausweichen konnte. „Eli, was soll ich tun? Johnny wird noch sterben, wenn wir nichts tun. Aber gegen Pristine haben wir keine Chance.“ „Du musst Sally und Christine holen gehen. Christine wird es lange genug schaffen, sodass du und Sally die Kraft in Johnny wieder auf das Buch übertragen könnt. Somit wäre Johnny gerettet.“ „Aber wo ist das Buch? Pristine muss es irgendwo haben, wenn Johnny es ihr gegeben hat, um sie auszutricksen.“ „Hey, mit wem redest du da?“ Nathaniel hatte gar nicht bemerkt, dass er laut sprach und die anderen „Vivus“ weder sehen noch hören konnten. Nur Christine und er selbst konnten die weiße Schlange sehen, die anderen nicht. „Ich… ich denke nur laut nach… Ezra, ich muss zu Cedric und mit ihm sprechen. Kannst du mitkommen? Anthony, geh bitte Christine und Sally holen, damit sie Johnny helfen können.“ Ohne großartig Fragen zu stellen, nickte der Mischling und eilte mit Nathaniel zum Schlachtfeld. Anthony und Vincent waren sich nicht sicher, was sie davon halten sollten und tauschten fragende Blicke aus. „Irgendwie ist Nathaniel ganz anders als vorhin.“ „Stimmt schon… Das erinnert mich irgendwie an Viola, als sie sich wieder an ihr altes Ich erinnert hat. Aber es scheint, als hätte er einen Plan, wie wir die ganze Sache beenden können. Wir sollten besser die beiden Mädels holen, bevor Johnny noch zu Hackfleisch verarbeitet wird.“ Nathaniel schaffte es dank Ezras Hilfe ohne Probleme zu Cedric, der gerade dabei war, die Schussanlagen außer Betrieb zu nehmen, bevor diese noch eingesetzt werden konnten. Da er stets und ständig zwischen den Körpern hin und her wechselte, war es nicht gerade einfach, ihn zu finden, aber Ezra schaffte es, die Aura seines jüngeren Bruders zu orten. Nathaniel weihte die beiden in seinen Plan ein, das Buch mit den sieben Siegeln zu finden und dann die Macht wieder auf dieses Objekt zu übertragen, bevor sie noch Johnnys Körper zerstörte. „Hm, das klingt nach einem guten Plan. Allerdings fürchte ich, dass es nicht so einfach wird. Überall sind noch versteckte automatische Schussanlagen aktiv und nur weil Johnny seine Mutter so lange beschäftigen konnte, sind die anderen noch nicht tot. Ich muss die Anlagen erst einmal zerstören, bevor ich mich auf die Suche machen kann. Was machen die anderen?“ „Vincent und Anthony machen sich auf den Weg, um Christine und Sally zu holen, damit sie Johnny helfen. Thomas hält ihnen die Soldaten vom Leib.“ „Okay, dann kann ich mir schon mal ein ungefähres Bild von der Situation machen. Eneos, unsere medizinische Unterstützung ist bereits auf dem Weg und wird sich um Johnnys Verletzungen kümmern. Nathaniel, wie weit hast du deine Fähigkeiten unter Kontrolle?“ Unsicher zuckte der Junge mit den Achseln und antwortete zögernd, dass er sie im Notfall schon einsetzen konnte. Das genügte Cedric schon. „Da sich momentan alle auf das Durcheinander draußen konzentrieren, sollte es kein allzu großes Problem sein, sich hier drin umzusehen. Obwohl das Buch selbst nicht mehr zu gebrauchen ist, muss es dennoch eine Aura ausstrahlen, sonst hätte Pristine den Schwindel bemerkt. So blöd ist Johnny ja nicht. Ezra und ich können sie deutlicher spüren als Menschen und das müsste eigentlich ausreichen, um das Buch zu finden. Nathaniel, du weichst nicht von Ezras Seite, egal was passiert. Wenn ich die Anlagen zerstört habe, werde ich mich auch auf die Suche machen. Wir werden Funkkontakt halten.“ Damit drückte Cedric Nathaniel ein Funkgerät in die Hand, welches er nicht gerade mit Begeisterung entgegennahm. Kein Wunder, denn er wusste nicht, wie man so etwas bediente. Er war ja schon mit einem Handy völlig überfordert gewesen. Wie sollte er da erst mit einem Funkgerät zureckt kommen? Zum Glück wusste Ezra da besser Bescheid und erklärte ihm, wie man so etwas benutzte. Mehrere Schritte waren zu hören und Stimmen ertönten. Cedric wandte sich an Nathaniel. „Versteck dich, Ezra und ich werden schon mit denen fertig.“ Also versteckte er sich hinter ein paar Kisten, während die beiden Brüder die Soldaten zurückschlugen. Als er sie so kämpfen sah, war er sich sicher, dass sie es tatsächlich schaffen könnten, die Katastrophe abzuwenden und alles zu einem guten Ende zu führen. Trotzdem machte er sich immer noch Sorgen um Johnny. Was, wenn er die nächsten beiden Siegel öffnete und dann starb? Hoffentlich konnten Sally und Christine das verhindern. Nachdem die Luft rein war, holte Ezra Nathaniel aus seinem Versteck heraus und ging mit ihm weiter. Cedric hatte selbst alle Hände voll zu tun. Anthony hatte irgendwie ein seltsames Gefühl bei der ganzen Sache und fragte sich, was Nathaniel genau mit dieser ganzen Aktion bezwecken wollte und wie er überhaupt dazu kam, solch einen Plan zu schmieden. Es schien so, als hätte er mehr als bloß eine einfache Zukunftsvision gehabt. Während Christine und Sally Pristine beschäftigten, hatten er und Vincent den schwer verletzten Johnny aus der Gefahrenzone gebracht und während sie auf die medizinische Unterstützung warteten, wollten sie ihm schon mal helfen. Gerade wollte der einäugige Konstrukteur einen Pfeil aus Johnnys Rücken ziehen, da hielt dieser ihn zurück. „Nicht… die sind geladen und verdammt heiß.“ „Wie kannst du dann überhaupt noch kämpfen?“ „Weil mir die Alte einfach auf den Sack geht!“ Trotz der schweren Verletzungen war Johnny immer noch ganz er selbst, das war schon mal ein gutes Zeichen. Aber sie mussten sich jetzt ernsthaft überlegen, wie sie die Pfeile rausziehen sollten, ohne dabei selbst einen tödlichen Schlag zu bekommen. Dann könnten sie Johnny wenigstens ein bisschen helfen. Schließlich aber gelang es ihnen mithilfe eines provisorischen Tricks, die Pfeile mit nicht leitendem Material zu umwickeln und herauszuziehen. Johnny schrie nicht, er zuckte nicht, sondern ballte nur die Hände zu Fäusten. Blut strömte aus den Wunden und insgesamt fünf Pfeile zogen sie aus seinem Rücken. „Hey Johnny, alles in Ordnung?“ „“Schwitzt der Papst beim Scheißen?“ „Also ja.“ Johnny griff in seine Hosentasche und holte ein Döschen mit Schmerztabletten heraus. Gleich die Hälfte des Döschens schluckte er hinunter und blieb kraftlos auf dem Boden liegen. „Na, da hat es dich aber schlimm erwischt, Johnny.“ Anthony drehte sich um und bemerkte einen jungen Mann mit Brille und einem Ärztekittel, der eine Tasche bei sich trug. Er hatte ein ähnlich listiges Grinsen im Gesicht wie Johnny und machte einen genauso zwielichtigen Eindruck, als wären die beiden so etwas wie Brüder. Der Schwerverletzte schenkte ihm einen giftigen Blick. „Und wo hast du dich wieder herumgetrieben, du Aas? Ich leide hier und du hast nichts Besseres zu tun, als dämlich zu grinsen. Mach hinne und flick mich wieder zusammen, damit ich der Hexe die Fresse polieren kann.“ „Ganz der alte Charmeur.“ Der Arzt, der sich als Eneos Solem vorstellte, war einer der Mischlinge, die Johnny damals befreit hatte, als Pristine den Genozid durchführen wollte. Wie sich herausstellte, besaß Eneos einen ähnlich durchtrieben Charakter wie Johnny, war aber bei weitem sadistischer und hatte teilweise wirklich kranke Hobbys. Außerdem hatte er wenig Skrupel wenn es darum ging, Menschen und Tiere zu abartigen Mischwesen zusammenzunähen. Und weil er und Johnny beide einen miesen Charakter besaßen, verstanden sie sich überhaupt nicht. Aber zumindest konnte man sich auf Eneos verlassen, dass er ihn gut verarzten würde. Als er die schlimmsten Verletzungen (nämlich die am Rücken) freilegte, offenbarte er den anderen einen schrecklichen Anblick. Nicht allein die Verletzungen durch die Pfeile, sondern auch eine riesige Brandnarbe, die noch nicht mal richtig verheilt war, obwohl sie schon uralt war. Sie sah aus, als wäre sie mit einem glühenden Eisen verursacht worden, als wollte man Johnny brandmarken. „War das deine Mutter?“ „Sie hat uns alle gebrandmarkt, auch Eneos und die anderen. Allerdings hat sie bei mir richtig nachgelegt, sodass sie nie verheilen konnte. Deswegen war ich auch lange von Schmerzmitteln abhängig und jede Berührung tut sauweh. Also pass auf, was du machst, Eneos. Sonst reiß ich dir den Arm ab und schieb ihn dir so tief in den Arsch rein, dass du dir den Hals von innen kratzen kannst!“ Der Arzt lächelte nur amüsiert darüber und begann nun damit, die Blutungen zu stoppen und die Wunden zu nähen. Er verabreichte noch zusätzlich ein Betäubungsmittel und bot noch nebenbei an, Johnny den Mund zuzunähen, damit er endlich die Klappe hielt. Auch schien er sich prächtig zu amüsieren, wenn sein Patient Schmerzen hatte. Anthony war heilfroh, dass er diesen Kerl nicht zum Arzt haben musste. Schließlich, als Eneos die schlimmsten Verletzungen verarztet hatte, seufzte er und erklärte „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.“ „Bei dir gibt es keine guten Nachrichten…“ „Ich kann dich soweit wieder auf Vordermann bringen, damit du dich wieder bewegen kannst, aber Kämpfen fällt leider aus. Dein Körper hat so schwere Schäden erlitten, dass du eigentlich nicht mehr laufen könntest. Wenn du noch die nächsten beiden Siegel öffnen würdest, wäre das sogar lebensgefährlich für dich.“ Johnny grummelte missmutig und ließ sich weiterhin brav verarzten, während er beobachtete, wie Christine und Sally erbittert gegen Pristine kämpften und selbst einiges wegstecken mussten. Schließlich wurde Sally gegen eine der Säulen geschleudert und stürzte zu Boden. Nachdem Eneos Johnny soweit verarztet hatte, stand dieser auf und ging direkt auf die drei Kämpfenden zu. Anthony versuchte, ihn zurückzuhalten. „Lass das besser, du kannst nicht kämpfen. Christine und Sally werden das schon schaffen.“ Doch Johnny riss sich los und stieß Anthony zurück. „Ich lass mir von niemandem vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe. Und Fakt ist, dass ich meiner Alten ihre verdammten Pfeile dort reinramme, wo keine Sonne scheint!!!“ So wütend hatte noch niemand Johnny erlebt und da er sogar den Eindruck erweckte, er würde Anthony gleich eine reinhauen, zog Eneos ihn sicherheitshalber beiseite und flüsterte ihm zu „Wenn Johnny richtig sauer ist, sollte man sich besser nicht mit ihm anlegen!“ Also gingen sie zu Sally hin, um nach dem Rechten zu sehen. Verletzt war sie kaum, aber da sie nicht mehr über ihre ursprünglichen Kräfte verfügte, war sie etwas schneller erschöpft als sonst. Doch kaum, dass Anthony, Vincent und Eneos bei ihr waren, stand sie auch schon wieder auf, obwohl sie bereits schon aus der Puste war. „Verdammt ist die zäh. Egal was ich mache, sie ist einfach nicht kleinzukriegen.“ „Und was hast du nun vor?“ „Nathaniel Zeit zu verschaffen, das Buch zu finden, damit wir Johnnys Kraft zurückübertragen können.“ „Und wozu das alles? Dann kann Pristine es noch leichter in die Hände bekommen und den Genozid einleiten.“ „Ich weiß es nicht genau, aber wir müssen das tun.“ Es schien so, als würden Sally und Nathaniel einer Art Instinkt oder Gefühl folgen, denn obwohl sie sich des hohen Risikos bewusst sein mussten, wollten sie es aus einem bestimmten Grund dennoch tun. Ob hier vielleicht noch eine unbekannte Macht ihre Finger im Spiel hatte? Kapitel 12: Die Lage spitzt sich zu ----------------------------------- Nathaniel und Ezra hatten fast das gesamte Gebäude durchsucht, ohne etwas anderes außer bewaffneten Soldaten gefunden zu haben. Doch irgendwo musste sich das Buch befinden, da waren sie sich beide sicher. Während der ganzen Zeit hatte sich Nathaniel von nichts anderem, als von seinem Gefühl leiten lassen und er war sich sicher, dass sie nicht mehr weit weg sein mussten. Er hatte auch inzwischen keine Angst mehr, denn da er wusste, dass Ezra und Eli bei ihm waren, fühlte er sich sicherer. Und obwohl er noch nicht gänzlich überzeugt war, glaubte er fest daran, dass er es schaffen konnte, das Schicksal zu ändern. Sie bogen um eine Ecke und rechtzeitig genug zog Ezra ihn zurück, als auch schon mehrere Pfeile an ihnen vorbeischossen. „Das ganze Gebäude ist ein einziges Pulverfass“, murmelte er und machte sich daran, die Anlage zu zerstören. „Fragt sich, wie lange wir noch brauchen.“ „Ob die anderen wohl zurechtkommen?“ „Das müssen sie wohl oder übel… eine andere Wahl haben sie leider nicht.“ Irgendetwas explodierte und löste eine Erschütterung aus. Ein Teil der Decke fiel herunter und hätte Ezra nicht schnell reagiert, hätte es für Nathaniel gefährlich werden können. Sogar ein Teil des Bodens war eingestürzt, sodass sie klettern mussten. Nach einer Weile erreichten sie eine Weggabelung und Nathaniel blieb nachdenklich stehen. Wohin sollten sie jetzt gehen? „Vertrau auf dein Gefühl“, hörte er Elis Stimme sagen. Aber was sagte sein Gefühl? Ganz sicher war er nicht, aber er entschied sich spontan für den rechten Weg. Wie immer fragte Ezra nicht wieso, er ging einfach mit. Nun aber spürte es Nathaniel deutlicher und war sich sicher, wohin er gehen musste. Dabei konnte er sich das selbst nicht erklären. Am ehesten war es mit einer Art innerem Kompass zu vergleichen, dem er folgte. Ähnlich wie bei den Vögeln auf ihrer Reise in Richtung Süden. Nathaniel lotste Ezra durch das Labyrinth und erreichte schließlich einen Raum, wo er instinktiv spürte, dass er genau richtig war. Eine schwer gesicherte Stahltür blockierte den Weg, doch mit ein paar geschickten Handgriffen und einigen kräftigen Tritten gelang es Ezra, sie zu öffnen und tatsächlich lag auf einem Tisch das Buch. Es war ein dicker Wälzer, groß und schwer und mit sieben Schlössern gesichert. Obwohl es sich bei diesem Buch um die wohl gefährlichste Waffe der Welt handelte, wirkte es so unscheinbar und harmlos. Wie ein altes Buch aus dem Antiquitätenladen eben. Ezra nahm es in die Hand und sah es sich an. „Erinnert mich irgendwie an das Death Note“, sagte er schließlich und steckte das Buch ein. „Hätte nicht gedacht, dass es derart unscheinbar aussieht.“ „Du hast das Buch noch nie gesehen?“ „Die wenigsten haben es. Damals wurde es unter Verschluss gehalten und kaum jemand hat es zu Gesicht bekommen. Außerdem waren Cedric und ich noch Kinder gewesen, als das alles passierte. Sie hatten ihn eingesperrt und wollten ihn genauso hinrichten, wie unsere Eltern. Daraufhin habe ich mich Johnny angeschlossen, um ihn zu befreien. Es war ein wirklich grausamer Kampf.“ „Aber ihr habt doch gewonnen, oder?“ „Wie man’s nimmt… wir haben lediglich damals die Katastrophe hinauszögern können. Während des Krieges starben so viele von uns und dabei kam es sogar so weit, dass sich ein Riss im Zeitgefüge bildete und Cedric hineingezogen wurde. Ich konnte ihn nicht retten und habe daraufhin auf ihn gewartet.“ „Und wie lange?“ „Eine unvorstellbar lange Zeit. Und in der habe ich Zivilisationen gesehen, wie sie gegründet wurden und zerfielen und ich habe die Menschheit in ihren glanzvollsten und dunkelsten Stunden erlebt. Schließlich war es Johnny, der mir half, Cedric wiederzufinden. Aber er konnte sich an rein gar nichts mehr erinnern, nicht einmal an mich. Vielleicht ist es ja auch gut so, dass er sich an diese Zeiten nicht erinnern muss. So viel Blut musste wegen diesem unheilvollen Buch vergossen werden, nicht nur das von Mischlingen. Dieses Ding sollte für immer verschwinden, damit es nicht noch mehr Schaden anrichtet.“ „Da spricht er mir aus der Seele“, pflichtete Elis Stimme bei und gemeinsam machten sich Nathaniel und Ezra auf dem Rückweg. Nachdenklich betrachtete der Junge seinen Begleiter und fragte sich, wie viele Jahre er ausgeharrt hatte, um auf seinen Bruder zu warten. Hundert Jahre? Tausend Jahre? Vielleicht sogar zehntausend? Höhere Wesen konnten unglaublich alt sein und für sie hatten Zeit, Namen und Aussehen keinerlei Bedeutung. Sie schienen ein völlig anderes Empfinden zu haben was das betraf und so wie es schien, waren viele von ihnen uralt. Wie alt Johnny wohl war? Das würde Nathaniel nur zu gerne wissen, aber er befürchtete, dass er keine gescheite Antwort bekommen würde. Denn für die höheren Wesen schien es auch eine Angewohnheit zu sein, nur in den seltensten Fällen eine klare Antwort zu geben. Aber eine Frage wollte er dennoch stellen. „Warum leben die höheren Wesen eigentlich in unserer Welt? Haben sie schon immer hier gelebt?“ „Nein, sie kamen einst aus einer anderen Welt, welche eines Tages unterging, genauso wie es alle irgendwann tun. Wir alle konnten unter der Bedingung hier unbehelligt leben, indem wir den Menschen äußerlich glichen und unsere wahre Kraft verbergen konnten. Christine und Pristine zum Beispiel könnten eine gewaltige Zerstörung anrichten, wenn sie ihre Kraft freisetzen würden, ebenso wie Johnny. Aber sie halten sich sehr streng an das Gesetz, dass sie das nicht tun, weil es sonst diese Welt vernichten könnte.“ „Kämpfen sie deshalb so brutal?“ „Das ist die einzige Möglichkeit. Wir sind nicht so einfach zu töten, deshalb versuchen wir stets, dem anderen so schlimme Schmerzen und Verletzungen zuzufügen, dass er nicht weiterkämpfen kann.“ Schön und gut, dass es eine Möglichkeit ist, diese Welt vor einer versehentlichen Zerstörung zu bewahren. Aber trotzdem war es ganz schön grausam, dachte Nathaniel und nahm Ezras Hand, weil er jetzt jemanden brauchte, an dem er sich festhalten konnte. Zumindest erklärte das die Tatsache, wieso Johnny Christine dermaßen fertig machen konnte. Sie musste sich zurückhalten, weil sie keine andere Wahl hatte. Offenbar war diese Regel, niemals mit voller Kraft zu kämpfen, so ungeheuer wichtig für alle höheren Wesen, dass nicht einmal Johnny, Pristine und Christine es wagten, sie zu brechen. Und Sally hielt sich ganz einfach aus Angst zurück, dass sie dann die Kontrolle über ihre Kraft verlieren und wieder gänzlich zu Happy Sally werden könnte. „Wenn ihr wirklich aus einer anderen Welt kommt, seid ihr dann Aliens?“ Als Ezra das hörte, musste er lachen. Obwohl er sonst immer so desinteressiert und gleichgültig wirkte, konnte er bei dieser Frage einfach nicht anders. „Oh Mann, du bist echt zu ulkig, Kleiner. Obwohl… ein Alien…“ Ezra schien sich nun bildhaft vorzustellen, ein Alien in Menschengestalt zu sein. Mit Sicherheit dachte er schon wieder an irgendwelche Anime-Aliens. Manchmal ist Ezra doch schon ein wenig schräg, dachte Nathaniel, während er ihn beobachtete, wie er seinen Gedankengängen nachging und etwas von Affenschwänzen murmelte. Aber zumindest kann man sich auf ihn verlassen und er würde für Cedric sicher alles tun. Ob Anthony das Gleiche tun würde, wenn er eines Tages plötzlich verschwinden sollte? Würde er traurig sein, wenn ihm mal etwas passieren sollte? Nathaniel hätte gerne, dass Anthony ihn lieb hatte und sich um ihn kümmerte. Aber würde das wirklich eines Tages passieren, dass sie beide eine richtige Familie sein würden? Immerhin hatte er ihm doch aus Versehen so furchtbare Schmerzen zugefügt und Anthony hatte mit einer Pistole auf ihn gezielt. Nein, mit Sicherheit würde sich der Traum von einer echten Familie niemals erfüllen. Anthony hatte doch nie gewusst, dass es ihn überhaupt gab und für ihn war er doch ein Fremder. Nathaniels Brust schnürte sich zusammen und fast hätte er wieder geweint. Plötzlich wurde ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und er bemerkte, dass es Ezras Hand war. „Es wird schon gut gehen. Und Anthony und die anderen verlassen sich auf dich.“ Er hat Recht, dachte Nathaniel und atmete tief durch, wobei er sich die Tränen wegwischte. Heulen brachte auch nichts, er musste sich zusammenreißen und sein Bestes geben, wenn er die anderen retten wollte. Während Ezra sich um eine weitere Gruppe von Soldaten kümmerte, gab Nathaniel Cedric über das Funkgerät Bescheid, dass sie das Buch gefunden hätten und sich nun auf den Rückweg machten. Schließlich erreichten sie den Ausgang und helles Tageslicht blendete sie kurz, da sahen sie das Unfassbare: Eine Armee von maskierten Soldaten und sie schienen sie bereits erwartet zu haben. Ezra stellte sich sofort vor Nathaniel und hielt seine Macheten bereit, sah aber, dass sie Anthony, Vincent und Thomas als Geiseln hatten. „Verdammte Schweine“, knurrte der Mischling und sein Blick verfinsterte sich. „Wie feige kann man sein und Menschen als Geiseln nehmen?“ „Auf Befehl von Pristine werden keine Geiseln genommen. Stattdessen werden die Gefangenen unverzüglich hingerichtet.“ Nathaniel wurde kreidebleich im Gesicht, als er das hörte und sah, wie einer der Soldaten sein Gewehr auf Anthony richtete, während die anderen ihrerseits auf Ezra und Nathaniel zielten. Es passierte wieder… schon wieder geschah eine Tragödie und erneut musste er mit ansehen, wie seine Freunde starben. Dabei hatte er sich doch so angestrengt, damit es nicht mehr passieren muss. Verzweiflung überkam Nathaniel und seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Hört auf!“ schrie er und spürte, wie sich seine Brust zuschnürte und sein Kopf zu dröhnen begann. „ICH WILL, DASS IHR AUFHÖRT!!!“ Er schrie es so laut heraus, dass es überall widerhallte. Und damit trat urplötzlich Totenstille ein. Alles in diesem Moment schien still zu stehen. Kein Schuss fiel, niemand sagte etwas oder kämpfte. Nathaniel brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass er schon wieder seine Kraft eingesetzt hatte. Der Soldat, der gerade noch Anthony erschießen wollte, ließ die Waffe sinken und brach bewusstlos zusammen, einige ließen einfach nur ihre Gewehre fallen und blieben regungslos stehen, so als warteten sie auf etwas. Da sich Anthony und die anderen bewegen konnten, nutzten sie ihre Chance, um sich zu befreien und den Rückzug anzutreten. Ezra schnappte sich Nathaniel und eilte mit den anderen davon, bevor die Soldaten wieder zu sich kamen. „Das war ja unheimlich“, sagte Vincent und sah sich um. Wirklich keiner der Soldaten bewegte einen Muskel und ihr Blick war vollkommen starr, als besäßen sie keinen eigenen Willen mehr. „Warst du das etwa?“ Doch Nathaniel war sich nicht ganz sicher, ob das wirklich sein Verdienst war. Immerhin hatte er das gerade nicht wissentlich und mit Absicht getan, oder doch? Nun, er wollte, dass die Soldaten aufhörten und als Reaktion darauf blieben sie einfach stehen und bewegten sich nicht. Wie lange das wohl anhalten würde? „Ich dachte, unsere Fähigkeiten funktionieren nicht bei höheren Wesen oder Scyomanten.“ „Nathaniel ist auch kein Konstrukteur in dem Sinne, sondern ein Vivomant und dadurch weitaus stärker als wir, vergiss das nicht. Jedenfalls hat er uns gerade das Leben gerettet. Danke Nathaniel.“ Da dieser noch ein wenig benommen und zudem auch ziemlich erschöpft war, nahm Vincent ihn auf den Rücken. Der Arme, dachte Anthony als er sah, wie müde Nathaniel eigentlich war. Diese ganze Aufregung musste ziemlich anstrengend für ihn sein. Ein Wunder, dass er sich überhaupt so tapfer durchgehalten hatte. Nun war er zum ersten Mal draußen und schon wurde er in einen grausamen Kampf mit der Thule-Gesellschaft verwickelt. Sie eilten zurück zu den Säulen, wo sie in Deckung gingen und vorsichtig setzte Vincent Nathaniel ab. Auch er war besorgt und als er eine Hand auf seine Stirn legte, wandte er sich an Anthony und rief „Ich glaub, er hat Fieber.“ Da Eneos der Arzt unter ihnen war, sah er sich den erschöpften Nathaniel genauer an und konnte Entwarnung geben. „Es ist nichts Weltbewegendes, er ist einfach nur körperlich sehr erschöpft und braucht etwas Ruhe.“ Offenbar strengte ihn das alles doch sehr an und diese Gabe einzusetzen, um eine solch große Zahl an Soldaten außer Gefecht zu setzen, schien nicht ganz ungefährlich zu sein. Anthony erinnerte sich gut daran, was Sally in der Vergangenheit passiert war: Diese gewaltige Kraft, die sie entfesselt hatte, um Backwater zu zerstören, hatte ihren Körper zerfressen und sie getötet. Was, wenn Nathaniel das Gleiche passieren konnte, wenn er seine Fähigkeiten zu oft in solch einem Maße freisetzte? Dieses Risiko wollte Anthony lieber nicht eingehen. „Vorsicht!“ Ezra stieß den Konstrukteur beiseite und sogleich traf ihn einer von Pristines Pfeilen in den Arm. Wie ein Engel des Todes kam die schneeweiße Frau auf sie zu und hielt die Armbrust bereit. Sie sah richtig wütend aus und hatte mehrere schwere Verletzungen, die sie aber allesamt ignorierte. Schützend stellten sich Anthony und die anderen vor Nathaniel und machten sich bereit, es mit dieser übermächtigen Person aufzunehmen, gegen die sie eigentlich überhaupt keine Chancen hatten. Aber an Flucht war auch nicht zu denken, es wäre reine Zeitverschwendung. „Geht mir aus dem Weg, oder ich werde euch alle gemeinsam töten.“ Ezra und Thomas warfen sich kurz einen Blick zu und wie auf ein Signal hin, griffen sie beide gemeinsam an. Als hätten sie es einstudiert, bewegten sie sich beinahe synchron und führten blitzschnelle Angriffe aus. Während Ezra beide Macheten in Pristines Brust rammte, stieß Thomas von hinten zu. Blut floss und leise stöhnte die jüngere Zwillingsschwester auf, dann aber packte sie Ezra an der Kehle und drückte zu. Offenbar wollte sie ihn erwürgen, oder ihm gleich das Genick brechen. Thomas zog sein Schwert raus und wollte ihr den Kopf abschlagen, da drehte sie sich um und riss Ezra hoch, um ihn als lebenden Schild zu benutzen. Thomas konnte den Schlag nicht rechtzeitig aufhalten und riss eine tiefe Wunde über Ezras Körper. In dem Moment warf Pristine den Verletzten gegen Thomas und riss somit beide zu Boden. „Jetzt hab ich aber endgültig genug“, rief sie und lud ihre Armbrust nach. „Von euch lasse ich mir nicht mehr auf der Nase herumtanzen.“ Nun war es Anthony, der aktiv wurde und Pristine einen gezielten Kopfschuss verpasste, um Thomas und Ezra zu helfen. Normalerweise müsste sie umfallen und zumindest einen kurzen Augenblick lang K.O. sein, aber sie stand einfach da und funkelte ihn voller Verachtung an. Insgeheim bekam Anthony Angst vor dieser Frau, die ihm wie ein Todesengel erschien. Ohne ein Wort zu sagen, kam sie langsam auf ihn zu, die Armbrust schussbereit. Scheiße, dachte Anthony und merkte, wie seine Hände zu zittern begannen. Was mache ich denn jetzt? Soll ich abhauen, oder mich von ihr töten lassen? Und wo waren Christine, Johnny und Sally? Am Himmel zogen Wolken auf und in der Ferne donnerte es bereits. Nicht mehr lange und es würde ein Gewitter hereinbrechen. Aber da war noch etwas anderes. Eine Vibration ging durch den Boden, als würde es irgendwo beben. Anthony nahm seinen Halbbruder schützend in den Arm, während Vincent versuchte, sich an einer Säule festzuhalten. Die ganze Luft schien sich elektrisch aufzuladen und ihnen allen fuhr es eiskalt den Rücken hinunter. Der Himmel war nun pechschwarz und ein dicker schwarzer Nebel kroch über den Boden. Anthony bekam eine Gänsehaut und Vincent stand die Angst ins Gesicht geschrieben. „Was… was ist das?“ Nathaniel, der für kurze Zeit das Bewusstsein verloren hatte, sah, was sich da nicht weit von ihnen entfernt zusammenbraute und spürte es auch. Aber im Gegensatz zu den anderen schien er keine Angst zu haben, denn er wusste, was es war. Ein rot glühendes Augenpaar leuchte in dem schwarzen Nebel auf und kurz darauf schoss etwas auf Pristine zu, bekam sie an der Taille zu fassen und zerrte sie in die Finsternis. Thomas, der noch nie in seinem Leben so etwas gesehen hatte, war zum ersten Mal ein kleiner Ansatz von Furcht in seinem Blick zu sehen. „Was ist das für ein Nebel?“ „Das ist Sally!“ rief Nathaniel und kam wieder auf die Beine. „Sie setzt jetzt ihre ganze Kraft ein.“ Großer Gott, dachte Anthony, während er dieses unheimliche Schauspiel mit ansah. Hoffentlich behält sie auch die Kontrolle, sonst sieht es absolut mies für uns aus. Ein lautes Grollen ertönte und kurz darauf wurde die blutüberströmte Pristine in die Luft geschleudert und schlug hart auf dem Boden auf. Ihr Körper war furchtbar verdreht und aus ihrem rechten Arm ragte ein spitzes Stück von einem gebrochenen Knochen heraus. Aus dem Nebel trat schließlich Sally heraus und sie sah in ihrer unmenschlichen Gestalt wirklich furchteinflößend aus. Ihr Grinsen wirkte wie eine wahnsinnige Fratze und ihr Lachen trieb den anderen einen Schauer über den Rücken. In diesem Moment war unmöglich feststellbar, ob sie schon wieder die Kontrolle verloren hatte, oder ob sie noch die alte Sally war. Vincent fragte zögerlich „Sally… alles in Ordnung?“ Ihr Lachen erstarb und ihre Augen, die eigentlich nur pechschwarze, blutende Löcher waren, fixierten die anderen. Nathaniel riss sich von Anthony los und ging auf sie zu. Sie bewegte sich nicht, machte einen etwas Apathischen Eindruck und es machte zuerst den Anschein, als würde sie ihn nicht erkennen. „Schon gut Sally, ich bin es nur.“ Ohne zu zögern umarmte Nathaniel die Nekromantin und in dem Moment wich auch ihr monströses Grinsen. Sie erwiderte seine Umarmung und nahm langsam wieder ihre menschliche Gestalt an. Ihre Haut nahm wieder Farbe an, diese eiskalte Aura wich und auch ihre Augen normalisierten sich wieder. „Tut mir Leid, wenn ich euch erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Geht es euch gut?“ Zu sehen, dass Sally wieder ganz sie selbst war, beruhigte Anthony und er nahm die Waffe wieder runter, die er auf sie gerichtet hatte. Hätte er auch nur für einen Moment ein Anzeichen erkennen können, dass sie Nathaniel töten wollte, hätte er sie sofort erschossen. Aber zum Glück hatte sie sich selbst wieder in den Griff bekommen. „Wo sind Johnny und Christine?“ „Christine ist schwer verletzt und kann sich kaum bewegen. Und Johnny geht es auch nicht gut.“ Sie eilten zu den beiden hin und sahen, was Christine passiert war. Ihre Schwester hatte sie mit den sieben Pfählen regelrecht an eine der Säulen genagelt und das schien ihr entsetzliche Schmerzen zu bereiten. Johnny hatte versucht, ihr die Pfähle wieder herauszuziehen, aber sein Körper begann langsam zu versagen. Thomas und Anthony zogen die Pfähle heraus, während sich Ezra und die anderen um Johnny kümmerten. Erster holte das Buch raus und kniete sich neben den Schwerverletzten hin. „Johnny, du musst die Kraft wieder zurück auf das Buch übertragen, bevor sie deinen Körper endgültig zerstört.“ „Bist du bescheuert? Wenn ich das tue, wird Pristine sich das Buch unter den Nagel reißen!“ „Bitte, du musst mir vertrauen!“ rief Nathaniel und ergriff seine Hand. „Ich weiß, was ich tue! Wenn du durch meine Augen sehen kannst, dann müsstest du es doch auch sehen und verstehen.“ Nathaniel sah auf seinen rechten Arm, wo sich immer noch die weiße Schlange befand. Er hoffte, dass auch Johnny sie sehen konnte und wusste, was sie bedeutete. „Johnny, es gibt mehr als nur einen Weg, das Buch und die Schlüssel für immer aus dieser Welt zu verbannen. Aber dazu musst du mir vertrauen! Ich will dich nicht verlieren, genauso wie die anderen nicht.“ Schon wieder kamen Nathaniel die Tränen und während er sprach, begann er zu schluchzen, sodass er kaum ein Wort hervorbrachte. „Ich will nicht wieder alleine sein…“ Tröstend drückte Johnny ihn fest an sich, aber Nathaniel konnte sich kaum beruhigen. Die ganze Zeit war er stark geblieben, aber die Angst, dass er seine Freunde erneut sterben sehen musste, war wieder zurück und er konnte sie nicht abschütteln. Wie ein kleines Kind weinte er und wollte sich nicht beruhigen, selbst als Anthony es versuchte. Schließlich holte Ezra das Buch hervor und reichte es Johnny. „Ich denke, wir sollten uns beeilen, bevor Pristine wieder angreift.“ „Da gibt es aber ein Problem“, entgegnete Johnny und sein Blick wurde auf einmal ernst, was irgendwie gar nicht zu ihm passen wollte. „Ich kann mich kaum noch bewegen. Ich weiß nicht, ob mein Körper das überhaupt schafft.“ „Und was sollen wir dann tun?“ Nathaniel schaute fragend zu Vivus, in der Hoffnung, dass Eli ihm vielleicht die Antwort mitteilen konnte. Er hätte diesen ganzen Aufwand doch nicht betrieben, wenn er nicht eine Möglichkeit wusste. Und tatsächlich hörte er wieder seine Stimme im Kopf. „Du und Sally, ihr könnt Johnny dabei helfen, wenn er es nicht schafft.“ Nathaniel hörte genau zu, was Eli ihm erklärte und nickte schließlich, während er sich die Tränen wegwischte. Nach einer Weile atmete er tief durch und nickte. „Okay, ich weiß, was zu tun ist.“ Damit wandte er sich an Sally. „Sally, nimm Johnnys Hand und leg deine andere auf das Buch.“ Ohne nachzufragen gehorchte die Nekromantin und Nathaniel tat es ihr gleich. Ich hoffe, dass das auch wirklich funktioniert, Eli. Bitte lass es funktionieren, dachte er und biss sich auf die Unterlippe. „Keine Sorge, es wird schon alles gut gehen.“ Ungeduldig beobachteten die anderen das seltsame Schauspiel und sie spürten, wie sich tatsächlich etwas tat. Sowohl Sallys als auch Nathaniels Aura wurde immer stärker und es schien so, als würden sie die gewaltige Kraft in Johnnys Körper einfach weiterleiten wie elektrische Leiter. Auf Nathaniels Stirn bildeten sich Schweißperlen und auch Sally schien dieser Vorgang sehr anzustrengen. Kein Wunder, denn da Johnny bereits zwei der Siegel geöffnet hatte, bedeutete dies eine viel größere Kraft als zuvor. Nathaniel atmete schwer und war hochkonzentriert. Soweit so gut, dachte er und biss die Zähne zusammen. Ein Teil war schon mal geschafft, nun würde es nicht mehr lange dauern. Doch diese Kraft, die durch seinen Körper strömte, war so gewaltig, dass er fast fürchtete, sein Innerstes würde zerquetscht werden und er fühlte, wie seine eigene Energie wich. Seine Arme fühlten sich kraftlos an, er war völlig erschöpft und fragte sich, wie lange er das wohl noch durchhalten konnte. Ihm wurde schwindelig und er begann zu frieren. Dann plötzlich wurde ihm mit einem Male schwarz vor Augen und bewusstlos fiel er nach vorne. Und mit ihm brach auch Sally zusammen. Kapitel 13: Die Wahrheit über den alten Kult -------------------------------------------- Anthony war sofort bei seinem Halbbruder, als dieser einfach zusammengebrochen war und sich nicht mehr regte. Er rief nach ihm und versuchte, ihn wieder aufzuwecken, doch mit Entsetzen stellte er fest, dass er sich ganz kalt anfühlte und er konnte auch kein Lebenszeichen mehr erkennen. War es etwa möglich, dass er… „Nein… bitte nicht“, brachte er hervor, als er Nathaniel auf den Rücken drehte, um seinen Herzschlag zu überprüfen. Gar nichts. Er war einfach so tot zusammengebrochen und mit Sally verhielt es sich genauso. Mit einem Male überkam Anthony Verzweiflung und Trauer. Er drückte Nathaniel fest an sich und musste sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Es war so plötzlich geschehen und er hatte es nicht verhindern können… Vincent stand wie betäubt da, als auch er erkannte, was passiert war. Dann aber fand er doch noch Worte, die er an den halb bewusstlosen Johnny richtete. „Wie konnte das passieren? Warum sind Sally und Nathaniel tot?“ „Ich weiß es nicht“, erklärte dieser und versuchte, sich aufzusetzen, doch selbst dazu war er nicht mehr in der Lage, weshalb er sich von Ezra und Eneos helfen lassen musste. „Cedric, du bist hier der Spezialist.“ Cedric, der sich inzwischen eines neuen Körpers bemächtigt und sich vorhin eher im Hintergrund gehalten hatte, wanderte unruhig auf und ab und versuchte selbst zu verstehen, was da gerade passiert war. „Es scheint so, als wäre ihre gesamte Lebensenergie in das Buch gezogen worden.“ Ein Geräusch ertönte, als würde sich mit einem Male ein metallenes Schloss öffnen. Als ihre Blicke zum Buch wanderten, erkannten sie, dass das erste Siegel aufsprang und kurz danach öffnete sich auch das zweite. „Verdammte Scheiße“, rief Christine und griff sich das Buch. „Die Siegel öffnen sich selbstständig. Wir müssen sie wieder schließen, bevor noch ein Unglück geschieht.“ „Und was ist mit Sally und Nathaniel?“ „Was ist dir wichtiger?“, fragte sie Anthony, für den sie in diesem Moment wenig Mitgefühl hatte. „Das Leben zweier Menschen oder das Schicksal der ganzen Welt? Manchmal müssen Opfer eben gebracht werden, auch wenn das beschissen klingt.“ Doch bevor Christine etwas tun konnte, um die Siegel wieder zu schließen, schossen mehrere Pfeile auf die Gruppe, die Ezra, Cedric und Thomas noch im letzten Moment abwehren konnten. Pristine hatte sich wieder einigermaßen berappelt und hatte ihre nichtmenschlichen Soldaten direkt hinter sich stehen, die ihre Gewehre auf die anderen richteten. „Gib mir das Buch Schwester, oder ich werde jeden töten, der mir Widerstand leistet.“ „Das kannst du mal schön vergessen“, entgegnete Christine wütend. „Ich überlasse dir das Buch sicher nicht, damit du irgendeinen Unsinn damit machst. Und außerdem…“ und damit nahm sie einen ihrer sieben Pfähle und zielte mit der Spitze auf ihre Brust, „werde ich dich mit in den Tod nehmen, wenn du es wagst, Thomas und den anderen auch nur ein Haar zu krümmen.“ Um wenigstens eine Hand freizuhaben, hatte Christine das Buch unter ihren anderen Arm gedrückt und versuchte mit aller Macht zu verhindern, dass es sich öffnen könnte. Denn sollte das geschehen, würde seine ganze Kraft herausströmen und das wäre höchstgefährlich. Pristine konnte nicht glauben, was ihre Schwester da tat und hielt es für einen schlechten Scherz. „Bist du verrückt?“ „Durchaus nicht. Eine Mutter sollte immer bereit sein, ein solches Opfer für ihr Kind zu bringen. Und du müsstest wissen, dass ich von uns beiden der größere Sturkopf bin. Wenn ich dich und deine Machenschaften auf diese Weise stoppen kann, dann habe ich keine Probleme damit, hier und jetzt den Löffel abzugeben.“ Damit holte Christine zum Schlag aus mit dem Plan, das Buch und seine Kraft mit in den Tod zu nehmen, doch bevor die Spitze des Pfahls ihre Brust durchbohren konnte, tauchte plötzlich eine schwarze Schlange mit rot glühenden Augen auf und biss ihr in die Hand, sodass sie den Pfahl losließ. Sowohl sie als auch Pristine waren erschrocken, als sie das sahen. „Das… das ist doch nicht möglich…“ Eine weiße Schlange schoss hervor und attackierte ihrerseits nun Pristine und biss ihr ins Handgelenk, sodass sie die Armbrust fallen ließ. Laut grollte der Donner und zwischen den beiden Schwestern schlug ein Blitz ein, der eine tiefe Brandfläche im Boden hinterließ. In einem unbedachten Moment lockerte Christine ihren Griff um das Buch und mit einem lauten Klacken sprangen die restlichen fünf Siegel auf, woraufhin sich das Buch vollständig öffnete. Und kaum, dass sie Seiten offen lagen, wurde eine so gewaltige Druckwelle freigesetzt, dass sie mit einem Schlag die gesamte Anlage in Trümmern legte. Christine warf sich schützend auf Anthony und Vincent und auch Thomas, Cedric und Ezra warfen sich noch rechtzeitig zu Boden, bevor sie von der Druckwelle fortgerissen werden konnten. Die Kraft, die mit einem so gewaltigen Schlag freigesetzt wurde, war so stark, dass sie mit einem Mal den gesamten Himmel klärte, wodurch wieder die Sonne schien. Als es vorbei war, sah Anthony auf und bemerkte, dass das Buch nicht mehr da war. Stattdessen stand da ein junger Mann mit einem vergoldeten Stab in der Hand, an welchem sieben Ringe befestigt waren. Die schwarze Schlange, die gerade eben noch Christine in die Hand gebissen hatte, schlängelte sich um seinen linken Arm und legte ihren Kopf auf seinen Handrücken ab. Die weiße wickelte sich um seine Schultern und ihre strahlend blauen Augen schienen auf den beiden Schwestern zu ruhen. Diese glaubten, ihren Augen nicht zu trauen und auch Johnny war über alle Maßen sprachlos. Die anderen hingegen verstanden nun überhaupt nichts mehr. „Das… das ist doch…“, brachte Pristine hervor und schüttelte verwirrt den Kopf. „Das ist doch unmöglich!“ „Vater!“ rief Christine und in ihren Augen sammelten sich Tränen. Sie konnte sich nicht zurückhalten und eilte auf ihn zu. Anthony wandte sich fragend an Johnny. „Wie hat sie ihn genannt? Vater?“ „Du hast richtig gehört. Der da ist mein Großvater und der eigentliche Besitzer des Buches.“ Sie beobachteten, wie Christine zu ihm lief und ihn stürmisch umarmte, was irgendwie befremdlich an ihr wirkte, denn mit einem Male kam sie den anderen so jung vor. Der Mann mit den beiden Schlangen erwiderte die Umarmung und lächelte liebevoll. „Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen. Ich habe euch beide auch sehr vermisst… Tut mir Leid, dass ihr so lange auf mich warten musstet.“ Doch Pristine machte keine Anstalten, zu ihm zu gehen. Sie sah die beiden mit einem seltsamen Blick an, dem sich auch Wut beimischte. „Was hat das zu bedeuten?“ rief sie und hielt sich dabei ihre verletzte Hand. „Warum bist du hier, Vater? Du bist doch tot! Wir haben damals gesehen, wie du gestorben bist. Was hat das alles zu bedeuten und wieso versuchst du, mich aufzuhalten?“ Er wandte nun den Blick zu ihr und nun sahen auch Anthony und die anderen, dass er genau wie Ezra unterschiedliche Augenfarben hatte. Ein rotes und ein blaues Auge. Langsam löste er sich von Christine und ging auf ihre Schwester zu, die immer noch wie gelähmt war. Sie verstand das alles nicht, war vollkommen durcheinander. Und als sie ihrem Vater ins Gesicht sah, da sah sie keine Wärme, kein liebevolles Lächeln wie er es bei Christine hatte, als sie ihn umarmte. Aber sie sah auch keine Wut. Was dachte und fühlte er gerade? Diese Frage füllte ihren ganzen Geist aus und so registrierte sie erst eine Sekunde später, dass er ihr eine Ohrfeige gegeben hatte. Sie presste sich eine Hand auf die gerötete Stelle und sah ihn fragend an, da setzte es einen weiteren Schlag in ihre Magengrube. Nun gut, er wirkte bei weitem nicht so verheerend wie bei Christine und Johnny, aber dennoch war er stark genug, dass Pristine vor Schmerz stöhnte und in die Knie sank. „Wa-warum tust du das, Vater?“ „Du wagst es, mir so eine Frage zu stellen?“ entgegnete er in einem kalten und abweisenden Ton. „Nach all dem, was du getan hast? Du tötest tausende Unschuldiger und trachtest sogar deinem eigenen Kind nach dem Leben, weil es nicht deinen Vorstellungen von einem absolut reinen Wesen entspricht und dann fragst du mich, wieso ich das tue? Ich frage dich: Wozu habe ich damals mein Leben geopfert, damit ihr alle leben könnt, wenn du all das mit Füßen trittst? Du solltest dich schämen, dass du so etwas Grausames tust!“ „Aber Vater, ich habe doch nur versucht, die alte Ordnung wiederherzustellen. Ich wollte uns alle wieder zum wahren Gleichgewicht zurückführen und eine perfekte Welt erschaffen.“ „Und zu welchem Preis?“ fragte er und stieß seinen Stab auf den Boden, wobei die Ringe klapperten. „Dass unschuldige Mischlinge auf solch grausame Art und Weise ihr Leben lassen müssen, habe ich niemals gewollt und ich habe dich auch nicht in diese Richtung erzogen. Und ich habe dir genug Chancen gegeben, dich zu ändern. Ich hatte gehofft, dass du diese Ideen und Fantasien fallen lässt, wenn dein eigenes Kind auch ein Mischling ist. Aber was hast du getan? Du hast ihn grausam gefoltert und sogar versucht, ihn zu töten! Nun gut, dass du und deine Schwester etwas speziell seid, das weiß ich selbst gut genug, aber ich war stets bemüht, euch beide gleichzuhalten und euch ein guter Vater zu sein. Aber was du Johnny angetan hast, ist unverzeihlich und ich habe dir niemals so etwas vorgelebt. Warum also tust du nur so etwas?“ Diese Szene kam Vincent irgendwie vertraut vor. Er musste an seinen heftigen Streit mit Mary Lane im Labyrinth des Traumfressers denken, als er sie nach langer Zeit wiedergesehen hatte. Er hatte sie und einige andere Konstrukteure unter Einsatz seines Lebens aus dem Institut gerettet und schließlich erfahren, dass Mary sie alle getötet hatte. Vor Wut hatte er ihr auch schwere Vorwürfe gemacht, dass er sie am liebsten zurückgelassen hätte, wenn er dadurch so etwas hätte verhindern können. Pristine wirkte irgendwie wie ein Kind, das von seinem Vater ausgeschimpft wurde. Doch dann wurde sie wütend und holte zum Gegenschlag aus. „Du hast doch keine Ahnung, Vater! Diese Mischlinge sind ein Verbrechen gegen das höchste Gesetz und eine Abart, die nicht geduldet werden darf. Sie gehören nirgendwo dazu und um die Ordnung wiederherzustellen, müssen sie ausgerottet werden. Nur so können wir unseren Kult wieder zu seiner alten Größe verhelfen. Du hingegen lässt dich täuschen und hast nur Augen für meine Schwester. Ich will alles zu seinem Ursprung zurückführen, das müsste auch in deinem Interesse sein. Und da hat dieser Mischlingsabschaum keinen Platz!“ „Du bist doch völlig durchgeknallt“, rief Christine und packte sie am Kragen. „Vater hat uns doch immer wieder eingeschärft, dass wir nicht leichtfertig mit dem Leben anderer spielen dürfen, nur weil wir dir Macht dazu haben. Echt, dein Geschwafel ist einfach nur zum Kotzen.“ Irgendwie ergab sich für Anthony langsam ein klares Bild von der eigentlichen Situation und allmählich verstand er das vorherrschende Familienproblem. Offenbar fühlte sich Pristine in der Vergangenheit vernachlässigt, weil ihr Vater ihre radikalen Ideen nicht unterstützen, geschweige denn überhaupt tolerieren wollte. Und als er verstorben war, hatte sie das genutzt, um ihre Pläne auszuführen. Irgendwie verrückt, dass selbst bei so mächtigen Wesen genau die gleichen Familienprobleme herrschen konnten wie bei uns, dachte Anthony und musste den Kopf schütteln. Dieser Anblick war einfach nur seltsam. Aber eines machte ihm doch schwer zu schaffen: Nathaniel und Sally. Was war mit ihnen passiert und wieso mussten sie sterben? Hatte dieser Kerl ihnen die Lebensenergie entzogen? Er wandte sich an Johnny, der bei diesem Familienstreit erst einmal außen vor war. „Besteht eine Chance, dass wir Nathaniel und Sally irgendwie retten können?“ „Ich denke schon. Der Alte wird sich schon etwas dabei gedacht haben, sonst hätte er es nicht gemacht. Ihm kann man vertrauen, keine Sorge.“ „Wer genau ist er eigentlich und wo kommt er so plötzlich her?“ „Wie schon gesagt, er ist mein Großvater. Er starb bereits vor meiner Geburt, als er im Alleingang gegen eine feindliche Armee kämpfte und dabei die Kraft des Buches einsetzte. Sein Körper konnte diese nicht aushalten und das hat ihm den Rest gegeben, genauso wie Sally vor 200 Jahren. Er hat den Kult damals angeführt und ihn quasi aufgebaut. Außerdem war er der Einzige, der es geschafft hat, Christine und Pristine in Einklang zu bringen. Einige sagen ihm sogar nach, dass er das Geheimnis um die Existenz der Nekromanten und Vivomanten kennt und was es mit dem Ursprung der Seele auf sich hat. Wahrscheinlich hat es auch damit zu tun, warum er Sally und Nathaniels Lebenskraft absorbiert hat. Wir werden es sicherlich noch früh genug herausfinden.“ So wie es klang, schien Johnny seinem Großvater blind zu vertrauen. Und auch Christine machte den Anschein, als würde sie es tun. Jedenfalls schien dieser Kerl nicht gerade begeistert von Pristines Säuberungsplänen zu sein und so konnten sie sicherlich davon ausgehen, dass er auf ihrer Seite war. Hoffentlich fand dieser ganze Alptraum bald ein Ende… und hoffentlich gab es eine Möglichkeit, Sally und Nathaniel wieder zurückzuholen. Ein angenehm warmer Wind wehte und Nathaniel hörte ein Geräusch, welches er als Vogelgezwitscher wiederzuerkennen glaubte. Soweit er richtig ertasten konnte, lag er im Gras. Also war er nicht wieder in der Zwischenwelt, so viel wusste er schon mal. Was war eigentlich passiert? Zumindest konnte er sich erinnern, dass er versucht hatte, die Kraft in Johnnys Körper wieder zurück auf das Buch zu übertragen, damit er seinem Freund helfen konnte. Und dabei hatte er das Bewusstsein verloren. Da er im Gras lag und es sich auch nicht mehr danach anhörte, als würde noch gekämpft werden, war sich Nathaniel sicher, dass er wohl das Meiste verpasst haben musste und der Kampf gegen Thule vorbei war. Nun endlich öffnete er die Augen und blickte in den strahlend blauen Himmel. Er fühlte sich vollkommen frisch und erholt und freute sich, Anthony und Johnny wiederzusehen. Als er sich aber aufsetzte und vor ihm eine maskierte Gestalt in einem pechschwarzen Gewand hockte und ihn anstarrte, bekam er einen solchen Schreck, dass ihm fast das Herz stehen blieb. Entsetzt schrie er auf, kam auf die Beine und rannte weg und fand nicht weit entfernt Sally, die auch gerade erst aufgewacht war. Ängstlich versteckte er sich hinter ihr und rief „Sally, da!“ Doch anstatt, dass die maskierte Gestalt ihm folgte, ergriff sie ebenfalls die Flucht und versteckte sich selbst hinter jemandem. Es war ein Mädchen in einem weißen Kleid und die Ähnlichkeit mit Sally war nur schwer zu übersehen. Sie hatte kurz geschnittenes pechschwarzes lockiges Haar und rot leuchtende Augen. Nathaniel hatte sie noch nie gesehen, aber irgendwie kam sie ihm dennoch vertraut vor. „Wer… wer ist das?“ fragte Sally verwirrt und verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte und wo sie überhaupt war. Das Mädchen wandte sich der maskierten Gestalt zu, die sich ängstlich versteckte und lächelte. „Ist schon gut, du brauchst keine Angst zu haben.“ Langsam richtete sich der Maskierte auf und nahm Kapuze und Maske ab. Nathaniel glaubte nicht recht zu sehen, als er einen Jungen sah, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah. Schüchtern lächelte dieser ihm zu und wich seinem Blick aus. Das Mädchen sprach ihm gut zu und ging schließlich zu Sally und Nathaniel hin. „Schön, euch beide wiederzusehen. Ihr habt das wirklich gut gemacht.“ „Kennen wir euch etwa?“ fragte Sally ungläubig und ihr Blick wanderte abwechselnd zwischen den beiden hin und her. Das Mädchen nickte. „Zumindest Nathaniel hat schon mit uns beiden Bekanntschaft gemacht, nämlich in der Zwischenwelt.“ „Dann… dann seid ihr Nekros und Vivus?“ „So hat uns Eli genannt. Davor hießen wir Elyssia und Azarias. Um es verständlicher auszudrücken: Ich bin die allererste Sally und ihr Ursprung.“ Als die Nekromantin das hörte, konnte sie es erst mal nicht glauben. Natürlich wusste sie, dass sie selbst nur eine von vielen Reinkarnationen war, die mit einem großen Machtpotential geboren wurden. Und es waren auch viele Mädchen nach ihr gefolgt, die ihr ähnlich sahen und auch Nekromantinnen waren. Dathans Schwester Christie war ihre derzeit letzte Reinkarnation. Aber nun stand die allererste „Sally“ direkt vor ihr. Dann musste dieser Azarias ja der erste Vivomant sein, wenn sie richtig schlussfolgerte. Schließlich aber fragte sie „Wo genau sind wir hier überhaupt?“ „Wir befinden uns sozusagen im Zentrum von Elis Seele. Er hat eure Lebenskraft aufgenommen, um die Zwischenwelt verlassen zu können, um eure Freunde zu retten, aber auch, damit wir die Chance bekommen, euch zu sehen. Wir wollten euch schon länger kennen lernen und euch die ganze Geschichte erklären, damit ihr die Zusammenhänge versteht. Aber kommt erst mal mit, dann können wir in Ruhe miteinander reden.“ Elyssia führte sie zu einem Pavillon, wo sie alle Platz nahmen. Azarias, der offenbar extrem schüchtern war, hielt sich sehr zurück und schaffte es nicht einmal, Augenkontakt zu halten. Elyssia klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Entschuldigt bitte, dass Azarias euch so erschreckt hat. Er ist extrem scheu und versteckt sein Gesicht, damit ihn niemand erkennt. Also, das Beste ist, ich fange ganz von vorne an zu erzählen.“ Elyssia goss sich eine Tasse Tee ein und trank einen Schluck, bevor sie begann. „Als unsere Geschichte beginnt, lebten wir in einer Zeit und in einer Welt, die fernab der menschlichen Zeitrechnung liegt. Damals war alles noch streng in zwei verschiedene „Klassen“ unterteilt: Positiv und Negativ. Es gab die Vivomanten und Nekromanten. Die Vivomanten, die vollkommen positive Kräfte hatten, gehörten dem damaligen Azarias-Kult an und waren arg verfeindet mit den Nekromanten, die zu meinen Anhängern gehörten. Ständig herrschten Fehden, es kam zu Anfeindungen und an ein harmonisches Miteinander war gar nicht zu denken. Azarias und ich besaßen eine so enorme Kraft, dass für uns ein normales Leben gar nicht vorstellbar war. Meine Kräfte waren so stark, dass selbst eine einfache Berührung zum sofortigen Tod geführt hätte. Deswegen hatten alle Angst vor mir und mieden mich. Im Grunde war ich ziemlich einsam und obwohl ich meine Anhänger um mich hatte, war ich nie wirklich glücklich, weil mir immer etwas fehlte. Aber ich konnte nie genau sagen, was mir fehlte. Da ich nicht gerade die Einfachste war, hatte ich den einen oder anderen Wutausbruch, was oft zu erheblichen Katastrophen und Zerstörungen führte. Deshalb sprach man schlecht über mich und sagte mir sogar nach, ich würde Neugeborene verschlingen oder in ihrem Blut baden. Folter, Morde und viele andere Dinge wurden mir nachgesagt und im Grunde hat mich niemand geliebt. Die Vivomanten hassten und fürchteten mich und meine eigenen Leute hatten es nur auf meine Kräfte abgesehen, durch die sie das ewige Leben besitzen und den Tod beherrschen konnten. Irgendwie ziemlich traurig, wenn man darüber nachdenkt. Jedenfalls war das Ironische daran, dass Azarias genau das gegensätzliche Problem hatte.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Da er so eine unfassbar starke positive Kraft besaß, brauchte es nur eine Berührung, um Kraft, Vitalität, ewige Jugend und Schönheit, aber vor allem Glück zu erlangen. All das, was sich jeder wünscht. Und genau das war es, was Azarias zum Verhängnis wurde. Er wurde von allen Seiten belagert und bedrängt, sodass er eine regelrechte Scheu vor anderen entwickelte. Um wenigstens ein bisschen seine Ruhe zu haben, war er gezwungen, sich zu verhüllen und eine Maske zu tragen, damit niemand ihn erkannte. Aber auch er war nicht wirklich glücklich, obwohl er von allen Seiten belagert wurde. Denn sie alle wollten nur seine Kraft, aber mehr auch nicht und das war das Traurige. Wir waren beide sehr einsam, weil wir niemanden hatten, der uns liebte.“ Das klang wirklich nach einer traurigen Geschichte. Sally und Nathaniel kannten das beide sehr gut, sie hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Sally wurde von allen Leuten gehasst und gefürchtet, sie wurde regelrecht zu Tode geprügelt und auch ihre Familie hatte darunter leiden müssen. Und Nathaniel hatte knapp 90 Jahre allein in einem Keller verbracht und weitere sechs Jahre in der Villa, ohne sie jemals verlassen zu haben. Und er hatte niemals jemand anderen außer Johnny, Amducias und seinen schrecklichen Bruder Hinrich gekannt. Nathaniel sah Elyssia mitleidig an. „Das ist wirklich eine traurige Geschichte. Und wie ging es weiter?“ „Azarias ist zwar extrem scheu, aber er kümmerte sich sehr um seine Leute und hat sich oft gefragt, warum beide Lager so verfeindet waren. Außerdem wollte er wissen, ob ich wirklich so ein schreckliches Monster bin, wie alle sagen. Also hat er sich heimlich in mein Anwesen geschlichen, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Da er ja auch die Fähigkeiten eines Konstrukteurs besitzt, konnte er sich ja quasi unsichtbar machen, aber als er mein Zimmer betrat, konnte ich ihn trotzdem sehen. Wir haben beide einen Heidenschreck gekriegt, als wir einander bemerkten. Immerhin waren wir beide die Oberhäupter zweier völlig verschiedener und vor allem verfeindeter Gruppen und der Inbegriff von Leben und Tod. Es wurde sozusagen von uns erwartet, dass wir uns gegenseitig hassten und bekämpften. Aber dem war nicht so. Nachdem sich Azarias zu erkennen gab, fragte er mich, ob ich genauso einsam wäre wie er. Und als sich herausstellte, dass wir beide unglücklich mit unserer Situation waren und uns im Grunde trotz unserer Unterschiede nach genau dem Gleichen sehnten, wurde uns eines klar: Wir gehörten zusammen. Eben weil wir so verschieden waren, passten wir paradoxerweise perfekt zusammen. Ich sehnte mich nach der Nähe zu anderen, er wollte sie auf einem sicheren Abstand haben und gemeinsam wollten wir jemanden, der uns um unsertwillen liebt und nicht wegen unserer Fähigkeiten. Wir haben uns schließlich ineinander verliebt.“ „Das klingt doch nach einem Happy End.“ „Ja, wenn es nicht einen Haken gegeben hätte. Leider ist es so, dass wir beide viel zu stark waren. Meine Macht reichte aus, ganze Welten zu zerstören, während Azarias ganze Welten erschaffen konnte. Und leider wirkte sich das negativ auf den anderen aus. Wir wurden krank und schwach, wenn wir uns zu nahe kamen und allein schon, wenn wir uns berührt hätten, wäre dies allein verheerend genug gewesen, um alles in unserer Umgebung ins absolute Chaos zu stürzen. Es war ein Stachelschweindilemma wie in Schopenhauers Buch.“ Nathaniel konnte nichts damit anfangen und wandte sich fragend an Sally, aber die verstand es auch nicht. Also erklärte es Azarias, wobei er aber ziemlich leise war und zwischendurch etwas stotterte. „Wenn es kalt wird, rücken Tiere näher zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Aber Stachelschweine stehen vor dem Problem, dass sie sich gegenseitig mit ihren Stacheln verletzen, wenn sie sich zu nahe kommen. Deshalb müssen sie einen geeigneten Abstand finden damit sie nicht frieren, ohne die Stacheln ihres Nachbarn spüren müssen.“ „Das heißt, wir waren gezwungen, auf Abstand zu bleiben“, fuhr Elyssia fort und ihre Stimme klang traurig dabei. „Wir waren beide sehr unglücklich mit dieser Situation und konnten uns an niemanden wenden. Immerhin waren die Vivomanten und Nekromanten verfeindet. Aber dann trafen wir eines Tages einen kleinen Jungen namens Ribal. Und er war der bis dahin ungewöhnlichste Junge, den wir jemals kennen gelernt hatten. Er war Waisenkind und gehörte keine der beiden Seiten an. Doch damals war es so, dass man sich für eine entscheiden musste oder irgendwo hineingeboren wurde. Aber er wollte nicht. Er sagte ganz einfach, dass er sich weder für die eine noch für die andere entscheiden kann und fragte deshalb, warum er nicht beiden angehören könnte. Bis dato war er der Allererste, der überhaupt den Gedanken aufgeworfen hatte, dass man Vivomanten und Nekromanten auch zusammenführen könnte. Azarias und ich freundeten uns schließlich mit Ribal an und er wurde unser erster als auch einziger und engster Freund, weil er die gleichen Ansichten vertrat, wie wir: Warum können Nekromanten und Vivomanten nicht in Frieden koexistieren? Warum müssen sich Gegensätze immer bekämpfen und gibt es nicht vielleicht eine Möglichkeit, sie irgendwie in Einklang zu bringen? Das waren Fragen, die uns immerzu beschäftigten. Wir drei sahen einfach keinen Grund darin, dass wir uns gegenseitig bekämpfen sollten, denn im Prinzip gehörten wir zusammen und waren aufeinander angewiesen. Ohne den einen konnte der andere nicht existieren. Schließlich bemerkte Ribal, dass Azarias und ich uns zueinander hingezogen fühlten und uns gerne näher sein wollten, es aber nicht konnten. Da er der Einzige war, der die Fähigkeit besaß, Gegensätze in Einklang zu bringen, bot er an, unsere Kräfte in seinem Körper aufzunehmen und uns somit zu ermöglichen, uns näher zu kommen. Dies funktionierte tatsächlich, aber leider hatten wir nicht die Konsequenzen bedacht.“ Elyssia senkte traurig den Kopf und auch Azarias schien bekümmert zu sein. Sally ahnte nichts Gutes und fragte „Was ist passiert?“ „Die Kraft in Ribals Körper war einfach zu groß für ihn. Zwar schaffte er es, sie zu einer Einheit zu verbinden, aber sein Körper hielt es einfach nicht aus und wenige Sekunden später starb er in meinen Armen. Doch obwohl ihm dieser Prozess so starke Schmerzen bereitet hatte, lächelte er und hatte Tränen in den Augen. Er war so glücklich, wie ich noch nie jemanden zuvor gesehen hatte. Grund dafür war die Energie, die aus meiner und Azarias Kraft entstanden ist, als sie sich zu einer Einheit vermischten. Es war etwas völlig Neues, was wir zusammen erschaffen hatten und sie war so… so wunderbar, dass wir sie mit allen teilen wollten. Nicht nur mit uns beiden, sondern auch mit den Nekromanten und Vivomanten und allen anderen Lebewesen. Diese neue Energie, die aus positiver und negativer Kraft entstanden ist, nannten wir Seele. Sie wurde die neue Lebensenergie aller Lebewesen. Und sie sollte ein Symbol dafür sein, dass Gegensätze einander brauchten und etwas Wunderbares ergeben konnten, wenn sie miteinander harmonieren konnten. Im Grunde wird das „Produkt“ aus zwei sich verbindenden Gegensätzen sogar noch schöner als seine reinste unvermischte Form. Nehmt den Sonnenaufgang oder den Sonnenuntergang. Sie sind jedes Mal ein wunderschönes und atemberaubendes Schauspiel. Selbst der Regenbogen wird aus zwei Gegensätzen geformt, nämlich Sonne und Regen. Nachdem uns das alles klar wurde, wollten wir diese Gedankengänge und Ideen weiterführen. Dank meiner Kräfte konnte Ribal wiedergeboren werden und obwohl er uns nicht mehr erkannte, war er immer noch der Alte und er wurde zum Hoffnungsträger, dass er den Einklang und die Harmonie bringen würde. Wir machten es uns zur Aufgabe, ihn zu beschützen und nahmen daraufhin eine andere Gestalt an, um unerkannt bei ihm zu bleiben. Der wiedergeborene Ribal war es schließlich, der die Nekromanten und Vivomanten zusammenführte und das war sozusagen die Entstehung des alten Kultes, dem auch Johnny, Christine und Pristine angehörten.“ So allmählich verstand Sally die ganze Geschichte und was das alles mit ihr zu tun hatte. Sie und Nathaniel waren sozusagen Fragmente und verkörperten die Urformen, aus denen die Lebensenergie und damit die Seele erschaffen wurden. Im Prinzip gehörten sie zu den ältesten Lebensformen, die bis heute noch fortbestanden. Ja im Grunde waren sie beide der Ursprung der Seele! Aber warum gab es sie beide überhaupt? Genau diese Frage wollte Sally stellen, aber da kam Nathaniel ihr mit einer anderen Frage zuvor. „Ist Eli etwa Ribal?“ „Nicht er selbst, aber seine Reinkarnation. Als seine Kraft im Laufe der Zeit zu groß wurde und er somit das gleiche Schicksal erneut zu erleiden drohte, versiegelte er mit unserer Hilfe diese Kraft in das Buch mit den sieben Siegeln. Dieses Buch war eine Zerstörungswaffe, aber auch ein Werkzeug für eine bessere Zukunft. So war es ihm möglich, das Schicksal zu ändern, als er seine Kinder und seine Freunde und Kameraden verlor. Ebenso, wie er auch dir helfen konnte, die Tragödie ungeschehen zu machen, als deine Freunde getötet wurden.“ Hieraufhin sah Sally Nathaniel entsetzt an und rief „Dann ist das keine Vorhersehung gewesen, sondern das ist alles wirklich passiert!“ Etwas eingeschüchtert nickte er und erklärte „Eli hat mir die Chance gegeben, zurückzukehren und alles ungeschehen zu machen, wenn ich ihm dafür das Buch zurückgebe.“ „Das ist richtig“, bestätigte Elyssia. „Nachdem ihm klar wurde, dass er niemandem das Buch oder die Schlüssel anvertrauen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als es sich wieder anzueignen. Und dazu brauchte er euch. Da Eli in der Zwischenwelt gefangen war und nichts tun konnte, vertraute er darauf, dass die Nekromanten und Vivomanten eines Tages zum alten Kult finden und ihm dann helfen würden, das Buch zurückzubekommen. Und indem ihr für Johnny als Medium fungiert habt, um die Kraft wieder auf das Buch zu übertragen, nutzte Eli eure Lebensenergie, um alle sieben Siegel zu öffnen.“ „Die Siegel sind alle offen?“ rief Sally entsetzt und sprang von ihrem Platz auf. Sie wusste, was das bedeutete, wenn Elyssia wirklich Recht hatte. Das würde die Apokalypse und damit das Ende der Welt bedeuten. Doch Elyssia wies sie an, sich wieder zu setzen und konnte sie beruhigen. „Nur weil das Buch über diese Kraft verfügt, muss das noch lange nicht so sein. Was glaubst du, warum Nathaniel in der Lage war, seine Fähigkeiten als Schlüsselträger einfach umzukehren? Es gibt nicht nur die vier Schlüssel, sondern noch weitere, die aber das genaue Gegenstück bilden. Und um an diese zu kommen, brauchte Eli deine Kraft, Nathaniel. So war es ihm möglich, die Zwischenwelt zu verlassen, ohne dabei die Apokalypse auszulösen. Und da er wieder zurück ist, kann er auch Pristine wieder unter Kontrolle bringen.“ „Und was wird aus uns?“ „Keine Sorge, ihr werdet nicht ewig hier bleiben. Eli brauchte eure Kraft nur zeitweise. Wenn er sie nicht mehr benötigt, könnt ihr wieder zurückkehren und dann wird sich hoffentlich die ganze Aufregung gelegt haben.“ Sally lehnte sich zurück und ließ sich die ganze Geschichte noch mal durch den Kopf gehen. Sie versuchte einen Zusammenhang zu sehen, warum Pristine so besessen war, unbedingt alles wieder in seine ursprüngliche Ordnung zu bringen. Aber sie kam zu keinem richtigen Ergebnis. Denn es war doch besser, wenn Gegensätze zusammenhielten und das konnten sie am Besten, wenn es etwas gab, was sie verbinden konnte. Und das waren die Mischlinge. Egal wie viel sie auch überlegte, sie fand keine Antwort und so wandte sie sich an Elyssia und Azarias. Letzterer erklärte in seiner schüchternen Art „Pristine hat etwas, das mit einer Zwangsneurose zu vergleichen ist. Es gibt Menschen, die alles streng voneinander trennen müssen. Seien es Farben, Gegenstände derselben Gruppe, oder den gleichen Eigenschaften. Sie können keine Ruhe finden, solange es kein für sie passendes Ordnungsprinzip in ihrem Leben gibt. Und Pristine ist jemand, der eine feste Struktur braucht und sich nach nichts anderem richten will. Sie kann keine Kompromisse eingehen, oder sich auf etwas Neues einlassen. Allein den Gedanken an eine Veränderung ihrer Grundprinzipien und Regeln erträgt sie einfach nicht. Christine hingegen ist ein völlig chaotischer Geist, genauso wie Johnny. Sie ist impulsiv, kompromissbereit und hält sich nur an Regeln, wenn es sich nicht vermeiden lässt, oder wenn es das Gleichgewicht sichert. Eben weil Christine in dieser Hinsicht ihrem Vater so ähnlich ist, haben sie ein ganz anderes Verhältnis zueinander als Pristine. Sie war immer das große Sorgenkind und sie hat ihren Vater im Grunde gehasst, während sie ihre Schwester allein aufgrund der Tatsache nicht hassen konnte, weil diese ihr Gegenstück verkörperte.“ Mit anderen Worten, Pristines verkorkste Psyche war Schuld an diesem ganzen Dilemma. Unfassbar, dass sie es so weit mit ihren Plänen bringen konnte. Wie viele Leben mussten für diesen Wahnsinn bereits geopfert werden? Aber wenn man es aus der Sicht betrachtete, konnte man Pristine irgendwie besser verstehen und nachvollziehen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Nur leider gefiel ihnen das Ergebnis nicht. „Wenn Eli gewusst hatte, wie Pristine drauf war, warum hat er das mit Johnny riskiert?“ „Weil er auf die Weise hoffte, Pristine von ihrem Wahnsinn zu befreien, indem sie ihre krankhafte Obsession mit Mutterliebe besiegte. So hoffte er, dass Johnny an seiner Stelle beide verfeindeten Seiten wieder in Einklang bringen konnte. Aber… Johnny war nun mal nicht wie sein Großvater und hatte nicht die gleichen Fähigkeiten wie er. Deshalb bat Eli ihn, wenigstens das Buch und die Schlüssel vor Pristine zu verstecken. Aus diesem Grund schenkte er ihm auch die Fähigkeit, durch die Augen anderer sehen zu können. So war es Johnny möglich, die Aktivitäten seiner leiblichen Mutter zu überwachen und sowohl das Buch, als auch die Schlüssel im Auge zu behalten. Und er vertraute auch darauf, dass Christine ihrerseits alles tun würde, um ihre Schwester aufzuhalten.“ Nun endlich verstand Sally alles und konnte die ganzen Fragmente zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Jetzt hatte sie die Antwort auf die quälende Frage, warum sie überhaupt existierte und wieso es Nekromanten gab, wenn sie doch nur ausgestoßen und verachtet wurden. All die Jahre hatte sie geglaubt, sie würde nur existieren, um die Welt auszulöschen und mit ihr die gesamte Menschheit. Aber das stimmte nicht. Sie war geboren worden, damit sie eines Tages zusammen mit einem Vivomanten Eli zurückholen und den Genozid abwenden konnte. Sie war geboren worden, um diese Welt zu beschützen! Als ihr das klar wurde, kamen ihr Tränen vor Erleichterung. All die Jahre hatte sie furchtbare Angst davor, dass sie tatsächlich nur zu dem Zweck geboren wurde, um Menschen zu töten. Auch ihr Nachfahre Dathan, der genauso ein Nekromant war und leiden musste wie sie, war all die Jahre im Selbstzweifel gewesen. Doch dann hatte er in der Zwischenwelt jemanden getroffen, der ihm klar gemacht hatte, dass die Nekromantie auch ihre guten Seiten hatte. Denn Nekromanten, die sich alles hart erkämpfen mussten, waren die glücklichsten und ehrlichsten Menschen von allen und sie hatten die Macht, jene zu beschützen, die sie liebten. Dann musste dieses mysteriöse Spiegelbild, welchem Dathan begegnet war, Eli gewesen sein. Und nun hatte Sally die ganze Geschichte erfahren, woher die Nekromanten kamen, warum es sie gab und was für eine Rolle sie überhaupt spielten. Nekromanten waren der Ursprung der Seele. Indem sich ihre Kräfte mit denen der Vivomanten vereint hatten, konnten sie etwas völlig Neues erschaffen, nämlich die Lebensenergie aller Lebewesen. „Da Eli jetzt wieder frei ist, was wird dann aus Nathaniel und mir? Eigentlich haben wir jetzt unseren Daseinszweck erfüllt und werden nicht mehr gebraucht, oder etwa nicht?“ Erschrocken sah Nathaniel sie an, als er das hörte, denn irgendwie klang das danach, als würden er und Sally nicht mehr gebraucht werden und deshalb nicht mehr zurückkehren. Doch Elyssia konnte sie beide beruhigen. „Ihr habt doch Freunde und Familie, richtig? Nur weil ihr eure Rolle erfüllt habt, bedeutet das nicht, dass ihr für immer hier bleiben müsst. Natürlich steht es euch frei zu entscheiden, ob ihr immer noch diese Kraft besitzen wollt, oder nicht.“ Als Sally hörte, dass sie sich für oder gegen ihre Fähigkeiten entscheiden konnte, musste sie nachdenken. Was hatte ihr diese Gabe denn gebracht? Nur Unglück. Vor zweihundert Jahren war jeder Mensch getötet worden, der ihr nahe stand, weil sie eine Nekromantin war und vor kurzem hatte Dathans Familie versucht, sich ihre Kräfte anzueignen. Solange sie eine Nekromantin war, würden die Menschen immer Angst vor ihr haben, oder ihr misstrauen. Im Grunde hatte sie nur Vorteile, wenn sie ihre Fähigkeiten für immer aufgab! Schließlich sammelte sie sich und erklärte „Ich werde meine Kräfte behalten. Es stimmt schon, dass sie mir persönlich nur Unglück bringt und ich es immer schwer haben werde, weil die Menschen sich vor mir fürchten. Aber… ich will das auf mich nehmen, weil ich meine Familie beschützen will. Wer weiß, was irgendwann wieder passieren wird. Was, wenn noch jemand auftaucht, der ähnlich wie Pristine eine Gefahr für andere Menschen darstellt und ich nicht die Kraft habe, meine Familie zu beschützen?“ „Du nimmst da wirklich viel auf dich. Ich finde das echt bewundernswert!“ Nathaniel selbst schien auch noch unsicher zu sein, was er tun sollte. Er wusste, dass er seine Kräfte nicht unter Kontrolle hatte und sie sogar gegen seine eigenen Freunde anwandte. Dank dieser Gabe würde er niemals erwachsen werden und immer auf jemanden angewiesen sein. Aber andererseits hatte er Anthony helfen können, weil dieser doch diese Lichtkrankheit hatte. Was, wenn er eines Tages lernen konnte, seine Gabe gezielt einzusetzen, um anderen zu helfen? Also traf er die gleiche Entscheidung wie Sally und beschloss, seine Kräfte zu behalten. Azarias und Elyssia tauschten kurze Blicke aus und mussten schmunzeln. „Wir sind uns wirklich sehr ähnlich…“, sagte Elyssia schließlich und wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. „Und ich denke, das Meiste ist bereits gesagt worden. Habt ihr noch Fragen an uns?“ „Was genau wird aus euch werden?“ fragte überraschend Nathaniel, der bis dato noch so gut wie gar nichts gesagt hatte. „Werden wir euch irgendwann mal wieder sehen oder verschwindet ihr für immer?“ Azarias wurde rot im Gesicht und senkte den Blick vor Verlegenheit. „Wir werden… also… äh…“ „Was Azarias sagen will ist, dass wir weiterhin Eli zur Seite stehen werden. Aber… vielleicht sehen wir uns tatsächlich eines Tages wieder. Die Welt ist ja bekanntlich klein.“ Damit erhob sich Elyssia und wenig später auch Azarias. Obwohl er eigentlich größer als sie war, wirkte er um einiges kleiner, da er sich stets geduckt hielt, als fürchte er sich vor jemandem. „Es wird Zeit, dass wir gehen. Eli wird uns gleich brauchen und auch für euch ist der Augenblick gekommen, wieder zurückzugehen. Dieses Treffen war zwar kurz, aber es war doch wirklich schön, euch beide persönlich kennen zu lernen.“ Elyssias Lächeln hatte etwas so Herzliches, dass Nathaniel irgendwie warm ums Herz wurde. Irgendwie konnte er sich gar nicht vorstellen, dass sie so gefährlich war, dass selbst eine Berührung den sofortigen Tod bedeuten konnte. Und sie sich als babytötende Hexe vorzustellen, fiel ihm auch ziemlich schwer. Wie Azarias damals richtig erkannt hatte: Sie war einfach nur furchtbar einsam und traurig gewesen. Genauso wie er selbst… Insgeheim wünschte er sich schon, dass er sie und Azarias irgendwann wieder sehen würde, auch Eli. Kapitel 14: Das Ende von Thule ------------------------------ Während Anthony den leblosen Körper seines Halbbruders im Arm hielt, beobachtete er, wie Pristine regelrecht in die Mangel genommen wurde. Dieser „Eli“, wie Christine ihn nannte, war unfassbar stark. Weder Christine noch Johnny hatten die Kraft besessen, Pristine dauerhaft in die Knie zu zwingen. Selbst als Johnny die ersten beiden Siegel geöffnet und damit eine unvorstellbar starke Kraft entfesselt hatte, konnte er kaum etwas gegen sie ausrichten. Und bei Eli brauchte es nur eine Ohrfeige und zwei gezielte Schläge, um sie in die Knie zu zwingen. Stellte sich nur die Frage, was nun passieren würde. Was würde mit Pristine geschehen und was würde aus Nathaniel und Sally werden? So viele Fragen, aber im Moment hatte Anthony insgeheim Angst davor, die Aufmerksamkeit dieser Leute auf sich zu ziehen. Es war momentan besser, wenn die Familie unter sich blieb und alle anderen außen vor blieben. Sie hätten sowieso nicht den Hauch einer Chance. Thomas, Cedric und Ezra blieben trotzdem in Bereitschaft, sollten die Soldaten versuchen, sie anzugreifen. Eneos kümmerte sich derweil um Christine, die von ihrem Vater erst einmal weggeschickt wurde, weil er die Situation alleine klären wollte. Sie blutete aus diversen Wunden und war völlig am Ende ihrer Kräfte. Diese Pfähle waren wirklich gefährliche Waffen, die sogar jemanden wie sie ernsthaft verletzen konnten und nun mussten diese Wunden erst einmal verarztet werden. Auch hier zeigte Eneos ein nicht gerade geringes Maß an Sadismus, was ihn mit jeder Sekunde nur noch unsympathischer machte. Vincent blieb bei Anthony und wirkte sichtlich nervös. „Was glaubst du, wie es wohl weitergehen wird?“ „Frag mich das nicht, ich blicke bei dieser ganzen Sache sowieso kaum noch durch.“ „Das kann ich euch sagen“, meldete sich Johnny und schluckte noch ein paar Vicodintabletten, um den Schmerz zu betäuben. „Wenn jemand Pristine in die Schranken weisen kann, dann mein Großvater. Entweder wird er ihr komplettes Gedächtnis löschen, oder er sperrt sie weg. Vielleicht macht er auch beides. Töten kann er sie ja nicht, das würde er auch nicht machen, selbst wenn es Christine nicht das Leben kosten würde. Und außerdem wird…“ Johnny schaffte es nicht, weiterzusprechen, da er einen heftigen Hustkrampf bekam und Blut hervorwürgte. Zwar war diese Kraft, die seinen Körper regelrecht zerfressen hatte, wieder im Buch versiegelt, aber er hatte trotzdem ziemlich viel einstecken müssen. Er müsste eigentlich sofort in ein Krankenhaus, aber er ließ sich einfach nichts anmerken, was mal wieder typisch für ihn war. Stattdessen riskierte er wie immer eine dicke Lippe und machte auf obercool. Eine Erschütterung ging durch die Anlage, als Pristine plötzlich zum Angriff ansetzte und mit der Armbrust auf ihren Vater schoss. „Ist die denn völlig verrückt geworden?“ rief Christine und wollte schon losgehen, doch Eneos hielt sie mit aller Gewalt zurück. „Hör sofort auf mit dem Scheiß, Pristine!!!“ Mehrere Pfeile wurden abgefeuert, doch Eli wehrte sie alle mit seinem Stab ab, dann setzte er zum Gegenschlag an. Ohne große Kraftanstrengung schlug er Pristine den Stab gegen den Kopf und stieß ihn ihr daraufhin in die Brust. „Lass es sein“, sagte er ruhig und ernst, ohne laut zu werden. „Akzeptier endlich, dass du verloren hast und übernimm endlich die Verantwortung für das, was du getan hast. Du allein wirst dafür gerade stehen und für deine Verbrechen büßen.“ Die beiden Schläge hatten sie hart getroffen und sie wankte, während sie nach Luft schnappte. Sie hob die Armbrust, um erneut zu schießen, doch ein weiterer Schlag auf ihren Arm genügte, dass sie die Waffe fallen ließ. Laut schrie sie vor Schmerz auf und es sah so aus, als hätte Eli ihr mit dem Schlag den Arm gebrochen. Doch er zeigte keine Gnade und kein Mitleid. Diese Ruhe, die er ausstrahlte, war schon fast beängstigend und obwohl er überhaupt nicht aggressiv oder grausam war, jagte er Anthony eine noch größere Gänsehaut ein, als diese verrückte Pristine. Etwas Autoritäres und Erhabenes ging von ihm aus und ihn wollte der Konstrukteur lieber nicht zum Feind haben. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, wozu erst der Vater dieser Zwillinge in der Lage war, wenn er tatsächlich dieses Buch erschaffen hatte. Eli, der immer noch die Ruhe selbst war, packte seine Tochter am Kragen und riss sie von den Füßen. Sein Blick verdüsterte sich merklich. So einfach würde er Pristine nicht davonkommen lassen. So viel stand schon mal fest. „Für das, was du getan hast, wird selbst der Tod nicht ausreichend sein. Du hast so viele Leben ausgelöscht oder ins Unglück gestürzt… Nicht bloß allein Mischlinge, sondern auch Menschen. All das Leid, das du über diese Welt gebracht hast, wirst du zur Strafe am eigenen Leib zu spüren bekommen.“ „V-Vater, was… was hast du mit mir vor?“ „Du wirst meinen Platz in der Zwischenwelt einnehmen und das so lange, bis du dich nicht einmal mehr an deinen eigenen Namen erinnern kannst. Genauso wie ich wirst du dort in der völligen Einsamkeit ausharren, niemals einen Menschen oder ein anderes Wesen zu Gesicht bekommen und dann genug Zeit haben, über all das nachzudenken, was du getan hast.“ Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. „Das… das kannst du nicht tun! Ich bin deine Tochter und ich habe nur getan, was nötig war!“ Sie wehrte sich nach Leibeskräften, aber ihr Vater war einfach zu stark für sie. „Das war noch nicht alles“, sagte Eli schließlich nach einer Weile. „Was du deinem Kind angetan hast, ist auch noch mal eine Sache für sich und ein besonders schweres Vergehen, was ich dir niemals verzeihen kann. Deshalb wird dir noch eine zusätzliche Strafe auferlegt: Du wirst seine Wunden und all seine Schmerzen mit dir nehmen. Sie werden dich immer begleiten und dich an deine Verbrechen erinnern. Und die Schmerzen, die er jetzt in diesem Moment erdulden muss, werden dir solange zur Last gelegt, bis du endlich dein eigenes Kind lieben lernst!“ Nun geriet Pristine endgültig in Panik. Sie wusste, was sie Johnny alles angetan und zugemutet hatte, aber das hatte sie nie sonderlich gejuckt. Aber diese Schmerzen all die Zeit ertragen zu müssen, während sie in der Zwischenwelt gefangen sein würde, war eine entsetzliche Vorstellung. Das würde sie nicht durchstehen, sie würde verrückt werden! „Nein bitte Vater. Bitte tu mir das nicht an, ich bin doch dein Kind!“ „Ich weiß“, sagte er ruhig und so wie er aussah, würde er es trotzdem tun. „Deshalb vergiss niemals, dass es mir genauso wehtun wird wie dir.“ Christine wandte den Blick ab und konnte das einfach nicht mit ansehen, wie ihre jüngere Zwillingsschwester in Panik verfiel und schrie, als etwas sie packte und mit sich fortriss. Ihr Schreien erstarb und nur Eli blieb zurück, der den Blick senkte und irgendwie sehr traurig wirkte. Schließlich kam er auf die anderen zu und nahm Christine in den Arm. „Es tut mir wirklich Leid… Ich wünschte, ich hätte viel früher zurückkehren können.“ „Schon gut, du kannst nichts dafür. Ich muss mich entschuldigen, dass ich meine Schwester nicht aufhalten konnte.“ „Du hast getan, was du konntest und Hauptsache ist, dass du und Johnny leben. Ich bin wirklich stolz auf dich.“ Sie nickte und schluchzte leise. Schließlich ging Eli zu Anthony und Johnny und kniete sich hin, um ihnen in die Augen zu sehen. „Wie geht es dir, Junge?“ In seiner typisch frechen Art setzte Johnny ein Grinsen auf und erklärte „Mir ging es noch nie besser, verdammt. Aber… was ist jetzt mit Nathaniel und Sally?“ „Es geht ihnen gut, keine Sorge. Sie wachen bald wieder auf und werden euch alle Fragen beantworten. Ich werde diese Angelegenheit klären und dafür sorgen, dass Thule für immer vom Angesicht der Welt verschwindet und ihr nichts mehr in dieser Richtung zu befürchten haben müsst. Die meisten von euch sind sicherlich erschöpft und verletzt.“ Schließlich wurde der traurige Blick zu einem Lächeln und Eli streichelte ihm liebevoll und fast väterlich den Kopf. „Ich bin wirklich stolz auf dich, Johnny. Und bitte entschuldige, dass ich dir das alles aufbürden musste.“ „Ach scheiß drauf“, brachte Johnny hervor und lachte etwas gequält. „Hauptsache ist doch, wir haben es geschafft und es ist endlich wieder Ruhe!“ „Ist es jetzt endgültig vorbei?“ fragte Thomas, dem nun auch die Erschöpfung anzusehen war. Sie alle hatten Spuren davongetragen und einen weiteren Kampf würden sie nicht mehr austragen können, so viel stand fest. Er hatte einige Schläge und Streifschüsse einstecken müssen, Ezra blutete am Rücken und Anthony und Vincent waren psychisch angeschlagen, weil sie ihre Kraft öfter eingesetzt hatten, als eigentlich gesund war. Cedric stand ja außen vor, weil er lediglich von fremden Körpern Besitz ergriff. Aber am Schlimmsten hatte es Johnny und Christine erwischt. Diese konnten sich vor Schmerzen kaum noch bewegen, obwohl Eneos sie notdürftig verarztet hatte. Eli sah dem Ex-Stasi tief in die Augen und dieser Blick hatte etwas Prüfendes, als wollte er in seine Seele schauen. „Für euch ist es vorbei. Ich werde mich um den Rest hier kümmern und den Scherbenhaufen wegräumen, den meine Tochter hinterlassen hat.“ Damit erhob er sich, doch seinem Blick lag etwas Trauriges. Kein Wunder, denn er hatte sein eigenes Kind weggesperrt und setzte es dabei entsetzlichen Schmerzen aus. Das war für einen Vater sicherlich auch nicht einfach. Und die Enttäuschung über seine jüngere Tochter saß sehr tief. Aber er hatte es tun müssen, um schlimmeres Unheil abzuwenden. Er konnte Pristine nicht töten, deshalb musste er sie wegsperren, um sie zu bestrafen. Schließlich verließ er die Gruppe, um sämtliche Spuren zu beseitigen, die auf Thule und ihre Experimente hindeuten konnten. Anthony und die anderen wurden von Amara, Harvey und Chris abgeholt, die durch ein Portal kamen und halfen, die Verletzten zu transportieren. Sally und Nathaniel waren immer noch nicht bei Bewusstsein, Christine konnte nur humpeln und Johnny war nicht mal mehr in der Lage, einen Arm zu heben. Da sie nicht riskieren wollten, dass die Öffentlichkeit erfuhr, dass Johnny und Christine keine Menschen waren, brachte Eneos sie in sein Haus, wo er ein eigenes Operationszimmer hatte. Wie sich herausstellte, hatte er eine Art private Klinik, wo er zusammen mit einigen Assistenten auch die Mischlinge medizinisch versorgte, die von Pristine gefangen gehalten und gefoltert worden waren. Ein dürrer zwei Meter großer junger Mann mit acht Fingern, der sich als Samael vorstellte, kümmerte sich um die kleineren Verletzungen der anderen, während Christine und Johnny operiert wurden. Ezras Schnittwunden, die er von Thomas zugefügt bekommen hatte, mussten genäht werden. Dabei enthüllte der Mischling auch eine alte Brandverletzung, die ihm im Kindsalter von Pristine mit einem glühenden Eisen zugefügt worden war. Genauso wie viele andere Mischlinge war auch er gebrandmarkt worden, jedoch war diese Verletzung längst verheilt im Gegensatz zu Johnnys. Anthony und Vincent erzählten derweil Harvey und Chris, was alles passiert war und was aus Pristine wurde. Die Erleichterung, dass es endlich vorbei war, konnte man ihnen deutlich ansehen. Aber eines beschäftigte Anthony noch, nämlich Sally und Nathaniel. Sie waren immer noch nicht bei Bewusstsein und so langsam machte er sich Sorgen. Also wandte er sich an Samael und fragte, wie es um die beiden stand. Der Assistenzarzt konnte ihn beruhigen. „Es geht ihnen sehr gut, sie brauchen nur sehr viel Ruhe, weil dieser Energietransfer sie sehr angestrengt hat. Beide schlafen momentan tief und fest.“ Das erleichterte den Konstrukteur zwar, aber er wollte trotzdem bei seinem Halbbruder bleiben. Verübeln konnte ihm das niemand und so leistete ihm Vincent Gesellschaft. Nachdem Thomas’ Verletzungen versorgt waren, schnappte er sich Amara, weil er unbedingt zu seiner Verlobten und seinen Sohn wollte. Harvey und Chris zogen sich ebenfalls zurück, da sie unter sich bleiben und außerdem warten wollten, bis Johnnys Operation vorbei war. Es wurde allmählich still, bis schließlich Cedric hinzukam, der inzwischen wieder in seinen richtigen Körper zurückgekehrt war und nach Ezra und den anderen sehen wollte. Fast einen halben Tag lang warteten sie, ohne dass sie etwas Neues über Johnny und Christine erfuhren. Es wurde schließlich Nacht und die anderen zogen sich zurück, um sich von den ganzen Strapazen zu erholen. Auch Anthony war müde, aber er blieb wach. Er konnte nicht schlafen, nicht solange Nathaniel noch nicht aufgewacht war. Irgendwann, es musste so gegen zwei oder drei Uhr sein, da wachte der Konstrukteur auf, als er merkte, dass jemand eine Decke um seine Schultern legte. Es war Chris, der offenbar nach dem Rechten sehen wollte und bemerkt hatte, dass Anthony eingenickt war. Müde rieb er sich die Augen und fragte „Wie lange hab ich geschlafen?“ „Nicht lange, höchstens eine halbe Stunde.“ „Und was ist mit dir?“ „Ich schlafe nie länger als drei Stunden und Harvey schnarcht immer so laut…“ Traf sich eigentlich ganz gut, dass wenigstens einer wach war. So hatte Anthony wenigstens jemanden zum Reden. Und Chris schien das auch ganz gut zu tun. Immerhin hatte er fast ein halbes Jahr lang wie ein Geist gelebt und niemanden außer Johnny und Harvey sprechen können. Nun endlich hatte er endlich wieder sein Leben zurück und konnte noch mal von vorne anfangen. Chris war ganz anders als Harvey, das sah man ihm sofort an. Er schien zarter und sensibler zu sein, außerdem war er auch vom Äußeren her sehr androgyn und schmal. Selbst äußerlich waren sie sehr verschieden. Der Schauspieler setzte sich neben Anthony und holte einen kleinen Skizzenblock und einen Bleistift heraus. Gerade war er dabei, eine Rose zu zeichnen. „Da ich ja jetzt diesen neuen Körper habe, muss ich mir mein altes Tattoo neu stechen lassen… Ist gar nicht so einfach, eine Rose zu malen und sie vor allem exakt noch mal gleich hinzubekommen.“ Die Rose lag vertikal und unterstrich einen kleinen Text, den Chris in sehr eleganter und schwungvoller Schrift schrieb Out, out brief candle. „Ist das nicht ein Zitat aus MacBeth?“ „Ja, auch Harvey hat ein solches Tattoo auf seinem Rücken. Allerdings lautet der Schriftzug bei ihm „To be or not to be“. Weißt du, meine Eltern starben bereits kurz nach meiner Geburt und ich bin im Waisenhaus aufgewachsen. Ich hatte nur meine Shakespearewerke, die ich schon mit sechs Jahren alle auswendig kannte. Es war mein größter Traum, Schauspieler zu werden und ich habe jeden Tag geprobt. Und eines Tages hat mich Harvey in der Aula beobachtet, wie ich Hamlets ganze Rede zu seinem Zitat „Sein oder nicht sein“ aufsagte. Das war so etwas wie ein Schicksalsmoment gewesen, denn von da an hatte ich jemanden, der den gleichen Traum hatte wie ich. Wir verloren uns zwar daraufhin wieder aus den Augen, aber dann hat uns der Zufall wieder zusammengeführt, als sich herausstellte, dass wir an der gleichen Universität studierten. Zwar hatte ich ein Stipendium, musste aber dennoch diverse Nebenjobs annehmen, um über die Runden zu kommen. Harvey hat mir wirklich geholfen und ich hatte auch Johnny als seelische Stütze. Ich werde nie den Tag vergessen, als Harvey mich im Krankenhaus besuchen kam, als ich an Leukämie erkrankte. Er nahm meine Hand und sagte wortwörtlich „Glaub bloß nicht, dass ich dich so einfach sterben lasse. Du bist der einzige Mensch, der mir wirklich wichtig ist und ich brauche dich.“ Das war das Süßeste, was er mir je gesagt hatte.“ Chris errötete und er musste kichern, als er an damals zurückdachte. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals wieder die Chance bekommen könnte, noch einmal mit Harvey auf einer Bühne zu stehen und den Hamlet zu spielen, während er den Laertes gibt. Tut mir Leid, wenn ich zu viel rede…“ „Nein, schon okay. Ich freue mich ja auch für euch beide, dass alles dank Johnny so ein gutes Ende nehmen konnte. Dank ihm, Sally, Nathaniel und diesem Eli haben wir quasi die Welt retten können und nun wird auch hoffentlich Ruhe einkehren. Thomas kann Hannah endlich heiraten und Sally wird sich auch freuen, ihre Familie wiederzusehen. Und Nathaniel braucht einen großen Bruder, der für ihn da ist. Viola und Evan haben auch sonst niemanden, zu dem sie sonst gehen könnten. Wir sind alle wie eine Familie.“ „Und eine wunderbare noch dazu“, ergänzte Chris und sein Blick nahm etwas Verträumtes an. „Ehrlich gesagt fand ich dich zu Anfang unheimlich und hätte fast einen Schreck gekriegt, als du auf dem Dach geschossen hast und beinahe Harvey getroffen hättest. Ich dachte zuerst, du würdest ihn umbringen.“ „Wenn du genauer hingesehen hättest, dann hättest du gesehen, dass ich extra danebengezielt hatte.“ „Vergiss nicht, dass ich mir mit Harvey einen Körper geteilt habe! Was er nicht sieht, kann ich auch nicht sehen. Folglich war ich genauso blind wie er, als er sich diese Augenbinde angelegt hatte. Naja, auch egal. Jedenfalls bin ich froh, dass Harvey so gute Freunde hat. Er ist sonst eigentlich nicht der Geselligste von allen gewesen und war etwas… schwierig.“ „Schwierig wie Johnny?“ Chris musste lachen, als er das hörte. „Nein, so schlimm nun auch wieder nicht. Er war temperamentvoll und konnte schnell aus der Haut fahren, außerdem war er in vielen Dingen nicht gerade sensibel. Deshalb kamen nicht viele Menschen mit ihm klar.“ Dass Harvey mal wirklich so gewesen war, konnte sich Anthony gar nicht so wirklich vorstellen. Er hatte ihn selbst als eher stillen und zurückgezogenen Menschen kennen gelernt, aber wahrscheinlich wurde das auch durch die Tatsache beeinflusst, dass er seinen toten Freund sehen konnte und sich lange Zeit die Schuld an der Situation gab. Hinzu kam noch die Tatsache, dass er und Chris sich einen Körper teilten und da war es auch nicht ausgeschlossen, dass Harvey unbewusst von Chris beeinflusst wurde, woraufhin er immer mehr Charakterzüge von ihm annahm. Also wäre es interessant zu sehen, ob Harvey sich vom Charakter her wieder in sein altes Ich verwandeln würde oder ob er so blieb, wie er jetzt war. Es konnte sein, dass etwas von Chris bei ihm Spuren hinterlassen hatte und er nie wieder ganz der Alte sein würde. Als Anthony Chris darauf ansprach und ihm diesen Gedanken erläuterte, nickte dieser und murmelte „Ja, so etwas hatte ich auch schon befürchtet. Aber… es ist mir egal, ob er wieder der alte wird oder ob er so bleibt, wie er jetzt ist.“ Wenig später kam Harvey ziemlich verschlafen herein und sah aus, als wäre er gerade erst aufgestanden. Chris stand sofort auf und ging auf Zehenspitzen zu ihm hin, um Vincent und die anderen nicht aufzuwecken. „Harvey, was ist los?“ „Ich hab gerade erfahren, dass die Operation vorbei ist. Christine ist wieder ganz die Alte und Johnny hat auch alles gut überstanden.“ Erleichtert atmete Chris durch, als er das hörte und bedankte sich bei Harvey, dass er ihm auch gleich Bescheid gesagt hatte. Da Harvey noch gut eine Mütze Schlaf vertragen konnte, ging er wieder schlafen, während Chris bei Anthony blieb und seine Rose weiterzeichnete. Sie saßen schweigend beieinander und vertrieben sich auf ihre Weise die Zeit, dann aber regte sich etwas. Sally und Nathaniel wachten langsam wieder auf. Sofort ging Anthony zu seinem Halbbruder hin, der noch etwas benommen war und sich etwas verwirrt und orientierungslos umsah. „Anthony, wo… wo sind wir hier?“ „In einem Krankenhaus, du hast ziemlich lange geschlafen. Wie fühlst du dich?“ „Ganz gut soweit. Und was ist mit den anderen?“ „Es geht ihnen gut. Sie ruhen sich gerade aus und Johnny wird es auch bald wieder besser gehen. Sally ist auch gerade aufgewacht.“ „Ist… ist es etwa vorbei?“ „Ja. Pristine ist fort und sie wird auch niemandem mehr etwas tun.“ „Dann hat Eli es also geschafft?“ Woher wusste er von Eli? So wie Nathaniel redete, klang er so, als hätte er ihn schon vorher gekannt. „Ja hat er. Ist er ein Freund von dir?“ Nathaniel nickte und erklärte „Dank ihm hatte ich diese Vorhersehung und er hat mir geholfen, dass wir Johnny retten konnten. Wir haben außerdem Freunde von ihm getroffen und die ganze Wahrheit über den alten Kult erfahren und warum es Nekromanten gibt.“ „Das kannst du ja morgen erzählen, wenn die anderen wach sind. Ruh dich noch ein wenig aus.“ Gerade wollte Anthony gehen, doch Nathaniel hielt ihn am Arm fest und nach einigem Zögern fragte er „Sag mal Anthony, siehst du mich als einen Fremden?“ Erstaunt über die Frage runzelte der Konstrukteur die Stirn und wunderte sich, wieso Nathaniel so eine Frage stellte. Aber er sah auch die Angst und die Verunsicherung bei seinem Halbbruder und merkte, dass diese Frage ihn offenbar sehr beschäftigte. Wahrscheinlich rührte diese Angst von der Tatsache her, dass Anthony nie von Nathaniels Existenz gewusst hatte und sogar in der Annahme gewesen war, dass dieser mit Hinrich unter einer Decke steckte. Das hatte Nathaniel wohl gespürt und hatte nun Angst, dass er für Anthony gar kein Verwandter, sondern nur ein Fremder war. Er ist eben doch ein Kind, dachte er und lächelte, dann nahm er Nathaniel in den Arm. „So ein Unsinn, du bist mein Bruder und daran wird sich nie etwas ändern. Und keine Sorge, ich werde dich ganz sicher nicht alleine lassen. Ich hab dir doch versprochen, dass wir zusammen nach Hause gehen werden und ich halte meine Versprechen. Zwar bist du eigentlich der Ältere von uns beiden, aber wenn du willst, werde ich dein großer Bruder sein.“ Nathaniel kamen die Tränen, als er das hörte und er drückte sich fest an Anthony, als wolle er ihn nie wieder loslassen. All die Angst, die er die ganze Zeit tapfer unterdrückt hatte, brach wieder hervor und er war gleichzeitig unendlich froh. Zum ersten Mal in seinem Leben nach über 96 Jahren hatte er eine richtige Familie und einen liebevollen Bruder. Johnny war am Leben und er hatte Freunde, die ihn mit ihrem Leben beschützen würden. Er war nicht mehr alleine… Nach einer Weile schaffte es Anthony, seinen Halbbruder zu beruhigen und schließlich schlief Nathaniel wieder ein. Sally, die ihrerseits von einem schweren Heimweh ergriffen wurde, konnte an nichts anderes mehr denken, als an ihre Familie. Obwohl sie körperlich noch nicht ganz fit war, sprang sie aus dem Bett, hatte Tränen in den Augen und Anthony hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Dieser wandte sich an Chris und fragte „Was sollen wir machen?“ „Wenn sie Sehnsucht nach ihrer Familie hat, dann sollten wir sie nach Hause bringen. Ich glaube, sie braucht jetzt ihre Familie.“ Was auch immer Sally und Nathaniel erlebt hatten, während sie nicht bei Bewusstsein waren, es musste sie ziemlich aufgewühlt haben. Oder vielleicht waren all die Erlebnisse der letzten Tage und Wochen zu viel für Sally gewesen. Der Kampf gegen Belphegor und Mary Lane in Somnia… die Schlacht gegen Thule und Pristine. Obwohl sie eine mächtige Nekromantin war, so war sie in erster Linie noch ein Kind, genauso wie Nathaniel, Viola und Evan. Irgendwie hatte Anthony diese Tatsache vergessen, weil er sie immer als eine potentielle Gefahr für sich und die anderen gesehen hatte. Sally schluchzte heftig und wischte sich die Tränen weg. „Tut mir Leid, dass ich euch so viele Scherereien mache. Aber… aber ich will einfach nur nach Hause und Dathan, Jamie und Christie wieder sehen. Und auch Emily, Jacques und Jeanne!“ „Schon gut, niemand kann dir das verübeln. Chris, weckst du bitte Evan und bittest ihn, Sally wieder nach Hause zu bringen?“ Also verschwand der Schauspieler mit der völlig aufgewühlten Nekromantin und schloss leise die Tür hinter sich. Wenig später kam er alleine wieder zurück und seufzte leise. „Die Kleine tut mir wirklich Leid. Aber vielleicht ist es ja wirklich das Beste, wenn sie vorerst wieder nach Hause geht. Schon verrückt das alles. So ein kleines Mädchen und trotzdem 212 Jahre alt. Alle hier sind so jung geblieben und dennoch schon so alt. Als wäre dies alles eine Nimmerlandgeschichte, wo niemand altert und Kinder niemals erwachsen werden.“ Da hatte er nicht ganz Unrecht. Tatsächlich erinnerte dies alles an die Peter Pan Geschichten. Viola, Evan, Amara, Sally und Nathaniel waren verlorene Kinder, die niemals erwachsen werden würden. Sie würden immer Kinder bleiben. Und Anthony, Vincent und Thomas, die ihrerseits erwachsen waren, würden nicht alt werden. Nun ja, bei Thomas verhielt es sich anders. Jetzt, da er Hannah und seinen Sohn hatte, würde er aufhören, seinen Alterungsprozess zu manipulieren und ganz normal altern. Er hatte es bereits mit Hannah und Anthony besprochen, weil er mit seiner Familie ein normales Leben führen wollte und er Hannahs Alterungsprozess sowieso nicht beeinflussen konnte, höchstens seinen eigenen. Und mit Anthony und Vincent war abgesprochen worden, dass sie Amara aufnehmen würden, wenn sie dann niemanden mehr hätte. Im Grunde unterschieden sie sich lediglich darin, dass einige von ihnen entweder nicht altern konnten, oder es nicht wollten. Viola, Amara, Evan und Nathaniel konnten aus verschiedenen Gründen nicht altern, genauso wie Sally. Sie würden für alle Zeiten Kinder bleiben, bis sie starben. Vincent wollte nicht alt werden, weil er sich für Evan und Viola verantwortlich fühlte und sie sozusagen Pflegekinder waren. Auch Anthony hatte sich für diesen Weg entschieden, weil er wusste, dass Viola, Evan und Amara sonst nirgendwo hin könnten. Sie konnten kein normales Leben unter Menschen führen und selbst wenn sie unter Menschen leben würden, so würde jeder irgendwann sterben, der ihnen wichtig wurde. Deshalb mussten sie alle unter sich bleiben und als Familie zusammenhalten. In der Hinsicht war Anthony sozusagen das Familienoberhaupt und so etwas wie der Vater. „Wie ist es eigentlich so, für immer jung zu sein?“ fragte Chris schließlich nach einer langen Weile des Schweigens. „Ist es ein Segen, oder ein Fluch?“ „Es ist beides, ein zweischneidiges Schwert. Es nimmt einem die Angst vor dem Sterben und man braucht sich keine Sorge über Falten oder Haarausfall zu machen. Aber man ist auch zu einem Leben in Isolation verdammt und das Leben wird freudlos und öde, wenn man es in vollen Zügen ausgekostet hat und immer noch nicht alt ist. Für mich kam ja noch die Tatsache hinzu, dass ich nie die Welt bei Tage sehen konnte, weil es mir meine Krankheit verbot.“ „Im Prinzip sind die Konstrukteure wie Dorian Gray, der seine Seele für ewige Jugend und Schönheit verkaufte, nicht wahr?“ „So in der Art. Aber im Gegensatz zu Dorian Gray ist mein Leben nicht ganz so lasterhaft. Und Vincent ist in der Hinsicht viel zu unschuldig dafür.“ Sie mussten beide lachen und redeten noch bis zur Morgendämmerung weiter, bis sie beide von Müdigkeit übermannt wurden und sich selbst schlafen legten. Kapitel 15: Ein abschließendes Gespräch --------------------------------------- Gleich als alle wach waren, wollten sie Johnny besuchen gehen. Dieser ließ sich von Harvey in einem Rollstuhl durch die Gegend schieben und war wieder ganz der Alte. Er riss bereits wieder schlechte Witze und war genau das gleiche Arschloch wie sonst immer. Im Gegensatz zu Christine würde es bei ihm aber noch eine Zeit lang dauern, bis seine Wunden alle vollständig verheilt waren, dafür war wenigstens die Narbe an seinem Rücken vollständig verschwunden und er würde auch nie wieder dort Schmerzen haben. Diese Verletzung hatte Eli auf Pristine übertragen, zusammen mit all den anderen Schmerzen, die sie ihm seit seiner Geburt zugefügt hatte. Dennoch war sein Körper völlig lädiert. Sein rechter Arm war eingegipst und bandagiert worden, auch sein linkes Auge war unter den Bandagen versteckt und unter seiner Kleidung sah er sicher auch aus wie eine Mumie. Eneos sagte noch, dass er Glück hatte, dass der Arm noch halbwegs zu gebrauchen sei, sonst hätte er ihn amputieren müssen! Trotzdem schien der Schwerverletzte guter Laune zu sein und begrüßte Anthony, Vincent und die anderen breit grinsend, als er sich ins Zimmer schieben ließ. Nathaniel war er Erste, der sofort zu ihm geeilt kam und umarmte ihn stürmisch. Als Chris das sah, versuchte er die beiden wieder auseinanderzubringen und rief „Nicht, Johnny hat sicherlich noch Schmerzen!“ Sofort ließ Nathaniel los und senkte schuldbewusst den Blick. „Tut mir Leid.“ „Ach, kein großes Ding. Ich hab mehr Drogen intus als eine ganze Entzugsklinik. Eigentlich hatte ich LSD bestellt, um wenigstens dabei noch etwas Spaß und Unterhaltung zu haben, aber dieser Arsch Eneos gönnt mir mal wieder nichts.“ „Und wie geht es dir sonst? Kannst du dich wieder bewegen?“ „Einigermaßen. Nur den Arm werde ich wohl eine ganze Zeit lang nicht mehr benutzen können. Wenn es nach Eneos gegangen wäre, hätte er ihn mir am liebsten abgesägt. Aber wenn dieser kleine Frankensteinpsychopath das getan hätte, dann hätte ich ihm gezeigt, wie die Radieschen von unten aussehen. Ist zwar unpraktisch mit dem Arm, weil ich mit der rechten Hand besser kann, aber ich bin zum Glück beidhändig begabt. Da kann ich mir also auch mit der linken einen runterholen.“ Anthony entgleisten die Gesichtszüge und sofort hielt er Nathaniel die Ohren zu, damit dieser sich nicht noch mehr solcher Dinge anhörne musste. Chris und Harvey hatten einen ähnlichen Gesichtsausdruck wie der Konstrukteur, wurden rot im Gesicht und gaben dem Verletzten gemeinsam einen Klaps auf dem Hinterkopf, woraufhin sie einstimmig riefen „Das interessiert hier niemanden, Johnny! Und außerdem sind hier Kinder anwesend!“ „Hey, Verletzte haut man nicht!“ „Dann benimm dich auch anständig und bring Nathaniel nicht solchen Schweinskram bei.“ Johnny zog eine Schmollmiene und entschuldigte sich kleinlaut, nachdem er von Harvey und Chris entsprechen gescholten worden war. Anthony nahm seine Hände wieder von Nathaniels Ohren, der sich an seinen Halbbruder wandte und fragte „Was heißt das, sich einen runterholen?“ Der Konstrukteur kratzte sich verlegen an der Wange und wurde rot. Über diesen Anblick musste selbst Harvey lachen. „Weißt du Nathaniel, das sind Erwachsenendinge, die du erst mal nicht zu wissen brauchst.“ Na super, das fängt ja schon mal gut an, dachte er, während er versuchte, seinen Halbbruder erst einmal mit dieser Antwort zufrieden zu stellen. Jetzt brachte Johnny ihm auch noch solche Sachen bei. Ein Wunder, dass er Nathaniel noch nicht vollständig verdorben hatte. „Wo ist eigentlich Christine?“ „Bei Großvater, sie haben wohl ziemlich viel zu besprechen. Er ist schon seit gestern Nacht hier, aber er wollte euch nicht stören. Ezra und Cedric sind unterwegs und kommen erst später wieder zurück. Und wie es scheint, sind noch mehr von euch abgezischt. Sally hat wohl Heimweh gekriegt und Thomas hatte Sehnsucht nach seiner Süßen. Kann man beiden ja nicht verdenken.“ „Ich dachte, du wärst unter Vollnarkose gewesen, während du operiert wurdest.“ „Hey, ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ich diesem Pfuscher auch nur einen Millimeter über den Weg traue! Hinterher wäre ich noch mit Ziegenbeinen oder einem zweiten Augenpaar aufgewacht, oder sähe danach aus wie so ein verkackter Hindugott. Dem würde ich nicht einmal meine benutzte Unterwäsche anvertrauen.“ Die Botschaft war deutlich genug gewesen. Offenbar hatte Johnny einer Operation nur mit einer Betäubung ins Rückenmark zugestimmt, damit er Eneos die ganze Zeit im Auge behalten konnte. Nun, wenn dieser Doktor wirklich ein Sadist mit kranken Vorlieben war, konnte man es ihm nicht verübeln, dass er so misstrauisch war. Harvey versuchte, das Thema zu wechseln, da er fürchtete, dass Johnny sonst wieder ausfallend werden und das noch auf Nathaniel abfärben würde. „Wie wäre es, wenn wir Christine und Eli einen Besuch abstatten?“ Nathaniel war sofort dabei und hellauf begeistert, weil er sich bei Eli bedanken wollte für die Hilfe und dass er seine Freunde gerettet hatte. Wie sich herausstellte, hielten sich Eli und Christine im Garten des Hauses auf und sie begrüßten die Ankömmlinge herzlich. Besonders Nathaniel wurde von Eli in einer fast väterlichen Art und Weise begrüßt und die beiden Schlangen, die er bei sich hatte, ließen sich von Nathaniel streicheln. „Nekros und Vivus haben dich und Sally wirklich sehr ins Herz geschlossen, wie es scheint. Und wie geht es dem Rest von euch?“ „Sally ist wieder bei ihrer Familie, Thomas ist auch schon gegangen und Johnny ist eben Johnny.“ „Na ob das so gut ist…“, kommentierte Christine und kassierte direkt einen bösen Blick von ihrem Neffen, der das überhaupt nicht lustig fand. Gerade wollte er schon wieder einen frechen Spruch ablassen, doch da kam ihm sein Großvater zuvor. „Johnny ist eben etwas schwierig, das hat er von seiner Tante und von seinem Großvater. Ich war damals auch nicht anders als er und habe genauso viel Unfug und Chaos angerichtet.“ „WIE BITTE?“ riefen Christine, Nathaniel und Johnny und sahen Eli erstaunt an, der seinerseits amüsiert über diese Reaktionen lächelte. „Ja ganz recht, ich war genauso wie Johnny. Und du Christine, du warst auch ein richtiger Wirbelwind gewesen, als du noch klein warst.“ „Und wann hat sich das bei euch geändert?“ fragte Harvey, der sich nun ebenfalls wie die anderen zu Christine und Eli setzte und neben Chris Platz nahm. Eli überlegte kurz und antwortete „Das hat sich alles eingestellt, als ich Vater wurde. Genauso war das auch bei Christine: Als sie Johnnys Erziehung übernahm, wurde sie auch erwachsen.“ „Dann müssen wir Johnny auch unbedingt ein Kind anhängen.“ „Wag dich das bloß, Harv! Ich lass mir von niemandem was vorschreiben, oder anhängen! Ich bleib so wie ich bin!“ „Das hab ich damals auch gesagt“, gab Eli mit einem Schmunzeln zurück. „Aber glaub mir. Wenn es soweit ist und du ein süßes kleines Kind in den Armen hast, dann wirst auch du vernünftig werden.“ In dem Augenblick wandte sich Anthony an seinen besten Freund und sah ihn verschlagen an. „Vielleicht sollten wir uns mal Noah zu dem Zweck ausborgen.“ „Vergesst das mal lieber!“ rief Johnny und wollte schon aus dem Rollstuhl aufstehen, aber Harvey drückte ihn entschieden wieder zurück und hielt ihn dort fest. „Ich bleib lieber ein Dreckskerl mit einem schlechten Charakter.“ „Ja Johnny, wir alle haben es verstanden“, sagte Harvey und klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter, als würde er gerade zu einem Verrückten reden. Christine und ihr Vater mussten dennoch lachen. Nachdem sie eine Weile miteinander geredet hatten, kamen auch die anderen hinzu. Viola und Evan waren putzmunter und hatten gleich Thomas, Amara, Hannah und Noah mitgebracht. Sally kam schließlich auch und hatte sich nach ihrer heftigen Heimwehattacke wieder beruhigt. Cedric und Ezra waren schließlich auch da, weil sie hörten, dass Eli mit ihnen allen über einige wichtige Dinge bezüglich der Thule-Gesellschaft sprechen wollte. Eneos war nicht dabei, er musste sich um die anderen Patienten kümmern. Nachdem alle Platz genommen hatten, begann Eli zu reden. Thomas übersetzte selbstverständlich für Hannah ins Deutsche. „Ich habe alles soweit geregelt und wollte euch Entwarnung geben. Thule existiert nicht mehr, sämtliche Einrichtungen mitsamt der Beweise und Unterlagen wurden zerstört und die Mittäter allesamt aus dem Verkehr gezogen. Offiziell hat diese Organisation niemals existiert und diese Projekte niemals stattgefunden. Niemand, der damals oder heute daran beteiligt war, kann sich daran erinnern. Wir und die anderen Opfer der Organisation sind die Letzten, die davon wissen.“ „Soll das heißen, wir brauchen keine Angst mehr zu haben, dass noch etwas kommen könnte?“ fragte Hannah zögernd und unsicher, aber als Eli erklärte, dass nichts dergleichen mehr kommen würde und er persönlich dafür Sorge tragen würde, waren sie alle sichtlich erleichtert. Nur Anthony konnte das noch nicht so wirklich glauben. 60 Jahre hatte er in der Angst gelebt, dass jemand vom Dream Weaver Projekt erfahren und ihn oder Vincent verschleppen könnte. All die Jahre hatte er versucht, seine Verwandtschaft zu Hinrich Helmstedter zu verschweigen, der zu den führenden Kräften der Thule-Gesellschaft gehört und so viele Menschen in den Tod getrieben, oder ihr Leben zerstört hatte. Und wenn er so darüber nachdachte, was in den letzten Wochen passiert war… Sie hatten Hannah gerettet, die durch die DDR-Experimente zu Umbra wurde. Um ihren Sohn Noah zu retten, waren sie durch unzählige Traumwelten gereist und hatten den Dream Weaver Belphegor und Helmstedter gleich mitgetötet. Gemeinsam hatten sie Mary Lane und Scarecrow Jack für immer ausgeschaltet und Sally aufgehalten, als diese sich wieder in ihr Alter Ego Happy Sally verwandelt hatte. In der Traumdimension hatten sie Evan und Amara kennen gelernt und ihnen geholfen, ihre Träume zu verwirklichen und ihnen ein Zuhause zu geben. Und danach hatten sie die Wahrheit über Christine herausgefunden und wieso das alles passiert ist. Anthony hatte seinen älteren Halbbruder Nathaniel kennen gelernt und Cedric und Ezra getroffen, die Chris ein neues Leben an der Seite seines besten Freundes Harvey ermöglichen konnten. Und sie konnten dank Eli den Tod von mindestens drei Milliarden Menschen und eine schreckliche Terrorherrschaft verhindern. So viel war passiert. Wenn Anthony so darüber nachdachte, hätte er all jene, die jetzt hier waren, nie kennen gelernt, wenn Thule nicht gewesen wäre. Thomas, Vincent, Viola und all die anderen wären niemals in sein Leben getreten. Sie alle hatten auf ihre Weise schreckliche Dinge erlebt und viel durchmachen müssen und das hatte sie zusammengeschweißt. Diese vielen Kämpfe hatten sie zu einer Art großen Familie gemacht und wenn das alles nicht gewesen wäre, dann wären sie wahrscheinlich ganz allein. Anthony hätte bis an sein Lebensende diese Krankheit gehabt und wäre wahrscheinlich auch einsam gestorben. Er hätte seinen besten Freund Vincent oder die kleine Viola nie kennen gelernt. Diese wäre bis heute noch Lucy Eve Nightingale und Harvey und Chris hätten auch niemals Johnny kennen gelernt. Evan wäre völlig einsam und unglücklich im Krankenhaus gestorben, wenn er niemals Violas Medium geworden wäre. Hannah und Thomas hätten sich wahrscheinlich nie kennen gelernt und wären jetzt nicht so glücklich wie jetzt. Und Noah wäre nicht geboren worden. Obwohl so viele schlimme Dinge passiert waren, hatte die Sache auch einen positiven Aspekt: Keiner von ihnen war jetzt mehr allein und nun konnten sie endlich ein ruhiges und halbwegs normales Leben führen und sich ihre wahren Träume erfüllen. Viola, Amara und Evan hatten endlich Freunde und Familie, genauso wie Vincent, Anthony und Nathaniel. Anthony konnte endlich die Welt so sehen wie andere, ohne dabei Angst vor dem Tageslicht haben zu müssen. Thomas und Hannah konnten endlich heiraten, so wie sie es sich vor 58 Jahren versprochen hatten und als Familie zusammenleben, gemeinsam mit ihrem Sohn Noah und Amara, die sie quasi adoptiert hatten. Das war ein seltsamer Gedanke. Auf der einen Seite erfüllte es ihn mit unendlicher Freude und Erleichterung, aber andererseits hatte er auch Angst. Aber wovor hatte er Angst? Vielleicht weil es genau diese drohende Gefahr von Thule war, die sie zusammengehalten hatte. Denn nun konnten sie ihre eigenen Wege gehen. Sally würde zu ihrer Familie zurückkehren und Thomas hatte jetzt auch eine eigene Familie, um die er sich kümmern musste. Anthony erkannte, dass er ähnlich wie Nathaniel Angst hatte, dass er danach alleine sein würde. Aber als er Viola bemerkte, die sich an seinem Arm festhielt, da wich diese Angst wieder. So ein Unsinn, er würde nie wieder so einsam sein wie vor wenigen Monaten, bevor Mary versucht hatte, ihn umzubringen und er im Traumlabyrinth Viola getroffen und seinen alten Freund Vincent wiedergefunden hatte. Er würde nie wieder alleine sein, denn er hatte eine Familie und er war auch nicht mehr durch seine Krankheit eingeschränkt. Sein Haus war durch Pristine und ihren Leuten zerstört worden, aber spielte auch keine Rolle mehr. Er würde in sein Elternhaus zurückkehren und gemeinsam mit seinem Halbbruder, Viola, Evan und Vincent zusammenleben. Nach all der Zeit würde er wieder in Deutschland leben und wer weiß, vielleicht würden Thomas und Hannah in die Nachbarschaft ziehen. Dieser Gedanke hatte etwas so Wunderbares, dass er ihm noch ewig nachgegangen wäre, wenn das Gespräch gerade nicht so ungeheuer wichtig war. „Ich werde persönlich Sorge tragen, dass keiner von euch etwas zu befürchten hat, dass euch seitens Thule, des alten Kultes oder irgendeiner Regierung oder Organisation Gefahr drohen könnte. Das ist mein Versprechen an euch.“ „Und was ist mit den Mischlingen, die Pristine gefangen gehalten hat?“ fragte Cedric schließlich. „Sie haben immerhin kein Zuhause und keine Familie.“ „Auch darum habe ich mich bereits gekümmert“, erklärte Eli und sah kurz zu Christine, die ihm beipflichtend zunickte. „Da ich wieder zurück bin, werde ich wieder die Führung über unseren Kult übernehmen und versuchen, all das wieder zu richten, was Pristine getan hat. Ich werde wieder nach Hause zurückkehren und den Mischlingen, die kein Zuhause haben, eines geben und mich um sie kümmern. Ich habe schon mit Christine gesprochen. Sie wird mit mir mitkommen und mir dabei helfen. Wir wollten das aber nicht tun, ohne vorher mit dir Rücksprache zu halten, Johnny.“ Der Verletzte hob die Augenbrauen und sein Blick wirkte nicht gerade erstaunt oder fragend, sondern eher danach, als wolle er fragen „Wollt ihr mich verarschen?“ oder „Habt ihr sie noch alle?“ Schließlich wanderte sein Blick zu seiner Ziehmutter und mit seinem für ihn absolut typischen frechen Tonfall fragte er „Braucht ihr etwa meine Erlaubnis dafür, oder was?“ „Wir wollen bloß wissen, was du tun willst. Möchtest du mit uns nach Hause kommen, oder hier bleiben?“ „Ich bin schon Zuhause, Leute. Macht euch mal um mich keine Sorgen, ich bin kein kleiner Junge mehr, auf den man unbedingt aufpassen muss.“ „Da bin ich mir nicht so sicher“, kommentierte Harvey und Chris nickte zustimmend. „Man hat ja gesehen was passiert, wenn man dich alleine lässt.“ Es war allzu klar, dass die beiden ihn bloß aufziehen wollten und das gefiel Johnny überhaupt nicht. Er wollte schon einen frechen (und sicher auch vulgären) Kommentar loswerden, aber Anthony reagierte dieses Mal schnell genug, um seinem Halbbruder die Ohren zuzuhalten, um ihm das zu ersparen. Eli betrachtete seinen Enkel mit leichter Sorge. „Wirst du es wirklich ganz alleine schaffen?“ „Er ist nicht allein, keine Sorge“, meldete sich nun Chris. „Harvey und ich werden uns schon um ihn kümmern. Wir beide haben ihn trotz seines miesen Charakters all die Zeit ertragen, dann schaffen wir das auch in Zukunft. Außerdem hat er schon so viel für uns getan, da können wir uns auch endlich mal revanchieren.“ Auch Christine war froh als sie hörte, dass ihr Neffe nicht ganz so alleine war wie in der Vergangenheit. Obwohl er sich wirklich unmöglich aufführte und nur Blödsinn im Kopf hatte, sorgte er sich doch sehr um Harvey und Chris und hatte viel für die beiden getan und riskiert. In harten Zeiten hatte er ihnen zur Seite gestanden und Harvey mehr als ein Mal das Leben gerettet. Er war bereit gewesen, sein Leben zu opfern, damit seine Freunde leben konnten und ohne ihn wäre Chris jetzt nicht in dieser Form hier. Zwar tat er jetzt so als wäre er absolut genervt, weil die beiden ihn jetzt bemutterten, aber tief in seinem Inneren war er doch froh, dass er in dieser Welt ein Zuhause hatte. Schließlich wandte sich Eli an Cedric und Ezra. „Euch möchte ich auch noch mal danken, dass ihr Johnny und den gefangenen Mischlingen geholfen habt. Was werdet ihr beide denn nun machen, da Thule nicht mehr existiert?“ Auf diese Frage hatte Cedric schnell eine Antwort. „Ich werde wieder meinem Beruf als Detektiv für paranormale Phänomene nachgehen, so wie vorher auch. Und Ezra wird mir zur Seite stehen.“ „Ich dachte, du wärst Zirkusartistin.“ „War ich mal. Jetzt arbeite ich als Cedrics Partner und Assistent.“ „Äh… Moment mal… „Artistin“? Ezra ist mein älterer Bruder und kein Mädchen.“ Cedrics Blick wanderte zu Ezra, der völlig ungerührt war und desinteressiert dreinschaute. Eli hob erstaunt die Augenbrauen. „Habe ich etwa versehentlich ein Geheimnis ausgeplaudert?“ Nun sprang Cedric auf und sein Gesicht war bleich vor Entsetzen. „Ezra, sag mir jetzt bloß nicht, dass du in Wahrheit ein Mädchen bist.“ „Nun, im Grunde bin ich deine biologische Schwester. Ich hab damals den Körper eines Jungen angenommen, um dich besser beschützen zu können und weil es mehr Vorteile brachte, kein Mädchen zu sein.“ „Und du hast einfach behauptet, du wärst mein Bruder? Oh verdammte Scheiße. Wenn ich daran denke, dass wir…“ Er wurde hochrot vor Scham und er sah aus, als wollte er am liebsten im Boden versinken. „Ich glaub es nicht… Ezra ist ein Mädchen. Und du hast mich sogar schon nackt gesehen!!!“ Gleichgültig und völlig gelassen zuckte Ezra mit den Achseln und erklärte „Na und? Ist doch nichts dabei.“ Das wurde Cedric nun endgültig zu viel und er musste gehen. Eli war dies mehr als peinlich, denn er hätte mit so etwas nicht gerechnet. Offenbar hatte er nicht gewusst, dass Cedric sich gar nicht an seine Kindheit erinnern konnte und somit nicht mal wusste, dass Ezra in Wahrheit seine Schwester war, die zu seinem Schutz den Körper eines Jungen annahm. Aber zumindest erklärte das für Anthony und die anderen diese seltsame Szene im Thule-Hauptquartier, als Ezra Thomas so verliebt angestarrt und von ihm geschwärmt hatte, weil dieser ihn bzw. sie an einen Anime-Charakter erinnert hatte. Zuerst hatte Anthony gedacht, Ezra sei irgendwie seltsam drauf oder vom anderen Ufer, aber jetzt hatten sie die Antwort: Ezra war ein Mädchen mit dem Körper eines Jungen. Irgendwie eine echt schräge Situation. Johnny hingegen konnte sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen und dabei kamen ihm sogar die Tränen. Für ihn war das natürlich witziger als jede Komödie und auch Christine musste sich ein Lachen verkneifen. Eli räusperte sich und versuchte schnell, diese Peinlichkeit zu beheben, indem er schnell das Thema wechselte. „Nun, es scheint so, als bräuchte ich mir keine Sorgen machen, dass irgendjemand in dieser Runde nach dieser ganzen Sache alleine da stehen könnte. Bestehen von eurer Seite noch irgendwelche Fragen?“ Sofort meldete sich Anthony und sagte „Ich würde gerne die ganze Sache erklärt haben. Was es mit diesem Kult auf sich hat, was er bezweckt und wie das alles mit uns und den Dream Weaver zusammenhängt.“ Nathaniel und Sally berichteten daraufhin von ihrer Begegnung mit Elyssia und Azarias und was sie von ihnen erfahren hatten. Dass die Nekromanten und Vivomanten der Ursprung der Seele waren und wie Ribals Reinkarnation die beiden verfeindeten Gruppen vereinte. Er erzählte auch, wie Azarias und Elyssia daraufhin die Gestalt von Schlangen angenommen hatten, um die Reinkarnation ihres Freundes zu beschützen und ihm zur Seite zu stehen und wie sie somit zu Nekros und Vivus wurden. Und letztlich erzählten sie auch, welche Rolle sie bei dieser ganzen Geschichte unbewusst gespielt hatten. Als sie fertig waren, fragte Anthony „Verstehe ich das richtig? Sally ist die Reinkarnation von Elyssia und Nathaniel die von Azarias?“ „So könnte man das tatsächlich sehen.“ „Das heißt, die beiden stammen von den allerältesten Wesen ab, die den Ursprung der Seele verkörpern?“ Auch das bestätigte Eli und ergänzte „Azarias und Elyssia sind der Ursprung von Positiv und Negativ und dank Ribal auch der Ursprung der Seele. Die Dream Weaver sind der Ursprung der Träume und eines eigenständigen Bewusstseins. Sie haben alle dieselbe Abstammung und die Dream Weaver sind sozusagen Artverwandte von uns, haben sich aber schon vor sehr langer Zeit von uns abgekapselt. Es existieren aber einige Parallelen zwischen uns, wenn man genau hinsieht.“ „Parallelen?“ „Die Dream Weaver und die Traumfresser“, erklärte Viola, die sofort verstanden hatte, was Eli sagen wollte und erklärte es Thomas und den anderen. „Die Dream Weaver spalten ihre negative Seite ab, um sich ihre Reinheit und Unschuld zu bewahren. Das Produkt sind die Traumfresser, vollkommen destruktive Wesen. Im Grunde sind die Dream Weaver und Traumfresser nicht anders als Azarias und Elyssia! Und Amara ist ein Mischling, genauso wie Johnny.“ „Ganz richtig. Die höheren Wesen und die Dream Weaver haben sich in verschiedene Richtungen entwickelt und immer weiter voneinander entfernt. Man könnte die Evolution als gutes Beispiel nehmen: Zwei verschiedene Tierarten, die aber in der Vergangenheit denselben Ursprung haben. Während sich unser Kult darum bemüht hat, Gegensätze zu vereinen und in Einklang zu bringen, haben die Dream Weaver an ihrer Überzeugung festgehalten, dass man streng Positives und Negatives voneinander trennen muss.“ „Aber Dagon Pheres hat eine Menschenfrau geliebt und seine Tochter Lucy war ein Mischling. Sie wollte die Gegensätze vereinen und diese alten Regeln und Traditionen ändern, weil sie auch mir eine Zukunft geben wollte. Ich bin ja auch ein Mischling wie sie. Im Grunde war Lucy ähnlich wie Ribal, aber sie wurde von Belphegor verraten, der ihre Idee für seine egoistischen Machtzwecke benutzen wollte. Wäre er nicht gewesen, hätte Lucy es vielleicht geschafft, die Dream Weaver davon abzuhalten, ihre negative Seite abzustoßen und zu vernichten. Dank Belphegor kam es aber zu den Traumkriegen, bei denen die Dream Weaver fast vollständig ausgelöscht wurden. Lucy verlor ihr Gedächtnis und wurde zu Viola und ich wurde für von ihm und Thule für seine kriminellen Machenschaften benutzt.“ „So kann es enden, wenn Mächte wie Belphegor ins Spiel kommen. Aber schließlich ging es doch dank eurer Zusammenarbeit gut aus und Belphegor konnte das Handwerk gelegt werden.“ „Dann gehört Viola also irgendwie auch zum alten Kult?“ Für Anthony war das alles immer noch ziemlich umfangreich und teilweise schwer nachzuvollziehen, aber so allmählich verstand er doch die ganzen Zusammenhänge. Sally und Nathaniel waren so etwas wie die Reinkarnationen von Azarias und Elyssia und somit der Ursprung der Seele. Viola und Amara gehörten ebenfalls dem alten Kult an und Erstere war sozusagen der Ursprung der Träume und eines eigenständigen Bewusstseins. Eli war die Reinkarnation von Ribal, der einst die Gegensätze zusammengeführt und die erste Seele erschaffen hat und er führte zwei verfeindete Gruppierungen zusammen, woraus schließlich dieser eine Kult entstand. Die Dream Weaver gehörten ebenfalls dazu, hatten aber damit kaum noch etwas zu tun, weil sie sich von den höheren Wesen in ihrer Entwicklung entfernt hatten und andere Wege wählten. Christine und Pristine verkörperten ähnlich wie Azarias und Elyssia zwei Gegensätze, die nicht aus eigener Kraft miteinander harmonieren konnten und deshalb brauchten sie ihren Vater Eli. Johnny war als Mischling zur Welt gekommen, um den Platz seines Großvaters einzunehmen, doch er schaffte es aber nicht. Also ließ Eli die Nekromanten und Vivomanten zurückkehren, damit diese eines Tages bei seine Rückkehr ermöglichen konnten. Nur er wäre in der Lage gewesen, die Zwillinge wieder in Einklang zu bringen und diese ständigen Auseinandersetzungen zu beenden. Eli erklärte schließlich „Das Wissen um den Ursprung unseres Kults geriet mit meinem Tod immer weiter in Vergessenheit und nur wenige wussten um die Wahrheit. Seine Bedeutung wurde ebenso vergessen und Pristine interpretierte die Geschichte falsch und legte sie ganz nach ihren Vorstellungen aus. Ich wollte das schon zu Lebzeiten verhindern, indem ich die Wahrheit und die Legenden niemals aufschreiben ließ. Papier ist geduldig und es passiert in vielen Religionen so, dass es falsch ausgelegt wird und die Gelehrten die Unwissenden nach ihrem Willen damit manipulieren. Ich habe mich bemüht, diesen Fehler nicht zu machen, aber in der Hinsicht habe ich meine Jüngste leider unterschätzt und als ich lange Zeit in der Zwischenwelt war, konnte ich auch nichts tun, um sie daran zu hindern. Glücklicherweise konnte ich mich auf Christine und Johnny verlassen.“ „Und wozu das Buch mit den sieben Siegeln?“ „Ich wurde mit der Kraft geboren, die Ribal einst in sich aufnahm und ähnlich wie Johnny drohte diese, meinen Körper zu zerstören und so musste ich sie versiegeln. Außerdem gelang es mir somit, sie kontrolliert einzusetzen. Als ich alleine in den Krieg zog, um meine Freunde und meine Familie zu beschützen, setzte ich es ein und zahlte als Preis dafür mit meinem Leben.“ „Und wo ist diese Kraft jetzt?“ „Dank Nekros und Vivus kann ich sie unter Kontrolle halten, ohne dass sie meinen Körper zerstören könnte. Das bedeutet also, dass niemand mehr von euch befürchten muss, dass jemand das Buch für seine Zwecke missbrauchen könnte.“ Erleichtert atmeten sie alle aus und überglücklich fielen Viola und Evan Anthony und Vincent in die Arme, während Amara Thomas und Hannah umarmte. Sally und Nathaniel, die inzwischen eine sehr enge Freundschaft zueinander hatten, freuten sich auch gemeinsam und Christine beobachtete zufrieden, wie glücklich sie alle waren. Nur Johnny tat natürlich so, als ginge ihm das am Allerwertesten vorbei, aber sogleich wurde er scherzhaft von Chris und Harvey geneckt. Endlich hatten sie alle endgültig realisiert, dass dieser Alptraum für immer vorbei war. Anthony, Hannah, Thomas und Vincent hatten 60 Jahre lang auf diesen Augenblick warten müssen, die Nichtmenschen unter ihnen sogar viel länger. Einige von ihnen hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals aufhören könnte, aber nun war dieser Moment endlich da. Sie waren endlich frei! Epilog: Neue Wege, neue Ziele ----------------------------- Nachdem sie eine Weile noch in der Privatklinik verbracht hatten, um sich von dem Kampf gegen Thule zu erholen, gingen die meisten ihrer Wege, um sich ihren neuen Zielen zu widmen. Eli und Christine verabschiedeten sich von den anderen und kehrten nach Hause zurück, wo sie sich um die heimatlosen Mischlinge kümmern wollten, die Pristine eingesperrt und gefoltert hatte. Zuerst hatten sie noch Sorge wegen Johnny gehabt, aber Harvey und Chris hatten versichert, dass sie sich gut um ihn kümmern würden, auch was seine Reha betraf. Tatsächlich dauerte es noch sehr lange, bis sich Johnnys Körper vollständig erholt hatte, obwohl seine Wunden schneller verheilten als bei einem normalen Menschen. Aber man musste sich auch vor Augen halten, dass Sally damals gestorben war, allein weil sie die Kraft ihres Schlüssels benutzt hatte. Und Johnny hatte nicht nur die Kraft der Schlüssel eingesetzt, sondern auch zwei Siegel geöffnet. Das Öffnen des dritten Siegels wäre schon tödlich für ihn gewesen. Er hatte Glück gehabt, dass er überhaupt noch lebte. Aber zumindest hatte er zwei gute Freunde, die sich um ihn kümmerten. Die beiden Schauspieler aus Leidenschaft kehrten zu ihrem eigentlichen Traum zurück, auf den größten Bühnen der Welt aufzutreten und das zu tun, was sie am Besten konnten. Seine zweifelhafte Karriere als „The Skinner“ hatte Harvey aufgegeben und er wollte auch keine Menschen mehr töten. Stattdessen hatte Johnny die Idee, dass er seine Gabe nutzen konnte, den Medien Hinweise zukommen zu lassen, was die kriminellen Machenschaften von Prominenten und Politikern betraf. So wurde das Bewusstsein der Bevölkerung geweckt, ohne Menschenleben einzufordern. Dies zeigte tatsächlich Wirkung, als ans Tageslicht kam, dass ein hochrangiger Politiker im Besitz von Kinderpornographie war und es daraufhin einen gewaltigen Skandal gab. Und tatsächlich gab es noch einige Internet-User, die sich Johnnys und Harveys Gruppe „The Watchers“ anschlossen. Insbesondere Chris war heilfroh, dass Harvey endlich aufhörte, sich selbst diese schrecklichen Dinge anzutun und darunter zu leiden. Er selbst hatte da andere Pläne und gründete eine Stiftung für Opfer von Polizeigewalt und fand erstaunlich schnell erste Sponsoren und Interessenten. Dabei war besonders Johnny eine große Hilfe. Cedric und Ezra hielten noch Kontakt zu den anderen, insbesondere zu Johnny und arbeiteten tatsächlich als Detektive für paranormale Phänomene. Schließlich erklärte sich auch, was es mit Ezras Geheimniskrämerei auf sich hatte: Tatsächlich war sie Cedrics ältere Schwester und hatte sich nach dem Tod der Eltern als großer Bruder um ihn gekümmert. Da zu der damaligen Zeit Mädchen immer unterdrückt wurden und Ezra einen Weg finden wollte, um ihren Bruder zu beschützen und andere Mischlinge zu retten, machte Eneos sie vollständig zu einem Jungen. Das hatte für sie den Vorteil, dass man sie ernst nahm und sich Cedric beschützen ließ, ohne diese typischen Komplexe zu bekommen. Nach einem klärenden Gespräch hatte Cedric eingesehen gehabt, wieso seine Schwester das getan hatte und akzeptierte, dass Ezra nicht als schwächliches Mädchen angesehen und auch nicht als solches behandelt werden wollte. Und da Ezra auch sonst überhaupt kein mädchentypisches Verhalten hatte (außer natürlich ihre Leidenschaft für Yaois), fiel es ihm auch nicht sonderlich schwer, Ezra weiterhin wie einen großen Bruder zu behandeln. Trotzdem musste Johnny jedes Mal lachen, wenn er die beiden sah und zog Cedric noch eine ganze Weile damit auf, dass er nicht gewusst hatte, dass sein großer Bruder in Wahrheit seine ältere Schwester war. Den anderen fiel es etwas schwer, Ezra zu verstehen, aber das war nun mal ihr Charakter: Sie war absolut unkompliziert und tat einfach das, was man ihr sagte oder was sie selbst für richtig hielt, ohne großartig darüber zu grübeln oder zu diskutieren. Außerdem konnte man schon verstehen, warum sie diese Entscheidung getroffen hatte. Sie war körperlich deutlich stärker als Cedric, viel widerstandsfähiger und nahm deshalb automatisch die Rolle des Beschützers ein. Und Cedric wäre es viel leichter gefallen, dies zu akzeptieren, wenn er dachte, Ezra wäre ein Junge. Amara, Nathaniel und Evan fiel es am schwersten, diese Sache zu verstehen, aber sie akzeptierten einfach, dass Ezra für sie alle nach wie vor ein Junge war und redeten sie auch weiterhin so an. Anthony hielt sein Versprechen und kehrte mit seinem Halbbruder nach Hause zurück. Vincent, Evan und Viola folgten ihm und zogen in die Villa ein. Für Nathaniel war es die wohl schönste Freude, die man ihm machen konnte und er kam gar nicht mehr aus seiner Euphorie heraus. Und für sie alle war es besonders eine Freude, dass Thomas und Hannah tatsächlich in die Nachbarschaft zogen. So konnte Amara immer zu Besuch kommen und Anthony und Vincent halfen ihr beim Deutschlernen und unterstützten die gesundheitlich immer noch etwas angeschlagene Hannah. Seiner Familie zuliebe hängte Thomas seinen Job als Auftragskiller an den Nagel und fand nach einer Weile eine gut bezahlte Stelle bei einer Sicherheitsagentur. Da er schlecht seine originalen Papiere vorzeigen konnte (und somit offenbarte, dass er in Wahrheit über 80 Jahre alt war), ließ er sich gefälschte Dokumente anfertigen und diese bekam er von Christine. Das war ihr persönliches Abschiedsgeschenk an ihn und weil sie ihn als guten Freund gern hatte. Hannah hingegen blieb Hausfrau, um sich um Noah und Amara zu kümmern. Außerdem war sie schon mit den ganzen Dingen teilweise überfordert, die sich in den vergangenen 58 Jahren geändert hatten. Da sie in der Gestalt von Umbra nicht bei Bewusstsein gewesen war, war ihr diese Welt völlig fremd und unbekannt. Im März heiratete sie Thomas schließlich und nahm seinen Nachnamen an. Zu diesem Anlass kamen sie alle noch mal zusammen, auch Cedric, Ezra, Christine und Eli. Die Tatsache, dass weder Hannahs noch Thomas Familie anwesend sein konnten (weil sie noch nie eine hatten), war ihnen völlig egal. Anthony und die anderen waren ja jetzt ihre Familie! Anthony war natürlich der Trauzeuge und überraschenderweise wurde auch Amara gefragt, ob sie die zweite Trauzeugin sein wollte. Als sie das hörte, begann sie zu weinen und konnte nur mit Mühe wieder beruhigt werden. Sie war so überglücklich, dass sie kaum ein „ja“ zustande brachte. Ihr Name wurde übrigens auch zu Amara Stadtfeld geändert, damit sie gänzlich zu einem Teil der Familie Stadtfeld werden konnte. Auch bei den anderen gab es einige Veränderungen bezüglich der Namen. So wurde Nathaniels Nachname von Helmstedter zu Winter geändert, Viola änderte ihren von Smith zu Rose, da sie nun offiziell als Vincents Pflegekind eingetragen war, Evan änderte seinen auch in die Richtung. Während Thomas und Hannah in den Flitterwochen waren, nahm Anthony Amara und Noah solange zu sich, um den frisch Getrauten ihr gemeinsames Glück zu gönnen. Vincent konzentrierte sich weiterhin auf seine Ausbildung zum Hypnotherapeuten und natürlich bestand er wie zuvor schon Anthony aufgrund seiner Fähigkeiten als Jahrgangsbester, weil ihm seine Fähigkeiten als Konstrukteur zugute kamen. Nun konnte er genauso wie sein bester Freund seine Gabe zu einem sinnvollen Zweck anwenden, ohne dass er dabei aufflog. Die größte Veränderung von allen machte aber wahrscheinlich Anthony mit. Jetzt, da er sich nicht mehr vor dem Tageslicht verstecken musste, konnte er endlich angstfrei nach draußen gehen. Kurz, nachdem Hannah und Thomas aus ihren Flitterwochen zurückkamen, machte er mit seinem Halbbruder eine Weltreise. So konnten sie beide endlich die Welt sehen, die ihnen so viele Jahrzehnte verborgen blieb. Was Nathaniel betraf, so versuchten Anthony und Vincent noch eine Zeit lang, ihm zu helfen und ihn mittels Hypnose von seinem Zustand als Kind zu befreien. Aber keiner von ihnen konnte etwas gegen die Kräfte dieses Jungen ausrichten und so war Nathaniel dazu verdammt, für alle Zeit ein kleines Kind zu bleiben, das niemals erwachsen werden konnte und das für immer auf andere angewiesen sein würde. Er selbst hatte damit kein Problem und er hatte ja Anthony und seinen treuen Diener, Lehrer und Spielgefährten Amducias. Außerdem war ja auch Johnny da, der so etwas wie sein großer Bruder war. Aber da Viola und Evan auch niemals erwachsen werden konnten, machte es keinen großen Unterschied und solange Nathaniel glücklich war, brauchte sich auch Anthony keine Sorgen zu machen. Knapp ein halbes Jahr später erhielten sie alle schließlich eine Einladung zu einer Theatervorstellung in Würzburg, wo Harvey und Chris gemeinsam in dem Stück „Viel Lärm um Nichts“ auftreten würden. Als Krönung des Ganzen spielte sogar Christine mit, welche die Rolle der frechen und selbstbewussten Beatrice hatte. Da das Theaterstück auf Deutsch war und Evan, Amara und Viola kaum etwas verstehen konnten, blieben sie in der Villa von Nathaniel. Amducias kümmerte sich derweil um den kleinen Noah und Ezra passte auf die anderen drei auf. Ezra, die überhaupt nichts von Kultur hielt und bei Theatervorstellungen gewöhnlich einschlief, hatte sowieso keine große Lust dazu. Und während sich Viola und Amara sämtliche Sailor Moon DVDs von Ezra anschauten, zockte diese derweil „Super Street Fighter“ mit Evan und gewann jedes Mal haushoch. Cedric hingegen folgte der Einladung der beiden Schauspieler, weil er auch unter anderem seinen alten Freund Johnny wieder sehen wollte (auch auf die Gefahr hin, dass er wieder wegen der Sache mit Ezras Enthüllung in lautes Gelächter ausbrechen würde). Nathaniel selbst kam mit, weil er unbedingt wissen wollte, was Theater ist und was man da machte. Anthony nahm ihn mit, nachdem Harvey und Chris versichert hatten, dass es eine Komödie war und keine Tragödie wie Romeo und Julia, wo am Ende fast alle starben. Sonst hätte der Ärmste noch nächtelang Alpträume gehabt. Es war ein lustiger und unterhaltsamer Abend, wo es zwischendurch immer wieder was zu lachen gab. Nur Thomas verzog nicht einmal die Miene, aber das war auch nichts Ungewöhnliches für ihn. Das meiste Gelächter kam natürlich von Johnny selbst. Dieser konnte inzwischen wieder ohne Rollstuhl laufen, war aber immer noch nicht in der Lage, seinen Arm zu bewegen und sowohl dieser als auch weitere Teile seines Körpers waren noch bandagiert. Zudem musste er sich immer noch regelmäßig untersuchen lassen (Harvey und Chris mussten ihn förmlich hinschleifen, weil er sich partout nicht von Eneos untersuchen lassen wollte), aber seine Reha machte schon deutlich Fortschritte. Er hatte ja auch wunderbare Freunde, die seine Launen ertrugen, ihn auch mal in die Schranken wiesen, aber auch für ihn da waren. Da er inzwischen auch keine Schmerzen mehr litt, hatte Johnny auf Anraten seiner beiden Freunde eine Selbsthilfegruppe für Medikamentenabhängige aufgesucht und einen Entzug gemacht. Lange Zeit war er auf Schmerzmittel angewiesen gewesen, weil seine alte Brandverletzung am Rücken entsetzlich schmerzte und jetzt, da diese Verletzung für immer weg war, brauchte er diese Medikamente auch nicht mehr. Den Entzug hatte er in Eneos’ Klinik gemacht und es war eine wirklich harte Zeit für ihn gewesen, aber er ließ sich wie immer nie etwas anmerken und tat so, als wäre alles in bester Ordnung. In den ersten Wochen sah er wirklich beängstigend blass und schwach aus und hatte auch deutlich abgebaut. Aber inzwischen sah er wieder sehr gesund aus und war jetzt seit gut fünf Monaten clean. Zu hören, dass er gegen seine Schmerzmittelsucht kämpfte, war besonders für seine Tante und seinem Großvater eine große Erleichterung. Beim großen Wiedersehen waren alle bei bester Laune und natürlich war auch die Freude groß. Vor der Vorstellung wurde viel geredet, nur Christine, Harvey und Chris waren nicht da, weil sie sich vorbereiten mussten. Die Aufführung selbst war großartig und Harvey als Claudio spielte seine Rolle so gut, dass man wirklich glauben konnte, als wäre er nie jemand anderes gewesen. Chris selbst hatte sich so gut verkleidet, dass man ihn erst gar nicht unter den vielen Schauspielern erkennen konnte, bis sich ganz am Ende herausstellte, dass er sich als Hero verkleidet hatte, Claudios Angebetete. Er hatte seine Stimme so gut verstellt und da er sowieso sehr androgyn aussah, war es niemandem aufgefallen. Nur Johnny hatte natürlich alles gewusst und wie immer geschwiegen. Sie waren allesamt sprachlos, als nach der Vorstellung die einzelnen Schauspieler noch mal mitsamt ihrer Rolle vorgestellt wurden und erfuhren, dass Claudio und Hero von niemand anderem gespielt wurden, als vom größten Theater-Duo Chris und Harvey Charles Dullahan. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)