Creepypasta Extra 3: Last Judgement von Sky- (Die Thule-Verschwörung) ================================================================================ Kapitel 14: Das Ende von Thule ------------------------------ Während Anthony den leblosen Körper seines Halbbruders im Arm hielt, beobachtete er, wie Pristine regelrecht in die Mangel genommen wurde. Dieser „Eli“, wie Christine ihn nannte, war unfassbar stark. Weder Christine noch Johnny hatten die Kraft besessen, Pristine dauerhaft in die Knie zu zwingen. Selbst als Johnny die ersten beiden Siegel geöffnet und damit eine unvorstellbar starke Kraft entfesselt hatte, konnte er kaum etwas gegen sie ausrichten. Und bei Eli brauchte es nur eine Ohrfeige und zwei gezielte Schläge, um sie in die Knie zu zwingen. Stellte sich nur die Frage, was nun passieren würde. Was würde mit Pristine geschehen und was würde aus Nathaniel und Sally werden? So viele Fragen, aber im Moment hatte Anthony insgeheim Angst davor, die Aufmerksamkeit dieser Leute auf sich zu ziehen. Es war momentan besser, wenn die Familie unter sich blieb und alle anderen außen vor blieben. Sie hätten sowieso nicht den Hauch einer Chance. Thomas, Cedric und Ezra blieben trotzdem in Bereitschaft, sollten die Soldaten versuchen, sie anzugreifen. Eneos kümmerte sich derweil um Christine, die von ihrem Vater erst einmal weggeschickt wurde, weil er die Situation alleine klären wollte. Sie blutete aus diversen Wunden und war völlig am Ende ihrer Kräfte. Diese Pfähle waren wirklich gefährliche Waffen, die sogar jemanden wie sie ernsthaft verletzen konnten und nun mussten diese Wunden erst einmal verarztet werden. Auch hier zeigte Eneos ein nicht gerade geringes Maß an Sadismus, was ihn mit jeder Sekunde nur noch unsympathischer machte. Vincent blieb bei Anthony und wirkte sichtlich nervös. „Was glaubst du, wie es wohl weitergehen wird?“ „Frag mich das nicht, ich blicke bei dieser ganzen Sache sowieso kaum noch durch.“ „Das kann ich euch sagen“, meldete sich Johnny und schluckte noch ein paar Vicodintabletten, um den Schmerz zu betäuben. „Wenn jemand Pristine in die Schranken weisen kann, dann mein Großvater. Entweder wird er ihr komplettes Gedächtnis löschen, oder er sperrt sie weg. Vielleicht macht er auch beides. Töten kann er sie ja nicht, das würde er auch nicht machen, selbst wenn es Christine nicht das Leben kosten würde. Und außerdem wird…“ Johnny schaffte es nicht, weiterzusprechen, da er einen heftigen Hustkrampf bekam und Blut hervorwürgte. Zwar war diese Kraft, die seinen Körper regelrecht zerfressen hatte, wieder im Buch versiegelt, aber er hatte trotzdem ziemlich viel einstecken müssen. Er müsste eigentlich sofort in ein Krankenhaus, aber er ließ sich einfach nichts anmerken, was mal wieder typisch für ihn war. Stattdessen riskierte er wie immer eine dicke Lippe und machte auf obercool. Eine Erschütterung ging durch die Anlage, als Pristine plötzlich zum Angriff ansetzte und mit der Armbrust auf ihren Vater schoss. „Ist die denn völlig verrückt geworden?“ rief Christine und wollte schon losgehen, doch Eneos hielt sie mit aller Gewalt zurück. „Hör sofort auf mit dem Scheiß, Pristine!!!“ Mehrere Pfeile wurden abgefeuert, doch Eli wehrte sie alle mit seinem Stab ab, dann setzte er zum Gegenschlag an. Ohne große Kraftanstrengung schlug er Pristine den Stab gegen den Kopf und stieß ihn ihr daraufhin in die Brust. „Lass es sein“, sagte er ruhig und ernst, ohne laut zu werden. „Akzeptier endlich, dass du verloren hast und übernimm endlich die Verantwortung für das, was du getan hast. Du allein wirst dafür gerade stehen und für deine Verbrechen büßen.“ Die beiden Schläge hatten sie hart getroffen und sie wankte, während sie nach Luft schnappte. Sie hob die Armbrust, um erneut zu schießen, doch ein weiterer Schlag auf ihren Arm genügte, dass sie die Waffe fallen ließ. Laut schrie sie vor Schmerz auf und es sah so aus, als hätte Eli ihr mit dem Schlag den Arm gebrochen. Doch er zeigte keine Gnade und kein Mitleid. Diese Ruhe, die er ausstrahlte, war schon fast beängstigend und obwohl er überhaupt nicht aggressiv oder grausam war, jagte er Anthony eine noch größere Gänsehaut ein, als diese verrückte Pristine. Etwas Autoritäres und Erhabenes ging von ihm aus und ihn wollte der Konstrukteur lieber nicht zum Feind haben. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, wozu erst der Vater dieser Zwillinge in der Lage war, wenn er tatsächlich dieses Buch erschaffen hatte. Eli, der immer noch die Ruhe selbst war, packte seine Tochter am Kragen und riss sie von den Füßen. Sein Blick verdüsterte sich merklich. So einfach würde er Pristine nicht davonkommen lassen. So viel stand schon mal fest. „Für das, was du getan hast, wird selbst der Tod nicht ausreichend sein. Du hast so viele Leben ausgelöscht oder ins Unglück gestürzt… Nicht bloß allein Mischlinge, sondern auch Menschen. All das Leid, das du über diese Welt gebracht hast, wirst du zur Strafe am eigenen Leib zu spüren bekommen.“ „V-Vater, was… was hast du mit mir vor?“ „Du wirst meinen Platz in der Zwischenwelt einnehmen und das so lange, bis du dich nicht einmal mehr an deinen eigenen Namen erinnern kannst. Genauso wie ich wirst du dort in der völligen Einsamkeit ausharren, niemals einen Menschen oder ein anderes Wesen zu Gesicht bekommen und dann genug Zeit haben, über all das nachzudenken, was du getan hast.“ Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. „Das… das kannst du nicht tun! Ich bin deine Tochter und ich habe nur getan, was nötig war!“ Sie wehrte sich nach Leibeskräften, aber ihr Vater war einfach zu stark für sie. „Das war noch nicht alles“, sagte Eli schließlich nach einer Weile. „Was du deinem Kind angetan hast, ist auch noch mal eine Sache für sich und ein besonders schweres Vergehen, was ich dir niemals verzeihen kann. Deshalb wird dir noch eine zusätzliche Strafe auferlegt: Du wirst seine Wunden und all seine Schmerzen mit dir nehmen. Sie werden dich immer begleiten und dich an deine Verbrechen erinnern. Und die Schmerzen, die er jetzt in diesem Moment erdulden muss, werden dir solange zur Last gelegt, bis du endlich dein eigenes Kind lieben lernst!“ Nun geriet Pristine endgültig in Panik. Sie wusste, was sie Johnny alles angetan und zugemutet hatte, aber das hatte sie nie sonderlich gejuckt. Aber diese Schmerzen all die Zeit ertragen zu müssen, während sie in der Zwischenwelt gefangen sein würde, war eine entsetzliche Vorstellung. Das würde sie nicht durchstehen, sie würde verrückt werden! „Nein bitte Vater. Bitte tu mir das nicht an, ich bin doch dein Kind!“ „Ich weiß“, sagte er ruhig und so wie er aussah, würde er es trotzdem tun. „Deshalb vergiss niemals, dass es mir genauso wehtun wird wie dir.“ Christine wandte den Blick ab und konnte das einfach nicht mit ansehen, wie ihre jüngere Zwillingsschwester in Panik verfiel und schrie, als etwas sie packte und mit sich fortriss. Ihr Schreien erstarb und nur Eli blieb zurück, der den Blick senkte und irgendwie sehr traurig wirkte. Schließlich kam er auf die anderen zu und nahm Christine in den Arm. „Es tut mir wirklich Leid… Ich wünschte, ich hätte viel früher zurückkehren können.“ „Schon gut, du kannst nichts dafür. Ich muss mich entschuldigen, dass ich meine Schwester nicht aufhalten konnte.“ „Du hast getan, was du konntest und Hauptsache ist, dass du und Johnny leben. Ich bin wirklich stolz auf dich.“ Sie nickte und schluchzte leise. Schließlich ging Eli zu Anthony und Johnny und kniete sich hin, um ihnen in die Augen zu sehen. „Wie geht es dir, Junge?“ In seiner typisch frechen Art setzte Johnny ein Grinsen auf und erklärte „Mir ging es noch nie besser, verdammt. Aber… was ist jetzt mit Nathaniel und Sally?“ „Es geht ihnen gut, keine Sorge. Sie wachen bald wieder auf und werden euch alle Fragen beantworten. Ich werde diese Angelegenheit klären und dafür sorgen, dass Thule für immer vom Angesicht der Welt verschwindet und ihr nichts mehr in dieser Richtung zu befürchten haben müsst. Die meisten von euch sind sicherlich erschöpft und verletzt.“ Schließlich wurde der traurige Blick zu einem Lächeln und Eli streichelte ihm liebevoll und fast väterlich den Kopf. „Ich bin wirklich stolz auf dich, Johnny. Und bitte entschuldige, dass ich dir das alles aufbürden musste.“ „Ach scheiß drauf“, brachte Johnny hervor und lachte etwas gequält. „Hauptsache ist doch, wir haben es geschafft und es ist endlich wieder Ruhe!“ „Ist es jetzt endgültig vorbei?“ fragte Thomas, dem nun auch die Erschöpfung anzusehen war. Sie alle hatten Spuren davongetragen und einen weiteren Kampf würden sie nicht mehr austragen können, so viel stand fest. Er hatte einige Schläge und Streifschüsse einstecken müssen, Ezra blutete am Rücken und Anthony und Vincent waren psychisch angeschlagen, weil sie ihre Kraft öfter eingesetzt hatten, als eigentlich gesund war. Cedric stand ja außen vor, weil er lediglich von fremden Körpern Besitz ergriff. Aber am Schlimmsten hatte es Johnny und Christine erwischt. Diese konnten sich vor Schmerzen kaum noch bewegen, obwohl Eneos sie notdürftig verarztet hatte. Eli sah dem Ex-Stasi tief in die Augen und dieser Blick hatte etwas Prüfendes, als wollte er in seine Seele schauen. „Für euch ist es vorbei. Ich werde mich um den Rest hier kümmern und den Scherbenhaufen wegräumen, den meine Tochter hinterlassen hat.“ Damit erhob er sich, doch seinem Blick lag etwas Trauriges. Kein Wunder, denn er hatte sein eigenes Kind weggesperrt und setzte es dabei entsetzlichen Schmerzen aus. Das war für einen Vater sicherlich auch nicht einfach. Und die Enttäuschung über seine jüngere Tochter saß sehr tief. Aber er hatte es tun müssen, um schlimmeres Unheil abzuwenden. Er konnte Pristine nicht töten, deshalb musste er sie wegsperren, um sie zu bestrafen. Schließlich verließ er die Gruppe, um sämtliche Spuren zu beseitigen, die auf Thule und ihre Experimente hindeuten konnten. Anthony und die anderen wurden von Amara, Harvey und Chris abgeholt, die durch ein Portal kamen und halfen, die Verletzten zu transportieren. Sally und Nathaniel waren immer noch nicht bei Bewusstsein, Christine konnte nur humpeln und Johnny war nicht mal mehr in der Lage, einen Arm zu heben. Da sie nicht riskieren wollten, dass die Öffentlichkeit erfuhr, dass Johnny und Christine keine Menschen waren, brachte Eneos sie in sein Haus, wo er ein eigenes Operationszimmer hatte. Wie sich herausstellte, hatte er eine Art private Klinik, wo er zusammen mit einigen Assistenten auch die Mischlinge medizinisch versorgte, die von Pristine gefangen gehalten und gefoltert worden waren. Ein dürrer zwei Meter großer junger Mann mit acht Fingern, der sich als Samael vorstellte, kümmerte sich um die kleineren Verletzungen der anderen, während Christine und Johnny operiert wurden. Ezras Schnittwunden, die er von Thomas zugefügt bekommen hatte, mussten genäht werden. Dabei enthüllte der Mischling auch eine alte Brandverletzung, die ihm im Kindsalter von Pristine mit einem glühenden Eisen zugefügt worden war. Genauso wie viele andere Mischlinge war auch er gebrandmarkt worden, jedoch war diese Verletzung längst verheilt im Gegensatz zu Johnnys. Anthony und Vincent erzählten derweil Harvey und Chris, was alles passiert war und was aus Pristine wurde. Die Erleichterung, dass es endlich vorbei war, konnte man ihnen deutlich ansehen. Aber eines beschäftigte Anthony noch, nämlich Sally und Nathaniel. Sie waren immer noch nicht bei Bewusstsein und so langsam machte er sich Sorgen. Also wandte er sich an Samael und fragte, wie es um die beiden stand. Der Assistenzarzt konnte ihn beruhigen. „Es geht ihnen sehr gut, sie brauchen nur sehr viel Ruhe, weil dieser Energietransfer sie sehr angestrengt hat. Beide schlafen momentan tief und fest.“ Das erleichterte den Konstrukteur zwar, aber er wollte trotzdem bei seinem Halbbruder bleiben. Verübeln konnte ihm das niemand und so leistete ihm Vincent Gesellschaft. Nachdem Thomas’ Verletzungen versorgt waren, schnappte er sich Amara, weil er unbedingt zu seiner Verlobten und seinen Sohn wollte. Harvey und Chris zogen sich ebenfalls zurück, da sie unter sich bleiben und außerdem warten wollten, bis Johnnys Operation vorbei war. Es wurde allmählich still, bis schließlich Cedric hinzukam, der inzwischen wieder in seinen richtigen Körper zurückgekehrt war und nach Ezra und den anderen sehen wollte. Fast einen halben Tag lang warteten sie, ohne dass sie etwas Neues über Johnny und Christine erfuhren. Es wurde schließlich Nacht und die anderen zogen sich zurück, um sich von den ganzen Strapazen zu erholen. Auch Anthony war müde, aber er blieb wach. Er konnte nicht schlafen, nicht solange Nathaniel noch nicht aufgewacht war. Irgendwann, es musste so gegen zwei oder drei Uhr sein, da wachte der Konstrukteur auf, als er merkte, dass jemand eine Decke um seine Schultern legte. Es war Chris, der offenbar nach dem Rechten sehen wollte und bemerkt hatte, dass Anthony eingenickt war. Müde rieb er sich die Augen und fragte „Wie lange hab ich geschlafen?“ „Nicht lange, höchstens eine halbe Stunde.“ „Und was ist mit dir?“ „Ich schlafe nie länger als drei Stunden und Harvey schnarcht immer so laut…“ Traf sich eigentlich ganz gut, dass wenigstens einer wach war. So hatte Anthony wenigstens jemanden zum Reden. Und Chris schien das auch ganz gut zu tun. Immerhin hatte er fast ein halbes Jahr lang wie ein Geist gelebt und niemanden außer Johnny und Harvey sprechen können. Nun endlich hatte er endlich wieder sein Leben zurück und konnte noch mal von vorne anfangen. Chris war ganz anders als Harvey, das sah man ihm sofort an. Er schien zarter und sensibler zu sein, außerdem war er auch vom Äußeren her sehr androgyn und schmal. Selbst äußerlich waren sie sehr verschieden. Der Schauspieler setzte sich neben Anthony und holte einen kleinen Skizzenblock und einen Bleistift heraus. Gerade war er dabei, eine Rose zu zeichnen. „Da ich ja jetzt diesen neuen Körper habe, muss ich mir mein altes Tattoo neu stechen lassen… Ist gar nicht so einfach, eine Rose zu malen und sie vor allem exakt noch mal gleich hinzubekommen.“ Die Rose lag vertikal und unterstrich einen kleinen Text, den Chris in sehr eleganter und schwungvoller Schrift schrieb Out, out brief candle. „Ist das nicht ein Zitat aus MacBeth?“ „Ja, auch Harvey hat ein solches Tattoo auf seinem Rücken. Allerdings lautet der Schriftzug bei ihm „To be or not to be“. Weißt du, meine Eltern starben bereits kurz nach meiner Geburt und ich bin im Waisenhaus aufgewachsen. Ich hatte nur meine Shakespearewerke, die ich schon mit sechs Jahren alle auswendig kannte. Es war mein größter Traum, Schauspieler zu werden und ich habe jeden Tag geprobt. Und eines Tages hat mich Harvey in der Aula beobachtet, wie ich Hamlets ganze Rede zu seinem Zitat „Sein oder nicht sein“ aufsagte. Das war so etwas wie ein Schicksalsmoment gewesen, denn von da an hatte ich jemanden, der den gleichen Traum hatte wie ich. Wir verloren uns zwar daraufhin wieder aus den Augen, aber dann hat uns der Zufall wieder zusammengeführt, als sich herausstellte, dass wir an der gleichen Universität studierten. Zwar hatte ich ein Stipendium, musste aber dennoch diverse Nebenjobs annehmen, um über die Runden zu kommen. Harvey hat mir wirklich geholfen und ich hatte auch Johnny als seelische Stütze. Ich werde nie den Tag vergessen, als Harvey mich im Krankenhaus besuchen kam, als ich an Leukämie erkrankte. Er nahm meine Hand und sagte wortwörtlich „Glaub bloß nicht, dass ich dich so einfach sterben lasse. Du bist der einzige Mensch, der mir wirklich wichtig ist und ich brauche dich.“ Das war das Süßeste, was er mir je gesagt hatte.“ Chris errötete und er musste kichern, als er an damals zurückdachte. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals wieder die Chance bekommen könnte, noch einmal mit Harvey auf einer Bühne zu stehen und den Hamlet zu spielen, während er den Laertes gibt. Tut mir Leid, wenn ich zu viel rede…“ „Nein, schon okay. Ich freue mich ja auch für euch beide, dass alles dank Johnny so ein gutes Ende nehmen konnte. Dank ihm, Sally, Nathaniel und diesem Eli haben wir quasi die Welt retten können und nun wird auch hoffentlich Ruhe einkehren. Thomas kann Hannah endlich heiraten und Sally wird sich auch freuen, ihre Familie wiederzusehen. Und Nathaniel braucht einen großen Bruder, der für ihn da ist. Viola und Evan haben auch sonst niemanden, zu dem sie sonst gehen könnten. Wir sind alle wie eine Familie.“ „Und eine wunderbare noch dazu“, ergänzte Chris und sein Blick nahm etwas Verträumtes an. „Ehrlich gesagt fand ich dich zu Anfang unheimlich und hätte fast einen Schreck gekriegt, als du auf dem Dach geschossen hast und beinahe Harvey getroffen hättest. Ich dachte zuerst, du würdest ihn umbringen.“ „Wenn du genauer hingesehen hättest, dann hättest du gesehen, dass ich extra danebengezielt hatte.“ „Vergiss nicht, dass ich mir mit Harvey einen Körper geteilt habe! Was er nicht sieht, kann ich auch nicht sehen. Folglich war ich genauso blind wie er, als er sich diese Augenbinde angelegt hatte. Naja, auch egal. Jedenfalls bin ich froh, dass Harvey so gute Freunde hat. Er ist sonst eigentlich nicht der Geselligste von allen gewesen und war etwas… schwierig.“ „Schwierig wie Johnny?“ Chris musste lachen, als er das hörte. „Nein, so schlimm nun auch wieder nicht. Er war temperamentvoll und konnte schnell aus der Haut fahren, außerdem war er in vielen Dingen nicht gerade sensibel. Deshalb kamen nicht viele Menschen mit ihm klar.“ Dass Harvey mal wirklich so gewesen war, konnte sich Anthony gar nicht so wirklich vorstellen. Er hatte ihn selbst als eher stillen und zurückgezogenen Menschen kennen gelernt, aber wahrscheinlich wurde das auch durch die Tatsache beeinflusst, dass er seinen toten Freund sehen konnte und sich lange Zeit die Schuld an der Situation gab. Hinzu kam noch die Tatsache, dass er und Chris sich einen Körper teilten und da war es auch nicht ausgeschlossen, dass Harvey unbewusst von Chris beeinflusst wurde, woraufhin er immer mehr Charakterzüge von ihm annahm. Also wäre es interessant zu sehen, ob Harvey sich vom Charakter her wieder in sein altes Ich verwandeln würde oder ob er so blieb, wie er jetzt war. Es konnte sein, dass etwas von Chris bei ihm Spuren hinterlassen hatte und er nie wieder ganz der Alte sein würde. Als Anthony Chris darauf ansprach und ihm diesen Gedanken erläuterte, nickte dieser und murmelte „Ja, so etwas hatte ich auch schon befürchtet. Aber… es ist mir egal, ob er wieder der alte wird oder ob er so bleibt, wie er jetzt ist.“ Wenig später kam Harvey ziemlich verschlafen herein und sah aus, als wäre er gerade erst aufgestanden. Chris stand sofort auf und ging auf Zehenspitzen zu ihm hin, um Vincent und die anderen nicht aufzuwecken. „Harvey, was ist los?“ „Ich hab gerade erfahren, dass die Operation vorbei ist. Christine ist wieder ganz die Alte und Johnny hat auch alles gut überstanden.“ Erleichtert atmete Chris durch, als er das hörte und bedankte sich bei Harvey, dass er ihm auch gleich Bescheid gesagt hatte. Da Harvey noch gut eine Mütze Schlaf vertragen konnte, ging er wieder schlafen, während Chris bei Anthony blieb und seine Rose weiterzeichnete. Sie saßen schweigend beieinander und vertrieben sich auf ihre Weise die Zeit, dann aber regte sich etwas. Sally und Nathaniel wachten langsam wieder auf. Sofort ging Anthony zu seinem Halbbruder hin, der noch etwas benommen war und sich etwas verwirrt und orientierungslos umsah. „Anthony, wo… wo sind wir hier?“ „In einem Krankenhaus, du hast ziemlich lange geschlafen. Wie fühlst du dich?“ „Ganz gut soweit. Und was ist mit den anderen?“ „Es geht ihnen gut. Sie ruhen sich gerade aus und Johnny wird es auch bald wieder besser gehen. Sally ist auch gerade aufgewacht.“ „Ist… ist es etwa vorbei?“ „Ja. Pristine ist fort und sie wird auch niemandem mehr etwas tun.“ „Dann hat Eli es also geschafft?“ Woher wusste er von Eli? So wie Nathaniel redete, klang er so, als hätte er ihn schon vorher gekannt. „Ja hat er. Ist er ein Freund von dir?“ Nathaniel nickte und erklärte „Dank ihm hatte ich diese Vorhersehung und er hat mir geholfen, dass wir Johnny retten konnten. Wir haben außerdem Freunde von ihm getroffen und die ganze Wahrheit über den alten Kult erfahren und warum es Nekromanten gibt.“ „Das kannst du ja morgen erzählen, wenn die anderen wach sind. Ruh dich noch ein wenig aus.“ Gerade wollte Anthony gehen, doch Nathaniel hielt ihn am Arm fest und nach einigem Zögern fragte er „Sag mal Anthony, siehst du mich als einen Fremden?“ Erstaunt über die Frage runzelte der Konstrukteur die Stirn und wunderte sich, wieso Nathaniel so eine Frage stellte. Aber er sah auch die Angst und die Verunsicherung bei seinem Halbbruder und merkte, dass diese Frage ihn offenbar sehr beschäftigte. Wahrscheinlich rührte diese Angst von der Tatsache her, dass Anthony nie von Nathaniels Existenz gewusst hatte und sogar in der Annahme gewesen war, dass dieser mit Hinrich unter einer Decke steckte. Das hatte Nathaniel wohl gespürt und hatte nun Angst, dass er für Anthony gar kein Verwandter, sondern nur ein Fremder war. Er ist eben doch ein Kind, dachte er und lächelte, dann nahm er Nathaniel in den Arm. „So ein Unsinn, du bist mein Bruder und daran wird sich nie etwas ändern. Und keine Sorge, ich werde dich ganz sicher nicht alleine lassen. Ich hab dir doch versprochen, dass wir zusammen nach Hause gehen werden und ich halte meine Versprechen. Zwar bist du eigentlich der Ältere von uns beiden, aber wenn du willst, werde ich dein großer Bruder sein.“ Nathaniel kamen die Tränen, als er das hörte und er drückte sich fest an Anthony, als wolle er ihn nie wieder loslassen. All die Angst, die er die ganze Zeit tapfer unterdrückt hatte, brach wieder hervor und er war gleichzeitig unendlich froh. Zum ersten Mal in seinem Leben nach über 96 Jahren hatte er eine richtige Familie und einen liebevollen Bruder. Johnny war am Leben und er hatte Freunde, die ihn mit ihrem Leben beschützen würden. Er war nicht mehr alleine… Nach einer Weile schaffte es Anthony, seinen Halbbruder zu beruhigen und schließlich schlief Nathaniel wieder ein. Sally, die ihrerseits von einem schweren Heimweh ergriffen wurde, konnte an nichts anderes mehr denken, als an ihre Familie. Obwohl sie körperlich noch nicht ganz fit war, sprang sie aus dem Bett, hatte Tränen in den Augen und Anthony hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Dieser wandte sich an Chris und fragte „Was sollen wir machen?“ „Wenn sie Sehnsucht nach ihrer Familie hat, dann sollten wir sie nach Hause bringen. Ich glaube, sie braucht jetzt ihre Familie.“ Was auch immer Sally und Nathaniel erlebt hatten, während sie nicht bei Bewusstsein waren, es musste sie ziemlich aufgewühlt haben. Oder vielleicht waren all die Erlebnisse der letzten Tage und Wochen zu viel für Sally gewesen. Der Kampf gegen Belphegor und Mary Lane in Somnia… die Schlacht gegen Thule und Pristine. Obwohl sie eine mächtige Nekromantin war, so war sie in erster Linie noch ein Kind, genauso wie Nathaniel, Viola und Evan. Irgendwie hatte Anthony diese Tatsache vergessen, weil er sie immer als eine potentielle Gefahr für sich und die anderen gesehen hatte. Sally schluchzte heftig und wischte sich die Tränen weg. „Tut mir Leid, dass ich euch so viele Scherereien mache. Aber… aber ich will einfach nur nach Hause und Dathan, Jamie und Christie wieder sehen. Und auch Emily, Jacques und Jeanne!“ „Schon gut, niemand kann dir das verübeln. Chris, weckst du bitte Evan und bittest ihn, Sally wieder nach Hause zu bringen?“ Also verschwand der Schauspieler mit der völlig aufgewühlten Nekromantin und schloss leise die Tür hinter sich. Wenig später kam er alleine wieder zurück und seufzte leise. „Die Kleine tut mir wirklich Leid. Aber vielleicht ist es ja wirklich das Beste, wenn sie vorerst wieder nach Hause geht. Schon verrückt das alles. So ein kleines Mädchen und trotzdem 212 Jahre alt. Alle hier sind so jung geblieben und dennoch schon so alt. Als wäre dies alles eine Nimmerlandgeschichte, wo niemand altert und Kinder niemals erwachsen werden.“ Da hatte er nicht ganz Unrecht. Tatsächlich erinnerte dies alles an die Peter Pan Geschichten. Viola, Evan, Amara, Sally und Nathaniel waren verlorene Kinder, die niemals erwachsen werden würden. Sie würden immer Kinder bleiben. Und Anthony, Vincent und Thomas, die ihrerseits erwachsen waren, würden nicht alt werden. Nun ja, bei Thomas verhielt es sich anders. Jetzt, da er Hannah und seinen Sohn hatte, würde er aufhören, seinen Alterungsprozess zu manipulieren und ganz normal altern. Er hatte es bereits mit Hannah und Anthony besprochen, weil er mit seiner Familie ein normales Leben führen wollte und er Hannahs Alterungsprozess sowieso nicht beeinflussen konnte, höchstens seinen eigenen. Und mit Anthony und Vincent war abgesprochen worden, dass sie Amara aufnehmen würden, wenn sie dann niemanden mehr hätte. Im Grunde unterschieden sie sich lediglich darin, dass einige von ihnen entweder nicht altern konnten, oder es nicht wollten. Viola, Amara, Evan und Nathaniel konnten aus verschiedenen Gründen nicht altern, genauso wie Sally. Sie würden für alle Zeiten Kinder bleiben, bis sie starben. Vincent wollte nicht alt werden, weil er sich für Evan und Viola verantwortlich fühlte und sie sozusagen Pflegekinder waren. Auch Anthony hatte sich für diesen Weg entschieden, weil er wusste, dass Viola, Evan und Amara sonst nirgendwo hin könnten. Sie konnten kein normales Leben unter Menschen führen und selbst wenn sie unter Menschen leben würden, so würde jeder irgendwann sterben, der ihnen wichtig wurde. Deshalb mussten sie alle unter sich bleiben und als Familie zusammenhalten. In der Hinsicht war Anthony sozusagen das Familienoberhaupt und so etwas wie der Vater. „Wie ist es eigentlich so, für immer jung zu sein?“ fragte Chris schließlich nach einer langen Weile des Schweigens. „Ist es ein Segen, oder ein Fluch?“ „Es ist beides, ein zweischneidiges Schwert. Es nimmt einem die Angst vor dem Sterben und man braucht sich keine Sorge über Falten oder Haarausfall zu machen. Aber man ist auch zu einem Leben in Isolation verdammt und das Leben wird freudlos und öde, wenn man es in vollen Zügen ausgekostet hat und immer noch nicht alt ist. Für mich kam ja noch die Tatsache hinzu, dass ich nie die Welt bei Tage sehen konnte, weil es mir meine Krankheit verbot.“ „Im Prinzip sind die Konstrukteure wie Dorian Gray, der seine Seele für ewige Jugend und Schönheit verkaufte, nicht wahr?“ „So in der Art. Aber im Gegensatz zu Dorian Gray ist mein Leben nicht ganz so lasterhaft. Und Vincent ist in der Hinsicht viel zu unschuldig dafür.“ Sie mussten beide lachen und redeten noch bis zur Morgendämmerung weiter, bis sie beide von Müdigkeit übermannt wurden und sich selbst schlafen legten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)