Ocean's True Lullaby von Avalanche (Tell me something about hope - like - find - search - love) ================================================================================ Kapitel 1: Saving ----------------- Es gab eine Leinwand, dessen weiß ich färben sollte, doch aus welchem Grund auch immer: Ich konnte es nicht. Schweigend sah ich aus dem Fenster. Die Wolken waren dicht und grau, ein Requiem an einen Sonnentag. Ich packte meine Sachen zusammen, die Farbtuben, einige Pinsel, die Leinwand samt Staffelei unter dem Arm, ehe ich in das Freie trat. Ich sah nicht auf das weiße, altertümlich anmutende Haus zurück. Ich wüsste nicht, dass es etwas bringen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass es regnen würde, doch meine Sorge blieb an diesem Tag unerfüllt. Es fiel kein Tröpfchen vom Himmel. Die Stimmung war gedrückt, als ich den weichen, grünen Rasen betrat. Meine Schuhe knirschten leise auf dem nassem Gras. In der Nacht hatte es geregnet. Aber nur in der Nacht. Sobald die Sonnenstrahlen ihren Weg in die Welt gefunden hatten, wichen die kalten Tropfen dem warmen Licht. Nachdenklich wanderte ich auf dem Weg über die weißen Marmorsteine, die den Weg als solchen kennzeichneten. Er wurde von mannshohen Büschen umsäumt, deren kräftiges Grün nicht richtig zur Geltung kam, die Sonne schien nicht. Es war wie ein Traum, sollte ein Traum sein, dass ich endlich einmal in diesen Garten kommen durfte, begehen durfte. Doch es war nur ein bedrückendes, unwohles Gefühl. Mit stets gesenktem Kopf ging ich vorbei an den vielen Pflanzen und Gewächsen. Ich fühlte mich unwürdig, sie anzusehen. Allein ihre Pracht, selbst bei solchem Regenwetter, sie strahlten und überstrahlten alles, was ich je geschaffen hatte. Zumindest kam es mir so vor. Mit festen Schritten ging ich weiter. Ich musste aufhören, aufhören, mich selbst schlechtzureden. Aufhören, nur das Schwarze in mir zu sehen. Aufhören, zu denken. Ja, dass wäre wohl das Beste gewesen. Doch ich konnte nicht. Ich nahm die Staffelei und die Leinwand unter meinem Arm und war beeindruckt von der Fülle des Gartens, als ich die runde Lichtung betrat, in die der Weg sein Ende fand. Sie vertrieb die düstere Luft und füllte sie stattdessen mit frischen bunten Farben. Doch trotzdem … ein Unbehagen entstand in mir. Würde ich wirklich hier meinen kreativen Nullpunkt, meinen Selbsthass überwinden können? Ich war skeptisch, wusste noch nicht einmal, wo der Fehler eigentlich ernsthaft war, obgleich der prachtvolle Anblick wirklich inspirierend war. Normal jedenfalls. Mit geschickten Zügen stellte ich die Staffelei schnell auf, die Leinwand fand ihren Platz auf ihr und meine Tasche mit den Farben legte ich auf den weißen Kies. Ich hielt einen Pinsel in der einen Hand, die Palette in der anderen. Sie war weiß, war leer. Weiß wie der Kies unter meinen Füßen. Leer wie mein Kopf. Ich seufzte. Immer, wenn ich aus dem Fenster sah, in diesen Garten hinein, da strömten die Gedanken und Ideen nur vor sich hin. Es waren immer so viele gewesen, dass ich nicht alle auf eine Leinwand malen konnte und den ganzen Tag beschäftigt war. Nur ein Blick genügte. Nur ein Blick. Doch heute sah es anders aus. Ich wusste nicht, warum, wusste nicht, weshalb. Irgendetwas hatte mich in eine tiefe, dunkle Phase geraten lassen, voll Unbarmherzigkeit wurde ich in ein Loch, bestehend aus nichts als Schwärze, gestoßen. Ich konnte nicht heraus, nicht alleine. Die Flügel waren gestutzt, die weißen, sanften Schwingen mit Pech bemalt. Ich ging im Kreis umher und sah mir die Blumen an. Ich empfand bei ihrem Anblick nichts. War ich wirklich nichts? Konnte das wirklich alles sein, was ich konnte, was ich war? Nichts, bis zu diesem Zeitpunkt? War ich wirklich leer wie viele es hinter meinem Rücken tuschelten? Die Blumen berührten mich nicht. Und dann … Ich empfand unser erstes Treffen eher wie einen bloßen Zufall als dass ich es hätte Schicksal nennen können. Eine wunderschöne Melodie erreichte mein Ohr. Die Stimme war sanft, so sanft … und warm. Sie weckte irgendein schreiendes Tier in mir aus seinem Alptraum. Sie reichte mir eine Hand, die ich ergreifen konnte. Ergreifen sollte. Ergreifen wollte. Ich kannte die Melodie, hatte sie irgendwann schon einmal gehört. Aber sie war traurig gewesen, als ich sie das erste Mal hörte, irgendwann einmal. Doch diesmal … Die Melodie, die mich vollkommen in ihren Bann zog, war so viel anders. Freudig, fröhlich, voll von Hoffnung. Ich erinnerte mich an die blauen, grünen, bunten Tage. Ich erinnerte mich an die Gefühle, die ich hatte, als ich einen Pinsel zum ersten Mal in der Hand hatte. „Es macht Spaß.“ Ich hatte mir vorher immer ausgemalt, wie es wäre, wenn mein Lehrmeister mich einmal inmitten dieser blauen Hortensien, roten Tulpen und Rosen, Schwertlilien und allerlei anderer Vielfalt malen ließe. Ich durfte nie. Bis jetzt. Die letzten Monate waren schwarz gewesen, grau verlaufen, dunkel geblieben. Und plötzlich … in ein Weiß getaucht. Ich blieb starr stehen, hörte der Melodie zu. Ich sah den Menschen nicht, zu dem die wunderschöne Stimme gehörte. Ich wusste nur, dass die Person aus dem angrenzenden Anwesen kommen musste, welches noch größer und prächtiger war als das Haus, in welchem ich studierte und malte. Sie entfernte sich leicht, so schien es mir. Die Stimme … ging sie? Ich rannte zu meiner Leinwand zurück. Weiß. Immer noch. Doch plötzlich. Ich seufzte, schloss die Augen. Nur einen Atemzug lang. Ich atmete durch. Eins … zwei … drei. Ich zählte in meinem Kopf. Und öffnete meine Augen. Und dann … Ich führte meinen Pinsel so, wie der Unbekannte es mir riet. Durch die Melodie sah ich ein Bild. Meine Gedanken waren erfüllt von der Melodie, die ich hörte. Klare Gedanken … ein geistiges Bild … all das verdanke ich nur dir. Du warst mein „Retter“ und nur du würdest es wieder werden können. Nur … Du. „Das ist ein gutes Bild“, sagte mein Lehrmeister zu mir, als ich ihm meine Leinwand zeigte. Sie war überströmend von den Farben des Meeres, ich hatte an die sanft rauschenden Wellen des Ozeans gedacht und das stetige Tropfen des Wassers in meinem Kopf gehabt, der Vielfalt des Meeres gedankt. Und doch war es kein Bild, dass dem Meer, dem Wasser gewidmet war. Eine einzelne Blume, genauso blau wie der Wald um sie herum. Doch trotzdem strahlte sie mehr als alles andere. Anerkennend nickte er. Er sagte kein Wort mehr. Er stellte das Bild zu den anderen und entließ mich. Ich dankte ihm. Es vergingen einige Tage. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich konnte mich konzentrieren, konnte mich auf diese Melodie konzentrieren. Und auf bunte Blumen. Weiße Blumen. Mich ließ der Klang dieser Stimme nicht mehr los. Ich wünschte … ich hätte dich früher finden können. Kapitel 2: Seeking ------------------ Ich habe dich schon so lange gesucht … so lange … Tatsächlich erging es mir die nächsten Tage besser, ich malte und malte. Ich konnte es wieder. Irgendwie klang es blöd, aber es fühlte sich einfach so an. Der Pinsel in meiner Hand war richtig, fühlte sich weder neutral noch falsch an. Doch etwas fehlte wiederum. Die Stimme befand sich nur in meinem Kopf. Ich wollte sie so gerne noch ein einziges Mal hören. Und der Person danken, auch wenn sie es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht absichtlich getan hat. „Dankeschön“, sagte ich freundlich zu der Verkäuferin, die mir meine gekauften Sachen in einer Tüte überreichte. Pinsel, Farben, das Übliche eben. „Gerne doch, beehren Sie uns bald wieder“, erwiderte sie lächelnd. Ich trat aus dem Laden heraus. Ich ging immer in diesen Laden, sie hatten einfach das, was ich haben wollte und das Preisleistungsverhältnis war auch okay. In Gedanken versunken ging ich die Straße entlang. Ich befand mich in einer Nebenstraße, nicht so nebensächlich wie eine Gasse oder so, aber auch nicht so befahren wie eine Hauptstraße. Es war schon ziemlich kühl geworden, ich trug einen dicken Sweater, der die meiste Kälte von mir abhielt. Mit wachem Blick für meine Umgebung marschierte ich raschen Schrittes die Straße entlang. Ich achtete auf alles, den Himmel, die vorbeiziehenden Wolken, auf wirklich alles, bis auf … „Hoppla!“, entfuhr es mir und ich konnte die Person vor mir noch irgendwie auffangen. Wir waren ineinander gerempelt, ich hielt die Person an ihren zierlich gebauten Schultern fest. „Alles in Ordnung?“, hörte ich mich fragen. Die Person, ein Junge mit wirklich hellblonden oder weißblonden Haaren, rappelte sich auf und nickte. Er sah mich an und lächelte nur. Eigenartiger Junge, dachte ich zuerst bei mir. Ich erwiderte daraufhin: „Dann ist ja gut.“ Ich wollte mich gerade wieder auf meinen Weg machen, da hielt er mich am Arm fest. „Mh?“, fragte ich ihn, „Was ist?“ Ich sah ihm ins Gesicht. Während er hilflos zu mir aufsah, studierte ich nebenbei sein zartes Gesicht und die weichen Züge. Die runden Augen. Er ließ meinen Arm los und kramte in seiner Hosentasche herum. Mit einem fröhlichem Ausdruck im Gesicht schien er das Gesuchte gefunden zu haben und präsentierte mir einen Zettel. Ich sah ihn mir an, las mir durch, was da stand. „Du willst dahin?“, fragte ich. Es war eine Adresse. Ich kannte sie nur zu gut. Erfreut nickte er. „Du kennst den Weg aber nicht“, schlussfolgerte ich. Wieder ein Nicken. „Soll ich dich dahin begleiten?“, fragte ich ihn. Er sah mich erstaunt an, schüttelte den Kopf. „Ach was, das sind keine Umstände, ich wollte eh dahin“, antwortete ich darauf, „Und außerdem wohne ich ja auch dort, also kann ich dich ruhig dahin begleiten.“ Kurzes Überlegen. Erfreutes Nicken. Wir machten uns also zusammen wieder auf den Weg, immer weiter die Nebenstraße entlang, die nicht so nebensächlich war. „Willst du zum Hausherren?“, fragte ich ihn, während wir in einer Allee langliefen. Wieder nickte er. Er lief fröhlich vor mir her, jagte den Wind und jagte wiederum gar nichts. Ich habe ihn weiter mit Fragen gelöchert, einfach reine Neugier. Irgendetwas an diesem Jungen zog mich in seinen Bann und ihn störte es anscheinend nicht, wenn ich ihn befragte, also machte ich weiter. Irgendwann, an einer Stelle auf dem Weg, wo wir uns leicht hätten verirren können, nahm ich ihn bei der Hand. Er wirkte zuerst erstaunt, nahm es aber beinahe schon zu fröhlich hin. Er ging weiter in diesem hüpfendem, fröhlichem Schritt. „Du bist stumm, was?“, fragte ich zuletzt noch. Er sah mich feixend an und nickte. Es war, als hätte ich schon ewig deine Hand gehalten. Merkwürdigerweise betraten wir Hand in Hand das große Anwesen. Als er meine losließ, fühlte sie sich kühl an. Ich versank für wenige Sekunden in Gedanken, bis ich den übermütigen Jungen am Arm packte, als er die Treppe hoch laufen wollte, die den Vorraum beispielsweise die Garderobe mit den Vorhallen verband. Sie war aus weißem Marmor gehauen und an den Seiten kunstvoll verziert. Ein Geschenk eines ehemaligen Schülers meiner Lehrmeisters, der die morschen Holztreppen von davor furchtbar fand. Generell war das ganze Haus ein ziemliches Patchworkwerk, denn jeder, der abging, wollte noch unbedingt seine eigenen Vorstellungen und Visionen einbauen und sich somit verewigen. Noch war ich nicht so alt und nicht bereit dafür. „Schuhe ausziehen“, befahl ich knapp und deutete auf seine Sneakers, die eher mäßig dreckig als richtig verschmutzt waren, aber was Gesetz war, war nun einmal Gesetz. Er nickte, wirkte irgendwie … erleuchtet, und zog sich die Schuhe aus. Danach hüpfte er in seinem schon gewohntem Schritt nach oben. Mich wunderte es, wie leichtfüßig er die Treppen doch hinnahm, während ich sie nach dem dreißigstem Schritt eher verfluchen wollte (das ganze Koloss war fünfundsechzig Treppenstufen lang). In der sonnigen Vorhalle saß mein Lehrmeister, übrigens mit dem Namen Ryoichi Ichihara betitelt (ganz vergessen zu erwähnen), und spielte Schach mit einem alten Bekannten, den ich aber bislang noch nie gesehen hatte. „Ryoichi-sama“, sprach ich ihn an, „Jemand möchte mit Ihnen reden.“ Ich ging zur Seite, um den Blick auf den Jungen freizugeben. „Julius, da bist du ja endlich!“, rief er erfreut aus und stand auf. Der Junge, anscheinend Julius, trat vornehmen Schrittes nach vorne, das Kindliche war verborgen, nur eine jugendliche Eleganz drang nach außen, wenn ich es so beschreiben dürfte. Er lächelte sanft. „Elliot!“, damit war ich gemeint, „Spiel doch bitte die Partie Schach für mich zu Ende“, bat Ryoichi-sama mich. „Natürlich“, antwortete ich und nahm kurz darauf seinen Platz ein. „Hoho, ist es nicht ein wenig unfair, mich gegen den Jugendmeister spielen zu lassen?“, lachte mein jetziger Gegenspieler, ein älterer Herr, zu Ryoichi-sama. „Ach, sieh dir meine Lage an, ihr werdet beide Spaß haben“, lachte der Angesprochene nur und verschwand plappernd in den Garten, um mit diesem Julius in Ruhe reden zu können, schätze ich. „Wollen wir dann?“, fragte ich freundlich und widmete meine ganze Aufmerksamkeit auf meinen Mitspieler und die Lage, in die mich mein Lehrmeister gebracht hatte. Sein Lachen klang rau. „Natürlich, Bürschen!“ So vergingen einige Stunden, bis er den Kampf für sich entschied. „Elliot!“, rief eine entfernte Stimme nach mir und riss mich aus meinen Gedanken, die ich auf eine weiße Leinwand malte. Ich blickte mich um, erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass Ryoichi-sama und der Junge Julius im Türrahmen standen. „Du hast eine Sekunde mehr gebraucht als durchschnittlich“, witzelte er. Julius hüpfte fröhlich in den Raum hinein, sah sich neugierig um. Ich wischte mir die Hände – sie hatten ein wenig Farbe abbekommen – an einem Handtuch ab und näherte mich meinem Lehrmeister. „Was gibt es?“, fragte ich ihn. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln heraus den aktiven Jungen, der sich ehrfürchtig in dem Raum, welches ich „mein“ Atelier nennen durfte, um. „Ich möchte, dass du dich um ihn kümmerst. Er interessiert sich sehr für Kunst, der Sohn eines Bekannten“, erklärte er mir kurz und knapp. „Was soll ich denn schon mit ihm machen?“, fragte ich, eher an mich selbst gerichtet als an ihn. „In die Stadt gehen, Eis essen …“, schlug er vor. „Kümmere dich einfach um ihn, okay? Er kommt alleine eher weniger klar.“ Ich sah ihn mir an, die weich fallenden Haare und das lachende Gesicht. Ich gab nach. „Na schön, aber wenn ich nicht mit ihm zurecht kommen sollte, übernimmst du ihn wieder, ja?“ Er lächelte. „Darauf hast du mein Wort.“ „Wohin willst du?“, fragte ich Julius. Wir gingen gerade eine Allee entlang, gesäumt von Bäumen, die so langsam Farbe bekamen. Der Herbst und somit auch der Winter nahte. Er überlegte. „Imitiere es doch, wenn du dich nicht auszudrücken weißt“, schlug ich schmunzelnd vor. Schweigen, bis er sich mit der einen Hand an das Herz griff und mit herzzerreißendem Gesichtsausdruck seine andere Hand gen Himmel streckte. „Theater, nehme ich an?“, riet ich nach einigen Sekunden. Erfreut nickte er und strahlte mich an. Ich überlegte. „Ich glaube … gleich fängt in der Nähe ein Stück an.“ Daraufhin drängte er mich, doch bitte schneller zu gehen und ich tat ihm ungern den Gefallen. Es war einfach anstrengend, aber durch seinen unermüdlichen Schöpfergeist bewegte er mich dazu, ein wenig schneller zu gehen. Wir kamen noch gerade rechtzeitig in das Theater an der Hauptstraße an, nur wenige Sekunden nachdem wir uns gesetzt hatten, begann das Theaterstück. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, worum es sich handelte, ich wusste nur, dass es eine der allwöchentlichen Sonntagsvorstellungen war. Julius wirkte sehr hibbelig und begann, sich irgendwann an meinem Arm zu klammern, warum auch immer. Er schien sehr glücklich zu sein und ich ignorierte oder beachtete es auch nicht sonderlich. Wobei man sagen muss, dass ich dadurch weniger vom Stück mitbekam, als ich es mir erhofft hatte. Die Tage zogen vorüber, sodass es langsam Routine wurde, immer wieder Julius mit in ein Theater oder eine Oper mitzunehmen, er sich die meiste Zeit an meinen Arm klammerte, wir ab und zu im großen Garten Tee tranken, er mich beim Malen beobachtete und so weiter. Manchmal hatte er auch schlechte Tage, ich wusste nicht warum, aber an diesen Tagen schlief er meist nur vor sich hin. Ryoichi-sama entledigte mich an solchen Tagen meiner Pflicht, auf ihn aufzupassen, und kümmerte sich selbst um ihn. Ich hatte nie gefragt, warum diese Tage auftraten und hinterfragt habe ich sie also auch nicht. Sie waren einfach da wie im April der Regen meist alltäglich war. Mich beschäftigten eher meine eigenen Gefühle, wenn er mal nicht bei mir war. Seine Präsenz war so normal geworden, dass mir etwas fehlte, wenn er nicht da war. Es ähnelte sehr dem Gefühl, in der Zeit, als ich so unbewusst nach dieser Stimme gesucht hatte. Doch er konnte es doch nicht gewesen sein, oder? Schließlich war er stumm … oder? Am nächsten Tag wurde ich in das Arbeitszimmer von Ryoichi-sama zitiert. Ich verbeugte mich und verließ das Zimmer. Julius sah mich geschockt an, als ich ihn von den Plänen meines Lehrmeisters erzählte. Ich sollte nach Frankreich gehen, um dort weiter zu studieren. Er klammerte sich ganz feste an meinen Arm, so als wollte er sagen: Geh nicht. Wir schwiegen und blieben eine ganze Weile lang so, bis es schließlich dämmerte und sich unsere Wege trennten. Er schlief im Gästetrakt und ich im Studententrakt, also ich im West- und er im Ostflügel. Zuvor hatte ich ihm versichert, dass ich viel lieber hier bleiben würde als nach Frankreich zu gehen. Ich wäre wirklich viel lieber hier, bei dir geblieben. In der Nacht schlief ich tief, aber unruhig. Der Mond schien durch das offene Fenster hindurch, ich musste meine Augen fest zusammen kneifen, damit ich noch irgendwie einschlafen konnte. Ich fühlte einen Lufthauch, der meine Schweißtropfen sanft kühlte, so wie ein Kuss, der zart meine Stirn streifte. Ich dachte, ich bildete es mir nur ein, Julius' Schritt gehört zu haben. Doch ein Poltern brachte mich in die Realität zurück. Verschreckt wachte ich auf und sah mich in meinem Zimmer um. Julius lag keuchend am Boden. Selbst wenn ich dich früher gefunden hätte … es hätte nichts daran geändert. Kapitel 3: Fearing ------------------ Warum … Warum hatte es nie gut enden können? Ich erfuhr, dass Julius an einem Teufel von Krankheiten litt. Meine Reise nach Frankreich wurde verschoben, vielleicht auch verlegt oder gar komplett gestrichen. Im Moment war es mir nur recht. Im Moment war mir so ziemlich alles egal. Ich wollte Julius sehen. Ich hatte Angst davor. Ich verstand mich nicht mehr. Ich konnte es nicht mehr. Es fühlte sich an, als sei … als seien meine Gedanken wieder in einem großem, schwarzem Loch. Es fühlte sich leer an. So leer, einsam und allein. Ich wusste nicht, wie ich ihm entgegen treten sollte, als der Arzt sein OK gab. Mit zitternden Händen umfasste ich die Klinke zu seiner Tür. Ich hatte Angst, ihm gegenüber zu treten. Ich wusste nicht, ob er lachen würde oder mich anklagend – aus welchem Grund auch immer, ich hätte es ihm gegönnt – ansehen würde. Würden seine Augen leer sein? Betrübt? Erdrückend? Ich wusste es einfach nicht. Ich schluckte. Und drückte die Klinke herunter. „Hallo“, sagte ich leise, als ich das Krankenzimmer betrat. Julius saß aufgerichtet im Bett und hatte sein Gesicht dem Fenster zugewandt. Er drehte sich bei meinen Worten nach mir um. Und lächelte. Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich ihm, die wenigen Meter, die mich von ihm trennten, schienen wie eine undurchdringliche Mauer, die ich nicht brechen konnte. Nicht alleine. Doch er lächelte mir freundlich und warm zu, sanft. Ich merkte, wie sehr ich dieses Lächeln vermisst hatte. Wie sehr ich ihn vermisst hatte. Und was ich genau für diesen so zerbrechlichen Jungen empfunden hatte, dass es mich so sehr zerriss, als er zusammengebrochen war. Ich setzte mich neben dem Bettrand hin, auf einen Stuhl, auf dem wahrscheinlich auch seine Familie schon gesessen hatte. Und wir schwiegen. Er sah mich freundlich an. So verging ein Vormittag, gehüllt in Schweigen, obwohl ich wusste, dass ich nicht mehr viel Zeit mit ihm hatte. Ich hätte mich erschlagen können. „Hier“, meinte ich kurz angebunden und reichte ihm eine kühle Getränkedose. Dankend nahm er sie an. Mit einem Klicken machte ich meine Dose auf, doch Julius schien Schwierigkeiten damit zu haben. Er stellte sich wirklich ungeschickt an. Sanft nahm ich ihm die Dose aus der Hand und machte sie für ihn auf. Etwas schmollend nahm er sie wieder an sich. Das hätte ich auch selbst gekonnt, schien er mir sagen zu wollen und ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „Ja ja, es tut mir ja Leid“, murmelte ich prustend. Ich drehte die leere Dose in meiner Hand. Ich musste es ihm sagen, bevor es zu spät war, dachte ich mir. Oder ich lasse es bleiben. Dann erfährt er nie von meinen Gefühlen. „Hey ...“, fing ich an, die leere Dose noch unruhiger in meinen Händen, „Darf … darf ich etwas sagen?“ Ich sah nicht auf, starrte nur den Schriftzug auf der Dose an, doch ich wusste, dass er ermutigend nickte. Eigentlich machte ich mir aus nichts etwas, da meine Toleranz ziemlich ausgeprägt ist (mein Umfeld ist nicht gerade unschuldig daran), aber trotzdem fühlte ich, wie meine Hände anfingen zu schwitzen. Der Arzt hatte mir erklärt, dass Julius schon einmal operiert wurde, am Hals. Seine Stimmbänder wurden herausoperiert, das erklärt seine Stummheit. Durch die Entfernung des Tumors verlängerte sich sein Leben um knapp einen Monat. Er würde trotzdem sterben. Doch er wollte noch ein wenig länger leben, hatte er anscheinend gesagt. Weil er unbedingt bei jemandem sein wollte. „Ich liebe dich …“ Ich sah ihn an und beugte mich reflexartig vor. Ganz zart küsste ich ihn auf die Stirn. Nur ein Windhauch. Seine Lippen lächelten und seine Hand berührte sanft meine Wange. Er hatte glasige Augen bekommen. Warum währt Glück manchmal nur wenige Sekunden und fühlt sich doch an wie eine Ewigkeit? Die nächsten Tage plätscherten wie flüssiges Gold vor sich hin. Sie waren die schönsten Tage in meinem Leben, auch wenn ich wusste, dass sie enden würden. Ich würde sie fest in meinen Erinnerungen halten. Für immer und ewig. Mit aufgeregtem Blick sah Julius mich an. „Was ist denn los?“, fragte ich erstaunt. Sein Blick trübte sich für einige Momente, als er nicht wusste, wie er sich ausdrücken sollte. Dann startete er einen Versuch. Er streckte die eine Hand flach aus und stellte die andere in einer etwas gekrümmten Position darüber, hob sie von der Hand ab und schien in der Luft zu … „Malen?“, riet ich. Er nickte. Dann zeigte er auf sich selbst. „Du willst, dass ich dich male?“, konkretisierte ich seinen Wunsch in meinen Worten. Wieder ein Nicken. Ein Lächeln, so warm wie ein schöner Sommertag. Ich überlegte. „Na gut ...“, gab ich schließlich unter seinem bittendem Blick nach. Ich fuhr schnell zum Anwesen zurück, holte meine Sachen. Ich beeilte mich, vielleicht etwas zu sehr, denn mein Atem ging unruhig, als ich wieder in das Zimmer kam. Ich hatte in den letzten Tagen einfach viel zu viel Angst. Dass er weg sein würde. Doch er saß immer noch in seinem Bett und lächelte mich freundlich, zunächst war er etwas verwundert, aber dennoch liebevoll an. Überall wo du bist … fühle ich mich mehr zu Hause als woanders. Ich setzte mich hin, ein wenig peinlich berührt und holte meine Sachen heraus. Meinen Aquarellblock, meine Farben. Meine Pinsel. Und ich begann, ihn zu malen. Sein freundliches Antlitz, so zart und zerbrechlich und dennoch standhafter als man glauben mag. Das helle Haar, welches das Sonnenlicht reflektierte. Die ruhigen und besonnenen Augen. All das mochte ich so sehr an ihm. Alles. Einfach nur alles. Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich hasste mich dafür. Er nahm einfach still meine Hand und hielt sie fest, bis das Papier, auf dem das fertige Aquarell von ihm, in so warmen und sanften Farben gemalt wie er selbst es war, trocken war. Genügsamkeit war eine Kunst, die ich nicht beherrschte. Ich starrte aus dem Fenster. Julius sah mich nachdenklich an. Er beugte sich vor und strich mir sanft über das Gesicht. Ich legte meine Hand auf seine. Sanft küsste er mich. Es würde nicht besser werden. Aber er war bei mir. Und ich bei ihm. Kapitel 4: Waiting ------------------ Ich sah mich gezwungen, aufzugeben. Doch ich konnte es nicht. Es regnete an dem Tag, an dem ich zwischen seiner Familie stand und mit leeren Augen auf den Sarg, versunken in dem ausgegrabenem Loch, vor mir starrte. Es war ein leeres Gefühl. Ich sah sie wieder. Eine Leinwand, dessen weiß … für immer weiß bleiben würde. Ich konnte nicht weinen. Ich hatte gewusst, was passieren würde. Ich hatte Angst, dass meine Tränen sein fehlendes Dasein endgültig besiegeln würden. Ich hätte es wissen müssen. Dass, als ich mein Aquarell, schön eingerahmt, auf seinem Sarg sah, doch noch weinen musste. Der Wind flüsterte etwas von Vergänglichkeit, doch ich hörte ihm nicht zu. In den folgenden Tagen bereitete ich mich auf meine Reise nach Frankreich vor. Ich sah es als nicht nötig, noch länger hier zu bleiben, da ich es ohnehin schon aufgeschoben hatte. Also packte ich seufzend meine Sachen zusammen. Das Einzige, was ich jetzt tat, war zu flüchten. Zu flüchten vor Erinnerungen, die ich behalten wollte. Ich stand im Türrahmen und sah noch ein letztes Mal in mein bis zu diesem Zeitpunkt gewesenes Zimmer hinein, bevor ich es endgültig verlassen sollte. Ich verband keine sonderlichen Bindungen mit diesem Raum. Nur mit dem Garten. Der Allee. Die Vorhalle. Das Theater. Ich wünschte mir so sehr, wir hätten etwas mehr Zeit gehabt, doch ich wusste auch, dass selbst mehr Zeit zum selben Resultat geführt hätte. Es war einfach so. Punkt. Es gab keine drehbaren, veränderbaren Punkte. Das, gegen das wir hätten kämpfen müssen, war nicht unbesiegt, aber für uns war es zu spät gewesen. Zu spät zum kämpfen. Hätte ich ihn früher gekannt, wäre vielleicht ein anderes Ergebnis herausgekommen. Hätte ich … doch ich hatte nicht und es brachte eigentlich nichts, mir auszumalen, was wäre passiert, wenn. Doch ich tat es. Ich malte mir alles mögliche aus, nur weil ich den Schmerz so nicht ertragen konnte. Ich wollte mich endgültig von diesem Sein hier verabschieden, da fiel mir etwas ins Auge. Etwas Rotes, Kleines, Unscheinbares. Es war ein Speicherchip. Ich setzte mich fragend auf das Bett, welches ich eigentlich schon Abreise fertig gemacht hatte, mit meinem Laptop auf den Oberschenkeln. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Bildschirm zur Passworteingabe aufforderte. Mit klickenden Tasten gab ich das Passwort ein und drückte auf „Enter“. Eigentlich war es unnötig gewesen, den Laptop mit einem Passwort zu sichern, doch sicher war immer noch sicher. Ich schob den Speicherchip in den entsprechenden Schlitz und wartete kurz, bis es geladen hatte und ich es ansehen konnte. Zwei Audiodateien … Ich friemelte meine Kopfhörer aus dem Rucksack und schloss sie an. Ich ging einfach mal auf Nummer Sicher, falls es irgendetwas Merkwürdiges sein sollte und kurbelte die Lautstärke ein wenig runter. Danach klickte ich die erste Datei zweimal an. Sie hatte keinen besonderen Namen, nur das Datum der Aufnahme. Die andere Datei, so vermutete ich, war ein Songname, der mir bislang unbekannt war. Ein Rauschen füllte meine Ohren, bis ich eine Stimme wahrnehmen konnte. Sie räusperte sich. „Öhöm … Ah, jetzt sitze ich schon hier und hab keine Ahnung wie ich beginnen soll …“, beschwerte sich die Stimme. Sie kam mir nicht wirklich bekannt vor, doch aus irgendeinem Grund konnte ich sie direkt einem Gesicht zuordnen. Das … war … doch … nicht …? „Eh … Ja … Hi! Ich bin es, Julius! Wobei … ich weiß gar nicht, ob du mich da schon kennen wirst …“ Meine Augen füllten sich mit Tränen. Klar, der Arzt hatte gesagt, er war nicht immer stumm gewesen, aber … „Aber egal! Mh … Oh man, dabei hab ich mir doch alles zurecht gelegt!“ Julius lachte nervös. Er lachte. Nicht lautlos, sondern seine Stimme lachte. „Mh … Wo soll ich nur beginnen? Es ist irgendwie … merkwürdig … mit jemandem zu reden, denn ich bis hierhin eigentlich noch nicht wirklich kenne …“ Seine Stimme klang bestimmt, aber auch unsicher. „Ah, am besten fang ich einfach von vorn an, oder?“ Ich ließ mich rücklings auf mein Bett fallen. Ich konnte nicht mehr. „Ich hab deine Bilder immer sehr gemocht, sie waren so … na ja … wie soll ich sagen?“ Wieder ein nervöses Lachen. „Ich denke, ich fand einfach, dass sie interessant waren. Als ich dich dann das erste Mal auf einer Kunstausstellung gesehen habe, fand ich dich direkt irgendwie … Du hast so … ernst gewirkt.“ Ich schluckte. Ich hatte ihn vorher nie bemerkt. Doch er mich. „Dann wurde ich neugierig. Ich wollte gerne wissen, was in dem Menschen Elliot vorging … und …“ Er stockte verlegen. „Ich … nun ja … ich … hab … dich … wohl … ziemlich … beobachtet.“ Das letzte Wort sprach er schon fast zu leise aus, ich musste nochmal zurückspulen und dabei die Lautstärke hochkurbeln. Mir stieg eine leichte Röte ins Gesicht. „Ah, was sag ich hier nur für einen Humbug, das interessiert dich alles bestimmt gar nicht …“ Und wie es mich interessierte. Ich wollte seine Stimme hören. Ich wollte seine Stimme, die ich in den letzten Wochen nicht hören durfte, unbedingt hören. „Ich mochte deine Bilde auf jeden Fall sehr! Und als ich gehört hatte, dass du anscheinend nicht mehr weiter wusstest … da wollte ich dir auf jeden Fall helfen! Nur ich wusste nicht, wie …“ Wieder lachte er unsicher. Er war wirklich nervös, doch sprach trotzdem so frei vor sich hin. Von mir. Von seinen Gefühlen. Von seinen Gedanken. Ich dagegen lief weg. Ich hörte weiter zu. „Und na ja … mein Großvater hatte es mir schließlich endlich erlaubt, in den Garten zu gehen. Und … da sah ich dich. Du wirktest so verzweifelt. Da wollte ich dir helfen. Irgendwie. Nur helfen.“ Und ich wusste es schon, seitdem ich sein Gesicht vor Augen hatte. Er war es. Er war es immer gewesen. „Da … habe ich einfach gesungen und ich war so froh, dass du dich aufrappeln konntest, ob wegen mir oder nicht war mir da ziemlich egal gewesen. Ich war einfach nur so glücklich. Ich mochte das Bild sehr, musst du wissen. Vielleicht klingt es etwas eingebildet, aber es … erinnert mich einfach … an mich selbst. Ich wollte dich unbedingt treffen! So unbedingt!“ Er sprach einfach unbekümmert weiter. „Ich weiß nicht, wie wir uns verstehen werden, wenn wir uns begegnen. Ich hoffe nur, ich bin dir keine allzu große Last, es tut mir wirklich Leid, wenn doch!“ Er war nie eine Last. Nie, auch anfangs nicht. (Okay, ein wenig merkwürdig war er schon gewesen, doch ich hatte ihn nie wie eine Last gesehen.) „Maah, und jetzt ist alles raus, wie peinlich!“ Seine Stimme war wirklich niedlich. Und sie brachte mich zum Schmunzeln. „Aber gut, so wollte ich es ja auch … nur ich hoffe, niemand außer dir hört das … wenn doch, sterbe ich doch noch einmal im Grab … uh … Entschuldigung!“ Ich zuckte ein wenig zusammen, als er das sagte. „Also dann … ich sollte langsam mal Schluss machen, was?“ Er kicherte nervös, unsicher. Doch ich wollte nicht, dass er aufhörte zu reden, egal über was. Ich wollte nur seine Stimme weiter hören, mir seine Eigenarten einprägen, die Tonlage, sein Räuspern, einfach alles. „Vielleicht ist es auch ein wenig fies, wenn ich das jetzt sage, je nachdem, was du für mich fühlst … aber …“ Ich wollte nicht, dass die Stimme endete. Sie sollte nicht enden. Nein. Nein … „Aber … Ich wollte es dir schon immer mindestens einmal gesagt haben: Ich hab mich in dich verliebt … Ich liebe dich mehr als jeden anderen auf dieser Erde.“ Salzige Tränen flossen über meine Wangen hinunter auf die Bettdecke, die ich eigentlich so ordentlich gefaltet hatte. „Vielleicht klingt das etwas unglaubwürdig, ich kenne dich ja eigentlich nicht persönlich, aber … irgendetwas hatte mich schon immer an dir sehr berührt. Und ich war so froh, dass ich der Einzige war, der dieses besondere Etwas in deinen Bildern gesehen hat.“ Er kicherte. „Wahrscheinlich kennst du es auch gar nicht … dieses Funkeln, wenn du malst. Und die Begeisterung, die du in jedem Strich zu legen pflegst. Die runden Formen, die so harmonisch zu den geraden Linien passen. Das ganze einfach … sieht so nach dir aus.“ Ich schloss die Augen. Ich sah ihn, lächelnd vor mir. Das war echt unfair. „Ich liebe dich wirklich aus ganzem Herzen. Wenigstens das solltest du wissen.“ Was hieß hier wenigstens? Wer plapperte mich denn die ganze Zeit voll mit Informationen, die ich plötzlich verarbeiten musste? Idiot. Warum musstest du gehen? Die Tränen flossen wirklich ungehindert. „Mh … ob ich es nochmal sagen sollte?“ Er kicherte schon wieder. Idiot. „Ich liebe dich.“ Ich schluckte. Idiot. „Bitte lebe, ja? Und denk immer an mich … auch wenn es wahrscheinlich ziemlich fies von mir ist.“ Ein entschuldigendes Räuspern. Idiot. „Ich singe dir noch ein Lied, damit du mich auch nicht vergisst! Und bitte … ich weiß auch nicht.“ Seine Stimme klang stockend, auch er schluckte. Idiot. „Vielleicht ist das ja Aberglaube, aber … würdest du warten, bis ich vielleicht wiedergeboren werde?“ Idiot. „Entschuldige, wahrscheinlich triffst du auf jemand anderen, den du vielleicht noch mehr mögen wirst als mich. Wenn du mich denn überhaupt mögen lernst.“ Er lachte. Idiot. „Vielleicht dauert es auch mehr als nur dein Leben … ach ja! Das heißt jetzt nicht, dass du dich umbringen sollst, ja?! Stirb auf ganz natürliche Weise, von mir aus auch mit hundert, aber … würdest du auf mich warten?“ Seine Stimme klang aufgeregt und unsicher. Idiot. „Mh … schade, dass ich deine Antwort nicht mitbekomme. Ich hätte sie gerne noch gehört!“ Sie klang wieder fröhlicher, doch immer noch unsicher. Idiot. „Ha … was habe ich auch nur für Forderungen?“ Er lachte wieder. Idiot. „Aber hey! Ich hab dir noch ein Lied versprochen, nicht? Das will ich auch erfüllen, aber ich werde es dir separat abspeichern, dann kannst du mich immer mit dir herumtragen~ Von mir aus auch diese Audiodatei, aber das ist mir ein wenig peinlich, weißt du …?“ Er lachte wieder dieses unsichere Lachen. Idiot. „Hm … summen kann ich aber noch kurz!“ Und er fing an zu summen. Es war ein ruhiges Kinderlied, dessen Name mir nicht einfallen wollte. Idiot. Er summte sogar eine ganze Weile lang. Dann rauschte es wieder und seine Stimme schaltete sich erneut ein. „Also dann, Elliot … auf Bald!“ Damit endete die Datei und ich hatte das Gefühl, ich lag noch eine halbe Ewigkeit auf dem Bett herum, hörte mir die Lied-Audiodatei in Endlosschleife an – es war das Lied, was mich aus der tiefsten Phase meines Daseins erlöst hatte – und heulte währenddessen wie ein Schlosshund. Ich war echt … ein Idiot. Am nächsten Tag, mit nicht mehr ganz so verweinten Augen, besuchte ich sein Grab seit Langem wieder. Ich hatte es seit der Beerdigung nicht mehr gesehen, die Blumen wurden ausgetauscht und es sah wie frisch gemacht aus. „Da kümmern sich ja welche gut um dich“, schmunzelte ich. Ich stand eine ganze Weile davor, ohne ein Wort zu sagen. Bis … „Ich warte, du Idiot.“ Es war mein Ernst. „Ich warte, aber wehe, du kommst nicht, dann gibt es eins so richtig auf die Rübe!“, sprach ich meine Antwort laut aus. Es war wirklich fies von ihm, so etwas von mir zu verlangen. „Aber ich garantiere nichts“, fügte ich hinzu. Immerhin war es sein Fehler, mich um so etwas zu bitten. Ich schwieg wieder. Und bevor ich ging, flüsterte meine Stimme: „Ich … warte auf dich, also komm, ja?“ Es war fast wie ein Versprechen an die leere Luft, doch ich wusste, dass es dich vielleicht erreichen würde. Vielleicht klänge sogar fast zu schön. „Sicher, dass du dort zurecht kommen wirst?“, fragte mein Lehrmeister hämisch. Seufzend nickte ich. „Du wolltest mich dahin schicken.“ „Du hast es dreimal aufschieben lassen, ich weiß nicht, ob Franzosen so geduldig sind.“ „Das werden wir ja sehen … und die haben mich doch erneut angenommen, oder?“ Er sah mich musternd an. „Deine Bilder sind ja auch besser geworden. Man erkennt mehr, auf was du hinaus willst“, merkte er an, „Nicht mehr so schwammig.“ „Tja“, antwortete ich, „Ich habe eben gelernt, dass manchmal … klare Worte einen weiter bringen als unnötiges Getuschel.“ Er sah mich nochmals musternd an, doch ich hielt seinem Blick stand. Und dann lächelte er. „Zeig es den Franzosen. Wie man einen Pinsel führt.“ Ich prustete. „Wenn sie mich nicht fertig machen, hab ich ja schon fast gewonnen.“ Ich drehte mich um und ging meinen selbstgewählten Weg. Und damit verließ ich den Ort, an dem ich ihn zum ersten Mal getroffen hatte. In diesem Leben konnte ich nicht mit dir zusammen sein. Doch im nächsten Leben … da wirst du laufen können, singen können und lachen können so viel und so oft du willst. Es wird dich keine Krankheit an das Bett fesseln. Du wirst wie in diesem Leben immer dein Lächeln behalten und es nie verlieren. Und ich werde … endlich mit dir zusammen sein können. Denn ich liebe dich … genau so wie du mich, nicht wahr? Epilog: Going ------------- Es ist ein sonniger Tag, an dem ich glaube, meine Vergangenheit rauschen zu hören. Zwei Kinder rannten an mir vorbei. „Jetzt warte doch mal, Jul!“, rief der eine schwarzhaarige Junge dem weißblondem Jungen zu, der munter vor sich hin lief. „Wer zuerst am Eiffelturm ist!“, rief der jedoch bloß zurück und legte einen Gang zu. „Warte doch!“, meckerte der andere Junge, sichtlich außer Atem. Und dann reagierte der schnellere Junge doch noch, er stoppte. „Komm schon, El!“, grinste er und bot ihm die Hand an. „Pah!“, meinte der Junge, der El genannt wurde, nur, nahm aber trotzdem die Hand verlegen an. Und sobald die eine Hand in der anderen war, rannte der andere wieder los, diesmal Hand in Hand mit seinem Freund. Sein Gesicht strahlte mehr als alles, was die Sonne zu bieten hatte. „Kommst du, Elliot?“, lässt mich eine Stimme in die Realität zurückkehren. „Klar …“, sage ich, blicke allerdings noch einmal zu der Stelle zurück, wo ich die beiden Kinder scheinbar gesehen habe. Einbildung? Wahrscheinlich … „Ich finde ja, du hast den Turm schon oft genug gesehen, also mach hin!“, murrt die Stimme nörgelnd herum. „Ist ja gut …“, antworte ich und setze mich tatsächlich in Bewegung. Genauso würde es sein, oder? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)