Rhapsodie in Lilienweiss von LauraAStern (Eine Geschichte aus Mr. Crawfords Haus im Nebel) ================================================================================ Kapitel 1: Rhapsodie in Lilienweiss ----------------------------------- Der Abendstern stand tief und einsam in der veilchenblauen Dämmerung und jeder ihrer Schritte durch den feuchten Novemberschnee verursachte ein ekelhaftes, schmatzendes Geräusch. Im Gegensatz dazu standen das rhythmische Klopfen ihrer Finger gegen die schmiedeeisernen Stäbe des Friedhofszauns und das leise, chaotische Klingeln ihrer unzähligen Armreifen. Ansonsten war es still, die wenigen Vögel, die nicht gen Süden gezogen waren, schwiegen bereits für die Nacht. Fröstelnd liess Toccata von den Stäben des Zauns ab und zog ihren Mantel dichter um sich. Es würde eine lange Nacht werden. Als sie den Bürgersteig verliess und stattdessen auf den Kiesweg des Holywell Friedhofs einbog, wurden ihre leichten, beinahe tanzenden Schritte jäh unterbrochen. Der Beutel, den sie in der Hand trug, war an einem der kürzeren, eher einem dekorativen Zweck dienenden, Stäbe des Tors hängen geblieben, riss Toccata zurück und gab schliesslich mit einem leisen Ratschen nach. Das Geräusch hätte das Mädchen nicht mehr erschrecken können. Mochte ihr der Beutel auch egal sein - sie konnte ihn mit ein paar wenigen Handgriffen wieder zusammennähen -, so fürchtete sie doch um den Inhalt des unscheinbaren Stoffstückes. Hastig zog sie ihren wertvollsten Besitz, das Vermächtnis ihres verstorbenen Vaters, hervor. Die Geige, sorgfältig poliert und kunstfertig mit Lilien und Eisenhut bemalt, war unversehrt geblieben, soweit Toccata in der zunehmenden Dunkelheit erkennen konnte. Erleichtert atmete sie auf. Vorsichtig strich sie über die Saiten, setzte den Bogen an und spielte einige Klänge, als wollte sie testen, ob es denn noch ginge. Die Töne, die sie hervorbrachte, waren unsauber und verstimmt, als wären sie selbst dem Tode nah; es schien etwas anklagendes darin zu liegen, fand Toccata, als hätte man die Geige mit ihrem Vater begraben müssen, als beschwerte sie sich auf diese Art darüber, nicht bei ihrem Herrn sein zu können. Aber natürlich war das Unsinn, das Instrument litt bloss unter der Feuchtigkeit zahlreicher Sommer und der Kälte ebenso vieler Winter. Sie seufzte und setzte ihren Weg zwischen den Grabsteinen hindurch fort, einige Fasane flohen unter misstönendem Gegacker, als Toccata eine Abkürzung durch eine Gruppe von Birken nahm. Ein zweites Mal blieb sie abrupt stehen. Sie hatte nicht erwartet, in der herannahenden Dunkelheit noch andere Besucher hier anzutreffen. Den meisten Leuten waren Friedhöfe bei Nacht oder Dämmerung unheimlich, doch offenbar nicht so dem jungen Mann, der ein paar Meter von ihr entfernt vor einem kleinen, von Moos und Efeu halb überwucherten Gebäude - vermutlich einer Familiengruft - stand. Die schlanke Gestalt hatte ihr den Rücken zugewandt, so dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Der stilvoll gearbeitete Gehstock in seiner rechten Hand, der mattschwarz schimmernde Zylinder auf seinem Kopf und der äusserst feine Wollstoff seines ebenfalls schwarzen Mantels, bestätigten Toccata jedoch, was die Familiengruft bereits ankündigte: Vor ihr stand ein Mitglied der Oberschicht, ein feiner Pinkel, der für ihresgleichen nur Verachtung übrig hatte, während er sich irgendwo in einem viel zu grossen Haus von einem pickeligen Hausmädchen den Tee servieren liess. Toccata fand eine seltsame Befriedigung in dem Gedanken, dass all dieser Luxus ihn letztlich doch nicht vor dem Schicksal aller Menschen bewahren würde. Auch er würde ohne feinen Zwirn und erlesenes Porzellan, ohne Diener und Ländereien, ohne Schmuck und Brieftasche vor seinen Schöpfer treten, genau wie ihr Vater, genau wie der alte Bettler im Park, genau wie das kranke Kind ihrer Nachbarin, denn der Tod machte keinen Unterschied zwischen ihnen allen. Der Mann vor ihr stiess ein Seufzen aus und wandte sich zum gehen. Überrascht hielt er inne, als sein Blick auf die unerwartete Beobachterin fiel. „Oh.“ Dann zog er in einer Geste der Höflichkeit den Hut und deutete eine Verneigung an. „Guten Abend, Miss.“ Verblüfft stammelte Toccata eine Antwort. Sie hatte nicht erwartet, angesprochen zu werden. Mit ihrem wilden Haar und den abgetragenen, dürftig geflickten Kleidern, die sich wohl kaum einer modischen Bewegung zuordnen liessen, passte sie einfach nichts ins Bild der feinen Herrschaften und wurde - wenn überhaupt - höchstens mit mitleidigen oder angewiderten Blicken bedacht. Sie wollte schon an dem Mann vorübereilen, als er erneut das Wort an sie richtete: „Verzeihen Sie meine Neugier, aber dürfte ich wohl fragen, was eine junge Dame veranlasst, zu dieser Uhrzeit mit einer Geige auf einem Friedhof herumzuspazieren?“ „Was veranlasst einen reichen Herrn dazu, zu dieser Urzeit auf einem Friedhof herumzuspazieren?“, fragte Toccata schnippisch zurück. Was ging es ihn an? „Nun, wie sie sich vielleicht denken können, besuche ich die Familie. Meinen Vater, um genau zu sein“, erklärte der Unbekannte und zeigte mit seinem Gehstock auf die Alabasterplatte neben der Tür der Gruft, auf der die Namen, Geburts- und Sterbedaten der hier Beigesetzten eingraviert waren. Der neuste „Zugang“ zu dieser Ruhestätte - ein Mr. Nathan Crawford - war noch keinen Monat tot. Mit einem Mal tat Toccata ihre freche Art leid, obwohl ihr Gegenüber sich nicht im mindestens daran zu stören schien, oder zumindest liess er sich nichts davon anmerken. „Das tut mir leid...“, murmelte sie. „Oh, nicht doch, das muss es nicht.“ Er lachte. „Der Tod ist auch nur ein Teil des Lebens und ich habe Sie schliesslich zuerst nach Ihren Angelegenheiten gefragt. Da ist es nur recht und billig, mich auch nach den Meinen zu fragen.“ Toccata musterte den Mann aufmerksam. Sie schätzte ihn auf Anfang dreissig, doch sein Gesicht war bartlos, was ihn jugendlicher wirken liess als andere Männer seines Alters. Unter seinen dunklen Augenbrauen funkelten zwei braune Augen, die sie mit der unverhohlenen Neugier eines kleinen Jungen ebenso interessiert musterten. „Auch ich besuche meinen Vater“, erklärte sie schliesslich leise. „Mein Beileid, Miss“, sagte Mr. Crawford, während sein Blick noch immer auf ihr lag, als spürte er, vielleicht auch ohne sich dessen bewusst zu sein, dass etwas Ungewöhnliches an Toccata haftete. „Das erklärt - mit Verlaub - aber noch nicht die Geige.“ „Mein Vater war Musiker, die Geige hat ihm gehört“, erörterte sie weiter und bedachte das Instrument mit einem zärtlichen Blick. „Oh, dann wollen Sie ihm also sein Instrument ans Grab bringen?“ Toccata schüttelte energisch den Kopf, so dass ihre dichten, schwarzen Locken ihr für einen Moment die Sicht nahmen. „So ist es nicht. Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn ich seine Geliebte Geige derart Regen und Schnee aussetzen würde!“ „Was also haben Sie vor?“ Mr. Crawford dachte einen Moment lang mit einem geradezu lächerlich ernsthaften Gesichtsausdruck über diese Frage nach. Dann leuchteten seine Augen vor Begeisterung auf. „Spielen Sie vielleicht sogar selbst und wollen ihm vorspielen?“ Toccata errötete, ohne dass sie sich erklären konnte, wieso. „Ja, genau das gedenke ich zu tun.“, gab sie zu. „Aber ich spiele nicht so gut wie er.“ „Ach was, ich bin überzeugt, Sie spielen ganz wunderbar. Ich würde Ihnen wirklich gerne dabei zuhören, also warum spielen Sie nicht etwas für mich?“, fragte Mr. Crawford und füge nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich bezahle Ihnen Ihre Mühe auch gern, wenn Sie das möchten.“ Toccatas Scham kannte keine Grenzen. Sicher, sie konnte jeden Penny gut gebrauchen, aber die Geige ihres Vaters taugte schon lange nicht mehr, um für zahlendes Publikum zu spielen. „Verzeihen Sie, aber die Geige ist völlig verstimmt. Um ehrlich zu sein...“ Toccata senkte die Stimme und beugte sich verschwörerisch zu ihrem Gegenüber, fast, als fürchtete sie, es könnte plötzlich eine Saite reissen und ihr wie einem unartigen Kind auf die Finger schlagen. „...sie klingt ziemlich fürchterlich.“ Mr. Crawford lachte. „Aber das macht doch nichts. Viel wichtiger als ein perfekt gestimmtes Instrument ist doch das Herz des Musikers, der dieses Instrument spielt. Schliesslich ist Musik doch die Sprache des Herzens. Was machen da schon ein paar schiefe Töne? Perfekte Musik hat ohnehin etwas Kaltes, Seelenloses an sich, finde ich.“ Er zwinkerte Toccata zu. Sie seufzte. „Na gut, Sie wollen es ja nicht anders“, lenkte sie schliesslich ein. „Aber sagen sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!“ Sie setzte die Geige an, überlegte einen Moment, was sie spielen sollte und stimmte dann eine irische Jig an. Jeder Takt der Melodie liess den Geigenkörper sanft erzittern, Toccata fühlte jede Note in ihren Fingern, die zunächst langsam, dann immer schneller und lebhafter über die Saiten tanzten. Mit jedem Ton schien der Klang der Geige reiner zu werden, als wäre sie nicht verstimmt, sondern nur nicht mehr daran gewöhnt, gespielt zu werden. Toccata hatte Mühe, die Füsse still zu halten und obwohl sie die Augen geschlossen hatte, um sich ganz der Musik hinzugeben, sich nur auf sie zu konzentrieren, sagte ihr irgendetwas, dass es ihrem Zuhörer nicht anders ging. Diese Musik war geschrieben worden, um dazu zu tanzen und jeder Ton, jeder Takt drängt sie dazu, genau dies zu tun. Als sie schliesslich endete und die Augen öffnete, fand sie, dass Mr. Crawford das Bedürfnis danach, zu tanzen wohl genauso erfolgreich unterdrückt hatte, wie sie selbst; wie aus Stein gemeisselt stand er lauschend da, beide Hände auf den silbernen Knauf seines Gehstocks gelegt und ebenfalls mit geschlossenen Augen. „Wie ich’s mir dachte“, sagte er nach einem Moment tiefer Stille. „Sie spielen ganz wunderbar, Miss.“ Toccata war fast sicher, dass Mr. Crawford über das musikalische Verständnis eines Regenschirms verfügte. Sicher, die Darbietung war stetig besser geworden, aber sie war doch zittrig, unsauber und weit entfernt von „ganz wunderbar“ gewesen. Mr. Crawford zog seine Brieftasche hervor und zählte 12 Schilling heraus, die er Toccata reichte. „Das ist doch viel zu viel für so eine Vorführung!“, protestierte sie. „Ich bestehe darauf“, gab Mr. Crawford beschwingt zurück. „Sie spielen mit Leidenschaft, das ist mehr wert, als Sie vielleicht denken. Und Sie können das Geld sicherlich gut gebrauchen.“ Dann kramte er eine kleine, kupferfarbene Taschenuhr aus seiner Westentasche und warf einen Blick darauf. „Ach herrje, sehen Sie nur, wie lange ich Sie aufgehalten habe. Es tut mir schrecklich leid, Miss. Ich fürchte fast, Ihr Herr Vater wird sich heute mit einem kurzen Ständchen begnügen müssen oder Sie werden sich hier draussen in der Kälte noch den Tod holen.“ Er steckte die Uhr wieder ein. „Und ich sollte mich wohl auch beeilen, wenn ich noch einigermassen rechtzeitig zum Abendessen nach Hause kommen will.“ „Also dann... leben Sie wohl", sagte Toccata, die Münzen immer noch in der Hand haltend. Etwas Redegewandteres wollte ihr einfach nicht einfallen. „Auf Wiedersehen, Miss.“ Mit diesen Worten zog Mr. Crawford seinen Hut, eilte davon und liess Toccata allein auf dem Gottesacker zurück. Sie sah sich um. Der Mond war mittlerweile als dünne Sichel im Osten aufgegangen und schickte sein spärliches Licht durch die Wolken und das dichte Geäst der Eiben und Birken, die einen Grossteil des Friedhofs vor allzu neugierigen Blicken von der Strasse abschirmten. Hier und da schimmerten schwach Grablichter durch das Dunkel. Vielleicht hätte sie doch eine Laterne mitbringen sollen; die Schatten um sie herum waren tief und bedrohlich, als würde etwas, das Toccata nicht zu begreifen vermochte, in ihnen lauern. Ein Schauer schüttelte das Mädchen und sie tat einen tiefen Atemzug. Toccata schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich. In diesen Schatten gab es nichts, wovor sie sich zu fürchten hatte, höchstens ein paar schlafende Fasane und vielleicht einen Fuchs, der die Scheu vor den Menschen so weit verloren hatte, dass er sich derart nah an die Stadt heran wagte. Sie lauschte in die Dunkelheit und ihr war, als könnte sie das leise Knistern des Frostes hören, der sich langsam ausbreitete und Blätter, Zweige und Gräser mit einem feinen Rand aus Silberfiligran versah. Sonst regte sich nichts im Unterholz und sogar der kalte, schneidende Wind raschelte nur noch ganz leise in den Wipfeln der alten Bäume. Es war, als würde die Welt darauf warten, dass ihre Vorstellung begann. Erneut atmete Toccata tief ein, schloss dabei die Augen und setzte die Geige an. Als sie die Augen wieder öffnete und den angehaltenen Atem ausstiess, begleitete ein einzelner Geigenton das kleine Wölkchen, das ihren Mund verliess. Der Ton war langgezogen und klagend, doch völlig klar, von den unsauberen, misstönenden Klängen zuvor war jede Spur verschwunden. Dem ersten Ton folgte eine zweiter auf dem Fusse; In langsamem 4/4-Takt baute sich Note um Note jenes geheimnisvolle Lied auf, das Toccatas Vater die „Rhapsodia Liliorum“ genannt und nur auf Friedhöfen gespielt hatte. Toccata fröstelte, doch spielte sie tapfer weiter. Mit jedem Takt schien es kälter zu werden. Leichter Nebel zog auf, wirbelte im Wind, bis sich schliesslich verschwommene Umrisse daraus formten. Bald war Toccata umgeben von dunstigen Gestalten, die förmlich und steif im Takt der Musik um sie her tanzten. Und mit jedem Schritt, mit jeder Drehung wurden die Gestalten klarer, so dass Toccata bald sogar feine Muster auf der Kleidung der Tänzer ausmachen konnte, und wären sie nicht durchscheinend gewesen, hätte Toccata selbst kaum glauben können, dass sie von Geistern umgeben war. „Du und ich, wir haben eine besondere Gabe, Toccata“, hatte ihr Vater immer gesagt. „Nicht jedem, der stirbt wird auch Einlass ins Jenseits gewährt. Manche von ihnen müssen noch eine Weile hier bleiben. Und in dieser Zeit lassen du und ich sie tanzen.“ Wispernd und raunend glitten die Tanzenden an Toccata vorbei, ohne dass sie die Worte der Geister verstehen konnte. Es war seltsam, alleine mitten unter all diesen Toten zu stehen. Ihr Vater hatte die tanzenden Geister immer als verlorene Seelen gesehen, von denen manche tanzten, um sich zu erinnern und manche um zu vergessen. Er mochte nicht wissen, warum diese Seelen verloren gegangen waren, warum ihnen der Zutritt ins Himmelreich verwehrt worden war, aber er war sich sicher, dass der Tanz zur Rhapsodia Liliorum sie einen Schritt näher an die ewige Ruhe, das immerwährende Glück des Paradises brachte. „Ich habe eine Bitte an Sie, Miss Toccata.“ Die sonore, warme Stimme schien in Toccatas Kopf widerzuhallen, wie in einem grossen, leeren Raum; sie übertönte jeden anderen Gedanken und das wirbelnde, vielstimmige Gewisper der anderen Geister. Als sie zum ersten Mal von einem Geist angesprochen wurde, war sie gerade acht Jahre alt gewesen und hatte sich verschreckt an ihren Vater gedrückt. Noch immer jagte es ihr einen unangenehmen Schauer über den Rücken, plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf zu hören, als hätte diese genau dort ihren Ursprung. Doch die Angst, die sie damals noch empfunden hatte und die Verwunderung, von jemandem, den sie noch nie zuvor getroffen hatte mit ihrem Vornamen angesprochen zu werden, war über die Jahre verschwunden und mittlerweile war es lediglich eine kleine Unannehmlichkeit. Es fühlte sich in gewisser Weise falsch an, so als dächte sie die Gedanken von jemand anderem. Ohne ihr Spiel zu unterbrechen - die Rhapsodia Liliorum konnte ohnehin schon Stunden andauern - sah Toccata sich um, versuchte heraus zu finden, welcher der vielen Geister sie gerade angesprochen hatte. Ihr Blick blieb am Geist eines älteren Gentlemans mit dünnem, grauen Backenbart und einer kleinen, golden schimmernden Brille, die ungewöhnlich tief auf seiner bemerkenswert gerade Nase sass, hängen. Er stand ein wenig abseits der Tanzenden, als wäre er sich zu fein, sich mit ihnen zu den Klängen der Geige zu bewegen. Seine Gesichtszüge kamen ihr vage bekannt vor. Wo hatte sie ihn wohl schon einmal gesehen? „Sie haben vorhin meinen Sohn Mortimer getroffen.“ Wie ein Nebelstreifen zogen die Worte durch ihre eigenen Gedanken. Aber natürlich! Es musste sich also um den Geist von Nathan Crawford handeln, die Ähnlichkeit zu seinem Sohn war eigentlich kaum verkennbar, wenngleich die Züge des jüngeren Mr. Crawford um einiges weicher und freundlicher wirkten, als die seines Vaters. Endlich richtete Toccata selbst das Wort an ihr Gegenüber: „Sie sagten etwas von einer Bitte. Was also kann ich für Sie tun?“, fragte sie leise, während sie sich unbewusst im Takt der Rhapsodia wiegte. „Sie ahnen es bereits, ich möchte, dass Sie ihm eine letzte Nachricht überbringen.“ In der Tat hatte Toccata dies bereits vermutet. Sie seufzte. Das war es immer, worum Geister baten: Letzte Nachrichten an ihre Hinterbliebenen. „Spotten Sie nicht, Miss Toccata.“ Nathan Crawfords Worte hallten streng und tadelnd durch ihren Kopf. „Was vermöchte uns in der kalten Umklammerung des Sensenmannes besser zu wärmen, als der Gedanke an unsere Lieben? Es ist alles, was uns noch bleibt.“ „Schon gut, schon gut!“ Toccata verdrehte die Augen. „Also, was soll ich ihm sagen?“ Auf Mr. Crawfords Gesicht trat der Ausdruck tiefen Bedauerns. „Ich fürchte, ich habe ihn allzu oft nur für seinen Eigensinn getadelt und dabei versäumt, ihm zu verstehen zu geben, dass ich dennoch stolz auf ihn bin. Ich möchte, dass er das weiss.“ Toccata seufzte. Diese Art von Geschichte hatte sie bereits dutzende Male gehört. Aber was half es? „Und noch etwas, Miss. Gehen Sie rasch und meiden Sie die Schatten.“ Das war neu, Geister hatten es sonst eigentlich selten eilig. „Ich gehe, sobald ich mein Spiel beendet habe“, versicherte Toccata ihm, während sie der Geige weitere bittersüsse Klänge entlockte. „Dann könnte es bereits zu spät sein. Ich bitte Sie, gehen Sie sofort, um Ihrer selbst willen.“ Nathan Crawfords eindringlicher Ton verunsicherte Toccata, sodass sie sich beinahe verspielt hätte. „Warum?“ Sie hatte ihrem Vater versprochen, dass sie herkommen und spielen würde und sie gedachte nicht, dieses Versprechen zu brechen, nur als Botin für einen verstorbenen reichen Schnösel fungieren zu können. „Weil dort etwas in den Schatten ist.“ Toccata verdrehte die Augen ein zweites Mal. Etwas. Zu einer noch ungenaueren Beschreibung war Mr. Crawford wohl nicht fähig. „Ich wünschte, ich könnte mich in dieser Sache präziser ausdrücken“, Toccata glaubte, einen Hauch gut verborgenen Sarkasmus‘ in seinen Worten zu entdecken, „aber ich weiss nicht, was es ist, das dort im Dunkeln lauert. Ich weiss nur, dass es Ihnen gefährlich werden kann, ich fühle es. Vielleicht ist es selbst für mich gefährlich und ich bin immerhin tot.“ Was vermochte wohl einen Toten noch zu erschrecken? Alles, was die Verstorbenen noch zu fürchten hatten, waren die ewigen Qualen der Hölle oder die läuternden Flammen des Fegefeuers. Dinge, die Toccata, einer Lebenden, nicht gefährlich werden konnten. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich schlug der Tod dem alten Mann auf’s Gemüt, so dass er sich einen makabren Scherz mit ihr erlaubte. Geister besassen - genau wie Lebende - einen zuweilen recht eigentümlichen Humor. Fasane und Füchse, sagte Toccata sich, mehr verbarg die Dunkelheit nicht. „Ich versichere Ihnen, es ist kein Scherz, Miss Toccata. Kommen Sie in einer anderen Nacht wieder, um Ihr Versprechen zu erfüllen, aber lassen Sie’s für heute gut sein und gehen Sie.“ Der Blick auf Mr Crawfords Gesicht wirkte ehrlich besorgt. Wer hätte gedacht, dass er solch einen guten Schauspieler abgab? „Genug!“ Der Geigenbogen tanzte in flottem Stakkatissimo über die Saiten, als Toccata ihn unterbrach. Das war doch lächerlich. „Ich weiss nicht, ob Sie es komisch finden, jemandem Angst einzujagen, aber ich versichere Ihnen, es funktioniert nicht.“ Nebel zog auf und mit ihm schwoll die Rhapsodia zu einem wütenden, gefährlichen Brummen an, dessen Tonlage beständig höher wurde. „Dort ist nichts in der Dunkelheit, ich habe nichts zu befürchten und ich will kein Wort mehr darüber hören!“ „Aber..“ „Kein Aber. Es ist genug!“ Die Wut färbte Toccatas Wangen rot und liess sie die beissende Kälte beinahe vergessen. Warum sah er denn nicht einfach ein, dass er ihr mit vagen Schauergeschichten und dem ständigen Wiederholen der Aufforderung zu gehen keine Angst machen konnte? Warum macht er sich mit diesem kindischen Spielchen überhaupt dermassen lächerlich? Nathan Crawford sah gewiss nicht wie jemand aus, der im Leben als grosser Scherzkeks bekannt gewesen war. Sie schloss einen Moment lang die Augen, gerade lange genug um den aufgeregten Rhythmus ihres Herzens wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Der Nebel um sie herum wurde mit jedem Herzschlag dichter und dichter. Toccata war dankbar für Mr Crawfords andauerndes Schweigen, das machte es bei weitem leichter, ihn zu ignorieren und sich auf die Rhapsodia zu konzentrieren. Als Toccata die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Birkengruppe, durch die sie früher an diesem Abend gelaufen war. Dort, auf den weiss schimmernden Stämmen der jungen Bäume lag ein Schatten, der zuvor nicht da gewesen war. Es war der Umriss eines schlanken Mannes mit Gehrock und vornehmem Zylinder, doch es gab niemanden, der diesen Schatten warf. Toccata war in dieser Nacht die einzige lebende Menschenseele auf dem Holywell Friedhof und Geister warfen keine Schatten. Im nächsten Moment, beim nächsten Blick war der seltsame Schatten verschwunden. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und der langgezogene Ton der Geige erstarb in einer ganzen Pause. Der nächste Ton, den Toccata anspielte, war zittrig wie Herbstlaub im Wind. Hatte sie sich die Silhouette bloss eingebildet oder sollte Mr. Crawford etwa doch recht gehabt haben? Sie atmete tief durch, während sie den Kopf schüttelte und versuchte, wieder etwas ruhiger, sicherer zu spielen. Das konnte nicht sein. Schatten wanderten schliesslich nicht einfach körperlos herum. Sicher, sie hatte schon so einiges gesehen, das die meisten Leute als unmöglich bezeichnen würden, aber das? Nein, das war nun wirklich ausgemachter Blödsinn. Der Nebel um Toccata wurde immer dichter, schon verschwand der gedrungene Turm der St. Cross Church ganz und gar darin und die Baumkronen waren nicht mehr als dunkle, weiche Umrisse. Toccata schauderte, während sie sich unangenehm bewusst wurde, wie die Feuchtigkeit des Schnees durch ihre Schuhe und Strümpfe drang und sie spürte, wie die Novemberkälte mit klammen Fingern ihre Beine hinauf kroch. Vielleicht, sagte eine kleine, lästige Stimme irgendwo weit hinten in ihren Gedanken, vielleicht war doch etwas nicht in Ordnung... Toccata war hin- und hergerissen, wollte einerseits die Augen schliessen, sich ganz der Musik und dem ihr eigenen Gefühl von Sicherheit und Trost hingeben und so die klamme Kälte unter ihrem Rock vergessen, andererseits jedoch wagte sie kaum zu blinzeln, als erwartete sie, mit einem mal den grässlichen, schwarzen Schlund eines gewaltigen schattenhaften Monsters, das sie verschlingen wollte, vor sich zu sehen, wenn sie nur einen Moment lang unaufmerksam wäre. Da! War da zwischen den Gräbern nicht gerade eben wieder ein körperloser Schatten gewesen? Ängstlich sah sie sich um, das Geigenspiel hastig und verzweifelt, doch sie traute sich nicht, einfach aufzuhören, als wäre die Rhapsodia ein Schutzschild gegen das, was dort in den Schatten harrte, was auch immer er sein mochte. In all den Jahren, die Toccata ihren Vater bei seinen nächtlichen Konzerten begleitet hatte, hatte sie so etwas noch nie gesehen, noch hatte sie in den Erzählungen ihres Vaters davon gehört. Natürlich gab es Geister, die ihnen nicht wohlgesonnen waren, zuweilen sogar derart aggressiv wurden, dass ihr Vater das Spiel abbrechen musste, doch diese Erscheinung war gänzlich anders. Vielleicht war der Schatten gar kein Geist? Er schien nicht aggressiv zu sein, Toccata war beinahe geneigt, das Verhalten des Schattens eher als neugierig, ja, fast schon schüchtern zu beschrieben, wäre da nicht diese Atmosphäre des Unheilvollen, Bedrohlichen gewesen. Etwas an ihm schnürte dem Mädchen die Kehle zu, ohne dass sie recht zu sagen vermochte, was es denn war. Dort war der Schatten schon wieder, tief schwarz und gestochen scharf zeichnete er sich gegen das weiche Grau des Nebels ab und die Geister tanzten um ihn herum, als wäre er gar nicht da. Vielleicht bildete sie sich doch nur etwas ein? „Sie hätten gehen sollen, als ich Sie gewarnt habe, Miss Toccata.“ Sie konnte Mr. Crawford nirgends entdecken, hörte nur seine Stimme, in der eine kuriose Mischung aus Mitleid und Tadel lag. „Nun ist es zu spät.“ Die Worte klangen endgültig durch Toccatas Kopf. Nein. Nein! So einfach konnte es nicht zu Ende sein, es war nicht zu spät! Schliesslich konnte sie doch jeder Zeit einfach gehen. Wie sollte ein simpler Schatten sie davon auch abhalten? Was auch immer sich hinter diesem Umriss verbarg, er hatte keine Macht über sie. Nein. Sie war es, die Macht hatte, sie liess die Geister tanzen und sie würde sich von einem blöden Trick wie diesem nicht einschüchtern lassen! Alles, was sie tun musste, war die Rhapsodia zu Ende zu spielen. Toccata war sich sicher, dass der Schatten verschwinden würde, wenn sie nur ihr Werk zur Ende brächte. Dann wäre jeglicher Spuk auf dem Holywell Friedhof vorbei. Die Geister würden verschwinden und der Schatten mit ihnen. Die Melodie, vormals ein geradezu zerbrechliches Tenerezza, schwoll nun zu einem neu-erstarkten Vigoroso an, als Toccata gegen die Angst, die ihr Herz zittern liess wie einen gefangenen Vogel und den seltsamen Schatten, der immer näher zu kommen schien, anspielte. Ihr war, als verspotte er sie. Als sagte er ihr wortlos, sie solle nur spielen, so könne sie ihn nicht vertreiben. Und bald gehöre sie ihm ganz und gar. Wenn er doch nur einfach verschwinden wollte! Schon erschien die Silhouette auf der Wand der crawford’schen Gruft. Selbstgefällig stand sie lässig auf den Gehstock gestützt, die linke Hand auf der Hüfte, als sähe sie äusserst interessiert zu, wie Toccata gegen sie ankämpfte. Tränen der Verzweiflung rannen über das Gesicht des Mädchens. „Verschwinde doch! Geh und ängstige jemand anderen!“, schrie sie in Gedanken, doch über ihre Lippen drang kein Laut, einzig der Ton der Geige schien fortwährend hysterischer zu werden. „Was habe ich dir denn getan?“ Die einzige Antwort auf diese Frage war das erneute Verschwinden des Schattens auf der Crawfordgruft. Toccata war zum Weglaufen zu Mute, aber ihre Beine waren bleischwer, sobald sie auch nur daran dachte, einen Schritt in Richtung Ausgang zu tun. Hastig sah sie sich nach dem Schatten um, wollte ihn wenigstens nicht aus den Augen verlieren, wenn ihr denn schon die Flucht verwehrt war. Wie aus weiter Ferne gesellte sich der unregelmässige, wilde Rhythmus einer dumpfen Trommel zu ihrem nervösen Geigenspiel. Es dauerte einen ganzen Moment, bis Toccata dämmerte, dass es lediglich ihr Herzschlag war, der mit einem Mal in ihren Ohren pochte. Der Schatten lies ihr keine Zeit, sich über diese Peinlichkeit zu ärgern. Er schien sich geradezu einen Spass daraus zu machen, sich in Toccatas Augenwinkeln zu zeigen, nur um im nächsten Moment wieder zu verschwinden und irgendwo einen weiteren Schritt näher bei ihr wieder zu erscheinen. Fast schon erwartete Toccata ein leises, boshaftes Lachen zwischen den verschreckten, klagenden Tönen ihrer Geige zu hören. Den Geistern war, wie Toccata bemerkte, das Tanzen mittlerweile vergangen und sie konnte es ihnen kaum verübeln; ihr Instrument klang mittlerweile verstimmter denn je zuvor, kein einziger gerader Ton war mehr in dem Katzenjammer, der einst die Rhapsodia Liliorum gewesen war, zu finden. Sie konnte es ebenso gut aufgeben... „Nicht doch, Miss.“ Nathan Crawfords Stimme erschreckte Toccata so sehr, dass sie sich grob verspielte - nicht, dass das tatsächlich noch aufgefallen wäre - und ein kleiner Aufschrei den Weg über ihre Lippen fand. „Spielen Sie, in Gottes Namen, Miss, spielen Sie.“ Nach wie vor konnte sie ihn nicht sehen, doch in Mr. Crawfords Stimme lag ein gewisser Trost. Und vielleicht war die Rhapsodia doch eine Art Schild gegen diesen Schatten? Vielleicht war sie wirklich sicher, solange sie nur spielte, ganz gleich, wie ohrenbetäubend falsch es auch klingen mochte? „Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie sicher sind, solange Sie spielen. Aber Sie dürfen nicht aufgeben. Dieser Schatten, er scheint gefallen an der Jagd zu finden, es bereitet ihm Vergnügen, Sie herum zu scheuchen. Sobald Sie aber aufgeben, sind Sie nicht mehr von Interesse und wer weiss, was Ihnen dann blüht? Also spielen Sie weiter, kämpfen Sie, Miss Toccata. Denn noch ist nicht alles verloren.“ Toccata nickt unter Tränen. Mr. Crawford hatte Recht, sie konnte sich nicht einfach so unterkriegen lassen. „Na also, das ist schon besser!“ Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation schwang in Nathan Crawfords Stimme eine gewisse Selbstzufriedenheit mit. „Hören Sie mir gut zu, Miss. Um einen Schatten zu bekämpfen, kann es - der Logik folgend - nur eines geben: Sie brauchen Licht.“ Toccata runzelte die Stirn. Woher sollte sie denn ein Licht nehmen? Selbst die Grabkerzen waren erloschen, wie Toccata jetzt auffiel. Himmel, sie hätte wirklich eine Laterne mitbringen sollen! „In meiner Gruft sind einige Kerzen“, beruhigte Mr. Crawford Toccatas erneut aufkommende Verzweiflung. „Es brennt nur eine davon, aber ich glaube, ich kann ihnen die Tür öffnen und ihnen genug Zeit verschaffen, um die restlichen anzuzünden.“ Es würde noch ein paar Stunden bis zum Morgen dauern und die Vorstellung, diese Stunden in einer Gruft ausharren zu müssen war alles andere als behaglich, aber es war dennoch eine Chance, dem unheimlichen Schatten, und vielleicht dem Gevatter Tod selbst, zu entkommen. Dieser Lichtblick am dunklen Horizont liess Toccatas Spiel erneut erstarken. Fortissimo schollen die schiefen Klänge über die Gräber, während das Mädchen sich Schritt für Schritt in Richtung der Crawfordgruft zurückzog. Der Blick, den sie dem Schatten zuwarf, war streitlustig, geradezu, als wollte sie sagen: „Komm doch! Ich habe keine Angst mehr vor dir!“, doch sie hatte Mühe, ihr Zittern, ihren flachen Atem zu verbergen. Sie schickte ein stummes Stossgebet zum Himmel, dass Mr. Crawfords Plan von dem Schatten ungehört geblieben war, denn der böse Blick und das laute Spiel ihrer Geige schienen ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken. Ihr war sogar, als wüchse die Schattengestalt jedes Mal, wenn sie ihr wieder etwas näher kam. Aus dem feuchten Schmatzen, das ihre Schritte am frühen Abend verursacht hatten, war durch die zunehmende Kälte ein leises Knirschen geworden. Zweimal glitt sie beinahe auf dem von Schnee und Eis glatten Boden aus, doch Toccata wagte nicht, sich umzusehen und sich zu vergewissern, dass sie in die richtige Richtung stolperte. Ihr Weg schien sich über Stunden hinzuziehen, obwohl sie nur wenige Meter von der Gruft entfernt gestanden hatte. Es konnte doch kaum sein, dass das so lange dauerte? „Nur noch ein, zwei Schritte, dann sind Sie da“, liess Nathan Crawford sie in diesem Moment wissen und Toccata atmete erleichtert auf. Endlich stiess ihr Absatz gegen die untere der beiden Stufen, die zum Tor der Gruft führten. Der Schatten war nur noch einen Steinwurf von ihr entfernt. Etwas zu hastig stieg Toccata die Stufen hinauf, verlor dabei beinahe den Halt und fühlte schliesslich die kalte Stahltür an ihrem Rücken ruhen. Fast schon glaubte sie im Gesicht des Schattens - er war nur mehr eine Armlänge von ihr entfernt - ein Hämisches, überlegenes Lächeln erkennen zu können. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, in ihren Ohren rauschte das Blut mit Getöse. Die Tür hinter ihr bewegte sich keinen Millimeter, so sehr sie sich auch dagegen drückte. Und auch Nathan Crawford liess nichts von sich hören. Hatte er sie doch nur getäuscht? Sie im entscheidenden Moment verlassen? Der Schatten kam noch näher, wäre er menschlich gewesen, hätte Toccata nun gewiss seinen Atem fühlen können. Ein unangenehmer Geruch nach kalter, feuchter Erde schien von ihm auszugehen. Das Mädchen bebte am ganzen Leib, konnte kaum noch spielen. War dies nun ihr Ende? Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier gegen die eisige Metalltür einer noblen Gruft gepresst, panisch an ihrer Musik, ihrem Lebensinhalt festhaltend, obwohl es doch längst zu spät war? Der Schatten war ihr nun ganz nah. Toccata straffte ihren Körper und setzte zum letzten Akkord an. Wenn sie schon sterben würde, dann aufrecht! Doch bevor der Schatten sie endgültig erreichen, sie den kalten Armens des Todes oder eines noch schlimmeren Schicksals überantworten konnte, gab es zwischen ihnen einen Lichtblitz, so hell, als sähe man direkt in die Mittagssonne. Geblendet liess Toccata die Geige fallen und stolperte mit einem Schreckensschrei ins Innere der Gruft, als die Tür hinter ihr mit einem Mal nachgab und aufschwang. Der Schatten wich seinerseits mit einem unmenschlichen Kreischen zurück, als bereite ihm das helle Licht Todesqualen. Mit einem lauten, hallenden Donnerschlag fiel die Tür von Geisterhand zurück ins Schloss. Vor Toccatas Augen tanzten noch immer bläulich-weisse Funken und ihr Atem ging rasselnd, doch noch konnte sie sich nicht ausruhen. Mit fahrigen Bewegungen entzündete sie hastig jede Kerze, jedes Lichtlein, das sie in dem kleinen Raum finden konnte an dem kleinen Grablicht, das vor Nathan Crawfords Grabplatte stand und tauchte die Gruft in ein warmes, willkommenes Dämmerlicht. Sie zog ihren feuchten und von der Kälte steifen Mantel dichter um sich, während sie sich gegen die kalten Alabasterplatten lehnte und erschöpft daran zu Boden sank, die klammen Hände noch immer um das Glas mit dem kleinen Grablicht geklammert. Dieser Lichtblitz... war das Mr. Crawford gewesen? Toccata hatte gar nicht gewusst, dass Geister solche Dinge konnten. Es musste ihn unglaublich viel Energie gekostet haben. „Danke...“, flüsterte sie dem Grablicht mit dem Marienbild in ihren Händen entgegen und hoffte, dass Mr. Crawford sie hörte. Nur dank ihm war sie nun sicher. Das sollte ihr eine Lehre sein, beim nächsten Mal auf eine gut gemeinte Warnung zu hören und besser auf der Hut zu sein! Umgeben vom goldenen Schein der Grabeskerzen beruhigten sich ihr rasendes Herz und ihr flacher Atem endlich wieder. In der Sicherheit des Lichtes liess sie sich ohne weitere Gegenwehr von der bleiernen Erschöpfung übermannen. Sie war schon fast eingeschlafen, als ein kalter, nach feuchter Erde riechender Lufthauch die Kerzen löschte und die Schatten sie umfingen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)