Der Sanftmütigen Erbe von Mimiteh ================================================================================ Kapitel 6: Wir haben ihn auch gespürt... ---------------------------------------- „Warum gibt’s denn noch keinen Tee, Lucy?“ „Weil ich gerade drei Minuten vor dir reingekommen bin, Edmund“ Lucy zwinkerte ihrem Bruder zu und deutete demonstrativ auf den Wasserkessel, der bereits auf dem Herd stand, aber noch keinen Laut von sich gab. „Brr, es ist verdammt kalt da draußen“, fuhr Edmund nur fort und pfefferte mit einer beiläufigen Bewegung die Briefe, die er von draußen geholt hatte, auf den Küchentisch. „Und ich dachte schon, du hättest das sinnlose Meckern mit dem Erwachsenwerden verlernt“, mischte sich Peter ein und schlängelte sich an seinem Bruder vorbei in die Küche. Er trug bereits die gute Kleidung, mit der er zur Arbeit gehen würde. Als Rechtsgelehrter war er in der Nachbarschaft geradezu berühmt. Lucy wusste auch sehr genau, dass das an Peters manchmal eigenwilligen, dafür aber bewundernswert weitblickenden Entscheidungen lag. Aber wer einmal als (Hoch-)König die Verantwortung für das Wohl und Weh eines ganzen Volkes hatte, den schockte kein Gerichtsfall mehr. Edmund grummelte derweil nur vor sich hin. Da endlich erklang ein leises, zaghaftes Pfeifen, ehe der Wasserkessel richtig Laut gab. Rasch zog Lucy ihn von der Hitzequelle herunter und begann den Tee aufzugießen. Den Rest goss sie in eine Schüssel, in der zuvor nur ein paar Kräuter gelegen hatte. Dampf stieg auf und der Geruch vom Thymian verteilte sich in der Küche. Edmund wusste sich das zu deuten. „Es geht ihr immer noch nicht besser?“ Lucy schüttelte leicht den Kopf. „Und ich fürchte, Nathan hat sich jetzt auch angesteckt. Seit heute Nacht hustet er immer heftiger“, sagte sie ernst. „Das hört sich nicht gut an. Vielleicht sollten wir einen Arzt holen. Im Radio erzählen sie doch von dieser neuen Grippe, aus Asien die.“ „Jetzt mal‘ mal nicht den Teufel an die Wand, Edmund. So schlimm wird es schon nicht sein“, würgte Peter seinen jüngeren Bruder ab. Edmund schwieg tatsächlich, aber sein Gesicht sprach Bände. Die anderen beiden wussten auch, dass der Verdacht, den er da hegte, nicht ganz unsinnig war. Seit Wochen überschlug sich das Radio geradezu, weil sich besagte Grippeerkrankung immer schneller ausbreitete. „Wenn es morgen nicht besser wird, dann bestelle ich den Arzt auch hierher. Aber noch will ich abwarten“, stellte Lucy dann klar und machte sich daran, aus einem weichen Handtuch und dem Kräutersud einen heißen Wickel zu erstellen. ~*~ „Tante Lucy…?“ Emilys Stimme klang schwach und rau vom Husten. Ihr Gesicht war fiebergerötet. „Ja, mein Mädchen?“ Lucy setzte sich die Bettkante und legte eine Hand an die heiße Wange ihrer Nichte. „Muss ich wirklich schon wieder ins Krankenhaus? Ich mag‘ da nicht hin“ Lucy lächelte mitleidig. „Wenn der Arzt das sagt, ist es sicher besser. Außerdem wird dir da doch geholfen, das weißt du doch“ „Ich weiß, aber…“ „Shhh… lass‘. Streng‘ dich nicht so an. Es wird alles gut…“ „Tante Lucy…?“, Emily wollte es nicht aufgeben. Also beugte Lucy sich etwas vor. „Was denn, Emily?“ Das Mädchen schloss die Augen, als würde sie einer angenehmen Erinnerung nachspüren. „Ich habe wieder von der Katze geträumt“, sagte sie dann leise. „Ich weiß, Mädchen, ich weiß“ Leicht tätschelte Lucy die Wange ihrer Nichte, während sie zu summen begann. Und wie immer tat das Lied seine Pflicht. Nachdenklich ruhte Lucys Blick auf dem Gesicht ihrer schlafenden Nichte. Offenbar hatte Edmund doch Recht behalten. Offenbar war es diesmal keiner von Emilys kleinen Schwächeanfällen, gerade weil auch Nathan erkrankt war, der normalerweise deutlich robuster war, als seine Zwillingsschwester. Lucy sah aus dem Fenster, sah die Wolken über den ausnahmsweise halbwegs aufgeklarten Winterhimmel jagen. Und in diesem Moment schien eine Wolke innezuhalten, eine Wolke, deren Form Lucy automatisch interpretierte. Wieder einmal ein Löwe. Sie seufzte etwas. Gut drei Jahre war es jetzt her, dass das Thema Aslan zur Sprache gekommen war, gut drei Jahre, dass aus heiterem Himmel die beiden Kleinode aufgetaucht waren, die laut Peter einst für Susan bestimmt gewesen waren – wenn es nach Caspian gegangen wäre. Emily und Nathan waren jetzt fast vierzehn. Lucy und ihre Brüder hatten daran festgehalten, in Gegenwart der beiden nicht über Aslan, Narnia oder alles, was entfernt damit zu tun hatte, zu reden und sie hatten gehofft, dass Aslans Besuch sich für beide in einen unbedeutenden Traum verwandeln würde, den sie bald wieder vergaßen. Aber gerade Lucy achtete seit damals vermehrt darauf, wo Zeichen oder Hinweise auftauchten. Sie vertraute Aslan, das hatte sie damals schon gesagt, und wenn er die Zwillinge eines Tages in Narnia brauchte, würde sie sicher die letzte sein, die sich dagegen stellte. Aber in letzter Zeit hatte sie mehr und mehr Zeichen ausgemacht. Sie wusste nicht so recht, ob ihr das gefallen sollte. Irgendwie ließ es ein beklemmendes Gefühl zurück. ~*~ Alles war weiß. Das Zimmer, die Bettwäsche, alles. Und auch Emily wirkte blass. Ebenso wie ihr Bruder. Lucy, die das Zimmer gerade verließ, weil einer der Ärzte ihr gewunken hatte, sorgte sich mit jedem Tag mehr. ‚Nach zwei bis fünf Tagen ist das Schlimmste überstanden‘, hieß es jetzt euphorisch im Radio, wenn von der Grippeerkrankung die Rede war. Gleichzeitig sprach man von einer Pandemie. Es war fast zwei Wochen her, dass Emily und zwei Tage später auch Nathan ins Krankenhaus eingeliefert worden waren und seit dem unter Beobachtung standen. Dennoch ging es ihnen schlechter und schlechter. Lucy trat auf den Arzt zu. „Gibt es etwas Neues?“, wollte sie wissen. Der blondhaarige Mann wiegte den Kopf hin und her. „Wie man es nimmt. Die Grippe zieht sich zurück, aber bei beiden ist der Herzmuskel angegriffen. Deswegen werden sie immer schwächer. Und egal was wir versuchen, es hilft einfach nichts. – Eure Nichte hat heute Morgen fantasiert, erzählte mir die Krankenschwester. Sie sprach von einer großen, goldenen Katze, die sie besucht hat und ihr gesagt habe, sie sollte keine Angst haben. Nicht, dass ich ihr das glaube, aber solche Geschichten denken sich Patienten oft unterbewusst aus, wenn sie, naja… dem Tode nahe sind“ Der Arzt musste in den vergangenen Tagen, die Lucy fast pausenlos im Krankenhaus verbracht hatte, gemerkt haben, dass diese so leicht nicht zu erschüttern war, sonst wäre er niemals so gnadenlos ehrlich zu ihr. Lucy schluckte leicht, nahm sich aber zusammen. Sie wusste zwar im Gegensatz zu dem Arzt, dass die ‚goldene Katze‘ erstens ein Löwe war und zweitens nicht halb so unecht, wie der Mediziner glaubte, aber der Rest seiner Worte erschreckte sie doch. Sollten Emily und Nathan wirklich so jung von der Welt verschwinden? Bemüht gefasst nickte sie dem Arzt zu. „Ich danke für die Information. – Ist es möglich, dass ich hier übernachte? Ich möchte bei ihnen sein, wenn…“, sie sprach es nicht aus, aber der Arzt verstand. Und zu Lucys großer Erleichterung nickte er. Sie atmete innerlich auf. Sie hätte es nicht ertragen, wenn Emily, sollte sie denn sterben müssen, so einsam sterben müsste, wie ihre Mutter. „Dann werde ich noch kurz nach Hause gehen und meinen Brüdern Bescheid sagen“, sagte sie nur und wandte sich um. Sie spürte einen Kloß im Hals, ihr Brustkorb wurde ihr bei jedem Atemzug eng, wenn sie daran dachte, was vielleicht schon bald geschehen würde, aber es half ja nichts. Da glaubte sie plötzlich ein tiefes, sonores Schnurren zu vernehmen, beruhigend, besänftigend, tröstend. „Aslan?“, fragte sie unwillkürlich und verharrte für einen Moment, sah sich um. „Aslan, bist du hier?“ Natürlich erhielt sie keine Antwort. War das jetzt ein weiterer Hinweis oder nur Einbildung?, fragte sie sich innerlich, fand aber keine Antwort darauf. Also ließ sie es bleiben und machte sich auf den Weg zu dem Haus, in dem sie mit Edmund und Peter wohnte. Als sie die Haustür hinter sich ins Schloss drückte, erwartete sie eine kaum weniger drückende Stimmung, als im Krankenhaus. Edmund und Peter saßen am Küchentisch und schwiegen vor sich hin; erst als sie den Raum betrat, sahen beide auf. Und in beider Gesicht stand eine Erkenntnis, die Lucy sagte, dass sie die dumpfe Prognose des Arztes gar nicht auszusprechen brauchte. Ihre Brüder wussten bereits Bescheid. Allein, dass beide um diese Tageszeit hier und nicht auf der Arbeit waren, sprach Bände. „Wir haben ihn auch gespürt“, bemerkte Edmund nur und brachte ein schmales Lächeln zu Stande. Lucy gelang nicht einmal das, als sie sich zu ihnen setzte. „Ich werde heute im Krankenhaus übernachten“, kündigte sie nur leise an, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. Sie hörte nur, wie einer von beiden, Peter wahrscheinlich, den Raum verließ, nur um Minuten später zurückzukehren und neben ihrem Stuhl stehen zu bleiben. „Komm‘ her, Schwesterlein…“, murmelte er und zog sie mit einem sanften Griff in seine Umarmung. Haltsuchend schmiegte Lucy sich an ihn und zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen, das bewundernd zu seinem Bruder aufsah, weil der ihr haushoch überlegen war. Zum ersten Mal fühlte sie sich wieder schwach und hilflos. Sie hatten versagt. Sie hatten Caspians, Susans Kindern kein erfülltes Leben ermöglichen können, egal was sie versucht hatten. Und zum ersten Mal seit langem begann Lucy wieder zu weinen, erst schluchzte sie nur, dann presste sie das Gesicht fest gegen Peters starke Schulter und heulte sich richtig aus. Er hielt einfach nur still und spendete ihr damit eine Ruhe, eine Kraft und eine Akzeptanz, zu der sie allein niemals gefunden hätte. Als sie sich schließlich beruhigt hatte, schob er sie ein wenig von sich. „Schaffst du das, oder sollen wir mitkommen?“, wollte Edmund hinter ihr wissen. Lucy straffte die Schultern. „Nein, schon gut. Ich gehe allein“ Sie lächelte etwas gequält. „Ich bin die Tapfere, schon vergessen? Königin Lucy, die Tapfere“ Peter sah sie kurz nachdenklich an, ehe er ihre Hand ergriff und mit der Handfläche nach oben drehte. Mit der anderen Hand legte er etwas hinein und schob ihre Finger zu einer lockeren Faust zusammen. „Nimm‘ das mit. Vielleicht ist das der richtig Moment“, bat er nur. Lucy brauchte nicht nachzuschauen, um zu wissen, um was es sich handelte. Die kaum fingerlange Flöte und Susans Kette. Lucy nickte etwas. „Ja, vielleicht ist das genau der richtige Moment“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)