Weil du mich nicht kennst von Vidora (Taito) ================================================================================ Kapitel 7: Abschied ------------------- Tai schob das melancholische Gefühl in seinem Bauch darauf, dass ihr Urlaub sich zusehends dem Ende neigte. Zehn Tage waren so schnell vergangen. Ryo hatte gestern Abend tatsächlich noch seine Wiedervereinigung mit Nadine gefeiert und war erst spät nachts überglücklich von ihr zurückgekehrt, als Tai schon im Bett gelegen hatte – schlaflos. Um vier Uhr hatte Tai beschlossen, dass es sinnlos war, sich weiter im Bett hin und her zu drehen, hatte sich angezogen und war losgelaufen. Die Treppen hinunter ins Foyer, raus aus dem Hotel, dann runter zum Strand. Die Wellen rauschten versöhnlich und umspülten seine nackten Füße. Bei jedem Schritt sank er einige Zentimeter in den nassen Sand ein. Eine kühle Brise strich über sein erhitztes Gesicht. Er rannte und es fühlte sich gut an. Das Blauschwarz des Himmels wechselte langsam zu einem Violett, als er an der Klippe ankam, die den Weg versperrte, und wieder umdrehte. Es war die Klippe, auf deren anderer Seite sich die kleine Höhle befand. Er wollte nicht daran denken, aber die Gedanken drängten sich ihm auf, wie schon so oft in letzter Zeit. Er kniff die Augen zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und trieb sich zu einem schnelleren Tempo an. Er sprintete so schnell er konnte, bis sein Herz so hart gegen seinen Brustkorb trommelte, dass es schmerzte und seine Zehen vom Reiben der Sandkörner brannten. * „Du kannst das Training wohl nicht mehr erwarten“, kommentierte Ryo seine Aktion später beim Frühstück im Hotelrestaurant. Tai nickte. Er nickte, weil es so sein sollte. Nachdenklich stützte er den Kopf auf. „Wieso isst du nichts? Machst du jetzt auch noch Diät?“ „Nein.“ Er seufzte und warf seinem Essen einen lustlosen Blick zu. „Ich hab' bloß keinen Hunger.“ Ryo legte sein Besteck aus der Hand und musterte ihn genauer. „Du bist einen halben Marathon gelaufen und hast keinen Hunger. Du wirst doch nicht krank, oder?“ Tai antwortete nicht. Er fühlte sich völlig gesund... nur... In dem Moment betrat Yamato das Restaurant. Ryo fing Tais Blick auf und sah ebenfalls zur Tür. „Der schon wieder“, brummte er. Tai griff entschlossen nach seinem Sandwich und nahm einen großen Bissen während er seinen Teller anstarrte. „Geht doch“, freute sich Ryo und setzte ebenfalls seine Mahlzeit fort. Aus dem Augenwinkel sah Tai, wie eine junge blonde Frau Yamato folgte und sich mit ihm an einen Tisch setzte. Er kam nicht umhin, immer wieder Blicke nach dort drüben zu werfen. Die beiden unterhielten sich angeregt, lächelten sich gegenseitig an, die Frau legte ihre Hand auf Yamatos. Augenblicklich bereute Tai, etwas gegessen zu haben. Übelkeit schnürte ihm den Hals zu. Er griff nach seinem Wasser und schüttete es hinunter. * Als sie am Nachmittag erstmals die Grand Blue Sauna besuchten, hatte sich seine Laune nicht wirklich gebessert. Die Übelkeit war geblieben und Ryos Nachfragen machten es nicht besser. „Du machst mir langsam echt Sorgen, Tai. Jetzt rück endlich mit der Sprache raus, was ist los?“ Tai legte die Beine hoch und lehnte sich gegen die Wand. „Ich weiß es nicht.“ „Was ist vorgestern Nacht noch passiert?“ Tai zuckte zusammen. „Woher willst du wissen, dass es was mit vorgestern Nacht zu tun hat?“ Shit, seine überschnelle Reaktion war wohl ein wenig verdächtig gewesen. „Na bis zum Abend warst du ganz normal.. naja zumindest soweit ich mich noch daran erinnern kann... und seit gestern früh bist du so komisch, abwesend irgendwie und siehst unzufrieden aus. Hat es was mit dem Kerl-“ - „Yamato!“ - „-zu tun? Als er vorhin reinkam hast du ihn kaum aus den Augen gelassen und -“ Er stoppte. „Mooooment. Hast du mit ihm...?“ „Das willst du doch gar nicht wirklich wissen.“ „Wenn es der Grund für deine schlechte Laune ist, will ich es auf jeden Fall wissen!“ „Es ist bestimmt nicht der Grund.“ „Hat er dir irgendwas getan? Dieser-“ „Hat er nicht. Beruhig dich wieder, okay? Es ist nicht seine Schuld... ich bin mein Problem. Niemand sonst.“ Eine Minute schwiegen sie. Tai konnte förmlich hören, wie es in Ryos Kopf ratterte. Er kratzte sich Sherlock-Holmes-mäßig das Kinn. „Ich glaube, du magst ihn.“ Tai schüttelte den Kopf. „Dann versuch's nochmal.“ „Nein. Lass dir das von jemandem sagen, der frisch verliebt ist. Du magst ihn.“ Tai verschränkte die Arme und bedachte Ryo mit einem zweifelnden Blick. „Okay pass auf: Du starrst ihn an, sobald er in der Nähe ist. Du hast keinen Appetit. Du nimmst ihn in Schutz.“ Er beantwortete Sherlocks Ausführungen mit einem Schulterzucken. Mochte ja von außen betrachtet stimmen... aber deswegen war er noch lange nicht... „Klingt ja alles super Ryo. Aber ich erinnere mich schwach daran, dass Verliebtsein ein gutes Gefühl ist. Grinse ich den ganzen Tag? Rede ich von früh bis spät über Yamato? Nein. Deine These kann also nicht stimmen.“ „Jetzt machst du es dir aber zu einfach Kumpel. Diese Sache hat mehrere Seiten. Glaub mir, du magst ihn. Du solltest mit ihm darüber reden... was auch immer passiert ist. Du willst es mir ja nicht erzählen.“ „Und wenn du es noch drei Mal sagst wird es davon nicht wahrer.“ „Ich wusste gar nicht, dass du so trotzig sein kannst. Ich dachte immer, das wäre mein Part.“ * Am Abend stand Tai wieder auf dem Balkon. Er hatte den ganzen Nachmittag über Ryos Ratschlag nachgedacht. Seufzend musste er sich eingestehen, dass er in dem Punkt Recht hatte: Yamato ließ ihn nicht los. Er beschäftigte ihn. Seine Anwesenheit löste etwas in ihm aus. Aber das was zwischen ihm und Yamato war, war nicht das Gleiche wie mit Ryo und Nadine. Er lief nicht auf Wolken. Er kämpfte gegen Wellen und Sturm. So kam er sich jedenfalls vor. Die Wellen waren seine Prinzipien. Er wusste, dass Urlaubsflirts und Bettgeschichten – und vor allem Mischungen aus beidem – so ziemlich die schlechteste Basis für jede Art von Beziehung waren. Und er wusste, dass es Blödsinn war, sich emotional an jemanden zu hängen, den er zwei Tage kannte und den er in seinem Leben wohl niemals wiedersehen würde. Bei dem Gedanken fühlte sich sein Körper bleiern an. Er wusste im Grunde gar nichts über Yamato, nicht seinen Nachnamen, nicht wo er lebte, warum er für arme Kinder Gitarre spielte und nicht, wer die hübsche Frau war, mit der er sich so vertraut unterhalten hatte. Er seufzte. Er wollte es gerne leugnen, aber es war so: Er hatte Yamato schon zu nahe an sich herangelassen. Er hätte es bei dem schnellen Abenteuer belassen sollen. Zu spät. Aber es war vielleicht nichtmal nur die sexuelle Anziehung. Es war zum Teil auch dieses Mysterium, das er darstellte. Yamato schien mehr als ein Geheimnis zu haben. Er war... aufregend. Wenn sie sich zwei Jahre früher und unter anderen Umständen kennengelernt hätten... aber solche Gedankenspiele halfen ihm jetzt auch nicht weiter. Auch wenn Yamato Japaner war, hieß das nicht, dass diese Sache jemals eine Zukunft haben konnte. Vielleicht lebte er im Ausland, war verheiratet und hatte drei Kinder. Wenn er nach Japan zurückkehrte, würde er direkt ins Trainingscamp gehen und ein paar Wochen nichts anderes tun, als trainieren, essen und schlafen. Er hatte eigentlich gar keine Zeit für Dates oder sowas. Abgesehen davon, dass der Blonde wohl ohnehin nicht von den selben Gefühlen geplagt wurde, wie er. Er hatte aufgehört ihn anzustarren. Ja, sie hatten irgendwie die Rollen getauscht. Die blauen Augen folgten ihm nicht mehr, hatten wahrscheinlich gesehen, was sie sehen wollten. Yamato war weitergezogen. Und er sollte das Gleiche tun. * Hikari roch nach Vanille als er sie umarmte. Der Schleier raschelte. „Ich freue mich für euch.“ Sie war die schönste Braut, die er je gesehen hatte. Erwachsen, eine Frau, verheiratet mit ihrem Traummann, dem der Smoking stand wie angegossen, ein perfektes Foto fürs Familienalbum. „Ich freue mich, dass du da bist! Ich habe es mir so sehr gewünscht!“ Sie lächelte aus tiefster Seele. „Ich habe den Trainer angefleht, herkommen zu dürfen. Aber ich kann auch nicht allzu lange bleiben.“ „Egal, du bist hier, das ist alles was zählt!“ Er nickte, lächelte. „Und jetzt ein Foto mit der Familie der Braut!“, rief der Fotograf und Kari zog ihn zu der Treppe, auf der sich Familie Yagami gerade aufstellte. „Es ist schade, dass du niemanden mitgebracht hast.“ „Den Trainer vielleicht?“ Er grinste. „Ach Tai, vergiss doch mal eine Sekunde den Fußball. Nein, einen Freund vielleicht.“ „Tja da muss ich dich leider enttäuschen.“ „Schade, und ich hatte gehofft, als nächstes lädst du mich zu deiner Hochzeit ein.“ Er lachte. „Weißt du noch, damals? Du hast immer gesagt, du willst in einem großen Apartment wohnen, mit deiner eigenen kleinen Familie und vielleicht eine Kindermannschaft trainieren.“ „Naja, so ist es doch auch fast.“ „Scherzkeks. Wirklich Tai, ich wünsche dir, dass du jemanden findest, der dich so glücklich macht, wie du es verdienst. Du hast den Fußball immer geliebt. Aber ich weiß, dass du mehr als das bist, ich kenne dich lange genug.“ Jemand forderte Hikari zum Tanzen auf. Sie lächelte entschuldigend und verschwand. Nachdenklich sah er zu, wie sie über die Tanzfläche wirbelte. * „Ich bin zu Hause!“ Es brannte Licht und der Geruch von gebratenem Fisch stieg ihm in die Nase. Er stellte seine Sporttasche in den Flur und pirschte sich ins Wohnzimmer. Aber niemand war da. Stirnrunzelnd ging er bis in die Mitte des Raums, blickte sich um. Plötzlich schlangen sich zwei Arme um ihn und jemand drückte sich an ihn. Er lächelte, drehte sich um und begrüßte seinen Freund. „Wie war das Training?“ Er drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Super. Und super anstrengend.“ „Dann musst du dich jetzt unbedingt entspannen, schätze ich. Ich helfe dir gerne dabei.“ Yamato begann, sein Hemd aufzuknöpfen. * „Herr Yagami! Wie fühlt man sich als Fußballer des Jahres?“ „Es ist eine große Ehre für mich. Aber jeder andere Spieler in dieser Mannschaft hätte es mindestens genauso verdient.“ „Sie sind zu bescheiden! Ihr Siegtor war einfach grandios! Sie sind „der perfekte Spieler“ - das sagen Ihr Trainer und Ihre Teamkameraden über Sie. Es muss also etwas daran sein!“ „Nein, es wäre mir alleine niemals möglich gewesen, das zu schaffen. Wenn dir niemand den Ball zuspielt, kannst du auch nicht aufs Tor schießen. Niemand kann alleine 'perfekt' sein. Das ist jedenfalls meine Überzeugung.“ * Er streckte sich. Hatte er es tatsächlich doch noch geschafft einzuschlafen. Mal wieder hatte er stundenlang wach gelegen, sich von blauen Augen beobachtet gefühlt, die gar nicht da waren. Und dann dieser merkwürdige Traum, von dem er nur noch Bruchstücke vor sich sah. Hikaris Hochzeit. Gar nicht so unwahrscheinlich dieses Szenario. Zurückgeblieben war das unangenehme Gefühl, etwas verpasst zu haben, eine Chance nicht wahrgenommen zu haben. Er wusste, was sein Unterbewusstsein ihm damit sagen wollte. Er seufzte. Ob er jemals wieder vernünftig würde schlafen können? Er würde heute etwas dagegen unternehmen. Er würde mit Yamato reden. Er duschte, zog sich an, stapfte durch den Flur und klopfte an die Tür. Erwartungsvoll und etwas nervös lauschte er. Nichts bewegte sich. Ein unschöner Gedanke beschlich ihn. Was wenn Yamato längst abgereist war? Das durfte nicht sein. Er rannte los. * Es war eine unendliche Erleichterung, Yamato zu sehen. Er saß auf einem flachen Felsen auf der Klippe und schien das Meer zu betrachten. Langsam kam Taichi näher, versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Er hatte eigentlich den ganzen Weg hierher darüber nachgedacht, was er sagen sollte. Es war so schwierig, das in Worte zu fassen, was ihn beschäftigte. Aber jetzt schien es klarer zu werden. Yamato hatte ihn bemerkt, wandte sich ihm zu. Die blauen Augen sahen ihn mit dezenter Verwunderung an. „Was treibt dich her, Taichi?“ Tai spürte, dass er lächelte, als er seinen Namen hörte. „Ich will mit dir reden.“ Da war keine Überraschung in Yamatos Blick als er aufstand, sodass sie sich nun auf Augenhöhe unterhalten konnten. Ein kühler Wind umwehte sie. Tai biss sich auf die Unterlippe. „Wir reisen übermorgen ab“, begann er. „Oh wir hätten also noch genug Zeit für...“ „Nein, das meine ich nicht!“, unterbrach Tai den Flirtversuch. Er fuhr sich nervös durchs Haar. Die blauen Augen sahen ihn ruhig an. „Ich... wünschte ich könnte bleiben, um dich besser kennenzulernen. Verstehst du, ich...“ „Das würde nichts bringen.“ Tai sah auf. „Ich reise Morgen früh ab.“ Etwas schien schwer an seinem Herzen zu ziehen. Als hätte jemand einen Stein daran gehängt. Er öffnete den Mund. „Ich mag dich, Tai.“ Die vier Worte ließen ihn große Augen machen. „Weil du mich nicht kennst.“ „Wie meinst du das?“ Yamato lächelte ein Lächeln, das Tai jetzt zum ersten Mal bei ihm sah und das ihm durch Mark und Bein ging. Eine gewisse Traurigkeit, nein Resignation, lag darin. „Es ist schwierig. Ein Urlaubsflirt ist eine Sache, Tai. Aber eine Beziehung im realen Leben ist etwas ganz anderes. Besser, wie belassen es dabei.“ „Nein!“, hörte er sich überraschend laut sagen. „Ich will... ich will nicht, dass es hier endet. Ich wollte das nicht, aber... du gefällst mir. Mehr als gesund für mich ist.“ Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. „Ich bin keine fünfzehn mehr Yamato... ich bilde mir nicht ein, dass wir jetzt ein glückliches Pärchen werden, zusammenziehen und heiraten, aber... ich kann das nicht einfach abschütteln. Verdammt, ich... ich denke seit Tagen darüber nach und-“ Yamato griff nach seinem Kinn, zog ihn zu sich heran. Ihr Kuss schmeckte nach Abschied. Nach Endgültigkeit. Ein bitterer Kloß blockierte Tais Hals, machte ihm das Atmen plötzlich so schwer. Viel zu schnell ließ Yamato ihn los, wandte sich von ihm ab und blickte wieder Richtung Meer. „Danke Tai... Mach's gut.“ Seine Stimme klang ungewohnt ernst. Damit rannte er los. Rannte auf den Rand der Klippe zu. Tai sah nur noch den Wolf aufblitzen. 'Warte!' lag auf seiner Zunge, aber es kam nicht heraus. Yamato war längst verschwunden. Gesprungen. Er blieb zurück. Geschockt von dem abrupten Ende ihres Gesprächs. Geschockt von Yamatos Worten. Geschockt von den Gefühlen, die ihn durchfluteten. Seine Hände zitterten. Er starrte auf das Ende der Klippe. Ich mag dich, Tai. Verdammt! Er kniff die Augen zusammen. Manchmal muss man einfach springen... Er holte tief Luft. Sein Körper bewegte sich ganz von alleine. Er machte zwei Schritte rückwärts und dann... dann sprintete er los, zum zweiten Mal an diesem Tag. Rannte auf den Abgrund zu, auf die Sonne, auf das Meer. Panik schrie in ihm auf, aber sie blieb ungehört. Seine Füße lösten sich von dem felsigen Untergrund. Er sprang. Sein Magen kribbelte panisch. Das Wasser kam immer näher. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er tauchte ein. Atemlos. Sein ausgesetzter Verstand teilte ihm mit, dass er vollkommen verrückt sein musste. Sein Herz schlug wie wild. Kaltes Wasser umhüllte ihn. Er paddelte, tauchte auf, schnappte Luft, wischte sich das Wasser aus den Augen und die nassen Haare aus dem Gesicht, blickte sich hektisch um. Nur noch ein Gedanke in seinem Kopf: Wo war Yamato hin? Er konnte doch noch nicht weg sein, oder? Hatte er zu lange gezögert? Hatte er seine Chance vertan? Er schlug mit der Faust ins Wasser. Plötzlich schlangen sich zwei Arme um ihn. Sein Herz setzte einen Schlag aus, um dann noch schneller zu rasen. Er drehte sich in der Umarmung um. Blaue Augen blickten ihn an. „Es scheint, dass ich dich auch nicht wirklich kenne, Taichi.“ Ein Grinsen begleitete die Worte. „Lass uns das ausmerzen“, raunte er. * Tai joggte die Treppen hinunter. Inzwischen hatte er die Marmortreppen und Inselaquarelle lieb gewonnen. Seine Schritte hallten traurig durch den Gang. Er holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche, den er gleich zurückgeben musste. Eine einfache Geste, aber für ihn markierte sie mehr, als das Verlassen des Grand Blue. Es fühlte sich an, wie eine Niederlage, als hätte er ein wichtiges Spiel verloren. Seine Füße waren schwerer als sonst. Was war schief gegangen? Seufzend erinnerte er sich an die Küsse im Wasser, ihren Abschied am Strand. Auf einmal hatte alles so hoffnungsvoll gewirkt, als könnten sie den nächsten Schritt doch noch machen. Aber dann hatte Yamato ihn doch zurückgelassen, ohne einen Namen, ohne eine Adresse, hatte ihm den Rücken zugedreht und war einfach abgehauen. Tai hatte nur hinterherstarren können, den im Sonnenlicht leuchtenden Wolf betrachtend. Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken. Jetzt hatte er den Beweis, dass das alles ein Fehler gewesen war. Ein Fehler, so nah auf Yamato zuzugehen. Er war gesprungen, aber es hatte nicht gereicht, um das Hindernis zu überwinden. Nur schöne Worte. Die Frau am Empfang lächelte so freundlich wie am ersten Tag. Der erste Tag... war es wirklich schon knapp zwei Wochen her, seit er Yamato das erste Mal auf dem Balkon gesehen hatte? Es war nun wirklich an der Zeit, diese Erinnerungen zu verbannen. Er warf einen Blick zu den riesigen Pforten des Foyers. Ryo stand schon draußen und schoss noch Fotos mit seinem Handy. „Hatten Sie einen angenehmen Aufenthalt?“ So richtig sicher war er sich seiner Antwort nicht. „Ja, vielen Dank.“ Er legte den Schlüssel auf den Tresen und wollte weitergehen. „Auf Wiedersehen.“ „Warten Sie, ich habe hier noch etwas für Sie!“ Er seufzte. Sollte er jetzt noch einen Werbeflyer mitnehmen? Höflich wartete er, während die Dame etwas aus einem Fach hervorholte. „Das hat ein anderer Gast für Sie abgegeben. Herr Ishida aus Zimmer 1469.“ Der letzte Satz schlug wie ein Blitz in ihn ein. Mit vor Überraschung geweiteten Augen starrte er die junge Frau an und musste dabei total bescheuert aussehen. Sie hielt ihm einen Umschlag hin, den er erst einige Sekunden lang ungläubig anglotzte, bevor er ihn ihr beinahe ehrfürchtig abnahm. Sein Herz schlug wieder. Er wagte es kaum zu glauben. Er sah die Frau nochmal kurz an, lächelte, und versuchte (mit mäßigem Erfolg), dabei nicht wie ein verknallter Teenager auszusehen. * Eine Stunde nach dem Start war Ryo neben ihm endlich eingeschlafen. Tai hielt die Anspannung kaum noch aus. Er konnte einfach nicht mehr warten, bis er zu Hause sein würde. Er musste endlich den Umschlag öffnen. Aber er wollte dabei auch nicht von Ryos neugierigen Blicken verfolgt werden. Nur für den Fall... Vorsichtig zog er den Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke und öffnete ihn. Es war fast, wie Geburtstagsgeschenke auspacken. Sein Herz pochte euphorisch. Er runzelte die Stirn. Ein Foto... nein... eine Autogrammkarte? Im Ernst? Yamato war darauf zu sehen, wie er mit dem Rücken zur Kamera stand und einen Blick über die Schulter warf. In schwarzer, lässiger Handschrift stand dort „Für Tai, meinen Beinahe-Lebensretter“. Kopfschüttelnd betrachtete er das Bild. Der Typ hatte tatsächlich Autogrammkarten von sich. Wie selbstverliebt musste man sein, um... Sein Blick fiel auf die kleinere Schrift ganz unten am Rand. Da stand „Yamato 'Matt' Ishida – Teenage Wolves, 2013, Tokyo Records“. Teenage Wolves. Teenage... Je öfter er die Worte las, umso stärker wurde das Gefühl, dass er das schon mal gehört hatte. Plötzlich machte es Klick. Kari! Teenage Wolves! Du darfst mich Yamato nennen... Ich bin Künstler. Sozusagen... Ungläubig blickte er die Autogrammkarte an und sortierte seine frisch erworbenen Informationen. Yamato. Matt. Ishida. Die blauen Augen, die ihm den Verstand geraubt hatten. Er war ein Star. Ein Rockstar. Ein Promi. Auf einmal passte das Bild viel besser zusammen. Sein seltsames Verhalten. Seine Worte. Sämtliche Gespräche, die sie geführt hatten, spulten sich in seinem Kopf ab. Mundharmonika. Salsa. Gitarre. Der Textschnipsel. Ein Songtext? ...Weil du mich nicht kennst. Es ist schwierig. Er drehte die Karte um. Auf der Rückseite stand noch mehr. Eine Handynummer... und ein kurzer Text. Tai, da du keine Angst vor Hindernissen hast, melde dich bei mir, lern mich kennen, und wenn du dann immer noch keine Angst hast reden wir nochmal übers Heiraten. Tai grinste breit. Selbst schriftlich schaffte Yamato es noch, ihn zu verspotten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)