Crystal Riders II von Rainblue (Reminiscence) ================================================================================ Kapitel 14: Leerer Schall ------------------------- Jet – Leerer Schall In the End - Linkin Park - Piano, strings and vocal version Mako schläft tief und fest. Sie hat sich in die kaputte Decke eingerollt und murmelt leise unverständliche Worte vor sich hin – ein handfester Beweis dafür, dass sie hoch oben auf Wolke sieben schwebt. Ich beuge mich ganz leicht vor und gebe ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann erhebe ich mich und schleiche auf Zehenspitzen davon, nur um sicherzugehen, dass sie nicht aufwacht, auch wenn es normalerweise weit mehr braucht, um Mako aus dem Schlaf zu reißen. „Tut mir leid“, murmele ich noch in ihre Richtung. „Ich bin bald wieder da.“ Dann wirbele ich herum und verschwinde in die Dunkelheit der Nacht. Ich passiere einige baufällige Häuser, von denen es hier in der Gegend viele gibt und bleibe dem Schein der noch leuchtenden Laternen fern. Für eine Sommernacht ist es unangenehm kalt, darum streife ich mir die Kapuze auf und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch bis zum Kinn. Wenn ich mich nicht beeile, könnte es böse für mich enden. Einen schwarz bezahlten Job findet man nicht unbedingt an jeder Straßenecke, jedenfalls keinen, der nicht auf Mord oder Drogenschmuggel ausgelegt ist. Kaum vernehme ich das altvertraute Rauschen des Wassers, kann ich die Umrisse der Frachter ausmachen und schiebe mich im Eilschritt durch die ersten Docks. Aber etwas ist komisch. Es ist zu still. Um diese Uhrzeit mag hier noch kein Hochbetrieb herrschen, aber von derartiger Geräuschabwesenheit kann auch nicht gesprochen werden. Verwundert trete ich an den Rand des Hafenbeckens. Bin ich vielleicht doch zu früh? Oder hat man vergessen, mich über irgendwas zu informieren? Gerade will ich mich auf dem Weg zum Büro des Chefs machen, als hinter mir Schritte über den Asphalt knarzen. Angespannt drehe ich mich herum, denn mein Gefühl sagt mir nichts Gutes. Aber was ich sehe, ist bei Weitem nicht das, was ich erwartet habe. Genau im Lichtkegel der Laterne steht Mako und starrt mich an. Doch ihre Kleidung ist zerfetzt, ihre Arme, ihr Hals, alles ist aufgeschlitzt, das Blut fließt in Strömen an ihrem Körper hinab und auch aus ihren Augen quillt es heraus. Das Einzige, was ganz und gar nicht dazu passt, ist ihr Blick – kalt, abgeklärt und unversöhnlich. So würde man seinen ärgsten Feind ansehen. „Gute Arbeit, Jace“, sagt sie mit einem angedeuteten, bösen Lächeln. „Jetzt hast du, was du wolltest. Ein gutes Leben, mit Menschen, die dich lieben. Und schon brauchst du uns nicht mehr, was?“ „Mako…!“, kann ich nur hervorstoßen und will auf sie zugehen, aber sie weicht zurück und schüttelt bitter lachend den Kopf. „Das war nie die schöne Hollywoodkulisse hier, das ist mir auch klar. Aber was ist mit uns? Wie kannst du uns einfach vergessen?“ „Ich habe euch nicht vergessen!“, werfe ich ihr heftig entgegen und spüre, wie sich Tränennetze auf meinen Wangen ausbreiten. „Es tut mir Leid, aber ich…“ „Gib dir keine Mühe“, fällt sie mir ins Wort und ihr Lachen wird zu einem Schluchzen. Das Blut bildet eine große Pfütze auf dem Boden. „Werd‘ glücklich in diesem Ding namens ‚Jet‘. Alles andere gehört der Vergangenheit an, nicht wahr?“ „Mako!“, brülle ich und stürze auf sie zu, aber meine Hände greifen ins Nichts. Ihr Körper ist verschwunden, aber etwas blieb zurück. Ihr Blut auf meinen Händen. Und dann spüre ich plötzlich die Hitze in meinem Nacken. Ich komme noch so weit, herumzuwirbeln, die Flammen zu sehen und dann… zerfetzen sie mich. Und alles, was ich einst Zuhause nannte. Most Wonderful Music: Hopeless Fall Als ich diesmal erwachte, hielt Crystal mich schon im Arm und ich musste mich im Halbschlaf bereits ebenfalls an ihr festgeklammert haben. Meine Hände bebten so heftig, dass ich ihr Top schon völlig zerknautscht hatte. „Wieder ein Albtraum?“, flüsterte sie und streichelte mir sanft das Haar aus der Stirn. Als ich nicht antwortete, rückte sie ein wenig von mir ab und nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Jet?“ „Ja“, nuschelte ich, die Augen niederschlagend. „Entschuldige, wenn ich dich geweckt habe.“ „Hast du nicht.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, nahm ihre Lippen aber nicht fort, sondern ließ sie dort verweilen, bis sich mein Atem wieder beruhigt hatte. „Was ist geschehen?“, fragte sie schließlich, als ich mich von ihr löste und aufstand, um wieder Gefühl in die Muskeln zu bekommen. Ich zögerte und ließ ihr dabei den Rücken zugedreht, damit sie nicht sah, wie ich das Gesicht verzog, als mich die Erinnerung überkam. „Ich kann mich nicht an viel erinnern“, log ich letztendlich. „Aber es war das Übliche. Ich verliere die Kontrolle und… töte jeden um mich herum.“ Ich trat hinüber ans Fenster und beobachtete, wie sich der Himmel zusehendes aufhellte, wie sich eine Farbe in die andere schmiegte und die wenigen Wolken ihre Spielereien auffingen. Sonnenaufgänge schienen immer Millionen von Geschichten auf einmal zu erzählen – und das ohne Worte. „Weißt du, Jet“, hörte ich Crystal wieder sprechen. Die Decke raschelte und eins der Kissen fiel dumpf zu Boden, als sie aufstand und knapp hinter mir stehen blieb. „Vielleicht solltest du mal mit Jade über diese Träume reden.“ „Wozu?“, fragte ich kurz angebunden und Crystal sah unschlüssig zu Boden, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und verschränkte dann missmutig die Arme vor der Brust. „Sie scheinen sich in letzter Zeit zu häufen und du siehst immer so müde aus. Außerdem isst du nicht viel und…“ „Es geht mir gut“, fuhr ich sie harsch an, kaum, dass ich mich umgedreht hatte. Ihre Augen wurden größer und ihre Schultern hoben sich vor Schreck. Erst an diesen Details begriff ich, was ich da gerade getan hatte. „C-Crystal, es… tut mir leid.“ Versuchsweise streckte ich die Hand nach ihr aus, sie kam dem Angebot nach und vergrub ihr Gesicht an meiner Brust. „Tut mir Leid…“ „Schon okay“, murmelte sie in den Stoff meines T-Shirts. Eine Weile standen wir nur eng umschlungen da und schwiegen, indes neben uns die Sonne an Kraft gewann. „Meinst du, Moon bringt mich um, wenn ich eure Dusche benutze?“ Crystal lachte, löste sich von mir und legte ihre Hände auf meiner Brust ab, wo sie sich leicht abstieß und wieder heranzog. „Sie ist den ganzen Nachmittag und die Nacht nicht wiedergekommen“, erklärte ich mich grinsend. „Ich halte es daher für keine gute Idee, ins Zimmer zu platzen.“ „Du hast Recht“, erwiderte sie kichernd. „Das Risiko, dass sie dich umlegt, wenn du sie und Amber störst, ist größer, als wenn du ihr Haarshampoo zu Gesicht bekommst, denke ich.“ „Verrate es aber trotzdem nicht, nur zur Sicherheit.“ Sie nickte lächelnd, ehe sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um mich zu küssen. Die Berührung drang sofort zu meinen Sinnen durch und ich zog sie so eng an mich, dass ich ihre Rippen auf meinen fühlte. „Mach es mir jetzt bitte nicht so schwer, dich loszulassen…“, hauchte ich gegen ihre Lippen, als wir uns lösten und sie schnaubte empört, als würde gerade der Richtige sprechen, ließ aber, wenngleich zaudernd, von mir ab. Doch bevor ich mich zum Bad wenden konnte, schnellte sie noch ein letztes Mal hervor und gab mir einen Kuss auf die Brust. Mitten aufs Herz. „Pass gut auf mein Herz auf“, raunte sie, auf den Lippen ein so liebevolles Lächeln, dass der Druck hinter meinen Augen wieder spürbar wurde. Ehe er mich überrennen konnte, beugte auch mich vor, um sie auf die gleiche Stelle zu küssen. „Und du auf meins.“ Final Fantasy VIII OST – Slide Show, Pt. 1 Als wir in die Mensa kamen, saß Moon bereits an ihrem abgestammten Platz, nur von Amber fehlte jede Spur. Dafür sagte ihr äußeres Erscheinungsbild einiges aus. Sie hatte ein feines Schmunzeln auf den Lippen, ihre Wangen waren mit rosafarbenen Tupfern übersäht und das Blau ihrer Augen hatte ich noch nie zuvor so strahlend und gleichmäßig erlebt. „Guten Morgen“, begrüßte sie uns ruhig, als wir mit unseren Tabletts ankamen und nahm einen genießerischen Bissen von ihrem Sandwich. Crystal und ich tauschten lediglich einen Blick. Offenbar war es gut gelaufen und Moon war uns wegen unserer Aktion nicht böse, aber… „Wo ist denn… Amber?“, wagte Crystal schließlich zu fragen. Moon kaute auf und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als irgendwo hinter uns Teller zu Bruch gingen und unsere Aufmerksamkeit auf sich zogen. Final Fantasy VIII OST – Slide Show, Pt. 2 Wie vom Blitz getroffen stürmte Amber in die Mensa, den Mund weit aufgerissen, woraus ein, nur von Atempausen unterbrochener, ausgedehnter Schrei drang. Obwohl ihn so ziemlich jeder anstarrte, verstummte er nicht, sondern rannte geradewegs auf unseren Tisch zu, packte mich bei beiden Schultern und schüttelte mich, ohne das Schreien zu unterlassen. Dabei fiel mir auch auf, dass seine Augen ebenso geweitet waren. Ich war schon drauf und dran, mich von ihm loszumachen, als er den Griff von sich aus lockerte und das ganze Prozedere bei Crystal wiederholte. Moon jedoch blickte er nur an, der Schrei verebbte für die Sekunde, dann setzte er wieder ein und mit ihm lief Amber erneut los. Auf halber Strecke zur Tür schnappte er sich Maia, die gerade auf dem Weg zu ihrem Tisch war. Wieder fasste er sie an den Schultern, schüttelte sie und schrie ungefähr fünf Sekunden lang auf sie ein. Kaum war sie abgefertigt, knöpfte er sich auch Opal und Ain vor, die hinter Maia hergekommen waren. Und als krönender Abschluss bekam er kurz vor der Tür auch noch Mira zu fassen, welche ihm infolgedessen eine Ohrfeige verpassen wollte, jedoch nicht mehr dazu kam, da Amber sich hastig in Sicherheit brachte. Sein Schrei hallte noch im Flur wider, sowie er zur Tür hinausgehetzt war und scheinbar auch nicht mehr so bald wiederkommen würde. Die Schüler verstreuten sich wieder, einige kopfschüttelnd und Crystal und ich sahen äußerst langsam zu Moon hinüber, die bloß die Schultern zuckte, als wäre das alles völlig normal gewesen. [Beautiful Soundtracks] Boku no kanojo wa saibôgu Cyborg She OST - Koukai to Henka „Amber und ich haben gestern miteinander geschlafen“, erklärte sie stocknüchtern, warf sich eine Mandarinenscheibe in den Mund und seufzte wohlig. Obschon Crystal und ich beide damit gerechnet – und sogar darauf gesetzt hatten – klappte uns gleichzeitig die Kinnlade runter. „Und da reagiert er so?“, hakte Crystal ungläubig nach und warf einen Blick zur Tür, aus der Amber verschwunden war. „Offenbar schon“, sagte Moon mit derselben unbefangenen Art wie eben schon. Sie schob lediglich die Unterlippe ein wenig vor und zuckte erneut die Schultern. „Aber du hättest ihn in Aktion erleben sollen – ich sag dir, der Kerl ist nicht das Unschuldslamm, das er zu sein scheint!“ „Oh, bitte keine Details…“, murrte ich mit Nicken auf mein Frühstück. Moon grinste. „Also ist er doch mehr als ein Freund für dich?“, lächelte Crystal und streckte die Hand nach ihrer aus. Moon verdrehte nur die Augen, musste jedoch wieder lachen und wurde dabei ziemlich sichtbar noch röter. „Okay, ihr habt mich drangekriegt, ihr Füchse.“ „Das freut mich so für euch“, flüsterte Crystal und wischte sich hastig die Tränen weg, woraufhin Moon das Gleiche tun musste. Wie gerufen, kam Amber mit seinem Tablett an den Tisch. Seine Haare standen immer noch querbeet, aber er hatte zumindest mit dem Schreien aufgehört. Seufzend ließ er sich auf den Stuhl neben Moon fallen. Aber als sie sich unvermittelt herüberlehnte und ihm einen Kuss auf die Wange gab, ging es prompt wieder mit ihm durch, weshalb ich eine Apfelscheibe nach ihm warf. „Wofür war das denn?“, beschwerte er sich heiser. Den aufkommenden Schrei hatte es erfolgreich unterbunden. „Für mein Trommelfeld“, gab ich trocken zur Antwort. „Ich will gar nicht wissen, wie viele Dollar hier drin grad von Hand zu Hand gehen“, zerfuhr Moon unser vorheriges Gesprächsthema nonchalant und rückte kurzum zu Amber auf, damit sie sich auf seinen Schoß ziehen konnte, was er mit hilflos roten Wangen aufnahm, bevor er es wagte, seinen Arm um ihre Taille zu legen. Aber Moons Fokus galt gar nicht ihm. „Oh mein Gott, sogar Azurite, dieses Miststück, ich hab’s doch gewusst!“ „Moon, wovon redest du?“, stutzte Crystal für uns alle, aber sie legte Amber nur die Arme um den Hals und gab ihm einen nicht gerade zimperlichen Kuss. Seine Miene verriet, dass er ebenso wenig wusste, was das alles zu bedeuten hatte, aber sich von Moon loszumachen, kam auch nicht infrage. „Verstehst du das?“, wandte sie sich an mich und ich sah mich einmal im Kreis um, bis es mir aufging. Und zwar in dem Moment, in dem ich zusah, wie Lesath, eine Perle, eine ihrer Klassenkameradinnen einen Zwanzigdollarschein zusteckte. Und das, als ihr Blick auf Moon und Amber fiel. „Wetten“, stellte ich langsam fest. „Ich fürchte, so gut wie das gesamte Internat hat Wetten abgeschlossen, ob und wann die beiden zusammenkommen.“ „Meine Güte, sogar die Lehrer, jetzt bin ich etwas enttäuscht“, ließ Moon verlauten, als sie sich wieder von Amber gelöst hatte, der mittlerweile den Eindruck machte, auf Droge gesetzt worden zu sein. Konnte es ihm einer verdenken, so lange wie schon in sie verliebt war? „Wie dem auch sei“, schloss sie, machte es sich auf Ambers Schoß bequemer und lehnte sich so zur Seite, damit er an sein Essen rankam, was er heute sowieso nicht mehr anrühren würde, da war ich mir sicher. Er schüttelte den Kopf, als hätte er sich in Trance befunden. „Ah, Moonstone, Amber, Jetstone und Crystal“, ließ eine bekannte Stimme uns da unvermittelt aufhorchen. Keinen Atemzug später stand Mrs. Capella neben unserem Tisch. Und das war kein gutes Omen. „Wir, äh… können es erklären?“, lachte Moon nervös und rutschte ohne Verzug von Ambers Schoß. „Ich bin ganz Ohr“, entgegnete Mrs. Capella mit einem strahlenden Lächeln. Nur war es ohne Zweifel die Art von Lächeln, die auch kleine Kinder in Horrorfilmen hatten, wenn sie ein Messer hinter dem Rücken versteckten… The Jazz Crusaders - Funny Shuffle „Mann, hat diese Frau Augen im Hinterkopf oder wie hat sie das jetzt schon wieder herausgefunden?“, brummelte Amber, warf lustlos sein Putztuch in den Eimer und machte sich daran, die obere Regalreihe leerzuräumen. „Und überhaupt, was ist das bitte für eine bescheuerte Strafarbeit? Ich dachte immer, Perlen sind die geborenen Ordnungsfreaks.“ „Oh, da denkst du aber weit daneben“, kommentierte Maia und lugte hinter einem der Regale hervor, wo sie und Opal eine der Wände dekorativ anmalten. Es handelte sich dabei um ein offen stehendes Fenster, hinter dem sich ein Strand bei Nacht erstreckte. Auf der Fensterbank davor saß ein Stoffteddybär und blickte hinaus und neben ihm mit dem Blick ebenfalls zum Meer, eine Eule. „Kreativität ungleich Putzfimmel, sag ich dir – aber dieses Mal haben die Mädels wirklich einen Saustall hinterlassen.“ Amber stöhnte nur etwas Undefinierbares in seinen Kragen und wischte die großzügigen Staubschichten vom Holzbrett. Ich seufzte, während ich Bücher über stilvolle Gestaltungsmethoden an ihren Platz zurücksortierte. Crystal kam gerade mit einem großen Kasten voller Pinsel um die Ecke. Ich ließ die Bücher einfach fallen, als ich es bemerkte, obwohl sie sofort wie ein Dominospiel nach links klapperten, und ging ihr zur Hand. „Danke“, prustete sie und streckte die Finger. „Da hat sich ganz schön was angesammelt.“ „Sollst du die alle sortieren?“ „Sieht so aus“, schnaufte sie und krempelte entschlossen die Ärmel hoch. Ich lachte leise in mich hinein. „Wah, Opal, wo bist du?!“, kam es da plötzlich von Maia und wir wirbelten allesamt zur Wand herum, wo jetzt nur noch Genannte stand. „Direkt vor dir!“, haspelte Opals Stimme. Da schien Maia eine Idee zu kommen. „Warte, das ist es! Halt still!“ Bevor sie irgendjemand aufhalten konnte, hob sie den Pinsel und zog eine blaue Linie quer über das unsichtbare Etwas vor sich, dessen Standpunkt nur noch an dem eigenen Pinsel, in der Luft stehend, auszumachen war. „Maia!“, protestierte Opal und wurde vor Entsetzen glatt wieder sichtbar. Eine langer, dunkelblauer Farbstrich zog sich von ihrer rechten Schläfe bis hinunter zum Kinn und Maia brach direkt in schallendes Gelächter aus. „Und ich dachte immer, ich wäre sadistisch“, bemerkte Moon, beinahe anerkennend. Sie war damit beschäftigt, Bastelpappe zu sortieren und nicht mehr zu gebrauchenden Verschnitt zu entsorgen. Auf einmal öffnete sich die Tür und wir machten uns alle steif, aber es war nur Ain. „Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?“, fragte er leichthin und trat an den Schreibtisch heran, um sich einen Notizzettel, sowie einen Stift zu nehmen. „In einer halben Stunde beginnt das Abendessen.“ „Bis dahin dürften wir hier durch sein“, entschied ich, steckte das letzte Buch in die Reihe und streckte mich. Das ständige Bücken und Aufstehen forderte seinen Tribut. „Da wäre ich mir ja nicht so sicher“, grummelte Crystal. Der Pinselkasten wirkte noch immer brechend voll, obwohl sie schon so viele in die vorgesehenen Schubladen verfrachtet hatte. „Ich helfe dir gleich“, lächelte ich ihr zu und als sie meinem Blick begegnete, fielen ihr ungeahnt die Pinsel, die sie gerade herausgenommen hatte, aus den Händen. Einige flogen gleich zu Boden, die anderen jonglierte sie kurzzeitig ungewollt in der Luft und schleuderte sie dann quer durch den Raum. „Pfft, das war filmreif, Crys!“, japste Moon. „Sei schon still“, herrschte sie sie halbherzig an und kam mit roten Wangen herüber, um die Pinsel vom Boden aufzuklauben, die in meine Richtung gesegelt waren. Ich blieb, wo ich war und nahm mir die letzte Regalfläche vor, bis Moon und Amber anfingen zu kichern. „Was ist?“ Verwundert ließ ich die Augen von einem zum anderen wandern, als Opal und Maia auch noch einfielen. „Was denn?“ Rosette Daikatsuyaku - Chrono Crusade Gospel I Original Soundtrack „Na super, der Pinsel ist unter das Regal gerollt“, schnappte Crystal da unter mir. Sekunde… unter mir? Und schon wusste ich, wieso die anderen sich schon die Lachtränen aus den Augen wischten, denn während sich Crystal mit einer Hand an meiner Hüfte festhielt, lehnte ihr Kopf an einer ziemlich offensichtlichen Stelle. „Ähm, Crystal…“, setzte ich an, aber da öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und dieses Mal war es Capella. Ihr Blick hätte einen Tornado beschwören können. Rasch griff ich nach Crystals Schulter und zog sie hoch, aber sie machte sich nur wieder von mir los. „Warte, ich hab ihn doch gleich“, beteuerte sie und bückte sich ein weiteres Mal. Moon war bereits umgekippt vor Lachen. Tief seufzend zog ich Crystal wieder in die Vertikale und streckte mich selbst nach dem Pinsel, war allerdings schon so nervös, dass ich mir beim Versuch den Kopf an der Regelwand stieß. „Verdammt“, zischte ich und wollte mich wieder aufrichten, wobei ich jedoch mit Crystals Kinn kollidierte, da sie nach mir zu sehen versucht hatte. Ich hörte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen und drehte mich panisch zu ihr herum. „Allef guff“, brachte sie hervor und daraufhin war es endgültig um Moon, Amber, Opal und Maia geschehen. Ihr Gackern hätte jedem aufgebrachten Hühnerstall Konkurrenz gemacht. Und dabei wollte ich gerade nichts lieber, als einfach im Boden zu versinken. Jetzt hatte sich Crystal meinetwegen auch noch auf die Zunge gebissen! „Es tut mir leid!“, stammelte ich, ihre Schultern umfassend. „Geht es? Soll ich…?“ Ich hatte keine Ahnung, was ich hätte tun können, ich wusste nur, dass ich etwas finden musste und zwar schnell, sonst brannten mir gleich wirklich sämtliche Sicherungen durch. „Geteiltes Leid ist halbes Leid, Jet“, warf Amber da zwischen einem nicht enden wollenden Lachkrampf ein. Im nächsten Moment durchzog ein dumpfer Schmerz meine Zunge und ich strafte ihn mit einem fischblütigen Schulterblick, der dafür sorgte, dass nun auch er zu Boden ging. Und zu allem Überfluss konnte auch Crystal sich nicht mehr halten, als sie auf meine geröteten Wangen aufmerksam wurde. Mir fiel unwillkürlich auf, dass ich den Pinsel von eben noch in der Hand hielt – ich hatte ihn tatsächlich zu fassen bekommen. Nur… war er mir eben gerade wieder aus den Fingern gerutscht. „Das reicht jetzt!“, funkte Capella endlich dazwischen. „Moonstone, Amber und Crystal – ihr könnt zum Abendessen gehen. Jetstone, Ihr werdet die Pinsel zu Ende sortieren und dann könnt Ihr auch gehen.“ „Wieso denn ich?“, ließ ich fallen, obwohl ich mich normalerweise über nichts aufregte. „Diese Frage dürftet Ihr Euch doch wohl auch gut allein beantworten können“, meinte sie scharf und tippte mit ihren in Vollendung manikürten Nägeln auf meine Brust, auf das Aushilfslehrersymbol. „Von den anderen hätte ich ein solch infantiles Verhalten vielleicht noch erwartet, aber von Euch bin ich zutiefst enttäuscht, Jetstone. Ain wird Euch helfen, also tragt es mit ein bisschen mehr Fassung.“ Mir klappte der Mund auf, aber in gewisser Weise hatte sie gerade so ziemlich jede Art von Gegenargument entkräftet. Konnte das heute eigentlich noch besser werden? „Man sieht sich dann später, Playboy!“, grinste Moon mir noch entgegen und ich würgte mit aller Kraft ein Knurren ab. Amber verpasste mir nur einen Schlag auf die Schulter, war aber noch immer viel zu sehr damit beschäftigt, nach all dem Gelächter wieder zu Atem zu kommen, um irgendeine Bemerkung abzugeben. Crystal war die Einzige, deren Miene von Mitleid sprach und die Mrs. Capella überreden wollte, mir zu helfen, aber Moon hakte sich bei ihr ein und schleifte sie mit sich hinaus. Black Cat Soundtrack - Hungry Kitchen „Womit hab ich das eigentlich verdient?“, brummelte ich, indem ich mich nach einem der Pinsel bückte, der den Raum einmal komplett durchrollt hatte. „Du bist echt ein armes Würstchen“, lachte Maia. Sie und Opal hatten sich zur Spüle begeben, um die Pinsel und Paletten auszuwaschen. „Aber hey, Dämpfer sind immer ein Beweis dafür, dass man Spaß im Leben hat.“ „Ja, total…“, schnaubte Opal, im scheinbar aussichtslosen Versuch, sich den blauen Anstrich vom Gesicht zu schrubben und Maia hob abwehrend die Hände, bevor die Retourkutsche kommen konnte. Wie auch immer, ich war fürs Erste bedient. Als alle Pinsel vom Boden wieder in den Kasten zurückgefunden hatten, ließ ich unsicher die Hände auf beide Ränder fallen und versuchte mir die Sache irgendwie zu erleichtern, indem ich im Kopf voraussortierte. „So, Süßer, wie kann ich dir helfen?“, fragte es da urplötzlich vor mir und mir entglitten unvorsätzlich die Gesichtszüge. …Süßer? Ain blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen und griff ohne Weiteres in die Kiste hinein, um sich einen Schwung Pinsel herauszunehmen – und ruinierte damit auf der Stelle mein System. Ich gab es auf und schnappte mir resigniert seufzend ebenso eine Handvoll Pinsel, um sie im Einzelnen zuzuordnen. „Also, was läuft da eigentlich wirklich bei euch vieren?“, fing er wieder an, zu reden und ich hob verwirrt den Kopf. Der Perlenjunge schmunzelte vergnügt. „Moon und Amber sind ja jetzt offenbar zusammen und du mit Crystal, aber beim Kirschblütenfest hat Amber dich geküsst, oder nicht?“ Bei der Erinnerung daran schauderte ich wieder. „Er war betrunken und hat eine viel zu wirksame Gabe, das ist alles.“ Schnaubend warf ich die Pinsel in ihre Kästen, so schnell es eben ging, denn allmählich wurde mir dieser Raum hier zum Graus. „Schon klar“, stichelte Ain grinsend und ich verzog nur den Mund, um nicht irgendwas zu sagen, was ich später bereut hätte. Zum Glück war das alles, was er noch dazu fallen ließ, denn er lud sich die vollen Kästen auf die Arme und brachte sie zum Regal. Die Kiste war auch so gut wie leer, es war doch schneller gegangen, als gedacht. Gott sei Dank. Gerade angelte ich die verbliebenden Pinsel heraus und wog stirnrunzelnd ab, wozu sie gehören könnten, als mir jemand vollkommen unerwartet mit der flachen Hand auf den Hintern schlug. Desillusioniert bis zum Rand wirbelte ich herum und konnte nur noch sehen, wie Ain mir zuzwinkerte, ehe er hinter der Eingangstür verschwand. Ich brauchte noch einen Moment, um zu realisieren, was sich da gerade abgespielt hatte. Aber mit Maias und Opals unterdrücktem Gekicher vom Nebenraum, kam auch die Erkenntnis bei mir an. Gezwungenermaßen schüttelte ich mich, schmiss die übrigen Pinsel wahllos in die Kästen und stellte sie ins Regal. Dann räumte ich noch schnell die Kiste beiseite und ergriff förmlich die Flucht. Maias Worte streiften mich trotzdem noch. „Ein bisschen Bi schadet nie, Jety!“ „Halt doch die Klappe“, grummelte ich nur und wünschte mir zum ersten und vermutlich auch letzten Mal in meinem Leben, Ambers Gabe zu haben. Gothic Storm - Memories Flooding Back „Jet?“ Die Gänge waren leergefegt, darum hallte mein Name von den Wänden wider. Die Mittagspause war gerade vorbei, die Schüler im Unterricht, aber ich würde heute niemanden mehr trainieren. Und Jade auch nicht. „Komm bitte kurz mit“, sagte sie, drehte sich um und ging voraus zum Trainingsraum. Ich folgte ihr, wenngleich zögerlich. Es konnte nichts Gutes verheißen und obschon ich es längst ahnte, kämpfte ich den Gedanken stur zurück. Ich schloss die Tür hinter mir, als ich den kleinen Raum betrat, der von unruhigem Frühlingslicht eingenommen war. Jade ging bis zur Mitte, blieb stehen und drehte sich so langsam zu mir herum, dass ich jetzt schon wusste, ich würde hier nicht schadlos herauskommen. „Willst du mir nicht sagen, was los ist?“, kam sie ohne Umschweife zum Kernpunkt. Ich machte ein paar unwillige Schritte auf sie zu, das Kinn gesenkt. „Ich bin nicht blind, Jet. Was belastet dich?“ Ich spannte den Kiefer an, aber es hatte keinen Zweck, auszuweichen. Jade hatte mich gestellt, im falschen Moment – ich hatte keine Chance mehr, mit einer einfachen Lüge davonzukommen. „Es ist die Ungewissheit“, stieß ich letztendlich hervor, ohne sie anzusehen. „Ungewissheit worüber?“, bohrte sie nach und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich der Gründe schon lange bewusst war. Sie fragte nur, um mich aus der Reserve zu locken. Wie so oft. Es gab Tage, da hasste ich sie dafür, auch wenn ich mir tief im Inneren im Klaren darüber war, dass sie mir damit half. Oder es zumindest versuchte. „Mako“, erwiderte ich schlicht. „Und ich. Meine Vergangenheit, der Filmriss… Etwas hat sich verändert, Jade. Ich habe plötzlich andere Gedanken daran – so als würden meine Erinnerungen langsam zurückkommen, aber…“ „Aber was?“ Diesmal suchte ich ihren Blick, suchte die warmen, grünen Augen und hoffte, sie wären stark genug, um den Schatten standzuhalten, die in mir tobten. „Aber ich habe Angst.“ Sie hielt wie erwartet inne und musterte mich reglos, bis ich von allein weitersprach. „Jedes Mal, wenn ich der Erinnerung näherkomme, ist da dieses Gefühl… Es ist, als wäre etwas falsch und je weiter ich gehe, desto größer wird es. Jade, ich…“ Jetzt musste ich lachen. Hart und so bitter, dass mir davon fast übel wurde. Ich taumelte leicht. „Das klingt sicher albern, aber es kommt mir so vor, als wäre ich nur halb da. Und solange das so ist, kann ich mich dem nicht stellen – ich bin nicht stark genug.“ „Dann lass mich dir helfen.“ Irritiert sah ich wieder zu ihr auf. Anstelle eines neuen Wortes, trat sie zur Wand und griff sich zwei Langstöcke. Einen davon warf sie mir zu und ich fing ihn auf, mehr aus Gewohnheit als aus Reflex. „Ich will, dass du die Augen schließt und langsam mit mir die Aufwärmübungen durchgehst. Währenddessen werde ich dir Fragen stellen. Du wirst kurz über sie nachdenken und dann antworten.“ „Jade, das…“, setzte ich an, aber ihr Blick war frei von Zweifeln. „Also gut.“ Damit schloss ich die Augen, konzentrierte mich und als das Raumgefühl aufflackerte und sich in meinen Muskeln ausbreitete, fühlte ich mich wieder besser. In diesem Zustand kam ich mir beizeiten sogar unverwundbar vor. „Fang an“, forderte Jade und ich tat, wie geheißen, ließ den Stock vorwärtsgleiten, folgte der Bewegung und als er den Widerstand ihres Stockes traf, stellte sie die erste Frage. Ohne um den Ausgang dieses Experiments zu wissen. Cinematic Groove Addicts - Kill or Be Killed „Wo bist du?“ Alles ist verzerrt, die Realität ist ein Flimmern in der Ferne. Wohin man auch sieht stehen Trümmer, ehemalige Gedanken und die Last von Jahren. „Ich bin auf einer Brücke.“ Der Wind ist kalt wie eine Sense, dringt durch alle Fasern und gibt mir ein Gefühl völliger Blöße, obwohl ich sehen kann, wie er an meiner Kleidung reißt, sie sich bauscht und hin und her tanzt. Tief, tief unter mir ist das Wasser. So dunkel wie Öl. Und genauso wenig verlockend für ein Bad. „Was willst du dort?“ Die Welt scheint Kopf zu stehen, denn der Himmel ist genauso schwarz. Kein Mond, keine Sterne. Die Welt verschluckt und verzehrt, ohne dass irgendwer dagegen ankämpfen könnte. Aber es wird schnell vorbei sein. Hoffe ich. „Ich will springen.“ Ein Husten bringt mich dazu, die Streben kurz loszulassen. Es brennt in meiner Brust und als ich die Hand fortnehme, kann ich das Blut darauf fühlen. Ich wische es angewidert am kalten Metall ab und atme tief durch. Kann es wirklich so schwer sein? In meinem Kopf bin ich schon tausende Male von dieser Brücke gesprungen. Schon tausende Male innerlich gestorben… „Wie fühlst du dich?“ Mit jeder Sekunde werden meine Hände klammer. Vielleicht muss ich mich nicht dazu entschließen, sondern nur lange genug warten, bis ich die Kraft verliere und herunterstürze. Es ist schwer, aufrecht stehen zu bleiben, denn alles schmerzt. So als hätten mir diese Typen jeden Knochen einzeln gebrochen. „Ich wurde zusammengeschlagen.“ Schließlich kann ich mich nicht mehr halten, aber anstatt zu fallen, lasse ich mich nur auf die Knie sinken und lehne den Kopf gegen den Pfeiler neben mir. Ein Schluchzen bahnt sich in meiner Kehle auf. Ich bin so schwach… so unendlich schwach. „Was ist da noch?“ Meine Kopfwunde hat aufgehört zu bluten und es ist im Nacken getrocknet, hat die Haare dort festgeklebt. So oft, wie mir da schon Blut hinabrann, könnte man fast glauben, die roten Strähnen hätten ihre Farbe daher. Aber das ist mein geringstes Übel. „Da ist… etwas an meinem Arm.“ Langsam blicke ich hinüber zu meiner Armbeuge. Der Verband hat sich während der Schlägerei gelöst und die entzündeten Einstiche verschwimmen vor meinen Augen, kaum dass ich an ihre Ursache denke. Aber auch daran sterbe ich nur im Inneren. „Woher kommt es?“ Mir wird wieder übel und ich spucke etwas Blut in den Abgrund. Wahrscheinlich habe ich auch schon Fieber, es würde mich nicht wundern. Wenn ich losließe, würde ich vermutlich nicht einmal die Zeit haben, zu ertrinken, denn die Kälte würde mein Herz lange zuvor zum Stillstand bringen. „Drogen.“ Adrenalin ist schneller verflogen, als es kommt, auch wenn das kaum einer glaubt. Das Schluchzen wird stärker, zerfetzt mir die Lungen und die Tränen scheinen im Wind zu gefrieren. Es ist hoffnungslos. Es gibt keinen Platz für Menschen wie mich in dieser Welt. „Was denkst du?“ Ich bin zu feige, das weiß ich. Das ist mir schon klar gewesen, als ich hier hochgeklettert bin. Aber was ist, wenn ich es vergesse? Nur noch einmal. Ich bin nicht hier, das ist alles nur ein Traum und wenn ich aufwache, habe ich wieder eine Familie. Eine Mutter, die mich nicht in der Babyklappe zurücklässt oder einen Vater, der auf keinen meiner Anrufe reagiert. So ist es doch, wenn wir in Träumen sterben, wachen wir auf. „Dass es vorbei ist.“ Ich kann diesem Albtraum entkommen, ich muss mich nur einmal in meinem Leben ernsthaft zusammenreißen. Es wird wehtun, aber es wird nicht lange dauern. Außerdem kann ich mit Schmerz mittlerweile umgehen. Nur ein Schritt, nur loslassen. Ich kann mich sowieso kaum noch halten. Nur den Kampf aufgeben, kapitulieren, vergessen. Bring es zu Ende, jetzt mach schon, lass endlich los! „STOPP!“ Linkin Park – My December Ich bin unfähig zu reagieren. Meine Hände lösen sich von den Streben, aber ich falle nicht. Stattdessen werde ich rückwärts gezogen, hänge für eine Sekunde in der Schwebe und lande dann dumpf auf dem Rücken. Sofort muss ich wieder husten und rolle mich eilig auf den Bauch, um Luft zu bekommen. „Alles okay?“, fragt die Person, die mich eben davor bewahrt hat, in den sicheren Tod zu springen. Was mich wütend macht – unerträglich wütend. „Was sollte das?!“, fauche ich sie an, sobald ich wieder sprechen kann und hebe den Blick. Es ist sehr dunkel, aber ich kann trotzdem sehen, dass es ein Mädchen ist. Ihre Haare sind schwarz so wie meine und sie trägt sie zum Pixieschnitt. Das gibt ihr etwas Burschikoses, genauso wie die Lederjacke, die ausgefranste Jeans und die Springerstiefel. Im Nachhinein wundert es mich, dass ich sie sofort als Mädchen erkannt habe. Aber etwas in ihren Zügen ist so weich und unschuldig, dass es nicht zu einem Jungen gehören kann. „Wieso hast du das gemacht?!“ „Um dir den zu Arsch retten?!“, schnauzt sie ebenso barsch zurück. „Brich dir bloß keinen Zahn ab, danke zu sagen.“ „Bist du eigentlich blind?“, fahre ich sie wieder an, während ich mich auf die Beine hieve. Sie ist einen Kopf kleiner als ich, aber das scheint sie nicht annährend einzuschüchtern. „Ich hab da oben nicht gerade um Hilfe gerufen, falls dir das entgangen ist.“ „Ist mir nicht entgangen“, knurrt sie und stößt mich ein Stück zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. „Genauso wenig wie dein Geheule, Mistkerl.“ Das lässt mich innehalten. Mit einem Mal fehlen mir die Worte und ich wende missmutig den Blick ab. „…danke.“ Da lacht sie und ich sehe verdutzt wieder auf, denn sie hat eine eigentümliche Art, zu lachen. So geradeheraus, fast schon provozierend. So muss eine Tigerin lachen, wenn die Tiere das könnten. „Ich bin Mako“, stellt sie sich vor und hält mir die Hand hin. Einen Augenblick lang starre ich nur darauf. Ihre Nägel sind schwarz lackiert und die Haut ziemlich schmutzig, aber… trotzdem sind die einzelnen Fingerglieder so schmal und zierlich. Es hat etwas von Pianistenhänden und ich fange an, das Mädchen zu durchschauen. Es gibt ein Sprichwort dazu, aber jetzt gerade kann ich es sogar noch weiterdichten. Umso härter die Schale, desto weicher der Kern. „Snow“, gebe ich dann zur Antwort und ergreife ihre Hand. Die zarten Finger haben nicht gerade wenig Kraft. „Jason Snow.“ „Ach, was für ’n putziger Name“, bemerkt sie, verschränkt die Arme und schaut sich um. „So und du wohnst hier in der Gegend?“ Ich zucke bloß die Schultern und vergrabe die Hände in den Hosentaschen. „Kann man so sagen, wenn man will. Ich lebe auf der Straße.“ Das scheint sie nicht zu überraschen, trotzdem legt sie den Kopf schräg und mustert mich etwas ausführlicher, was mir nicht gerade behagt. Obwohl mir eigentlich egal sein sollte, was sie denkt. „Und du bist Mitglied einer Bande, richtig?“ „Und du ‘ne Stalkerin?“, mutmaße ich, woraufhin sie grinst und ich muss ungewollt mitlachen. „Nein, keine Bange, ich kann Besseres mit meiner Zeit anfangen. Denk ich jedenfalls.“ „Wie meinst du das?“ „Na ja“, seufzt sie und schlendert auf den Brückenrand zu, um die Ellenbogen aufzustützen und in die Ferne zu sehen, wo New York in all seiner Lichterpracht glüht und bebt. „Ich bin von Zuhause weggelaufen. Mein Dad ist ein gottverdammter Bulle und ich will nie wieder etwas mit ihm zu tun haben – Amen. Und, wie unaufgeräumt ist dein Nähkästchen, Schnucki?“ Es ist seltsam. Alles in allem. Sowohl dass dieses Mädchen mir so mir nichts dir nichts ihre Lebensgeschichte auftischt, als auch die Tatsache, dass ich im Begriff bin, dasselbe zu tun. Und das, obwohl ich sie erst seit fünf Minuten kenne. Wie war das noch? Einsamkeit verbindet? „Meine Mutter hat mich in der Babyklappe zurückgelassen, weil mein Vater nach der Geburt nichts mehr von ihr wissen wollte. Ich hab seine Nummer herausfinden können, aber er will mich nicht sehen. Und ich kann drauf verzichten, jemanden, der nicht einmal meinen Namen erfahren will, um Geld zu erpressen.“ „Das nenn ich Taktgefühl“, meint Mako mit einem schiefen Lächeln, das mich wie schon vorhin, ebenfalls zum Schmunzeln bringt. Sie hat sich wieder umgedreht und die Arme links und rechts auf das Geländer gestützt. „Ist das nicht verrückt?“, höre ich mich da sagen. „Wir reden über unsere nicht gerade wenig beschissenen Vergangenheiten und lachen nur darüber.“ Gold Delirium Music – Memories „Das ist nicht verrückt“, raunt sie mir zu und da sehe ich plötzlich etwas in ihrem Blick, das nicht viele Menschen besitzen. Aufrichtigkeit. „Das ist Kampfgeist.“ „Was ist mit deiner Mutter passiert?“, frage ich dann und Mako beißt sich auf die Unterlippe, bevor sie erst mich und dann den Brückenrand betrachtet. „Selbstmord.“ Und da ergibt ihre unbedarfte Rettung einen neuen Sinn. Verlegen reibe ich mir über den Nacken, denn jetzt tun mir meine Anschuldigungen von vorhin Leid. Allerdings durchzuckt mich bei der Bewegung ein grässlicher Schmerz, weshalb ich ein Stöhnen nicht zurückhalten kann. „Alles klar bei dir?“ „Ja, alles bestens“, keuche ich, aber schon setzen Magenkrämpfe ein. Dann kehrt das Herzstechen zurück. Ungewollt sinke ich vornüber auf die Knie und spucke ein weiteres Mal Blut. „Scheiße, was ist los mit dir? Antworte!“ Makos Stimme fängt an, sich zu verlieren und an ihre Stelle tritt das Rauschen des Windes, der gerade beschlossen hat, zum Sturm zu werden. „Was hast du? Hey!“ Ich presse die Augen zu und mein ganzer Körper krampft sich zusammen. Es ist, als würden sich brennende Sägen durch meine Muskeln fressen. „Jet, Jet!“ Als ich begriff, dass es nicht länger Makos Stimme war, die ich rufen hörte, kehrte für eine wahnsinnige Sekunde das Gespür für die Wirklichkeit zurück. Meine Lieder fuhren in die Höhe und ich konnte erkennen, wie Jade auf mich zugelaufen kam. Ihre Gestalt flackerte, kippte zur Seite und ich konnte sogar noch hören, wie mein Stock klirrend auf den Boden traf. Dann verschlangen mich das Wasser und der Himmel. Wie der düstere, gierige Schlund eines Monsters ohne Fänge und ohne Augen. Denn es war die Dunkelheit selbst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)