Crystal Riders II von Rainblue (Reminiscence) ================================================================================ Kapitel 13: Ebbe und Flut ------------------------- Moon – Ebbe und Flut Two Steps From Hell – Down Das Zirkuszelt ist der Himmel und ich bin die Sternschnuppe. Ich falle, falle, leuchte, blinke, ziehe Funken durch den Raum und dann… glühe ich aus. „Violet, kommst du runter zum Essen?“ Ich antworte nicht, krampfe mich nur noch weiter zusammen und unterdrücke einen weiteren Schrei. „Violet?“, ruft meine Mutter schließlich nochmals, dann höre ich ihre Schritte auf der Treppe. „Komm nicht rein!“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie hält inne, doch dann öffnet sich die Tür und ich vergrabe hastig das Gesicht auf den Knien. „Schätzchen… was ist denn los? Du zitterst!“ „Mom…“, wimmere ich durch meine Hände und den Stoff meiner Hose. „Mom, ich…“ Sie setzt sich neben mich auf den Boden und legt ihre Hände auf meine Schultern. „Ist es wieder das Wasser? Soll ich Doktor Rift anrufen?“ „Nein, es… ist nicht…“ Mein Schrei entflieht, ich kann ihn nicht festhalten, denn es tut so weh. So unfassbar weh! „Violet!“ Ich falle auf die Seite, krümme mich zusammen und versuche mit aller Kraft, die nächsten Laute zu ersticken, aber es ist nicht möglich. Etwas sticht in meinen Ohren – es klingt wie das reißende Stürzen eines Wasserfalls. Woher kommt das? Warum macht es mich so krank und zerrt an meinen Nerven? „Oh mein Gott, was ist los?“ Das ist Dads Stimme, aber ich weiß nicht, ob sie von der Tür kommt oder ob er auch schon neben mir kniet. Alles kreist um mich herum und wie durch einen Knopfdruck in meinem Nacken, reiße ich die Augen auf und sehe dabei zu, wie meine Eltern erschrocken vor mir zurückweichen. „Oh nein…“, haucht meine Mutter, presst sich die Hände auf den Mund und bricht in Tränen aus. Dad ist gefasster, aber auch er tritt zurück, sieht starr auf mich herab. Ich öffne den Mund zu einem Flehen. Es kommt kein Ton. „Sie wurde infiziert…!“, stößt Dad bitter hervor, zieht die Finger zu Fäusten zusammen, aber wendet den Blick nicht von mir ab. „Mom, Dad…“, schluchze ich. Der Schmerz hat nachgelassen. Jedoch ist bereits ein neuer an seine Stelle getreten – die Verachtung meiner eigenen Eltern. Ungewollt muss ich an Leander denken. Ob er mich jetzt genauso angesehen hätte? „Es ist egal“, wirft meine Mutter auf einmal heftig in den Raum und Dad und ich fahren zusammen. Sie kommt unbeholfen auf mich zu getaumelt, sinkt neben mir zu Boden und schließt mich in ihre bebenden Arme. Ihre Tränen fallen in mein Haar. „Du bist immer noch meine Tochter, Violet… egal, wie du aussiehst. Ich werde dich immer lieben!“ „Ich auch“, flüstert Dad plötzlich ebenfalls und seine starken Arme umfangen mich und Mom. Ich lehne mich gegen sie und kann gar nicht begreifen, dass das wirklich ist. So oft habe ich schon von den Crystal Ridern gehört, wie sie von ihrer Familie verstoßen wurden, ausgesperrt, von heute auf morgen ungeliebt. „Und was sollen wir tun?“, fragt Mom, als wir uns wieder lösen. Mein Vater spannt den Kiefer an. „Du gehst morgen nicht zur Schule, Violet und verlässt nicht das Haus. Ein guter Freund von mir arbeitet bei der Polizei – über ihn werde ich an Kontaktlinsen für dich kommen. Und sobald wir sie haben, verlassen wir die Staaten.“ „Ist das nicht zu riskant?“, gibt meine Mutter ängstlich zu bedenken, während sie mich an ihre Seite drückt. Ich fühle mich ausgebrannt, realisiere ihre Worte kaum, aber etwas beginnt in mir zu flimmern… etwas, jemand… „Es ist der einzige Ausweg. Violet?“ Ich blicke langsam zu ihm auf und kann erkennen, dass ihn meine strahlenden Augen verunsichern, trotzdem gibt er sich mit dem Lächeln alle Mühe. „Sei unbesorgt… Dir wird nichts geschehen.“ Und ich glaube ihm. Jedes Wort. Ich glaube der Umarmung meiner Mutter und jeder ihrer Tränen. Ich bin mir ihnen beiden so sicher. Ich hätte es niemals tun sollen. „Was ist mit Lea…?“, stelle ich da heiser die Frage, die vorhin in mir zu brodeln begann. Aber Dad senkt nur die Augen und seufzt. „Du wirst ihn nicht wiedersehen können.“ PMD 2 Explorers of Sky – In the Hands of Fate Ich schwebe nicht, ich falle. Ich tanze nicht, ich werde hin und hergerissen. Ich bin nicht umgeben von Menschen, ich bin allein. Ich bin kein Mensch, ich bin ein Monster. Ich lebe nicht, ich bin tot. Es vergehen nur zwei Tage. Wie abgemacht, bin ich nicht aus dem Haus gegangen und obwohl ich so viele Nachrichten von Leander auf meinem Handy vorfand, habe ich auf keine geantwortet. Sondern sie immer nur wieder aufgerufen und durchgelesen, bis mir darunter die Augen zufielen. Es ist schrecklich, ihn nicht um mich zu haben und noch schrecklicher, zu wissen, dass ich es nie wieder haben werde. Ich bin nicht fähig, abzuwägen, was ihm weniger wehtun wird. Es glatt und schnell abzuschließen, mich nicht mehr zu melden und seine Nummer zu löschen – selbst, wenn ich sie ohnehin im Schlaf aufsagen kann – oder ob ich ihm die Sache erklären sollte. Dann wüsste er es und käme sich nicht verraten vor, aber… ich kann ihm so nicht unter die Augen treten. Ich kann es einfach nicht. Es ist stockfinster in meinem Zimmer, da wir Neumond haben, aber ich wage es nicht, das Licht anzumachen, obwohl ich sicher bin, dass ich heute Nacht keinen Schlaf finden werde. Langsam lasse ich die Hände in meine blonden Haare gleiten. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte oder wenn mich der Virus doch nur nicht getroffen hätte. Ich spüre, wie sich Tränen aus meinen Augenwinkeln stehlen und wische sie fahrig fort. Doch als die Tropfen auf meine Finger treffen, zischt es unvermittelt und ich reiße den Kopf hoch, um einen Blick darauf werfen zu können. Dort, wo mich die Flüssigkeit berührt hat, ist meine Haut leicht gräulich geworden und hat eine Art Bienenwabenmuster. Verwirrt streiche ich mit der anderen Hand darüber. Es fühlt sich ölig und kühl an. Wie Fischhaut. Und dann geht es los. Circus Monster Instrumental [Piano/Classical Version] Mir bleibt die Luft weg und das Blut, das in meinen Ohren rauscht, wird lauter und lauter. Und schriller, sodass es sich nicht mehr wie Blut anhört, sondern wie ein unbändiger Wasserstrom. Wasser… Ja, ich brauche Wasser! Irgendwie gelingt es mir, mich aufzurappeln und zur Tür zu stolpern, die ich hektisch aufzerre. Kurz darauf wanke ich durch den dunklen Flur, taste mich blind an den Wänden lang bis zur Badezimmertür. Inzwischen ist der Schmerz in meiner Brust unerträglich. So als hätte jemand meine Organe durch Lavaklumpen ersetzt, die mich schmelzen werden, wenn ich nichts unternehme. Keuchend stoße ich gegen den Badewannenrand, taste nach dem Hahn und drehe ihn voll auf, dann sacke ich in mich zusammen, drücke mich mit dem Rücken gegen die Wanne und ringe um Atem. Es ist zu dunkel, um Genaueres auszumachen, aber ich spüre, wie auch der Rest meiner Haut jenem Panzer weicht und nach einer Weile kommt noch ein grauenhaftes Ziehen in den Sehnen meiner Beine dazu. Als würden sie in die Länge gezogen werden, bis zum Zerreißen gespannt. Als das Wasser hinter mir überläuft, drehe ich mich hustend um und strecke eine zitternde Hand nach dem Hahn aus. Ich rutsche ab und die Rundung des Metalls schneidet in die Haut zwischen meinen Fingern. Zwischen… meinen Fingern…? Der Schrei tritt nur nicht aus, weil mir dafür der Sauerstoff fehlt. Mit aller Kraft greife ich noch einmal nach vorn und dieses Mal kann ich den Hahn zudrehen, dann hieve ich meinen seltsam schweren und steifen Körper am Rand hinauf und breche seitwärts durch die Wasseroberfläche. Augenblicklich verlöschen die Höllenqualen in meinem Inneren und ich bekomme wieder Luft – unter Wasser. Zuerst liege ich nur da, warte, bis ich sicher sein kann, dass alle Schmerzen ausradiert sind, die Hitze sich beruhigt hat und fahre schließlich mit den Händen an meinen Hüften entlang. Statt Beinen, wie sie dort hätten sein müssen, erfühle ich einen glitschigen, runden Körper. Und wenn ich die Füße bewege, platscht es, so als würde sich eine Flosse durch das Nass winden… Das kann doch nicht wirklich… „Violet?“, höre ich Moms Stimme hinter der Tür. Komm nicht näher, will ich sagen, aber es wird vom Wasser geschluckt. Es kostet mich einiges an Anstrengung, da mein ganzer Körper bebt, aber ich stütze eine Hand auf dem Wannenrand ab und hebe mich halb hinaus. Die Tür steht längst offen. Das Licht ist angeschaltet. Und der Gesichtsausdruck meiner Mutter ist wie eine Ohrfeige. In der nächsten Sekunde schreit sie auf, ihre furchtverzogenen Augen füllen sich mit Glanz, ihre Hände fingern nervös am Türschloss. Sie rupft den Schlüssel heraus, knallt die Tür zu und dann höre ich, wie sie abschließt. Ich will etwas sagen, ihr nachrufen, sie anbetteln, es versuchen, zu erklären, irgendwas… aber meine Stimmbänder artikulieren nicht mehr. Das Einzige, was seinen Weg hinaus findet, ist ein hohes, ohrenbetäubendes Fauchen. Wie Sirenengesang… Mein Körper kann es nicht mehr, aber alles in mir weint. Alles zerbricht. Ist das meine Gabe? Diese Gestalt? Bin ich dazu verdammt, ein Monster zu sein? Denn nichts anderes sehe ich im Spiegel, in dem mich, nun da das Licht an ist, erkennen kann. Tiefblassblaue Augen ohne Pupille oder ein Leuchten. Das sind Fischaugen. Das zwischen meinen Fingern sind Schwimmhäute. Das anstelle meiner Beine ist eine Flosse. Und das über meiner Haut ist ein Schuppenkleid. Sind Meerjungfrauen in der Mythologie nicht wunderschön? Hat man sich die Geschichten nicht all die Jahre hindurch so erzählt? Ich sinke mit dem Kopf in meine Arme und schluchze in jenen fremden Tönen, die sich wie das klägliche Heulen einer kaputten Mundharmonika anhören. Das Wesen im Spiegel ist weder schön, noch mystisch. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Horrorgestalt. Dann sind die Gerüchte also doch wahr und der Virus ist ein Dämon, der die Seele des Menschen frisst und ihn in eine Ausgeburt der Hölle verwandelt. Ich muss eine ganze Weile nur so dagelegen und vor mich hin gewimmert haben, denn als unten im Haus eine Zahl von fremden Stimmen erklingt, ist es am Horizont schon ein wenig heller geworden. Das Schloss öffnet sich klickend und dann steht mein Vater im Rahmen. Seine Züge sind angespannt, aber ansonsten ist er beherrscht und durchgedrückt, sogar als er mich sieht. Hinter ihm stehen ein paar Männer in Anzügen, die mich schief beäugen. Wie ein Stück Fleisch auf dem Verkaufstresen. Panik rinnt in meine Glieder. Was hat das zu bedeuten? Was wollen diese Männer hier? „Nehmt sie mit“, meint mein Vater leise und weist auf mich, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Dad, will ich flehen, aber wieder dringt nur der schrille Ton aus meiner Kehle. Die Anzugträger kommen ins Bad, packen mich an den Armen und am Schwanz und schleifen mich halb aus der Wanne, weil ich wie von Sinnen um mich schlage. Aber es ist vergebens, sie sind zu fünft und nicht gerade schwach. Dad!, versuche ich es noch einmal, aber er steht nur da, während sie mich an ihm vorbeiziehen. Er schaut mich nicht an. Er lässt zu, dass sie mich mitnehmen. Nein, falsch, er wollte es so – er hat sie hierher bestellt. Die Wut und die Traurigkeit, die ich darüber empfinde, ist zu viel. Meine Gegenwehr erschlafft, gleichmütig lasse ich mich von den Männern die Treppe hinunterzerren, dann durch die Haustür, in den Innenraum eines großen Vans. Er ist mit einem kleinen Becken ausgelegt, das Wasser reicht mir nur bis zu den Ohren, so wie ich auf dem Rücken liege, aber es genügt, um meinen Körper zu besänftigen. „Oho, das ist sie also!”, pfeift jemand von einem der Fahrerplätze aus. Im Augenwinkel erkenne ich einen großen, gefährlich aussehenden Mann. Ich weiß nicht, wieso er auf mich bedrohlich wirkt, denn er trägt nur schlichte, graue Kleidung und ist nicht gerade muskulös, eher schmächtig, wenn nicht dürr. Aber das sichelmondförmige Lächeln auf seinen Lippen lässt mich schaudern. „Der Name ist Violet Bonham“, erklärt einer der Männer, die mich reingetragen haben und setzt sich neben den Mann auf den Beifahrersitz. Die anderen verteilen sich rings um mein Becken auf dem Boden. „Neunzehn.“ „Du wirst uns viel Geld einbringen, kleine Violet“, grinst er und ich presse die Augen zu. „Du wirst die Hauptattraktion in unserer Manege sein – das einzigartige Zirkusmonster.“ Der Wagen startet und die dünne Wasserschicht klatscht um meine Schultern. Alle Gedanken sind taub und weiß. Und jedes Gefühl wurde abgeschaltet, um mich davor zu bewahren, jetzt durchzudrehen. Ich kann nur flüsternd leise die Angst vernehmen, die sich von Rand zu Rand meiner Nerven hangelt. Sie muss groß sein, denn sie ist überall. Genauso wie die Verzweiflung. Jetzt ist es zu spät. Ich kann nicht mehr abwägen, was besser für Leander ist. Denn es ist wahr; ich werde ihn nie wiedersehen. Nicht so. Nicht in dieser Gestalt. So darf er mich nicht sehen. Niemals. Und eine jede Sternschnuppe, die sich so magisch am Horizont entlang zog, wird zu Asche, wenn die Zeit zu Ende geht. Das weiße Sternenlicht verblasst und es bleibt nichts zurück, nicht einmal die Illusion von Stärke. Entstehe neu, um erneut zu fallen, kleiner Stern. Zerstöre dich selbst, aufs Neue, aufs Neue, aufs Neue… Verbrenne in deiner eigenen Wut. Und vergiss nicht, dabei zu lachen. Florian Bur - Thank You „Deshalb warst du in der einen Neumondnacht nicht in deinem Bett“, realisierte Crystal, ich nickte und wickelte mich enger in den Bademantel, den Amber mir umgelegt hatte. Ich konnte es immer noch nicht ganz glauben. All die Zeit war ich davon ausgegangen, dass niemand mich in dieser Gestalt akzeptieren würde – oder mich gar als schön bezeichnete. Außer Crystal… und Amber. Eine weitere Flut von Tränen benetzte meinen Wangen und ich lachte. „Aber wieso habe ich in deinen Erinnerungen nichts davon gesehen?“, fragte sie verwirrt und meine Hände in ihren verkrampften leicht bei dem Gedanken daran. „Ich habe sie ausgesperrt“, antwortete ich schließlich und sah hinüber zu Amber, der den Arm um meine Schulter gelegt hatte. Hatte ich so viel Güte überhaupt verdient? Solche Freunde? „Ich muss mich gezwungenermaßen einmal im Monat verwandeln, aber den Rest der Zeit, ist es, als gäbe es diese Gestalt nicht. Sie anzunehmen macht mir selbst solche Angst, dass ich…“ Ich brach ab, weil die Tränen mir die Stimmbänder einschnitten. „Dass du sie sogar vergessen hast“, beendete Amber für mich. Seine Stimme war sehr rau, aber es klang nicht niedergeschlagen. Es klang erlöst, fast glücklich. So als wäre er derjenige, dessen Geheimnis gerade ans Licht gekommen war. Hatte er wirklich so mit mir mitgelitten? Nach all den Monaten, die er nun schon Nacht für Nacht neben mir gesessen und mir beigestanden hatte, musste es so sein… „Aber wieso musst dich überhaupt verwandeln?“, stutzte Crystal nach einer Weile. „Hat Jade etwas dazu gesagt?“ Ich seufzte mit einem Blick auf ihre Handgelenke, hinter denen ich das Blut fließen hören konnte, wenn ich mich darauf konzentrierte. „Sie hat mir erklärt, dass Gaben manchmal besonders mächtig sind. Das passiert, wenn der Rider schon als Mensch eine starke Affinität zu einer Sache besaß – bei mir war es Wasser.“ In Gedanken ging ich zurück zu jener Zeit unter Behandlung. Wie meine Eltern mich von einem Psychologen zum nächsten geschickt hatten. Und keiner hatte eine Lösung finden können. „Ich hatte immer das Gefühl, auszutrocknen, darum bin ich ständig mit Wasser in Kontakt geblieben. Das fanden andere natürlich seltsam und schlossen mich aus – außer Amber.“ Er lächelte, als ich es aussprach und irritierenderweise spürte ich, wie meine Wangen dabei anfingen, zu glühen. Hastig fuhr ich fort. „Meine Gabe ist sehr weitgreifend. Jede Flüssigkeit, in der sich Wasser befindet, gehorcht mir. Selbst Lebewesen kann ich lenken und zum Ausgleich für so eine große Kraft… zieht mich die Ebbe einmal mit sich ins Meer und kontrolliert mich. Bei Vollmond bin ich dafür am stärksten.“ Crystal sah mich geradeheraus an und mehr noch als die vielen Worte, die sie mir damit überreichte, Worte, die sie nicht formulieren konnte, war die Tatsache, dass sie mir in die Augen sah, ein unermesslich großes Geschenk. Denn das tat Crystal nur bei Menschen, denen sie vollkommen vertraute. Ich wollte gerade noch etwas sagen, als wie bestellt, die Tür aufgestoßen wurde. Wir zuckten simultan zusammen. „Wieso hab ich das kommen sehen?“, flüsterte Amber dann und zog eine Augenbraue hoch. „Was…?“, konnte Jet nur hervorbringen, als er wie üblich viel zu schnell für einen Normalsterblichen alle Fragmente, die der Raum hergab, gescannt und aufgenommen hatte. „Also, die Sache ist die…“, fing Amber, sich unschlüssig am Kopf kratzend, an, aber ich unterbrach ihn, indem ich aufstand und auf Jet zuging. Er blickte ruhig auf mich herab und auf einmal hatte unsere erste Begegnung vor Augen und wie Amber mir zuvor von seiner Gabe erzählt hatte. Und wie er es so sorgsam vermieden hatte, mir in die Augen zu sehen. Damals schon hatte ich es gewusst und im Kopf ausgesprochen. Denn auch seine kühle, abwehrende Art hatte es nicht verbergen können. Dieser Junge hat tausendmal mehr Angst davor, andere zu verletzen, als selbst verletzt zu werden. Und da begriff ich, dass auch er mein Freund war. Dass er es verstehen würde, dass sogar die Möglichkeit bestand, dass er nicht vor meiner zweiten Gestalt zurückschrecken würde. Grinsend drehte ich mich halb zu Amber und Crystal um und wies zur Tür. „Lasst uns ein paar Chips und Cola aus der Kantine stibitzen und in Crystals und mein Zimmer gehen – ich glaube, wir müssen Jet ein paar Dinge erklären.“ Und als Genannter dabei den Kopf schief legte, jedoch auch leicht lächeln musste, wusste ich… ich war nicht mehr auf mich allein gestellt. Ich saß nicht mehr im Käfig. Und ich durfte ohne Angst weinen. To the Moon OST – Moongazer Das Bild, das sich mir am nächsten Morgen bot, war eine der merkwürdigsten und doch berührendsten Aufnahmen, die ich je aufgefangen hatte. Ich lag zwar auf dem Fußboden, war aber warm und gemütlich in meiner Bettdecke eingerollt und mein Rücken lehnte an Ambers Brust. Er hatte beide Arme um mich gelegt, der untere musste entweder abgestorben sein oder war nun vermutlich taub bis in alle Ewigkeit, aber trotzdem döste er friedlich vor sich hin, das Kinn und die Lippen in meinen Haaren vergraben. Er hatte mich tatsächlich in die Decken gehüllt und selbst nichts davon für sich beansprucht, sondern sich nur hinter mich gelegt, um mich noch zusätzlich warm zu halten… Ich seufzte mit einem gerührten Lächeln. „Idiot…“ Als ich wieder nach vorn sah, erkannte ich Crystal und Jet. Sie lagen kaum einen ganzen Meter von uns entfernt, ebenfalls auf dem Boden. Waren wir etwa alle so eng beieinander eingeschlafen? Mrs. Capella hätte uns wahrscheinlich ihren Schülerrinnen zum Fraß vorgeworfen, wenn sie davon Wind bekommen hätte. Ich regte mich, um herauszufinden, wie fest Amber mich hielt und ob es vonnöten war, ihn zu wecken, um freizukommen, als mir auffiel, dass Crystals Finger mit meinen verschränkt waren. Jet hatte sie zwar gänzlich in Beschlag genommen – es hatte was von einem Koalabär, der sein Baby an sich drückte – aber ihr rechter Arm lag ausgestreckt über dem Boden, ebenso wie meiner. Bei dem Anblick kamen mir wieder die Tränen, aber nur aus ungläubiger Freude heraus. Vorsichtig löste ich mich aus ihrem Griff, schälte mich ebenso bedachtsam aus Ambers Umarmung und stand auf. Das Zimmer war ein Saustall – quer über die Dielen lagen leere Chipstüten, Überreste von Schokolade und Brezeln und angefangene oder zerquetschte Coladosen verteilt. Ich hob nur eine Augenbraue, schüttelte den Kopf und tappte ins Bad, um zu duschen. Ich zog die Tür bloß ran, denn kaum war ich eingetreten, zog der Spiegel meinen Blick auf sich. Das gewohnte Gesicht. Da war keine Fischhaut, keine lichtfremden Augen, kein lippenloser Mund. Schritt für Schritt kam ich dem Spiegel näher und fuhr mir mit den Fingern gedankenverloren durchs Haar. Um mich düsterer zu machen, verruchter und damit auch älter, hatten sie mir damals im Zirkus die Haare gefärbt. Ich hatte alles versucht, aber die Farbe ließ sich nicht vollständig auswaschen – das lag daran, dass es so kurz nach meiner Verwandlung in einen Rider geschehen war, ein paar Strähnen waren in ihrer Zeit eingefroren. Nur wenn ich mich wandelte, kam meine reine, natürliche Haarfarbe wieder hervor. Yuna – Mermaid Ein weiteres Mal seufzend, streifte ich die alten Sachen ab und schleuderte sie in den Wäschekorb, dann wusch ich die verfilzten Stellen heraus, die Kälte von den Gliedern, die Gedanken aus dem Kopf. Es war befremdlich, das konnte ich nicht leugnen. So lange hatte ich mich mit diesem Geheimnis herumgedrückt und nun wussten sie es alle drei – und keiner von ihnen verurteilte mich. Jet hatte sich zugebenermaßen schwer getan, es zu glauben, aber seine letztendlichen Worte hallten noch immer tief in mir wieder. Erlaube diesen Menschen nicht, dich zu etwas zu machen, was du nicht bist. Das Schluchzen kam so unversehens, dass mir schwindlig wurde. Ich drehte eilig das Wasser ab, wrang mein Haar aus und verließ die Duschkabine. Obwohl sie es mir erschwerten, mich abzutrocknen und die frischen Klamotten anzuziehen, ließ ich zu, dass die Tränen sich anstauten und auch fielen. Mit einer Handbewegung dirigierte ich die Nässe aus meinen Haaren, dass sie wie geföhnt über meine Schultern glitten und beobachtete aufmerksam, wie sie dann im Abfluss verschwand. Mir fiel gar nicht auf, dass ich die Hände auf dem Beckenrand abstützte und mich vornüber beugte, sodass mein Kopf zwischen den Schultern versank, bis sich hinter mir plötzlich die Tür öffnete. „Violet?“, fragte Amber zaghaft, was in völligem Kontrast dazu stand, dass er wie selbstverständlich reinkam und die Tür wieder schloss. Unbewusst verlor ich mich kurzzeitig im Anblick seiner widerspenstigen Haare und dem leicht verschlafenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Seit wann war er so groß? Seit wann so muskulös? Wenn ich in seine Augen sah, die schon immer bernsteinfarben gewesen waren, blickte mir doch immer noch der kleine, von Angst erfüllte Junge entgegen… oder nicht? „Mir geht’s gut“, beeilte ich mich zu sagen, indem ich die Tränen fortwischte und mich von ihm wegdrehte, damit es sie nicht sah, obgleich es dafür längst zu spät war. „Das ist nur alles… ein bisschen zu viel.“ Warum ich dann anfing, zu lachen, konnte ich mir auch nicht erklären. Amber hob unentschieden eine Hand, aber ich winkte ab. Doch dann kam mir ein Gedanke, zwirbelte sich hinunter in meine Stimmbänder und lenkte ihre Bewegungen. „Ich hab mich nie wirklich bei dir bedankt.“ „Wofür denn?“, fragte er leise und wieder mit dieser ungewohnten Rauheit. Oder war sie mir nur niemals so stark aufgefallen? „Für alles“, schniefte ich ungewollt und zog mit einem plötzlichen Hicksen die Nase hoch. Hicksen… das hatte ich früher oft gehabt, wenn ich als Kind besonders heftig hatte weinen müssen. Amber schien sich auch daran zu erinnern, denn er kam prompt näher. „Dass du immer für mich da warst, dass du mich getröstet hast… dass du mich aus dem Zirkus gerettet hast. Ich… werde das nie begleichen können.“ „Unsinn“, flüsterte er und zog mich so unvermittelt an seine Brust, dass mein Hicksen erschütternder wurde. „Freundschaft ist doch kein Tauschgeschäft, Violet. Und selbst wenn, du hättest dasselbe für mich getan. Du hast es getan.“ Seine Worte drangen zu mir durch, verursachten, dass ich wieder lachen musste, noch mehr weinen und noch mehr hicksen, aber alles, woran ich denken konnte, war, dass er so warm war. Dass seine Haut nach Sonnenlicht und Bienenwachs roch und doch anders. Dass sein Herz so schnell schlug wie ein Presslufthammer. Wann war aus jenem Jungen dieser Mann geworden? Wann waren seine Schultern und Arme so kräftig geworden, dass ich mir in ihrer Mitte so zierlich, fast zerbrechlich vorkam? Wann war er erwachsen geworden? Und wann war ich es? Und auf einmal stand mir wieder jener Nachmittag vor Augen, an dem mich Crystals Gabe getroffen hatte. Wie ich aufgewacht war und direkt in Ambers Gesicht geblickt hatte und dann… „Ich hatte solche Angst, weil…“ Er ringt mit sich und ich mache mich steif, als wüsste ich bereits, was jetzt kommt, „…weil…ich dich liebe, Moon.“ Ich sinke etwas tiefer in die Kissen und balle die Hände so fest zu Fäusten, dass das Laken zwischen meinen Fingern quietscht. „Das ist ein schlechter Scherz, oder?“, höre ich mich ausstoßen, ohne ihn anzusehen. Ihm tritt nur ein verwirrter Ausdruck auf die Züge. Verwirrt und tief verletzt. „Das kannst du nicht ernst meinen.“ „Und wie ich es ernst meine!“, wirft er mir heftig entgegen. „Ich dachte, ich verliere dich! Denkst du da wirklich, ich würde dir das nur aus Spaß erzählen?!“ „Das ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass die Gefühle einseitig sind“, erwidere ich tonlos und wage es immer noch nicht, ihn anzusehen. Und das scheint ihm noch viel mehr zuzusetzen als mein reservierter Tonfall. „Für mich bist du nur ein Freund.“ Es ist kaum ausgesprochen, da springt er schon wieder auf die Beine und flüchtet aus dem Krankenzimmer. Gerade als er die Tür aufreißt, erscheint Jade dahinter und schaut ihm irritiert hinterher, als er sich an ihr vorbeischiebt und davonläuft. Sie ist taktvoll genug, mir keine Fragen zu stellen und dafür bin ich mehr als dankbar. Denn es ist schwer genug, die Worte in meinem Kopf zu sortieren. Ich scheitere wie so oft an meiner eigenen verqueren Denkweise. Das Einzige, worauf ich mich konzentrieren kann ist, dass ich Jets Arme mit meiner Gabe aufgerissen habe und wäre er nicht dort gewesen, um sie zu beschützen, hätte sie sogar Crystal getroffen. Ich habe Crystal angegriffen… ich wollte sie verletzen! Jade legt ihre Hand auf meine Schulter, woraufhin ich den Blick hebe, welcher in Tränen steht. Amber kann mich nicht lieben, das ist absurd – so jemanden wie mich sollte niemand lieben. Ich tue allen nur weh. Bevor mein eigener Verstand mich mit all diesen Fragen überwältigen konnte, löste ich mich von Amber, rieb mir fahrig über die Augen und ging an ihm vorbei zur Tür. „Also… danke. Ich werde schon mal vor zur Mensa gehen. Weck Crystal und Jet, heute ist Unterricht…“ Ich konnte seinen Blick in meinem Nacken spüren, aber ihn zu erwidern, hätte bedeutet, auch das letzte Bisschen Selbstbeherrschung einzubüßen. Was sollte ich nur tun? Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu zerplatzen. Darum wartete ich nicht auf seine Antwort, sondern verließ schnellen Schrittes das Bad, dann das Zimmer und hetzte durch die Korridore Richtung Mensa. Und versuchte dabei nur, meinen Herzschlag zu glätten, doch je häufiger ich es tat, desto beharrlicher hielt er dagegen. Fast als würde er sagen: Du kannst dich nicht mehr verstecken, Violet… Silent Hill 4: The Room - Room Of Angel Er ist für mich immer nur der Direktor, obwohl sein Name mehrmals am Tag fällt. Ich nenne ihn nur den Direktor, er ist identitätslos wie ein Schatten, ein Monster unterm Bett – nennst du es beim Namen, wird es Realität und nur darum bekämpft man es mit Namenlosigkeit. Die Zeit ist bedeutungslos geworden, die Musik klingt in meinen Ohren nach und betäubt meinen Geist, wenn ich tanze und lache. Ich kann es vergessen und nachts kommen die Tränen, wenn sie kommen dürfen, aber bewegen mich nicht mehr. Anfangs war ich verzweifelt, jede Minute aufs Neue, aber jetzt ist es wie ein Film, ein sich wiederholendes Zeitfenster. Und es geht an mir vorbei, obwohl ich die Hauptrolle darin spiele. Crystal Rider lassen sich nicht so leicht unter Kontrolle halten – meine Gabe könnte sie alle in ihre Einzelteile zerlegen; die Clowns, die Akrobaten, die Dompteure und Feuerschlucker. Ich würde sie so leicht töten und von hier fliehen können, aber sie haben Ketten, die, wenn ich nicht gehorche, Magnetimpulse abgeben. Untragbarer Schmerz. Ich weiß nicht, woher der Direktor sie hat. Sein ganzes Milieu ist Schwarzmalerei. Ich und nahezu alles andere in der Manege ist illegal, aber die Leute, die kommen, schert das nicht. Sie wollen unterhalten werden und das geschieht, also sind sie zufrieden. Die Ketten sind mit glitzernden Steinen besetzt, um beim Auftritt nicht aufzufallen. Und sie rufen mich Blue Hour. Blaue Stunde, eine Phase des Zwielichts, in der sich der Himmel so blau verschleiert, dass alles in ihrem Ton zu schlummern scheint – die Welt wird Eis. Mystisch und unerklärbar. Violet Bonham ist verschwunden. Die Nächte kommen und gehen und schließlich ist es wieder einmal Neumond. Die schlimmste Zeit des Monats, denn da kann ich nicht abschalten, nicht unterdrücken. Da bin ich entblößt. Sie schleifen mich aus dem Käfig, reißen mir die Kleider vom Leib, werfen mich in das riesige Aquarium, lange bevor die Verwandlung eintritt und die Leute kommen, um mich anzustarren. Dann kommt der Moment, wenn der Direktor auf seine Fernbedienung drückt und die Ketten an meinen Handgelenken reagieren. Dann soll ich die Leute anfauchen, kreischen, mich winden – ihnen Angst einjagen. Soll dabei zusehen, wie sie vor mir zurückweichen, „Monster“ schreien und mich auslachen. Ich bin seine Bestie und so soll ich mich verhalten. Wie eine aufgezogene Marionette im Glaskasten. Aber irgendwann ist auch die Nacht vorbei. Sie holen mich aus dem Tank, werfen mich zurück in die Zelle und mir die Klamotten vor die Füße. Der Käfig ist draußen und ich bin nass bis auf die Haut, aber was spielt das für eine Rolle? Crystal Rider können sich nicht erkälten, nicht sterben. Aber sie können frieren. Sie können innerlich verenden. In dieser Nacht fällt es mir schwer, mich zusammenzureißen. Mit bebenden Schultern, bebend unter Schluchzern, zwänge ich meinen nassen Körper in die Kleidung und lehne mich gegen die Holzkiste in meinem Käfig. Dann ziehe ich die Knie an, lege die Arme darum und mache mich ganz klein, versuche zu vergessen und die Taubheit zurückzuerlangen. Aber es ist schwerer als sonst. Mir fehlt mein altes Leben so sehr. Mir fehlt unser kleines Haus in Manhatten, die Stimmen meiner Eltern, der Garten mit dem Teich, mir fehlen meine Bücher und CDs, die kaputten Stellen im Wohnzimmerteppich, das Geräusch des laufenden Fernsehers am Abend, das Knarzen in den Dielen – mir fehlt mein bester Freund. „Wo bist du?“, bringe ich gebrochen hervor. „Wieso bist du nicht bei mir?!“ Das Hicksen schnürt mir den Atem ab, die Brust zu. Wenn ich doch nur sterben könnte! Ich kann das alles nicht mehr ertragen! Ich verliere den Verstand! Ich bin so gefangen in meiner plötzlichen Verzweiflung, dass es einen Moment dauert, bis ich registriere, dass es heller geworden ist. Jemand hat den Vorhang, der über meinem Käfig liegt und ihn abdeckt, zur Seite gezogen. Es ist zu dunkel, um etwas Genaueres zu erkennen, erst als die Person den Vorhang vollständig heruntergezogen hat, kann ich ihn im dumpfen Schein der Laterne, die am Wohnwagen des Direktors hängt, erkennen. Hachiko Original Soundtrack - Parker and Hachi Es war noch zu früh, um in eine belebte Mensa einzutauchen. Die wenigen Rider an den Tischen waren Lehrer und hier und da vereinzelt ein paar Schüler mit Insomnia oder Mitternachtshunger. Das Buffet wurde noch aufgebaut, während schon der Duft von gebackenen Brötchen und frischem Obst durch die Atmosphäre schwirrte. Ich machte jedoch einen Bogen um das Kantinenfenster – für den Fall, dass Fayalite unsere kleine Bestanddezimierung schon bemerkt hatte – und ließ nur rasch einen Apfel vom halb fertigen Essenstisch mitgehen und wollte gerade auf unseren Stammtisch zuhalten, als mir drei wohl vertraute Gesichter auffielen. „Hey, Moon!“, rief Maia mich da schon heran und ich lenkte vom Weg ab, um zu ihnen zu kommen. „Guten Morgen.“ „Morgen“, entgegnete ich verhalten, ließ mich neben Opal auf den freien Stuhl gleiten und nahm einen Bissen von meinem Apfel, um beschäftigt zu sein. Neben Opal und Maia war noch Ain. Ich wusste, dass die drei bereits ein eingespieltes Team waren, da Ain nicht ins Musterbespiel einer Perle passte; ebenso wenig wie Maia. Es hatte sich also eins zum anderen gefunden. „Wie siehst du denn aus?“, bemerkte Opal auf einmal. Ich kaute unnötig lang auf – aus irgendeinem Grund wollte mein Magen nichts aufnehmen. Gut möglich, dass es an den Tonnen von Süßkram lag, den wir heute Nacht in uns reingeschaufelt hatten, aber es kam mir eher so vor, als würde ein Orkan in meinem Bauch toben, der allen Platz für sich beanspruchte. Und merkwürdigerweise hatte ich bei dieser Erkenntnis wieder Ambers Gesicht vor Augen. „Du bist knallrot“, ergänzte Maia stirnrunzelnd und Ain fing an, zu kichern, was ihm direkt einen bösen Blick von mir einbrachte. „Ich hab nur schlecht geschlafen“, verteidigte ich mich, die Stimme so gut es eben ging in neutralem Tonus. „Was treibt euch denn schon so früh hierher?“ Ain verschränkte die Arme und lehnte sich ausgiebig gähnend in seinem Stuhl zurück. Ich wusste, dass seine Gabe Rhythmusgefühl war – darum zweckentfremdete ihn Mrs. Capella auch in jeder ihrer Tanzstunden mit den Neulingen – aber niemals hatte ich ihren Einfluss bemerkt. Jede Gabe konnte etwas bewirken, aber daneben hatte auch eine jede eine Aura. Und in dieser wogte der innerste Kern des Riders – es war, als wäre unsere Seele mit der Gabe zu einem außerkörperlichen Schutzring geworden. Ich musste Ain nur ansehen und schon nahm mein Herzschlag wieder seinen gängigen Takt an. „Wir haben von Mrs. Capella eine besondere Form der Gruppenarbeit erhalten“, erklärte Maia und ich schüttelte den Kopf, denn die Gedanken um den Perlenjungen hatte mich ihre Anwesenheit ganz vergessen lassen. „Ains und meine Gabe greifen laut ihr wie Zahnräder ineinander und üben eine beruhigende Wirkung aus. Und das“ – sie beschrieb mit den Zeigefingern einen Kreis Richtung Opal – „sorgt dafür, dass Opal ihre Gabe besser unter Kontrolle bekommt.“ „Und dass wir so früh hier sind, liegt daran, dass Mrs. Capella sich den bisherigen Stand ansehen möchte“, murrte Opal, ihr Kopf lag schon auf der Tischplatte und sie schmatzte verschlafen. „Und das vor dem Frühstück, weil der frühe Vogel angeblich den Wurm fängt.“ „Und da kommt sie auch schon“, bemerkte Ain und erhob sich sofort. Streber. „Vielleicht bis später, Moon“, sagte Maia noch und tätschelte mir die Schulter. Auch ihre Gabe umwehte sie wie eine zweite Haut. Mein Herz schlug wieder schneller. „Mhm, viel Spaß euch dreien“, rief ich ihnen nach und stand ebenfalls auf, um für Amber, Crystal, Jet und mich Frühstück zu besorgen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie auftauchen würden. Doch ich stockte, als ich nach einer Müslischale griff. Betrachtete sie eingehend, wog sie in der Hand und verstand gar nicht, was ich da tat und dass es nur ein Vorwand meines Körpers war, um die Erinnerungen wachzurütteln. Pandora Hearts - Lacie Piano & Orchestra „Was ist eigentlich dein Lieblingsessen, Lea?“, lache ich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um an das obere Schubfach ranzukommen. Ich bin dafür leider immer noch zu klein. „D-Du… wirst… la-lachen…“, meint er bloß, zieht einen Flunsch und verschränkt die Arme vor der Brust, wie er es oft tut. Diese Geste gibt ihm immer etwas Trotziges, aber gleichzeitig wirkt er fest verankert. Ein Fels in der Brandung. „Ich verspreche, ich werde nicht mal grinsen, wenn du es mir verrätst!“, gebe ich im Brustton der Überzeugung zurück und lege mir sogar eine Hand aufs Herz. Er hält noch eine Weile mit sich Zwiesprache, aber dann gibt er sich doch geschlagen, als mein Dackelblick zum Einsatz kommt. „M-M-Müsli…“ Und leider muss ich doch lachen, woraufhin er mir die Finger in die Seiten rammt und ich aufkreischend nach einem Löffel greife, um ihn abzuwehren. Er tut dasselbe, bekommt aber nur einen Teelöffel zu fassen und als ihm das auffällt, wird aus dem überlegenden Grinsen ein enttäuschter Schmollmund, was mich noch mehr zum Lachen bringt. „I-Ich… sag d-do-doch… dass du… lach-lachen wirst…“ „Aber nicht, weil ich mich über dich lustig mache“, lächle ich, lege den Esslöffel beiseite und versuche noch einmal, an das Schubfach heranzukommen. „Das ist der Grund, warum du mein bester Freund bist, Lea…“ Seufzend gebe ich den Kampf mit der Größe noch einmal auf und drehe mich ihm stattdessen ganz zu. „Du bist immer ehrlich. Selbst, wenn andere deine Meinung komisch finden.“ „D-Du doch auch…”, stutzt er mit einem Blick in meine Augen. „Nein“, erwidere ich schwach lächelnd, verschränke hinter dem Rücken die Hände hintereinander und schaue zum Fenster hinüber, hinter dem die ersten Sonnenstrahlen zu sehen sind und den Himmel mit einem Hauch von Wärme durchziehen. „Ich lüge Mom und Dad so oft an, schon wegen Kleinigkeiten. Ich bin eine falsche Schlange.” „Da-da-das st-st-stimmt doch… gar… n-nicht“, flüstert er, dann kommt er unvermittelt auf mich zu, bleibt neben mir stehen und streckt die Hand nach dem Schubkasten aus. Er ist größer als ich, trotzdem gelingt es auch ihm nicht, ihn zu erreichen. „Ich… g-glaube… dass Ehr-Ehrlich… k-keit… dass da-das nicht nur… W-W-Worte sind… D-Das sind… auch… Ta-Ta-Taten. Und d-du-du bist… auf-auf-aufrichtiger… als… je-jeder andere… Violet.“ Verwunderung streift meine Züge und ich spüre, wie meine Wangen rot werden, als ich Leander anschaue. Doch als er mich angrinst, steckt er mich sofort damit an. „Komm, mach mir eine Räuberleiter“, schlage ich enthusiastisch vor und er tut es. Ich erreiche den Schubkasten und ziehe die schmale Packung heraus. „Jackpot!“ Ich klettere mit der Beute vorsichtig wieder nach unten und weise Leander an, sich mit mir auf den Boden zu setzen, nachdem wir uns die Schalen, die Löffel und die Milch vom Tisch genommen haben. Die Cornflakes sind voll mit Zucker, sagt Mom und darum hat sie sie vor uns versteckt, aber so leicht sind wir nicht auszutricksen. „Also dann, Lea, auf dass wir immer ehrlich zueinander sind!“, verkünde ich feierlich, während ich ihm Milch einschenke und wir dann sogar mit den Schalen anstoßen. „Du kannst mir alles sagen. Jederzeit!“ „D-Du mir… auch…”, kichert er und nimmt zufrieden den ersten Löffel in den Mund. Und ich beobachte ihn nur und bin so dankbar, dass er da ist und dass er Müsli genauso gern mag wie ich. Und es sogar genauso isst wie ich. Denn er ist der der beste Mensch auf Erden und wenn der beste Mensch auf Erden sein Müsli auf dieselbe Weise isst wie ich… wie viel schlechter kann ich dann sein? Change by Tracy Chapman „Moon?“ Die Schale glitt mir aus den Fingern und zerschellte mit einem lauten Knall auf dem Boden. Ich hatte Crystal nicht herankommen hören, sie hatte ganz leise und sanft gesprochen, aber ich war nicht darauf gefasst gewesen, war nicht im Hier gewesen… „Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt und bückte sich mit mir, um die Scherben einzusammeln. „Ist es noch wegen gestern?“ „Nein.“ Ich zögerte, aber Crystal drängte mich nicht. Diskret senkte sie die Augen, lud die Scherben auf ihre Handfläche und wartete, bis ich aufstand, ehe sie es mir gleichtat. „Ich kann das alles zwar immer noch nicht ganz glauben, aber… das ist es nicht.“ „Was dann?“ Wir gingen hinüber zum Mülleimer, um die Bruchstücke zu entsorgen und eine der Küchenhilfen wedelte mit ihrem Besen zum Zeichen, dass sie sich um die Überreste kümmerte. Ich nickte ihr dankend zu. „Wenn ich das wüsste…“, seufzte ich lediglich. Sie tat mir den Gefallen, nicht weiter nachzubohren, also stellten wir nur schweigend das Frühstück zusammen und trugen die Tabletts zum Tisch. Jet und Amber saßen wie Yin und Yang da, denn nur ersterer trug ordnungsgemäß seine Uniform, wohingegen letzterer es wie schon so häufig verplant hatte. Unwillkürlich schmunzelte ich und erschrak gleich darauf darüber. Was war nur los mit mir? „Danke“, lächelte Jet, als Crystal ihm seinen Teil des Frühstücks zuschob und aus irgendeinem verrückten Grund, verkrampfte ich bei diesem Anblick. Sogar noch mehr, als Crystal sich daraufhin vorbeugte, um ihm einen Kuss zu geben, bevor sie sich setzte und Jet ein „Und dafür auch“ anhängte. Und dabei freute ich mich für die beiden. Das war es nicht… es hatte einen anderen Grund, warum es mich störte – nur welchen? „Willst du gar nichts essen?“, fragte Amber und ich fuhr herum, vermied es allerdings, ihn anzusehen. Ich hatte das Tablett nur für ihn beladen und es ihm so hingestellt, dass es auch unmissverständlich für ihn vorgesehen war. „Nein, ich… bin noch satt von letzter Nacht.” „Wir haben es zum Glück auch gar nicht übertrieben“, lachte er mit einem Stoß gegen Jets Schulter, welcher sich demonstrativ räusperte. Plötzlich schien Amber ein Gedanke zu kommen, denn seine Züge fielen ab, ehe sein Grinsen in doppelter Ausfachung zurückkehrte und er Jet japsend den Ellenbogen gegen den Arm stieß. „Sag mal, Jet, du wirst nicht etwa einen Jetlag haben, oder?“ Crystal war die Einzige, die lachte, ob aus Höflichkeit oder Fremdschämen war nicht ersichtlich, derweil Jet und ich synchron eine Hand gegen die Stirn legten und seufzten. „Und, hey, guck mal, wer da kommt!“, fuhr Amber noch beschwingter fort, als hätte er unsere Reaktionen gar nicht gesehen, „Opal Corsa, Maia-ey day und Ain-gel!“ Er kippte fast vom Stuhl vor Lachen und Jet warf mir einen Blick zu, als wollte er sagen: Kann man den irgendwo abschalten? Aber ich schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Du bist immer ehrlich. Selbst, wenn andere deine Meinung komisch finden.“ „Übrigens, Ain hat mal mit mir getanzt, als ich meine Gabe herausfinden sollte“, sagte Crystal unvermittelt, da sich Ambers Lachkrampf noch nicht gelöst hatte. Es war offensichtlich, dass sie versuchte, Jet eifersüchtig zu machen. Und es konnte ihr so gesehen auch niemand verübeln, hinsichtlich dessen, dass jedes Mal, wenn eine Perle oder auch eine normale Schülerin am Tisch vorbeikam, er mindestens eine Kusshand oder ein schwärmerisches Seufzen hinterhergeschmissen bekam. Allerdings musste ich kichern und Jet genauso, was Crystal irritierte, bis er mir mit der Erklärung zuvorkam. „Ain ist schwul. Da müsste ich mir eher Sorgen um Amber machen.“ „Was?“, versetzte Erwähnter und hob den Kopf. Sein Lachanfall war abrupt erstorben. „Oh“, hauchte Crystal bloß und widmete ihre Aufmerksamkeit eilig den Orangenscheiben auf ihrem Teller. „Dann verbirgt er das aber gut…“ Ich grinste. „Perlen-Rider sind sehr feminin, darum ist Ain auch der einzige Junge in der Klasse. Was aber nicht heißt, dass Schwule automatisch Perlen sind.“ „Gibt es denn noch mehr auf dem Internat“, hakte Crystal, ernsthaft interessiert, nach und ich nickte. „Selbstverständlich.“ Jet hob unwillkürlich den Kopf und sah sich mit gerunzelter Stirn um, was wir alle drei beobachteten, bis Amber die Augen verdrehte. „Sei mal nicht so eingebildet“, schnappte er mit einem Bissen von seinem Brötchen. „Wieso eingebildet?“, erwiderte er, ehrlich verwundert und Crystal und ich stießen infolge unseres Lachens mit den Köpfen gegeneinander, als es wie aus heiterem Himmel zum Unterricht klingelte. „Dann mal los“, schnaufte ich und rieb mir den schmerzenden Kopf. „Bevor Amber sich noch dazu entschließt, diese Konversation mit einem Sprichwort zu krönen.“ „Du wirst noch dein blaues Wunder erleben, Moon“, rächte er sich nonchalant und schon war meine Haut, mein Haar, meine Kleidung, einfach alles in ein knalliges Neonblau abgerutscht, dass ich aussah wie ein überdimensionaler Schlumpf. Das brachte dann sogar Jet zum Lachen und Amber zuckte spitzbübisch die Schultern. „Hoppla.“ „Mach Klartisch, Amber“, grummelte ich und sah mit grimmiger Zufriedenheit dabei zu, wie er anfing, das Geschirr zusammenzustellen und ordentlich wegzuräumen, indes seine Miene von unterdrückter Mordlust sprach. Und obwohl das alles so normal und alteingesessen wirkte, war ich mir nie sicherer, dass es das hinter den Kulissen nicht so war. Und ich wusste nicht, wieso. Muss mit dir reden. Komm bitte nach Unterrichtsschluss ins Zimmer. Crystal Ich drehte die Notiz verwundert in den Händen und steckte sie schließlich zurück in meine Hosentasche. Crystal hatte sie mir vorhin auf dem Flur untergejubelt, als sie sich auf den Weg zum Philosophiekurs gemacht hatte, die letzte Stunde für heute. Ich hatte gerade die Trainingseinheit hinter mich gebracht und tauschte die Uniform in der Umkleide gegen normale Klamotten. Hoffentlich ging es ihr gut. Wenn sie mich schon so fragte, anstatt direkt, dann konnte da nur etwas im Argen liegen. So schnell es ging, stopfte ich meine Sachen in die Tasche und verließ die Sporthalle. Es war wieder ein bisschen wärmer geworden, weshalb ich mir auf halber Strecke die Jacke von den Schultern streifte. Ich war gerade dabei aus dem zweiten Ärmel zu schlüpfen, als ich das Zimmer erreichte, die Türklinke mit dem Ellenbogen runterdrückte und eintrat. Ich warf sie hinter mir mit dem Fuß zu, ließ die Tasche zu Boden plumpsen und sah erst dann auf. Und wäre beinahe über meine eigenen Füße gestolpert. To the Moon OST – Everything’s Alright „Moon?”, stieß Amber verdattert hervor von seiner Position am Fenster aus. Die Jacke rutschte mit einem leisen Knistern herunter. „Was machst du denn hier?“ Er räusperte sich und lenkte seine Augen von meiner nun entblößten Schulter zum Bett. „Jet hat mich herbestellt und… Crystal dich, oder?“ „Diese…“, knirschte ich Augen verdrehend und schubste die Tasche beiseite. „Wir waren ihnen zu gute Lehrer, fürchte ich.“ „Ich glaube, ja“, lachte er und ich fiel augenblicklich ein. Aber als es wieder verklungen war, schwiegen wir – schwiegen, wie wir seit den letzten Tagen oft geschwiegen hatten. Nämlich betreten, unsicher und steif. So, dass man es kaum ertragen konnte. Es war seit er mir die Liebeserklärung gemacht hatte. „Tja“, seufzte Amber schlussendlich angespannt, wippte leicht vor und zurück und hakte die Daumen in seine Hosentaschen. Die Jeans stand ihm, genauso wie das Kapuzenshirt. Seit wann sah er so gut aus? „Dann werde ich mal wieder…“ Wahrscheinlich hatte ich genickt, denn er tat es ebenfalls und wandte sich zum Gehen. Aber als er sich an mir vorbeischieben wollte, hielt ich ihn plötzlich fest. Ohne es entschieden zu haben. „Warte“, flüsterte ich. Er machte ein paar Schritte rückwärts, bis er wieder vor mir stand und sah besorgt zu mir herab, aber ich wagte es nicht, seinen Blick zu erwidern. Ob er mein Herz wohl hörte? Ich selbst konnte kaum etwas anderes vernehmen, so schnell und schallend pochte es. Was war hier nur los? Warum machte mich sein Geruch so wahnsinnig, dass ich am liebsten nach etwas getreten hätte, um mich zu beruhigen? „Was ist wirklich los, Violet?“, fragte er so sanft, dass es wie eine Berührung war und eben diese brachte mich dann dazu, in Tränen auszubrechen. „Das ist doch zum Verzweifeln hier!“, platzte es aus mir hervor. Ratlos hob ich die Hände und presste sie gegen die Schläfen, denn es fühlte sich an, als müsste mein Kopf zerspringen. „Ich versteh das nicht – seit dem Kirschblütenfest, seit jener Nacht, kann ich… ich kann… nicht…“ „Was?“, raunte Amber eindringlich, umfasste vorsichtig meine Handgelenke und ich erlaubte ihm, mir die Hände vom Gesicht zu ziehen. Erlaubte ihm auch, meine Schultern zu berühren, mir das Haar aus der Stirn zu streichen, meine Wange zu streifen… „Ich kann nicht aufhören… an dich zu denken, du Mistkerl“, brachte ich nach einer weiteren Unendlichkeit von Sekunden hervor und lachte die Tränen aus den Augen und das Hicksen die Kehle hinauf. Ambers Augen flimmerten wie Windlichter. Wie schön das aussah. Wie wunderschön er war… Wieso war mir das nie aufgefallen? Dieses Gesicht, das ich schon so lange kannte und von dem ich glaubte, dass es mich nicht mehr überraschen würde können. Es raubte mir den Verstand. Und da weinte auch er. Es waren nur zwei Tränen, die in seinen Augenwinkeln glitzerten und kaum waren sie gefallen, wischte er sie verlegen fort, lachte zittrig auf und seine Hand verkrallte sich genauso unruhig in meinem Top. Wann war sie zu meiner Taille gewandert? „Willst du damit sagen, dass…?“, setzte er mit wackliger Stimme an und anstelle einer Antwort aus Worten, legte ich beide Hände an sein Gesicht, grub meine Finger in sein Haar und zog seine Lippen an meine. Zuerst schien er es nicht glauben zu können – und war damit nicht der Einzige – aber als die Bedeutung meiner Gestik bei ihm angekommen war, schloss er die Arme so fest um meine Taille, dass ich in unseren Kuss keuchte, aber er hätte sogar noch fester zupacken können, ich hätte es willkommen geheißen. Kurz darauf drückte mein Rücken gegen die Tür. „Hör bloß nicht damit auf“, knurrte ich, als wir uns kurz voneinander lösten, um zu Luft zu kommen. „Niemals“, erwiderte er in gleicher Weise, küsste sich an meinem Kinn abwärts zum Schlüsselbein und schob dabei mein Top hoch. Ich stöhnte leise auf, als seine Hände über meine Rippen glitten. Unfassbar, aber wahr. Das Chaos in meinem Kopf hatte sich in Luft aufgelöst. All die Jahre hatte ich mit dem Gefühl gelebt, auszutrocknen, auch nach der Verwandlung und nur die Berührung des Wassers hatte diese Folter lindern können. Und jetzt erfuhr ich, dass es noch etwas gab, das es vermochte; Ambers Berührungen, seine Küsse, sein Atem auf meiner Haut. „Ich liebe dich doch auch, du Idiot…“ Poets of the Fall – Heal my Wounds Zuerst halte ich es für einen Traum. Oft genug habe ich mir ausgemalt, er würde plötzlich vor meinem Käfig stehen, um mich hier rauszuholen. Oft genug wurden meine Hoffnungen enttäuscht. Und so halte ich es auch jetzt nur für ein Hirngespinst, das meinem Wunschdenken entsprungen ist, um mich heimzusuchen. In den schlimmsten Momenten. Denn falsche Hoffnung ist noch grausamer, wenn man sie dringender denn je braucht. Erschöpft lasse ich den Kopf zurück auf meine Arme fallen und die Tränen fließen. „Violet…?“, fragt es von den Gitterstäben aus und ich schluchze so heftig auf, dass ich kurzzeitig glaube, zu ersticken. Ein erneutes Hicksen verbrennt mir die Atemwege. „Violet, ich bin es, Leander. Erkennst du mich denn nicht?“ „Geh einfach weg!“, kreische ich plötzlich, presse mir die Hände auf die Ohren und versuche, durch das Wüten meines Körpers hindurch, einen klaren Gedanken zu fassen. „Lass mich in Ruhe!“ Leander kann nicht reden, ohne zu stottern und das ist ein handfester Beweis dafür, dass ich nur wieder halluziniere. Kann es nicht einfach vorbei sein? Warum darf ich nicht vergessen? Warum muss ich immer noch leiden? „Violet, bitte, hör mir zu…“, versucht die Wahnvorstellung es erneut, aber ich reagiere nicht. Irgendwann wird es verschwinden und dann kann ich vielleicht noch schlafen, bevor ich zurück in die Manege muss. Oder… liege ich schon längst in einem Albtraum? „Na fein, dann eben anders…“, höre ich ihn murmeln, da mein Wimmern anfängt, auszuklingen. Jetzt sind meine Tränen fast wieder stumm, so wie all die Monate zuvor. „Die Gitterstäbe werden sich in Rauch auflösen.“ Was dann geschieht, kann ich mir nicht erklären. Die langen Schatten der Eisenstäbe, die sich über den Käfigboden und mich erstreckten, sind verschwunden und es riecht nach etwas Verbranntem. Irritiert hebe ich den Blick und erkenne Leanders Umrisse, die sich durch eine Schicht von graublauem Qualm bewegt und dann vor mir niederkniet. „Das wird nicht lange halten, Violet, also komm!“ Ich begreife seine Worte nicht, noch, dass er vor mir steht, noch, dass die Käfigwände nicht länger zu existieren scheinen… Ich habe ja schon viele abstruse Träume gehabt, aber dieser steckt sie alle in die Tasche. Als ich nicht reagiere, lässt Leander ergiebig die Luft entweichen, krabbelt neben mich und schiebt rasch beide Arme unter meinen Körper. Irgendein Teil von mir ist geistesgegenwärtig genug, ihm die Arme um den Hals zu legen, damit er es nicht ganz so schwer hat – aber wieso, wenn das doch nur eine Illusion ist? Ist es? Es fühlt sich erstaunlich real an… „Wie dünn du bist…“, haucht er, jedoch eher an sich selbst gerichtet, während er mit mir im Arm aus dem Käfig klettert. Gerade noch rechtzeitig, denn da zieht sich der Rauch wieder zusammen und die Gitterstäbe kehren zurück. Das ist alles nicht normal, aber… Leanders Geruch, seine warme Haut, seine Stimme und dieser Atemrhythmus – in keinem Traum zuvor habe das so intensiv wahrgenommen. Er setzt mich vorsichtig ab, allerdings nur um mich dann direkt in die Arme zu schließen und so fest an seine Brust zu drücken, dass meine Füße für ein paar Sekunden in der Luft hängen. „Oh Gott, ich dachte, du wärst tot, Violet… ich dachte, ich sehe dich nie wieder!“ Dann zieht der Sturm in seiner Brust auf. Es bebt, tost, reißender Wind und knallender Regen. Und erst da, als dieses mir so vertraute Weinen an meinem Ohr rauscht, da wird mir klar, dass es kein Traum ist. Dass das wirklich passiert. Dass mein bester Freund tatsächlich vor mir steht. Dass ich gerettet bin. „Lea!“, hickse ich hervor, schlinge ihm die zittrigen Arme um den Körper und vergrabe mich so tief in seiner Umarmung wie ich nur kann. Es ist vorbei, ich bin kein Monster mehr. Ich bin wieder Violet – er hat sie mir zurückgebracht. Er hat mich ins Leben zurückgeholt. „Was ist bloß passiert?“, keucht er, als wir uns wie abgesprochen voneinander lösen. „Auf einmal warst du verschwunden! Deine Eltern haben gesagt, du wärst abgehauen… Ich hab dich gesucht, aber…“ „Ich… hab mich verändert…“, flüstere ich, bevor er weitersprechen kann und suche zielstrebig Augenkontakt, damit er es versteht. Doch was ich sehe, stößt mich vor den Kopf. „Ich mich auch…“, erwidert er sanft, streichelt behutsam meine Wange und seine bernsteinbraunen Augen leuchten irisierend auf. Er ist ebenfalls infiziert worden. „Wann?“, kann ich lediglich hervorstoßen. Leander seufzt. Darin erahne ich, was er hinter sich hat. Sicher haben auch seine Eltern Panik bekommen und ihn rausgeworfen. „Heute früh. Mom und Dad haben mich zu einem Internat gebracht – sie können uns dort helfen. Da sind wir in Sicherheit.“ Ich hole stockend Luft. „Wirklich?“ Er drückt mich noch einmal an sich und ich kralle die Finger in seine weiche Jacke. Er trägt immer noch so flauschige Klamotten wie früher und ich hoffe, das wird sich nie ändern… „Versprochen.“ Ich will gerade etwas antworten, als unweit von uns entfernt die Lichter angehen und Schritte näherkommen. „Schnell, weg hier!“, zischt Leander, legt mir den Arm um die Schultern und will mich mit sich ziehen, aber da schießt mir der altvertraute Schmerz von den Handgelenken aus durch alle Sehnen und Muskel. Ein erstickter Schrei windet sich empor, bevor ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann. „Violet!“ „Wo willst du denn hin, kleine Blue?“, flötet jemand und ein neuer Schock rast mir ins Blut. „Was zum…?!“, keucht Leander, so wie ihm auffällt, dass die Glasperlen an meinen Handgelenken da sind, um die darunter liegenden Schellen zu verbergen. „Was ist das?“ „Magnetismus…!“, quält sich meine Stimme aus der Kehle und wieder drückt der Direktor auf die Fernbedienung. Ich sinke kraftlos gegen Leanders Schulter. „Boss, sieh mal, das ist auch einer!“, ruft Graham, einer der Akrobaten, mit dem ich oft zusammen in der Show tanze. Einmal hat er auch versucht, mich zu vergewaltigen. Als hätte Leander das gespürt, drückt er mich beschützend an seine Seite. „Fantastisch!“, raunt der Direktor und ich kann förmlich vor mir sehen, wie er die Hände aneinander reibt. „Ich habe sowieso nach einer neuen Attraktion gesucht! Schnappt sie!“ „Lauf weg!“, röchele ich so eindringlich wie möglich. „Na los, jetzt flieh endlich!“ Es sind zu viele – in einem Handgemenge würde Leander den Kürzeren ziehen und ich bin machtlos, ich kann ihn nicht beschützen. Aber allein hätte er eine Chance. „Jetzt reicht’s!“, brüllt er unvermittelt, lässt mich los und stellt sich entschlossen vor mich. Ich will ihm zuschreien, aufstehen, ihm helfen, aber ich kann nicht. Alles schmerzt. „Ich lasse nicht zu, dass ihr sie auch nur noch einmal anfasst, ihr Schweine!“ „Und was willst du tun, Kleiner?“, lacht Graham. „Dir schlottern doch jetzt schon die Knie!“ „Lea!“, keuche ich voller Angst. Aber da dreht er sich zu mir um, lächelt, als wäre alles in Ordnung. Dieses wundersame Lächeln, das sagt „Alles wird gut“ und das ohne zu lügen. Denn Leander lügt nicht. Auch jetzt nicht. Ivan Torrent - Remember Me (Feat. Roger Berruezo) Es setzte etwas in ihm frei, dass ich es aussprach. Er hielt an meinem Hals inne und suchte meinen Blick. Seiner flackerte im Rausch der Emotionen. Rief wirklich ich das in ihm wach? „Ich hatte Angst, weißt du“, flüsterte ich, legte meine Hand auf seine Wange und zog mich wieder zu ihm heran, um meine Stirn an seine zu legen. „Ich bin so unstet wie das Meer. Ich begreife mich selbst nicht. Aber ich wollte, dass du… nicht darunter leiden musst. Ich wollte, dass…“ „Violet“, unterbrach er mich rau, „du warst, du bist und du wirst für mich immer der wundervollste Mensch der Welt sein. So wie du bist, egal, in welcher Gestalt oder in welcher Stimmung. Ich liebe dich und hab nie etwas anderes getan.“ Seine Worte erreichten mich wie fallende Federn, schmolzen, durchflossen meine Venen. Ich konnte atmen, ich konnte mich bewegen, ohne das Gefühl, meine Haut würde in ihrer Trockenheit reißen. Die Flut nahm mich mit sich. Ich war zuhause. Endlich wieder zuhause… „Okay“, sagte ich mit belegter Stimme, machte mich sehr achtsam, aber resolut von ihm los und schob ihn ein Stück von mir weg, was er mit tief gerunzelter Stirn durchgehen ließ. „Genug ist genug.“ „W-Was…?“, formte er mit den Lippen, ich hob kritisch eine Augenbraue und verschränkte ebenso missbilligend die Arme vor der Brust. „Du kannst einer Frau doch nicht ernsthaft so was Romantisches sagen und dann einfach abwarten.“ „Was… meinst du damit?“ Ich holte tief Luft, stieß sie mit einem flinken, unverbindlichen Seufzer aus und drehte mich halb zur Tür, um den Schlüssel im Schloss herumzudrehen. Dann zwinkerte ich vielsagend. „Runter mit den Klamotten.“ Und Macht seiner Gabe fielen ihm jäh alle Kleidungsstücke vom Körper wie bei einem Dominospiel. Das Grinsen kehrte auf mein Gesicht zurück und obwohl Ambers Wangen schon in Flammen zu stehen schienen, setzte ich noch einen drauf, in dem ich betont langsam abwärts sah. „Und du hast ja wirklich einen Wachstumsschub hingelegt!“ „Violet!“, beschwerte er sich, errötete noch mehr und hielt sich rasch die Hände vor. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. „Sorry, ich gebe zu, das war nicht fair, aber…“ Meine Haut kribbelte, als ich wieder an ihn herantrat. Jetzt, wo sein Oberkörper entblößt war, wurde ich der vielen Muskeln erst vollständig bewusst. Es war beinahe hypnotisierend, wie sie sich unter seiner Haut bewegten, wie das Blut dahinter floss, sein Herz an Tempo gewann. „Ich mach es wieder gut.“ Damit zog ich mein Top bis unter die Brust hoch, griff nach seinen Händen und legte sie auf beide Seiten meiner Taille. „Du bist dran, Lea.“ Und das musste ich ihm nicht zweimal sagen. Binnen Sekunden hatte er mir das Oberteil ausgezogen, dann den BH gelöst. Seine Hände ertasteten noch die Rundungen meiner Brüste, da hatten unsere Münder schon wieder zueinander gefunden. Hungrig, fast gierig, küssten wir einander. Ich war so berauscht, dass ich nur am Rande bemerkte, wie er mir die Hose und das darunter liegende auszog. Und dann fand ich mich auch schon auf seinen Armen wieder. Er trug mich zum Bett hinüber, legte mich trotz seines Verlangens, das ich in seinen Küssen so stark spürte, das mich halb in den Wahnsinn trieb, ganz behutsam auf der Matratze ab und löste sich dann von mir, um mich anzusehen. „Bist du dir sicher…?“, fragte er leise und küsste mein Handgelenk, dort, wo der Puls war. Ich drehte die Hand so, dass ich seine Wange berühren konnte, versank in seinen Augen und wünschte mir nichts mehr, als… „Versprich mir vorher etwas.“ „Alles“, sagte er sofort, küsste meine Stirn und die übrig gebliebenen Tränen von meinem Kinn. Ich lächelte auf jene Art, auf die ich es niemals vor jemandem tat. Denn sie verriet, was ich wirklich fühlte. Das war mein wahres Lächeln. Mein wahres Gesicht. „Lass mich nie wieder los…“ „Nie wieder“, bestätigte er, so intensiv, dass mir fast wieder die Tränen kamen. Leander log nie. Auch jetzt nicht. „Danke…“ Darauf lächelte er nur noch und ich entspannte mich, zum Zeichen, dass er sich nicht mehr zurückhalten musste. Sacht neigte er sich wieder vor, legte seine Lippen auf meine und drückte mich ein wenig tiefer in die Kissen. Mein Körper erzitterte und die Welt wurde leiser, wurde weicher und mit jedem seiner schnellen Herzschläge wärmer. Er beugte sich über mich, Haut traf auf Haut und unsere Hände verschränkten sich ineinander, krallten sich fester, als es geschah, ließen nicht los, würden es niemals wieder tun. Und plötzlich erinnerte ich mich an etwas, das Jade einmal zu mir gesagt hatte. Der Mond scheint nicht von sich aus. Es ist die Sonne, die hinter ihm schwebt und ihn zum Erstrahlen bringt. Aber seine Durchsichtigkeit ist kein Zeichen seiner Schwäche, sondern seiner bedingungslosen Güte. MythFox - Time To Come „Lachhaft“, lässt Graham selbstgefällig fallen und macht einen Schritt auf Leander zu. „Was soll eine halbe Portion wie du schon für eine Gabe haben? Ich dachte immer, der Virus sucht sich nur außergewöhnliche Menschen aus.“ „Dir fällt doch bestimmt das ein oder andere Sprichwort ein, oder?“, versetzt er und vergrößert seinen Ausfallschritt. Graham zieht misstrauisch die Brauen hoch, hält jedoch weiterhin auf meinen besten Freund zu. Ich will ihm erneut zurufen, aber ein jedes Wort geht in seiner Stimme unter, die so klar und fessellos ist wie ich es mir nie habe vorstellen können. Und er wahrscheinlich ebenso wenig. „Jetzt halt mal die Luft an, Junge“, sagt er gelassen und Graham kommt lediglich noch dazu, den Mund zu öffnen, holt dann jedoch tief Atem und hält ihn an. Konfus lasse ich die Augen zwischen ihm und Leander hin und herschnellen. Genauso wie alle anderen auch. „Was zum…?!“, grollt der Direktor, aber Leander hält die Hand hoch, als wollte er ihn beruhigen. „Ihr spielt hier grad nur die zweite Geige.“ Und wie aus dem Nichts hat der Direktor eine alte, schäbige Violine in der Hand und fängt an, die Unterstimme irgendeines bekannten Opernstücks zu spielen; und dabei kann ich mir nicht vorstellen, dass er das Instrument überhaupt beherrscht. „Und ihr da hinten macht jetzt auch ‘nen Abflug“, fährt er neckisch fort, mit einem Fingerzeig auf die Artisten hinter dem Direktor, woraufhin sie gesammelt davongeweht werden, so schnell, dass es für Momente so aussieht, als würden sie fliegen. „Ach und nur zur Sicherheit, würde ich euch beide bitten, für eine Weile die Klappe zu halten.“ Das richtet er wieder an Graham und den Direktor, die sich gerade von der Geige und der Atemlosigkeit befreien konnten. Aber schon stürzen sie simultan auf den Wohnwagen zu und umklammern in vollstem Einverständnis die hintere Ladeklappe. Jedenfalls in vollstem Einverständnis ihrer Körper. „Was ist das für eine Hexerei?!“, wütet der Direktor und Graham knurrt lediglich, als ihm klar wird, dass er seine Hand nicht lösen kann. „Dein Ende, du Ratte“, gibt Leander schonungslos zurück und obwohl der Direktor etwas zu erwidern versucht, kann er es nicht mehr, denn seine Zähne sind zu Nagetierbeißern geworden, seine Ohren doppelt so groß und rund und hinter seinem Rücken ragt ein ziemlich hässlicher Rattenschwanz hervor. Bei diesem Anblick muss ich unwillkürlich lachen. Da erklingen unerwartet Sirenen in der Ferne. „Die Bullen?!”, brüllt Graham, während der Direktor nur seltsam aufquiekt. „Ein kleiner, anonymer Hinweis“, meint Leander schulterzuckend, dann macht er einen Schritt auf die beiden zu und pflückt die Fernbedienung vom Boden auf, die dem Direktor aus der Hand fiel, als die Geige erschien. Leander dreht den Kasten kurz in den Händen, dann holt er unvermittelt aus und zieht Graham damit gekonnt eins über. Stöhnend sackt er in sich zusammen. „Das war für meine Freundin“, zischt er, dreht sich nach links und verpasst auch dem Direktor einen saftigen Kopfschlag, der ihn Sterne sehen lässt. Anschließend wirft er seinen bewusstlosen Körper auf den Rücken und tastet ihn ab, bis er den Schlüsselbund findet. Damit kommt er auf mich zu und schließt die Handschellen auf. Als sie abfallen, fühlt es sich an, als würden hunderte von Kilos von mir bröckeln und ich falle meinem besten Freund schluchzend um den Hals. Egypt Central – Backfire „Nie wieder wird dir so was geschehen, Violet, dafür sorge ich…“, raunt er in mein Haar, macht sich behutsam von mir los und wirft die Fernbedienung neben uns auf den leicht gepflasterten Boden, nur um dann mit voller Wucht draufzutreten. „Warte, ich will nur sichergehen“, flüstere ich, bevor er mich fortziehen kann. Ich hebe eine Hand wie einen Revolver und ziehe das verbliebende Wasser aus meiner Kleidung, um es dann wie einen Schuss genau auf die herauslugende Chipkarte in der Fassung abzufeuern. Grimmig schmunzelnd sehe ich dabei zu, wie sie in ihre Einzelteile zerspringt und nie wieder reparierbar sein wird. Leander legt mir den Arm um die Schultern und weist zum Wald. „Komm, beeil dich, bevor man uns hier sieht.“ Er hat Recht, denn auf die Sekunde genau werden die Sirenen lauter und grelles Licht flutet durch die Zirkusanlage. Ich nicke und folge Leander eilig in den Schutz des angrenzenden Waldes. „Lea“, bringe ich irgendwo mitten auf dem Weg hervor, als wir anhalten müssen, um eine Straße zu überqueren. „Ja?“ Langsam beuge ich mich vor und drücke meine Stirn gegen seinen Hals, wo warm das Blut hinter der Haut pulsiert. „Wie hast du mich gefunden? Niemand wusste, dass ich dort war.“ Er seufzt und legt seinen Arm wieder um mich. Die Straße leert sich nicht, noch immer rasen zu viele Autos vorbei, aber das ist in Ordnung. Jetzt bin ich die Ketten los. Selbst, wenn sie uns einholen, sie können uns nichts mehr tun. „Den Abend, bevor ich anfing, mich zu verwandeln, konnte ich bereits… richtig sprechen. Und das ein oder andere Sprichwort ist sogar schon wahr geworden, auch wenn es zu Beginn nur für dumme Zufälle gehalten wurde.“ Er biss sich leicht auf die Unterlippe. „Und na ja, ich bin zu deinen Eltern gegangen und habe sie mit der Gabe dazu gebracht, mir die Wahrheit zu sagen. Meine recht emotionale Reaktion darauf, muss letzten Endes der Trigger gewesen sein – ich fing an, mich zu verwandeln.“ Ich schluckte, denn seine Erläuterung bringt mich wieder zu dem Gedanken an den zweiten Teil meiner Gabe. Ich muss einen Weg finden, das vor ihm geheim zu halten. Er darf mich so nicht sehen, denn dann würde er sich vor mir fürchten. „Jetzt“, holt mich Leander wieder aus den Überlegungen und nimmt meine Hand, um mich über die gerade leer gewordene Straße zu ziehen. Den Rest des Weges schweigen wir und hängen eigenen Gedanken nach. Ich weiß nicht, wie, aber ich werde eine Möglichkeit finden. Lange genug habe ich Leander nicht mehr beschützen können, das muss ich jetzt wiedergutmachen. Und wenn es bedeutet, mein Herz zu verschließen, dann soll es so sein. Verrückt ist es schon irgendwie. Denn ich weiß auf einmal, dass das Liebe sein muss. Echte Liebe. Sie kann einen sogar zur Selbstzerstörung zwingen, damit der andere glücklich werden kann. Aber alleine lassen… werde ich ihn nie wieder. Nichts wird uns mehr trennen. Absolut nichts. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)