Crystal Riders II von Rainblue (Reminiscence) ================================================================================ Kapitel 10: Vor verschlossenen Türen ------------------------------------ Jade – Vor verschlossenen Türen Jonathan Fleming-Bock - Forgotten Strength Alle Kerzen im Raum waren entzündet und spendeten sanftes, unstetes Licht, in welchem ich mich daran machte, den Schreibtisch abzuräumen und mich endlich um alles zu kümmern, was liegen geblieben war. Und das war leider nicht zu wenig. Nichtdestotrotz war es einfacher und erträglicher, als sich den Dingen draußen anzunehmen. Wir feierten das Hanami schon seit der Gründung dieses Internats, aber ich hatte mir nach all den Jahren noch immer kein dickeres Fell zulegen können und hielt es daher nur wenige Stunden unter den Kirschbäumen aus, bevor die Nostalgie mich überwältigte. Die fröhlichen Gesichter, das Lachen und Begeisterung meiner Schüler machten es mir leichter, aber die Erinnerungen verdrängen, konnten auch sie nicht. Nicht einmal Jets Lächeln, auf das ich so viele Stunden hoffnungsvoll gewartet hatte. Letzten Endes sind wir doch alle einsame Krieger, die ihre Schatten im Alleingang bekämpfen müssen. Ich schob ein paar lose Strähnen hinter die Ohren zurück und zerknüllte Ablehnungsschreiben und ausgelaufene Dokumente, die dann in den Papierkorb flogen. Doch unter all der Ablage, rutschte mir unversehens eine Akte entgegen. Verwundert schlug ich sie auf, denn für gewöhnlich ging ich mit den persönlichen Daten meiner Schüler äußerst sorgsam um und ließ sie nicht mir nichts dir nichts auf dem Schreibtisch liegen. Der Name Mako Crowe trat mir vor Augen und ich erinnerte mich, wieso ich die Akte nicht weggeräumt hatte – die Polizei hatte erst kürzlich eine Kopie davon angefordert. Wie so oft gingen diese Affen davon aus, dass ich ihnen etwas verschwieg und bestanden daher konsequent darauf, meine Unterlagen einzusehen, obwohl sie mit denen der Regierung eins zu eins übereinstimmten. Seufzend ließ ich mich auf den Stuhl sinken und überflog ihren Lebenslauf. Sie war zugegebenermaßen nie das brave Mädchen von nebenan gewesen, aber ihre wirklich kriminellen Kunstgriffe hatten erst begonnen, als sie Jets Bande beigetreten war. Sie hatte mir nichts vormachen können – dass ihre Infizierung weitaus länger in der Zeit zurücklag, war mir schon klar geworden, als ich sie gebeten hatte, mir ihre Gabe zu demonstrieren. Aber sie hatte mich angehalten, darüber weiterhin zu lügen und ich war einverstanden gewesen. Das wäre ich bei jedem Schüler gewesen. Allerdings war es nicht diese Vertuschung und auch nicht die bunte Palette an Straftaten gewesen, die mich davon überzeugt hatten, dass es ihre Akte in sich hatte. Denn ich hatte ausreichend Lebensläufe mit ganz ähnlichen und härteren Stichpunkten gelesen. Nein, was mich in Sprachlosigkeit versetzt hatte, war lediglich ihr Name gewesen. Lieutenant Morven Crowe. Der Mann, der schon seit Jahren mit jedem nur erdenklichen Mittel versuchte, dem Internat das Leben schwer zu machen. Ich hatte ihn nie als eine ernsthafte Bedrohung gesehen, denn dafür riss er viel zu sehr den Mund auf. Hunde die bellen, beißen nicht. Solche, die schweigen, schon. Yuri war das beste Beispiel. Wieder seufzte ich. Es kam nur sehr selten vor, dass erwachsene Menschen zu Crystal Ridern wurden. Ich erklärte mir das damit, dass ihr Geist bereits abgeklärter war, mehr verarbeitet und reflektiert hatte und daher weniger Angriffsfläche für den Virus bot. Aber Makos Mutter hatte zu jenen Ausnahmefällen gehört. Nur dass ich von dieser Frau niemals erfahren hatte, da sie sich noch am Tag ihrer Verwandlung das Leben genommen hatte. Crowe hatte innerhalb von vierundzwanzig Stunden seine gesamte Familie verloren, denn noch am selben Abend war auch seine Tochter von Zuhause weggelaufen. Mit nicht einmal sechszehn Jahren. Langsam klappte ich die Akte wieder zu, erhob mich und stellte sie zurück an ihren alphabetisch angestammten Platz. Mako war nicht mehr hier, aber sie würde ein Teil des Internats bleiben und wenn sie eines Tages wiederkommen sollte, dann wäre sie hier auch weiterhin willkommen. Egal, was die Abteilung oder ihr ach so stolzer Vertreter dazu sagen würden. Ich klaubte die übrig gebliebenen Papiere zusammen und heftete sie ordentlich ab. Darunter waren die Termine für die diesjährigen Entschärfungsprüfungen und eine kleine Liste von Namen. Nicht viele. Sogar noch weniger als letztes Jahr. Aber ich konnte es meinen Schülern auch nicht nachsehen, dass sich nur eine so kleine Anzahl für die Prüfung angemeldet hatte. Die Bedingungen waren drastisch verschärft worden, allmählich fing ich sogar an, mich zu fragen, ob Jet ihnen standgehalten hätte – und er war bisher immer noch der beste Absolvent, den es je gegeben hatte. Bei dem Gedanken an ihn, griff ich unwillkürlich in meine Jackentasche, holte den Schlüsselbund heraus und schloss eine meiner Schubladen auf. Eine Box kam zum Vorschein. Sie war bis zum Rand voll mit Edelsteinen – für jeden meiner Schüler und die Lehrer hatte ich einen gesammelt. Es mochte Aberglaube genannt werden, aber es beruhigte mich trotzdem. Denn es hieß, der Stein würde seinen Repräsentanten beschützen. Ich ließ meine Hand zwischen die glatten Körper gleiten, sodass sie klackernd gegeneinanderstießen und fand nach kurzem Suchen das leichte Gewicht dessen, den ich gesucht hatte. Einen Augenblick lang betrachtete ich ihn im schummrigen Licht, aber dann platzierte ich ihn auf der nun leeren Tischplatte und wühlte noch einmal in der Kiste, bis sich zum Gagat noch ein Mondstein, ein Bernstein und eine roséfarbene Perle gesellt hatten. Mein Gesicht sank in die Handflächen, während ich sie nachdenklich betrachtete. Yuki Kajiura – Ensei Ein jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen. Aber nicht jeder fing damit an, weder vor anderen, noch vor sich selbst. Sie schrieben die Geschichte immer weiter, ohne sich mit dem, was bereits geschehen war, noch einmal zu befassen. Crystal Rider hingegen wurden dazu gezwungen. Von einem Parasit, der plötzlich in ihnen erwacht war. All das, was die Allgemeinheit unterdrückte und versuchte, zu vergessen, war, wovon der Virus lebte. Die so genannten Schwächen. Die Makel. Das Wunschdenken. Der Virus nutzte sie und machte eine Stärke daraus, eine, die mächtig genug war, um sich nicht mehr davon besiegen zu lassen – während sie es doch tat. Hier begann die große Abstraktion des Ganzen und der Grund, weshalb ich im Rahmen der damaligen Forschung infiziert worden war. Meine Augen schlossen sich wie von selbst. Um den optimalen Weg zur Kontrolle über die Gabe zu finden, war es notwendig, sich mit ihrer Ursache zu beschäftigen. Und darum war ich die Akten meiner Schüler permanent sorgfältig durchgegangen und dabei in so viele verschiedene Geschichten eingetaucht. Hatte so viele verschieden „Schwächen“ gesehen. Amber beispielsweise, der nie richtig hatte artikulieren können, hatte darunter so viele Worte und Bilder in sich eingeschlossen, dass er im Zuge seiner Infizierung und Verwandlung und Zeugen nach, sogar einige Tage zuvor, bereits Sprichwörter wahr hatte werden lassen. Seine Eltern jedoch hatten zu jenem raren Einzelfall gehört und ihren Sohn eigenhändig zum Internat gefahren. Abgeschoben hatten sie ihn dennoch. Moon war Zeit ihres Lebens in Psychotherapie gewesen, aufgrund ihrer, den Ärzten zufolge, krankhaften Verbundenheit zu Wasser, die darin gemündet hatte, sich wie unter Zwang immer wieder die Hände zu waschen, zu duschen oder sogar stundenlang in der kalten Badewanne oder in Seen auszuharren. Crystal, mit ihren vielen unterdrückten Gefühlen, für die man sie so oft als schwach und überempfindlich bezeichnet hatte, die aber stets nur durch die Schwingungen anderer entstanden waren – sie hatte die Leiden und die Freuden all ihrer Mitmenschen aufgefangen, wahrgenommen und war nicht wie andere in der Lage gewesen, einfach die kalte Schulter zu zeigen. Mira war auch ein interessanter Fall, ich hatte lange und oft mit Mrs. Capella darüber gesprochen, denn sie tanzte mit der Feueraffinität aus der Reihe, da die anderen Perlen Gaben in Richtung schöner Künste besaßen oder Gefühle beeinflussten. Und dann war da noch Jet. Er war schon immer neugierig gewesen, hatte mich über alles, was die Crystal Rider betraf, ausgequetscht, weil er nicht dazu in der Lage gewesen war, das Wissen im Unterricht aufzunehmen. Und ich hatte gewusst, dass er, sobald er mehr über die Entstehung der Gabe eines Riders erfuhr, mit jener Frage herausrücken würde. „Was war meine Schwäche, dass ich aufgrund dieser jetzt töten kann?“ Ich hatte mich gewunden, aber letztendlich war ich ihm meine Thesen dazu schuldig gewesen, auch wenn es mich einiges gekostet hatte, ihm davon zu erzählen. Eine Gabe, die auf Augenaufschlag töten kann, muss rein theoretisch aus einem Zusammenspiel von unvorstellbar großer Angst und Hass auf alles und jeden in dieser Welt entstanden sein. Wenn es stimmte, war Jet sozusagen so was wie das Gegenteil von Crystal. Stück für Stück öffnete ich die Augen wieder und ließ sie auf die Kerzen gleiten, die in den letzten Monaten so oft entzündet worden waren, dass ich die heruntergebrannten mehrfach hatte austauschen müssen. Eine von ihnen war schwarz. Sie flimmerte am unruhigsten, obgleich sie nicht einmal auf dem Fensterbrett stand. Von ihr aus schwang mein Blick zurück auf den Gagat vor mir. Und die Erinnerungen breiteten Federn werfend ihre Flügel aus… Valentin Wiest - Nobody knows Es geschieht mitten in der Nacht. Das Telefonklingeln ist ein harscher, überschneller Pfeil, der meinen Schädel durchbohrt und ich fahre aus den Decken hoch, als reiße mich jemand hinauf, taste blind nach dem Handy und erkenne nur ein „Nummer unterdrückt“, bevor ich abnehme. „Mrs. Chan“, erklingt es am anderen Ende der Leitung, ehe ich auch nur Luft holen kann. „In zehn Minuten im Institut. Ein neuer Rider.“ Und schon hat er aufgelegt. Stirnrunzelnd nehme ich das Handy vom Ohr und schlage die Decke zurück, um aufzustehen. Was hat das zu bedeuten? Seit wann erfahre ich von einem neuen Infizierungsfall über die Abteilung? Normalerweise halten die sich da fein raus. Ich lasse es fürs Erste dabei bewenden, binde meine Haare schnell zu einem Dutt zusammen und tausche den Schlafkimono gegen die Außendienstuniform. Sie ist legerer geschneidert, sodass sie auch als ein schlichter Hosenanzug durchgehen könnte und hat ihre Stickereien auf der Innenseite. Keine Minute später sitze ich im Wagen und fahre durch die leergefegten Straßen, in den Lichtkegeln von Laternen, bis der düstere Schatten des Instituts mich verschluckt. Dieses abstoßend modernisierte Gebäude – eine Symbiose aus Glas und Chrom und Macht. Ich steige gerade aus dem Wagen, da kommt mir schon einer der Angestellten mit einem Regenschirm entgegen, dabei nieselt es nur. Es alarmiert mich, denn wenn sie mich derart zuvorkommend behandeln, läuft irgendwas nicht mit rechten Dingen. „Bitte hier entlang“, lässt der Mann verlauten und führt mich hinüber zum Haupteingang. Mir wird mulmig zumute – zum einen ist es alles andere als gewöhnlich, dass ich wegen eines neuen Riders ins Institut beordert werde und zum anderen wäre ich in diesem Fall davon ausgegangen, dass sie ihn mir zum Internat bringen, anstatt mich antanzen zu lassen. Aber mit meinen Fragen muss ich noch warten, denn der Mann neben mir ist in ihrer Schachfamilie nur ein Bauer und wird mir keine Antworten geben können. Wir durchqueren die spärlich und kalt beleuchtete und gespenstig stille Eingangshalle, betreten den Aufzug und lassen in der dritten Etage einige Korridore hinter uns, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Schließlich bleibt mein Begleiter vor einer Tür mit dem Nummernschild 365 stehen und klopft diskret an. Im Inneren höre ich leise Stimmen und das kaum vernehmbare Lärmen einer Neonlampe. Auf das Klopfen hin, öffnet sich die Tür ruckartig. Ein Mann in einem weißen Laborkittel erscheint, einer wie ich sie früher auch getragen habe. Der Anblick bringt mich zum Schlucken. „Ah, Mrs. Chan“, begrüßt er mich gesetzt und steckt den Kugelschreiber, mit dem er eben noch etwas auf den Unterlagen auf seinem Klemmbrett notierte, in seine Brusttasche. „Wir haben Euch schon erwartet. Kommt doch rein.“ Das ist das Zeichen für den Anzugträger, sich wieder aus dem Staub zu machen. In diesen vier Wänden wandert man stets von Hand zu Hand. Ich schaue ihm kurz hinterher, dann tue ich wie geheißen und betrete das geruchlose Zimmer. Ich kann die Veränderung der Atmosphäre fast sofort fühlen. Der Virus hat einen absonderlichen Singsang, nicht hörbar, nur fühlbar, aber nicht zu verkennen. Und hier klingt er tiefschwarz… „Was…?“, stoße ich atemlos hervor, als der Mann mir nicht mehr die Sicht versperrt und mache ein paar schnelle Schritte in den Raum hinein. „Vorsicht, Liz“, flüstert auf einmal eine mir außerordentlich vertraute Stimme. Ich habe ihn nicht sofort erkannt, weil die Aura des Crystal Riders wie Nebel wirkt. Dunkler, schneedurchwirkter Nebel. „Yuri…“, sage ich knapp zur Begrüßung, als seine blauen Augen auf meine treffen. Aber im Augenblick kann ich mich nicht über seine Anwesenheit aufregen, noch nehme ich sie tatsächlich für voll, denn auf einer Liege auf der linken Seite des Zimmers befindet sich eine zusammengekauerte Gestalt, die meine ganze Anteilnahme in Beschlag nimmt. „Geh nicht zu nahe ran“, warnt mich Yuri und tritt leicht vor mich, damit ich nicht auf den Jungen zuhalten kann. „Und schau ihm nicht in die Augen.“ „Was ist hier überhaupt los?“, zische ich und setze ein paar Schritte zurück, um ihm nicht mehr so nahe zu sein. „Was ist mit dem Jungen geschehen?“ Während ich rede, schweift mein Blick wieder zu ihm. Er liegt auf der Seite und hat die Knie eng angezogen, seine Hände ruhen verkrampft auf der Brust, die Finger im Stoff seines Leinenhemdes verkrallt. Er atmet so schwer, dass es wie heulender Wind klingt. „Er wurde infiziert“, antwortet Yuri sachlich, aber auch mit einer Spur von Arroganz. „Das dürfte für jemanden wie dich doch wohl offensichtlich sein.“ Ich ignoriere seinen kleinen Affront, stattdessen betrachte ich den Jungen noch einmal. Sein schwarzes Haar ist wirr und ich erkenne rote Spitzen in Nähe seines Nackens. Es wirkt rebellisch – ich bin mir beinahe sicher, dass er von der Straße kommt. Dabei macht er keinen gefährlichen Eindruck, vor allem nicht in diesem Zustand. Er wirkt eher… zerbrechlich. Silent Snow by Fred Bouchal „Sein Name ist Jason Snow, zweiundzwanzig“, fährt Yuri fort, da ich nichts von mir gebe. „Er hatte einen schwarz bezahlten Job am Hafen und war Teil einer Bande von Jugendlichen.“ „Und wieso ist er hier?“, schneide ich ihm das Wort ab, denn diese Informationen sind augenblicklich nicht von Wichtigkeit, wie mir mit jedem weiteren Blick auf den Jungen klar wird. Seine Verwandlung erscheint mir falsch. Die Transformation des Körpers durch den Virus ist schmerzhaft, das ist wahr, aber er erweckt den Eindruck, als würde sie ihn langsam aber sicher töten. „Reiner Zufall“, erklärt Yuri ungerührt. „Es gab eine Explosion am Hafen, bei der viele Arbeiter ums Leben gekommen sind. Du hast sicher in den Zeitungen davon gelesen.“ Ich nicke ungeduldig und warte auf mehr. „Während des Unglücks oder unmittelbar davor, muss der Virus auf ihn übergesprungen sein. Er sorgte dafür, dass sein Körper nicht im Feuer verbrannte, dennoch benötigte es seine Zeit, bis die Wunden sich schlossen. Und da es noch innerhalb der Verwandlung geschah, hatte der Virus ferner Probleme, die Haut zu regenerieren. Wir dachten erst, er würde es nicht überleben, aber eben gerade hat sich herausgestellt, dass er außer Gefahr ist.“ Er beschreibt einen leichten Bogen um mich herum und bleibt in gut einem Meter Entfernung neben mir stehen. „Allerdings hat der Schock eine leichte Amnesie verursacht. Und dann ist da noch…“ Urplötzlich fahren Jasons Lider in die Höhe und entblößen ein so schwarzes Paar Augen, dass die Pupille darin unsichtbar wird. Sie glühen auf, schimmern wie glatt geschliffene Kohle oder der Glanz auf einer Rabenfeder. Für Momentbruchteile sind sie nur starr geradeaus gerichtet, doch dann schießen sie aufwärts in meine Richtung. „Liz!“, ruft Yuri und genau in dieser einen Sekunde, die noch gefehlt hat, bevor mich Jasons Augen berührt hätten, werden sie von seiner Schulter verdeckt. Er greift mich bei den Armen und dreht mich zur Seite. Ich schüttele seine Hände eilig ab. „Was ist los?“, fahre ich ihn unwirsch an und sein Kiefer wird zu Stein. „Ich habe dir doch gesagt, dass du ihm nicht die Augen sehen sollst“, entgegnet er nicht minder ungehalten. „Seine Gabe wird als ‚Soforttod‘ definiert.“ „Soforttod?“, echoe ich rau und schiele an Yuri vorbei. Jasons Augen sind wieder geschlossen, beziehungsweise fest zugepresst, denn der Schmerz scheint wieder stärker zu werden. Seine Hände vergraben sich tiefer in den Stoff seines Oberteils und er stöhnt leise. „Ein Blick und du bist tot“, spricht Yuri das aus, was ich schon vermutet habe. Es ist verrückt. So viele Gaben habe ich schon gesehen, so viele ungewöhnliche Fähigkeiten, aber niemals war eine dabei, die den Tod im Namen trägt. Und das obwohl es an sich keine zu widersinnige Vorstellung ist. „Und aus welchem Grund habt ihr mich hierher bestellt, anstatt ihn zum Internat zu bringen?“, stelle ich die Frage, die mich nach allem immer noch am meisten wurmt. Vielleicht weil ich bereits ahne, dass der Grund für das ganze Theater kein sicheres Terrain sein wird. Eher Glatteis. „Die Sache ist folgendermaßen“, beginnt Yuri mit einem so autoritären Unterton, das in mir das kindische Bedürfnis aufsteigt, mir die Ohren zuzuhalten. „Jasons Gabe ist außergewöhnlich. Es wird nicht möglich sein, ihn auf dem Internat zu unterrichten – worin auch? Er könnte seine Mitschüler samt und sonders töten, ohne es gewollt zu haben. Du müsstest ja ausreichend im Bilde darüber sein, wie unkontrollierbar eine Gabe am Anfang ist.“ Ich verziehe nur die Brauen. Er mag Recht haben, aber das, worauf er hier offenkundig gerade hinauswill… „Daher halten wir es für vorteilhafter, ihm eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen.“ „Und wie soll die aussehen?“, bringe ich heiser hervor und sehe noch einmal zu Jason hinüber. Auf seinen Wagen sind die Spuren von Tränen zu erkennen. Und Yuris Stimme wird zu einer frostklirrenden Nacht. „Du wirst dafür Sorge tragen, dass er sich das Entschärfungssymbol aneignet. Und nebenbei wird er seine Gabe direkt in die Dienste des Staates stellen.“ Ich wirbele heftig zu ihm herum, als mir der Sinn seiner Worte aufgeht. „Ihr wollt ihn dazu zwingen, seine Gabe zu benutzen“, knurre ich mit bebender Brust und mache ein paar impulsive Schritte nach links, wodurch ich halb beschützend vor dem Jungen stehe, der immer noch keucht vor Schmerz. „Um für euch zu töten!“ Yuris Gesicht zeugt von keinerlei Gefühlsregung, er scheint nicht einmal den Zugluftstoß von Skrupel dafür zu empfinden, was er hier gerade so perfide plant. Es beweist mir mit einer bitteren Brutalität, dass der Mann, den ich einst kannte, schon lange tot ist. „Du übertreibst wie üblich“, seufzt er, die Hände in die Hosentaschen schiebend. „Niemand wird von ihm verlangen, Unschuldige zu töten.“ „Das macht keinen Unterschied“, unterbreche ich ihn hart. „Es ist schlimm genug, dass er mit so einer Fähigkeit verflucht ist, du kannst ihm nicht auch noch das Schicksal auferlegen, sie gezielt anzuwenden!“ Where Is My Mind - Yoav ft. Emily Browning - Sucker Punch Soundtrack „Manchmal muss man Opfer bringen, um Opfer zu vermeiden“, fährt er beherrscht fort und ich würde ihn allein für diese Distanziertheit am liebsten schlagen. „Im Verlauf der letzten Jahre sind schon so viele Menschen durch unkontrollierte Crystal Rider zu Tode gekommen. Darunter besonders viele Polizisten, die versucht haben, sie aufzuhalten…“ „Er hat sich das nicht ausgesucht!“ Yuris rechte Augenbraue zuckte, als ich es ihm mitten in den Satz warf, jetzt mustert er mich wieder, aber es kommt mir so vor, als würde er mich dabei zum ersten Mal, seit diese Diskussion begonnen hat, wirklich wahrnehmen. Äußerlich hat er sich nicht verändert und genau darum ist es so qualvoll, zu sehen, wie groß die Diskrepanzen im Inneren sind. Wie ferngesteuert schüttele ich den Kopf. „Früher hättest du so nicht geredet. Wir beide – wir haben den Virus erforscht, um seinen Infizierten zu helfen. Um sie verstehen zu lernen. Hat das jetzt alles keine Bedeutung mehr?“ Sein Brustkorb gibt ganz leicht nach – als hätte jemand einen der Fäden gekappt, die ihm diese straffe Haltung aufzwingen. Doch seine Augen sprechen eine andere Sprache. „Menschen ändern sich.“ „Nicht Menschen, nur Umstände“, halte ich tonlos dagegen. „Sieh es, wie du willst – du wirst dich unseren Anweisungen fügen oder wir nehmen die Sache selbst in die Hand.“ Ich stoße gepresst die Luft aus und verschränke langsam die Arme vor der Brust. „Wie soll ich vorgehen?“ „Schon besser“, kommentiert Yuri zufrieden und ich kann nur mit Mühe ein Zähneknirschen zurückhalten. „Du wirst ihn trainieren. Die üblichen Techniken, vor allem Selbstverteidigung und Nahkampf. Des Weiteren müssen wir versuchen, ihn zu isolieren, damit er keine seinen Aufträgen hinderlichen Reuegefühle entwickelt.“ „Das ist krank“, flüstere ich, ohne dass ich es bewusst gelenkt habe und spüre, wie sich Wärme an den Rändern meines Sichtfeldes sammelt. Yuris Gestalt wird unscharf, als sich eine Träne aus meinen Augen herausstiehlt. „Das könnt ihr nicht ernsthaft von mir verlangen.“ Bevor ich mir eine noch größere Blöße vor ihm gebe, drehe ich mich um und trete auf die Liege zu. Jasons Fingerknöchel sind bereits weiß geworden, so klamm hat er sie in sein Oberteil verkrallt. Herzhöhe. Da kommt der Schmerz her. Ich gehe behutsam in die Knie und strecke zaghaft die Hand aus, bis ich mir sicher bin, ihn nicht zu verschrecken, wenn ich sie auf seiner Stirn ablege. Dieses Haar… genauso schwarz wie seine Augen. Und seine Kleidung. Wie ein menschgewordener Rabe. Er sieht so hilflos aus, völlig verloren, orientierungslos in einer Wüste aus fremden Stimmen und Angst. Und da fange ich an, zu begreifen, dass niemand außer mir ihm helfen können wird. Wenn ich mich weigere, ihn nach den Vorgaben der Abteilung zu behandeln, werden sie das Ruder übernehmen und ihm auch den letzten Rest Menschlichkeit entreißen. Ihn in einen gefühllosen Killer verwandeln. Unwillkürlich blicke ich über die Schulter zu Yuri. Aber er hat mich hierher bestellt. Wäre es nicht einfacher gewesen, mich unverzüglich aus der Debatte herauszuhalten? Dann hätten sie sich ihren Bluthund in aller Seelenruhe zurechtformen können und ich hätte nicht einmal das Recht dazu, diese Entscheidung zu unterlaufen. Aber nein. Sicher hat Yuri darüber gar nicht nachgedacht und mich nur aus reiner Routine hinzugezogen, um sich keinen unnötigen Streit mit der Rechtsordnung einzuhandeln, obwohl es sich im Falle eines Prozesses zu seinen Gunsten gewendet hätte. „Ich tue es“, sage ich, während ich mich wieder Jason zuwende, aus dessen Augen sich gerade weitere Tränen lösen. „Genauso, wie du es dir vorstellst, aber…“ Meine Hand legt sich auf seine. Er zittert wie im Fieber. „Ich werde kein Monster aus ihm machen.“ „Einverstanden.“ Gold Delirium Music - Held Captive Seufzend senke ich den Kopf und will wieder aufstehen, als sich Jason unvermittelt regt. Seine Finger geben die verkrampfte Haltung auf und schließen sich blitzschnell um mein Handgelenk. Irritiert schaue ich von der Gestik aufwärts in seine halb geöffneten Augen, die mich treffen, aber trotzdem durch mich hindurchsehen, als wäre ich nur eine Halluzination. „…ian…“, höre ich es, ziehe die Brauen zusammen und beuge mich vor, um ihn besser zu verstehen. „…ob… ian…“ „Was möchtest du?“, frage ich, so vorsichtig wie möglich, aber trotzdem eindringlich genug, dass er mich wahrnimmt. „Obsi… dian…“, gelingt es ihm nach einer Weile schließlich hervorzupressen, dann wird sein Blick glasig, seine Augen fallen zu und er verliert das Bewusstsein. Verwirrt weiche ich wieder zurück, als Yuri einen Befehl erteilt, Jason zurück ins Krankenzimmer zu bringen. „Sobald sich sein Zustand stabilisiert hat, lasse ich ihn zum Internat bringen.“ Zwei Männer kommen an mir vorbei und ziehen die Barre aus dem Raum, während ich wieder auf die Beine komme und unschlüssig stehen bleibe. Obsidian? „Du solltest noch etwas schlafen“, meint er, als ich mich nach einigen Sekunden immer noch nicht rühre. „Liz?“ Die Luft entweicht in hohlen Stößen aus meinen Lungen. Das kalte Licht der Neonlampe lässt den Mann vor mir noch konturierter wirken, wie eine Federzeichnung unter dem Mikroskop. Habe ich sein Lächeln nur geträumt? Diese Mundwinkel machen jedenfalls nicht den Eindruck, es je erlernt zu haben. „Damit wir eins klarstellen, Yuri…“ Meine Lippen bewegen sich, das spüre ich, aber die Worte sind eine fremde Materie, die sich irgendwo in meinem Inneren gebildet hat, nur für diesen einen Augenblick. Nur für ihn. „Ab jetzt mischst du dich nicht mehr in diese Sache ein. Du darfst deine Überwachungsclowns schicken, um dich davon zu überzeugen, dass alles so läuft, wie du es gern hättest, aber du hältst dich raus.“ „Darf ich auch den Subtext erfahren, der diese Aufforderung zur Verantwortung hat?“ Eines haben all die hohen Tiere gemeinsam, jeder, der mehr Macht in sich aufgenommen hat, als es für einen einzelnen Verstand verträglich ist. Sie schützen sich mit Worten; mit korrekter Eloquenz, detaillierter Artikulation und reservierter Sprachmelodie. Und ich kann mich davon auch nicht freisprechen. Aber jetzt schon. „Ich will dich nicht mehr sehen. Leb wohl.“ Ende des Gesprächs. Ende des Kapitels. Ich wende mich ruckartig ab und verlasse das Zimmer. Neben der Tür wartet bereits eine Geleitperson auf mich, die mir etwas verdattert hinterherkommt, als ich einfach weitermarschiere. Doch mitten auf der Route, sticht mir plötzlich ein etwas ins Auge, das vorhin noch nicht dort war, davon bin ich überzeugt. Ich bleibe stehen, gehe in die Hocke und pflücke es vom Boden. Es ist ein Edelstein, glänzend schwarz, mit weißflockigen Einschlüssen und einer gesprungenen Seite. Es ist ein Schneeflockenobsidian. Yoko Kanno – Sora Ein Klopfen an der Tür holte mich zurück in die Gegenwart. Ich schlug die Augen auf und wischte die Edelsteine vom Tisch in meine Handfläche, um sie zurück in den Kasten purzeln zu lassen. „Herein.“ Es war Mrs. Capella. Dem Anlass entsprechend hatte auch sie sich einen Kimono genäht, in arktischem Weiß mit graublauen Sternenmustern. Dass ich mich dazu entschlossen hatte, den Perlen Sternennamen zu geben, war auf ihrem Beitritt auf das Internet gefußt. „Das Feuerwerk beginnt in einer halben Stunde“, sagte sie lächelnd und trat leichtfüßig wie immer an meinen Tisch heran. „Ich sollte Euch exakt diese Reichweite von Zeit vorher Bescheid geben.“ „Danke sehr, Capella“, erwiderte ich, ebenfalls lächelnd. „Ich bin in fünf Minuten dort.“ Sie nickte und wandte sich zum Gehen, stoppte jedoch noch einmal in der Bewegung und bedachte mich mit besorgten Augen. „Geht es Euch nicht gut, Direktorin?“ „Nein, alles in Ordnung“, winkte ich bestimmt ab. „Ich war nur in Gedanken. Capella… denkt Ihr manchmal darüber nach, was hätte sein können?“ „Wie meint Ihr das?“ Sie nutzte die Gelegenheit, um ihre aufwendige Hochsteckfrisur zu richten. „Wie Euer Leben verlaufen wäre, wenn Ihr nicht infiziert worden wärt?“ Überraschenderweise fing sie an zu lachen. „Dann säße ich jetzt immer noch in diesem stickigen Bordell und würde vulgären, alten Männern meine Gesellschaft verkaufen.“ Ich sah zu ihr auf. Natürlich kannte ich auch ihre Geschichte – ich hatte sie damals aus dem Freudenhaus freigekauft, da sie sie als Crystal Rider sogar noch lieber dort festgehalten hatten. „Ich bin froh, dass es geschehen ist. Es hat mir gezeigt, dass noch irgendwas in mir um eine bessere Zukunft kämpft und…“ Sie trat vor an den Schreibtisch und griff nach einem losen Blatt vom Stapel. Ihre Hände malten einige elegante Schleifen um es herum und schon war daraus eine grazile Kranichfigur geworden. „…noch weiß, was Schönheit ist.“ Zwinkernd stellte sie den Kranich auf der Ecke ab und tänzelte schließlich ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus. Ich stützte einen Ellenbogen auf und legte das Gesicht in die offene Hand, um abwesend den Ring an meinem Finger zu studieren. Was wäre, wenn. Die alte, immer neu aufgerollte Frage. Genauso häufig gestellt, wie unrealistisch. Denn die Vergangenheit konnte niemand ändern. Aber darum ging es denjenigen, die sie heraufbeschworen auch gar nicht. Sie wollten es nicht ändern, sie wollten es nur verstehen. Um die Zukunft aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Um alte Fehler nicht zu wiederholen. Aber manchmal war es selbst dafür zu spät. Manchmal waren alle Türen zugeschlagen worden, einige mit den eigenen Händen, andere von denen der anderen. „Und hier stehst du, Liz“, hörte ich mich murmeln, derweil ich den Ring drehte und die drei eingravierten Symbole darauf betrachtete, „in einem Raum voller verschlossener Türen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)