Crystal Riders II von Rainblue (Reminiscence) ================================================================================ Kapitel 8: Ins Licht -------------------- Jet – Ins Licht Silent Hill 2 - Music Soundtrack – Heartbeat „Was tust du da?“, fragt sie mit belegter Stimme, ohne Vorwurf, ohne Urteil oder Anschuldigung. So hat noch nie jemand mit mir gesprochen. Ich antworte ihr nicht, starre nur weiterhin geradeaus. In ein samtig schimmerndes, schwarzes Augenpaar – Pupille und Iris scheinen eins geworden zu sein. Das Bild ist falsch. Ich habe keine schwarzen Augen, ich hatte es nie. Dieser Junge vor mir muss jemand anderes sein. „Jetstone…“, versucht sie es erneut, aber ich unterbreche sie, als ich die Faust vorwärts schnellen lasse. Ich spüre nicht, wie meine Haut aufspringt, noch, wie das Blut aus den Schnitten heraussickert – alles, was ich aufnehme, ist das laute Scheppern des Spiegels und wie surreal sich das Licht in den herunterfliegenden Scherben bricht. Stimmt es? Bin ich jetzt unsterblich? Unschlüssig hebe ich die geballte Hand und betrachte die rot stechende Wunde. Ich kann sehen, wie sie sich schließt. Der Gerinnungsprozess muss enorm an Geschwindigkeit zugelegt haben oder was geschieht da gerade? Ein fingernagelgroßer Glassplitter hat sich in der Mulde zwischen Zeige- und Mittelfinger verfangen. Im nächsten Moment zerfällt er zu Staub und ich fange an, zu verstehen. Darum sind selbst Pistolenkugeln nicht tödlich. Der Virus löscht alles, was dem Wirt schadet, restlos aus. „Tut mir leid“, höre ich mich murmeln und lasse die Hand wieder sinken, ohne sie anzusehen. „Das war Euer Spiegel.“ „Ich hatte schon schlimmere Verluste“, erwidert sie mit dem Ansatz eines Lächelns. Sie ist so sanft. Kaum zu glauben, in Anbetracht dessen, wie sie vorhin noch mit den Männern umgesprungen ist, die mich hierher gebracht haben. „Möchtest du dich ausruhen?“, fragt sie schließlich, aber ich schüttele nur den Kopf. „Was möchtest du dann?“ Wenn ich das wüsste. Ich fühle mich fehl am Platz, auch wenn ich weiß, dass es nicht an diesem Gebäude liegt oder ihrer Gegenwart. Ich käme mir überall wie ein Fremdkörper vor. Unwillkürlich lasse ich die Hand, die vorhin den Spiegel zertrümmerte, in die Jackentasche gleiten und ziehe den kleinen Stein hervor, nach dem ich, dieser Jade zufolge, kurz nach meinem Erwachen gerufen habe. „Könnt Ihr mir sagen, was das für ein Stein ist?“ „Ein Schneeflockenobsidian“, entgegnet sie sofort, ohne einen genaueren Blick darauf werfen zu müssen. „Das ist ein Vulkanglas. Die weißen Muster kommen von Mineralen, die während des Schmelzungsprozesses gewachsen sind und in ihm eingeschlossen wurden, als er auskühlte. Er soll angeblich gegen Angst helfen.“ Ich wage es, langsam zu ihr aufzusehen, achte jedoch darauf, nicht ihre Augen zu streifen. „Ich denke, darum nennen sie ihn Schneeflockenobsidian – er fängt den Frost auf.“ „Gibt es auf dem Internat einen Schüler, der ihn repräsentiert?“, höre ich mich fragen, ohne es entschieden zu haben. Es war reiner Impulszwang. „Nein.“ Merkwürdigerweise falle ich dabei ein wenig in mich zusammen. Schon komisch, was ein einzelnes Wort für eine Wirkungskraft besitzen kann. „Ich frage mich“, murmele ich da und wieder geschieht es ohne das Einverständnis meines Verstandes, „was so jemand für eine Gabe hätte…“ Und Jade erwidert nichts darauf. Sie geht nur auf mich zu und legt in warmer, beruhigender Geste ihre Hand auf meine Schulter. Das ist der Moment, in dem mir klar wird, dass ich nicht unsterblich bin. Sondern ein lebender Toter. Ich bin gestorben. Es wurde ein Schlussstrich gezogen. Hier stehe ich und atme. Aber habe alles verloren. Spirited Away - Dragon Boy Music Box Die Erinnerung an den vergangenen Abend kam fast augenblicklich zurück, als ich die Augen aufschlug und mich ächzend auf die andere Seite rollte. Hatte ich mich allen Ernsten zum Trinken überreden lassen? Laut den aufkeimenden Rückblenden in meinem Kopf, offenbar schon. Seufzend warf ich die Decke fort und versuchte, aufzustehen. Was sich als weit schwieriger erwies, als angenommen. Das war dieses abstruse Verhältnis von Virus und Alkohol. Eigentlich ging ersterer gegen jegliche Art von Giftstoff im Blut sofort an, aber bei Alkohol machte er da eine Ausnahme, die Jade sich damit erklärte, dass die Organe sowieso nicht angegriffen werden konnten und er Glückshormone freisetzte, die der Virus nie ablehnte. Es führte dazu, dass Crystal Rider deutlich schneller in den Rausch abrutschten, dafür aber auch zeitiger wieder ausgenüchtert waren. Ich gab der ganzen Quälerei höchstens noch zwei Stunden – zum Glück. Ich blinzelte ins Tageslicht, das die tief hängende Sonne durch die Scheiben warf, zählte bis drei und versuchte dann erneut, mich hochzudrücken, aber wieder scheiterte ich. Als mir auffiel, dass meine Hände ungewöhnlich stark zitterten. Verwundert ließ ich sie in meinen Schoß fallen und erst da realisierte ich auch, dass ich schweißgebadet aufgewacht war, mein Atem heiser und fiebrig ging und meine Haut kribbelte. Das konnte nicht am Kater liegen, nie und nimmer. Ich starrte hinüber auf mein zerwühltes Bett – die Kopfkissen hatte ich runtergeworfen, die Decke teilweise aufgerissen. Ich musste wieder geträumt haben. Auf einmal war ich dem Alkohol dankbar, meine Erinnerung daran ausgelöscht zu haben. Mit einem Blick hinüber, vergewisserte ich mich, dass Amber noch schlief – auch, wenn ich keinen Schimmer hatte, wie er in so einer verdrehten Position schlafen konnte – dann rappelte ich mich mit zusammengebissenen Zähnen auf, zog rasch alle Bezüge ab und warf sie hastig in die unterste Schublade meines Kleiderschranks. Einen Augenblick verharrte ich mit den Händen auf dem geschlossenen Kasten und sammelte Konzentration. Diese Träume… Ich hatte mich in den vergangenen Jahren so gut daran gewöhnt, aber an diesen war etwas anders. Ich konnte nicht sagen, was, von den unterschiedlichen Szenarien einmal abgesehen. Sie machten die Differenz nämlich nicht aus. Vielleicht bildete ich es mir aber auch nur ein, weil ich mich erst damit vertraut machen musste, nicht mehr in einer überwachten Wohnung zu schlafen und es waren erst zwei Tage vergangen. Es würde sich sicherlich bessern. Mit einem tiefen Atemzug kam ich wieder auf die Beine und taumelte hinüber ins Bad. Ich stellte den Regler auf die niedrigste Stufe, sodass es sich anfühlte, als würde flüssiges Eis über meine Haut fließen, aber es reichte trotzdem nicht, um mich vollständig aus der Ermattung zu reißen. Gewohnheitsmäßig wollte ich nach der Uniform greifen, als ich aus der Dusche trat, bis mir auffiel, dass Wochenende war. Ich musste die Abzeichen erst heute Nacht zur Wache wieder vorzeigen. Ich schlüpfte also nur in die Uniformhose und trocknete meine Haare grob mit einem Handtuch ab, während ich das Bad verließ, um zurück an den Schrank zu treten. Bei der Aktion von vorhin, war eine der Flügeltüren aufgeschwungen, ein T-Shirt hatte sich vom Stapel gelöst und kam mir entgegengefallen, als ich die Tür ganz aufzog. Stirnrunzelnd hob ich es auf. Es war eins der wenigen Weißen. Final Fantasy XIII - Can't Catch a Break „…Baumi…?“, hörte ich es da auf einmal schlaftrunken hinter mir murmeln. Ich drehte mich halb um, streifte das Shirt über und beobachtete, wie Amber aus seinem Deckenhaufen auftauchte, schmatzte und sich die Augen rieb. Auf seinen Lippen hing der Hauch eines Lächelns fest und als er begriff, dass die vage Silhouette vor ihm ich war, reifte es aus. „Jet…“, grummelte er und rieb sich den Mund. „Du solltest dich mal wieder rasieren.“ Kaum war es ausgesprochen, hielt er inne. Das Lächeln rutschte ihm abrupt aus dem Gesicht und seine Augen weiteten sich. „Bitte, sag mir, dass ich das nur geträumt habe.“ „Zu meinem größten Bedauern: nein“, erwiderte ich trocken, war allerdings insgeheim erleichtert; wenn Amber anfing, solche Witze zu reißen, dann hieß das zumindest, dass es ihm wieder besser ging. Und ich bildete mir auch ein, zu wissen, woran das lag. „Hoppla“, lachte er verschämt und fuhr sich durchs Haar, das schon vorher in alle nur erdenklichen Himmelsrichtungen abgestanden hatte. „Na ja, sieh es als Revanche für den verschmähten Kuss unterm Mistelzweig.“ „Manchmal hasse ich dich…“ Er grinste nur und streckte sich ausgiebig, dass die Knochen knackten. „Du küsst aber schon ganz schön mädchenhaft, kann das sein?“ Langsam aber sicher überreizte er meine Beherrschung. „Ich glaube, da verwechselst du mich“, meinte ich bloß, drehte ab und zog frische Bettwäsche aus dem anderen Schubkasten, um das Bett neu zu beziehen. „Verwechseln?“, raunte Amber verwirrt, muschelte sich wieder in die Decken ein und schloss die Augen ein weiteres Mal. Jemand hätte eine Uhr neben ihm platzieren können, denn innerhalb von exakt fünf Sekunden, senkten sich seine Schultern ab, die Mundwinkel zuckten und seine Lider fuhren ahnungsvoll wieder nach oben. Ich hielt mir vorsorglich die Ohren zu. „Jet!“, brüllte er, sprang auf, stieß sich den Kopf an der Decke, fluchte, strauchelte und stolperte irgendwie im Laufe dieses Chaostanzes auf mich zu. Ich wich automatisch zurück. „Jet! Moon, sie…! Sie hat…!“ „Ich weiß“, versetzte ich knapp und trat zur Seite, um nicht schon wieder in seiner Umarmung zu landen. „Komm runter, sonst steckst du noch das Zimmer in Brand…“ „Aber sie hat…!“, beteuerte er aufgeregt, bekam meine Schultern zu fassen und schüttelte mich. „Sie hat meinen Kuss erwidert… es war nur ganz kurz, aber… Oder rede ich mir das nur ein?“ Sein Griff lockerte sich und er senkte den Blick. „Tust du nicht.“ „Wie kannst du dir da sicher sein?“, fragte er mit schräg gelegtem Kopf und lächelte schwach. „Du warst mindestens genauso beschwipst wie ich.“ „Vielleicht betrunken“, antwortete ich kategorisch, „aber nicht blind.“ Und das war mein Ernst, denn ich hatte direkt daneben gestanden, als Amber sie geküsst hatte. Seine Augen leuchteten auf, es war fast gleißend und erinnerte mehr denn je an Bernstein. „Ich kann’s nicht fassen… Du hattest tatsächlich Recht!“ Jetzt war sein Lachen rauer und er schüttelte den Kopf hin und her, als teste er, ob es sich nicht doch nur um einen Traum handelte. Ich warf das Laken auf und breitete es über dem Bett aus. „Aber bedräng‘ sie lieber nicht. Ich glaube immer noch, dass sie mehr Zeit benötigt…“ „Ja, ja, na klar“, sagte er sofort, als hätte ich ihm einen Befehl erteilt. Schnaubend zog ich mir die Decke heran, um den Bezug überzustreifen und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Amber anfing, im Raum herumzulaufen und dabei unentwegt vor sich hinzumurmeln. Ein paar Federn lösten sich aus den Ritzen, als ich die Kissen aufplusterte, in ihre Bezüge steckte und auf das fertige Bett schmiss. Es war alles weiß. Auch in meinem Apartment hatte ich immer nur weiße Bettwäsche gehabt – und die Wohnung war generell hell gehalten gewesen. Zu jedem Licht ein Schatten? Eureka Seven OST – Okamochi & Jersey „Ou, dieser Kater macht einen ja fertig…“, stöhnte Amber unvermittelt und ich kam nur noch so weit, den Mund zu öffnen, bevor es sich maunzend hinter mir beschwerte. „Das fühlt sich nicht nach einem Kater an, sondern nach einem ganzen Dutzend… Aua…“ „Amb…“, setzte ich scharf an, aber da hatte der Katzenauflauf mich schon umringt und erstickte ein jedes neue Wort in einem kollektiven Schnurrbass. „Ich bin unter der Dusche, falls du mich suchst…“, grummelte er nur noch, dann fiel die Badezimmertür ins Schloss. Einer der Kater sprang mir gekonnt auf die Schulter und ich seufzte lediglich. Diese Gabe… sie war wirklich so was wie das Unikat unter den Unikaten. Sorgte oft für Lacher oder war – wie in diesem Fall – schlicht und ergreifend nervenraubend. Aber im Kern lag eine sonderbare Botschaft verborgen. Gaben entstanden aus Schwächen. Und Amber musste sich aufgrund seiner, fast verzweifelt gewünscht haben, er könne allein mit Worten Dinge verändern – bis dahin, sie wahrzumachen. Selbst wenn es nur flüchtige Illusionen waren. Wahrscheinlich war er sich dessen bewusst, obwohl er es unter Garantie nicht zugegeben hätte. Es miaute lautstark und der kleine Fellball auf meiner Schulter schmiegte sich zufrieden gegen meinen Nacken. Jade hatte mir leider auch nicht erklären können, wieso manche von Ambers Sprichwörtern so lange anhielten, während andere extrem zeitnah wieder verschwanden. Die Kater gehörten jedenfalls zu ersterer Kategorie. Leise lächelnd, nahm ich die Katze von meinem Rücken und setzte sie zurück zu den Übrigen auf den Boden, bevor ich mich auf den Weg zu Crystals Zimmer machte. Final Fantasy VIII OST - Breezy ~ Balamb Town Theme Als beim dritten Klopfen immer noch niemand reagierte, drückte ich die Tür vorsichtig auf und lugte ins Zimmer. Moon war nicht da – vermutlich war sie dabei, uns einen Platz unter den Kirschbäumen zu reservieren, da in knapp vier Stunden das Feuerwerk begann. Jahrelange Nachtwache hatte dafür gesorgt, dass mein Zeitgefühl selbst unter Einfluss von Alkohol nicht aus dem Takt schlug. „Jet…?“, kam es, von der Decke gedämpft, hervor. „Kann ich reinkommen?“ Ich wusste nicht, wieso ich das fragte. Es erschien mir schlichtweg angebracht, nachdem, was ich vor wenigen Stunden noch mit ihr angestellt hatte. Moon hatte schon Recht, auch wenn sie zugeben musste, dass Crystal es mir nicht gerade leicht gemacht hatte, mich zu zügeln… Bei dem Gedanken kroch eine plötzliche Hitze in mir hoch. Bewegung kam in den Daunenberg, unter dem sie sich begraben hatte. Ein paar Kissen purzelten zu Boden, dann brach ihr noch feuchtes Haar an die Oberfläche. Sie trug nur einen Bademantel, der ihr über die rechte Schulter rutschte und das gesamte Schlüsselbein freilegte. Was nicht gerade förderlich dafür war, meinen Puls runterzuschrauben oder das viele Blut in den Wangen loszuwerden. „Ich hab ein paar Gäste mitgebracht“, lenkte ich mich eilig ab und öffnete die Tür so weit, dass die Katzen hineinrauschen konnten. „Wenn auch unfreiwillig.“ „Katzen…?“, hauchte sie verwundert, ihre Stimme so rau wie Stein. Es hatte etwas irritierend Sinnliches. Und das war leider ebenso wenig hilfreich. Ich räusperte mich unauffällig. „Lass mich raten“, grinste sie und musste gähnen, bevor sie sich die sperrigen Haare aus der Stirn fischte und alles samt und sonders nach hinten strich. Ich setzte mich zu ihr und schob diskret ihren Ärmel wieder über die Schulter. „Du liegst mit zu neunundneunzig prozentiger Wahrscheinlichkeit richtig“, antwortete ich lachend, als mir eine der Katzen auf den Schoß sprang. „Die scheinen dich zu mögen“, bemerkte Crystal, sich streckend und lehnte sich dann gegen meine Seite. „Das liegt an meinen Bewegungen“, erklärte ich leise. Auf einmal hatte ich wieder Jades Gesicht vor Augen, als sie mich zum ersten Mal trainiert hatte. Zwei Minuten hatte es gedauert, dann hatte ich sie darum gebeten, mir die Augen zu verbinden. „Sie haben Ähnlichkeit mit denen von Katzen. Was Balance und Körperspannung angeht.“ „Soll das heißen, sie halten dich für einen Artgenossen?“ „Scheinbar.“ Ich sah sie schief lächelnd an, worunter sie ebenfalls kichern musste. Da spürte ich, wie das Gewicht auf meinem Schoß nachließ, keinen Augenblick später waren die Katzen allesamt verschwunden. Ich starrte auf den leeren Punkt, wo sie gewesen waren. Das Licht in unseren Rücken flimmerte leicht, als Wind auffrischte. „Jet… darf ich dich etwas fragen?“ Sofort richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Crystal. Sie hatte sich meine Hand geschnappt und zupfte gedankenverloren an den einzelnen Fingergliedern herum oder zeichnete die Lebenslinien nach, als gäbe es etwas darin zu lesen. „Hast du schon immer schwarze Augen gehabt?“ Es hieß stets, dass nur Banalitäten Züge entgleisen lassen konnten – einfache Gesten, simple Fragen, schlichte Worte und nüchterne Gedanken. Denn echte Größe war ein Produkt des Prozesses. Ich denke, es lag daran, weil wir, anders als bei sorgfältig ausgewählten Taten, nicht darüber nachdachten. „Nein“, flüsterte ich kurz angebunden. Sie spürte meinen Widerwillen – aufkommende Unnahbarkeit. Ich hatte nicht vor, mich zu verschließen, konnte den plötzlichen Druck jedoch ebenso wenig ignorieren. Hätte ich vor einigen Stunden keinen Alkohol intus gehabt, hätte ich auf ihre Frage nach den Haarspitzen vermutlich ähnlich reagiert. „Welche Farbe hattest du als Mensch?“ Ich schluckte und richtete meinen Fokus auf einen Punkt in der Ferne. Mit jeder neuen Sekunde, die aufging und verlosch, wurden die Erinnerungen klarer, gröber und erhielten Struktur. Wie als würde man schrittweise eine Bühnenkulisse aufbauen – und man wusste genau, wenn die Szenerie fertig war, kam der Moment, sich selbst hineinzustellen und damit zu identifizieren. „Blau“, brachte ich, nach einer gefühlten Unendlichkeit des Schweigens, hervor und traute mich, Crystal wieder anzusehen. Ihr Blick war offen, fast selbstvergessen und in ihren Mundwinkeln spielte etwas… war das Verzückung? Schließlich senkten sich ihre Wimpern wieder und ihr Kopf stieß sanft gegen meinen Arm. „Meine richtige Augenfarbe kennst du, nicht?“ „Ja.“ Ich mochte sie nur fluchtartig zwischen Leben und Tod gesehen haben, aber ich entsann mich eines jeden Details, das ich damals an ihr aufgefangen hatte. „Meine Mitschüler haben immer gesagt, graue Augen würden Seelenlosigkeit bedeuten.“ „Dann waren sie zugegebenermaßen ziemlich dumm und selbstbezogen“, sagte ich und tat es in keiner Weise aus dem Affekt heraus oder um Crystal aufzuheitern, auch wenn ich es in jedem anderen Fall genauso getan hätte – aber auf meine Weise. „Grau ist der Mittelpunkt zweier Kontraste – ihr Zwielicht. Weder gut, noch böse und doch beides. Nichts könnte aufrichtiger sein.“ Tsubasa Reservoir Chronicle Soundtrack - Guess how much I love you „So ähnlich hat mein Vater das auch immer gesagt“, murmelte sie und presste sich enger an mich. Ich drehte mich so, dass ich sie in die Arme ziehen konnte. „Von ihm hatte ich die Farbe auch.“ Ich schwieg, weil ich fühlte, dass alle Worte zu diesem Thema ausgesprochen worden waren. Bei ihr schien es genauso zu sein, denn die Stille um uns herum hörte sich wolkenlos und frei an. Irgendwann lösten wir uns synchron wieder voneinander. „Hast du Hunger?“, fragte ich und rückte noch einmal ihren Bademantel zurecht, der schon wieder runtergerutscht war. „Höllischen“, wisperte sie und lachte überschwänglich auf, als wie zur Unterstreichung ihr Magen knurrte. „Dann zieh dich um“, meinte ich grinsend, verwuschelte ihr Haar und wollte aufstehen. „Ich warte in der Mensa auf dich.“ „Jet, warte“, warf sie ein und kämpfte sich aus den Decken frei, um ebenfalls aufzustehen. „Ich will nur, dass du… bitte mach dir keine Vorwürfe wegen heute Morgen.“ Ich blinzelte und das Lächeln fiel mir von den Lippen, was Crystal jedoch so zum Lachen brachte, dass es kurz darauf wieder zurückkehrte. „Der Alkohol hat mir zwar die Hemmung genommen, aber… er hat nicht meinen Körper gelenkt.“ Ich musste den Blick senken, als mich die Wärme durchflutete und ein nach außen hin kleines und innerlich so übergroßes Lächeln auf meine Lippen malte und mich alles Schlechte vergessen ließ. Das war es also. So fühlte sich Glück an… „Du bist einfach unbegreiflich süß, weißt du das?“, schnaubte ich unwillkürlich und spürte sogar einen Druck hinter den Augen – und das war dann wohl der Augenblick, in dem es einen überwältigte. Nur Millisekunden später, war ich an sie herangetreten, hatte ihr Gesicht in die Hände genommen und meine Lippen auf ihre gepresst. Sie seufzte wohlig und schloss die Arme um meinen Körper, wobei ihr der Bademantel wieder von der Schulter fiel. Und als wir uns wieder trennten, zupfte ich ihn auch diesmal zurück. „Wieso trägst du eigentlich weiß?“, keuchte sie mit ihrer Stirn gegen meine gepresst. „Das… macht mich ehrlich gesagt ganz unruhig.“ „Sagt die mit diesem widerspenstigen Bademantel und den schönsten Schlüsselbeinen der Welt“, konterte ich rau und küsste sie noch einmal, begieriger diesmal. Aber als wieder ihr Magen knurrte, mussten wir darüber so lachen, dass wir doch auseinandergingen. „Siehst du, deine Nahrungsaufnahme leidet tatsächlich unter mir.“ Widerwillig gab ich ihre Taille frei und trat hinüber zur Tür. „Hör mal, ich bin groß genug, um auf mich selbst aufzupassen“, schnappte sie und als ich gespielt die Brauen zusammenzog und meine Körpergröße mit ihrer verglich, boxte sie mir empört in die Seite und schob mich damit zum Ausgang. „Du siehst auch nicht gerade wie das blühende Leben aus“, tadelte sie und drückte mich noch weiter. „Sorg dafür, dass Amber was vom Nudelauflauf übrig lässt.“ „Wird erledigt“, raunte ich, als ich ihre Arme, die mich immer noch vorwärtsschubsten, packte und so festhielt, dass sie sie nicht mehr bewegen konnte. Sie setzte dieses Gesicht auf, das einem förmlich entgegenschrie: „Du spielst nicht fair.“ Ich grinste nur und beugte mich noch ein letztes Mal herunter, um sie zu küssen. „Jet“, hauchte sie und hielt meinen Kragen so fest, dass unsere Lippen nur weniger Millimeter auseinandergingen. „Danke, dass du mein Leben gerettet hast.“ „Danke, dass du meins wieder lebenswert gemacht hast“, küsste ich ihr die Worte sozusagen auf Lippen und Stirn, strich noch einmal über ihre Wange und lächelte sanft. Und ich wusste, hätte ich das Zimmer dann nicht verlassen, hätte ich es für den Rest des Tages nicht mehr verlassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)