Crystal Riders II von Rainblue (Reminiscence) ================================================================================ Kapitel 4: Sentimentales Geschwätz ---------------------------------- Moon – Sentimentales Geschwätz To the Moon OST - Born a Stranger „Dein Name wird Moonstone sein“, sagte die Asiatin, deren Namen ich schon wieder vergessen hatte und hielt mir die Hand hin. „Willkommen auf dem Internat!“ Zögerlich streckte ich ebenfalls die Hand aus, schrak jedoch zurück, als sich unsere Finger berührten. „Violet?“, fragte Leander neben mir. Ein Zittern wallte in meinem Brustkorb auf und durchwanderte eine jede Sehne, bis ich das Gefühl hatte, zu explodieren. Dass ich die Hände in mein Haar krallte, den Kopf auf meinen Knien verbarg und mich so klein machte, wie ich nur konnte, bemerkte ich erst, als mein bester Freund seine warmen Arme um mich legte. „Dieses… Geräusch…“, brachte ich halb erstickt hervor und presste die Hände auf meine Ohren. „Mach, dass es aufhört! Bitte!“ „Was meinst du?“, fragte Leander verzweifelt. Die Direktorin schien um ihren Schreibtisch herum und an uns vorbeizugehen. „Kann es sein…?“, hörte ich sie, obwohl ihre Stimme nur ein Murmeln war. Und kurz darauf löste sich das Beben in meinem Inneren und ich gab meine verkrampfte Haltung auf, um gegen Leanders Schulter zu sinken. Er roch noch genauso wie früher. Nach Bienenwachs und Sommerlicht. Es beruhigte mich, dass zumindest das nicht aus der Welt verschwunden war, so wie alles andere. „Was war es?“, fragte er, seine Stimme so klar und warm. Es vibrierte in seiner Brust, wenn er sprach. Er konnte die Worte ohne Probleme hervorbringen, ich spürte nur ein hauchdünnes Zögern bei jedem neuen Satz – die Sekunde, in der sich sein Körper noch an das Stottern erinnerte. Aber seine Sprachprobleme hatten mich noch nie gestört. Ich hatte ihn auch verstanden, ohne dass er mir die Worte gesagt hatte. Stets. „Der Wasserhahn“, antwortete die Direktorion – hieß sie Jade? – unbewegt. „Er war nicht ganz zugedreht.“ „Hast du das etwa gehört?“, fiel Leander ein und schob mich sanft ein Stück von sich, damit er mich anschauen konnte. Ich nickte schwach. „Es hat… wehgetan, das zu hören… Das Wasser hat geschrien…“ Final Fantasy XIII OST - A Brief Respite „Darf ich um Eure geschätzte Aufmerksamkeit bitten, Gentlemen?“, flötete ich und drehte mich so, dass die beiden Jungs stehen bleiben mussten, während ich mich wieder bei Crystal einhakte und mich zusammenreißen musste, nicht auch wieder loszulachen, als sie anfing, zu kichern. „Ist das dein Ernst, Moon?“, schmatzte Amber, verschränkte zweifelnd die Arme vor der Brust und ließ seine Augen argwöhnisch über die Lichtung wandern, zu der wir sie geführt hatten – sie befand sich inmitten des Schulparks, war aber eher spärlich besucht, weil es hier vor hüfthohem Unkraut nur so wimmelte. „Na, was denn sonst?“, stichelte ich zurück und wollte ihm meine Finger in den Bauch stoßen, aber er wich zurück, die Hände erschrocken erhoben, die Gesichtszüge entgleist. Irritiert ließ ich die Arme sinken, gab aber keinen Kommentar dazu ab, sondern wandte mich mit einem Räuspern wieder an Crystal. „Während ihr zwei dafür gesorgt habt, dass man in der Eingangshalle jetzt wieder vom Boden essen kann, haben wir beide eine Kleinigkeit vorbereitet…“ Jet und Amber zogen synchron eine Braue hoch und Crystal musste sich japsend an meiner Schulter abstützen, mir ging es nicht anders. Die beiden sahen aus wie zwei verloren gegangene Welpen. „Aber!“, fuhr ich bedeutungsvoll fort und trat gemeinsam mit Crystal einen Schritt zurück. „Bevor es losgehen kann, müsst ihr noch eine kleine Prüfung bestehen, Jungs.“ „Ich hab es kommen sehen…“, murmelte Jet ausdruckslos und Amber ruckte fragend zu ihm herum, aber da baute sich schon eine haushohe Wasserwand zwischen uns und ihnen auf. Ich hatte mich vorzeitig am Springbrunnen bedient und einen Teil davon in Reichweite festgehalten. Es lief wie am Schnürchen! „Ihr habt eine Stunde, um uns zu fangen“, schrie ich durch die fließende Blase hindurch, die mich und Crystal umgab. „Wenn ihr es nicht schafft, bleibt nicht mehr viel von der Überraschung für euch übrig! Komm, Crys!“, flüsterte ich ihr dann zu und gab dem Wasser ein Zeichen, noch einige Sekunden anzuhalten, während ich mir ihre Hand schnappte und sie in Richtung des bewaldeten Teils des Parks zog. Tom Day – Crossroads Für einen Februartag war es angenehm mild und das Sonnenlicht ließ die jungen Knospen an den Bäumen schimmern wie winzige Glassplitter an anmutig gebogenen, filigranen Ästen. Fast erschien es mir, Crystal und ich starteten einen Versuch, nach den Sternen zu greifen, als wir uns am Stamm einer uralten Kastanie hinaufzogen, um uns auf einem der breiteren Arme niederzulassen, von wo aus der Teich genau im Blickfeld lag. „Meinst du wirklich, eine Stunde genügt, damit sie uns finden können?“, fragte Crystal und schwang die Beine auf den Stamm, um ihre Arme auf den Knien abzustützen, nachdem sie sich rücklings an den Stamm gelehnt hatte. Ich lachte kopfschüttelnd auf. „Ich verwette mein letztes Hemd darauf, dass Jet längst weiß, wo wir stecken.“ Das überraschte sie. „Komm schon, du kennst diesen Kontrollfreak. Dem würde nicht einmal ein Stecknadelfallen entgehen.“ Jetzt musste sie kichern und ich ließ meine Beine schaukeln, sodass der Wind zwischen meinen Zehen hindurchpfiff. „Die beiden sind nur noch nicht hier, weil er uns den Spaß nicht verderben will.“ Dabei musste ich an etwas denken und zog die Stirn mit einem Blick auf die Wasseroberfläche kraus. „Aber lass Amber das nicht wissen, sonst sagt er nachher noch so was wie ‚du siehst aus wie ein begossener Pudel‘ zu Jet…“ „Also lieber so tun, als wüssten wir nichts“, gluckste Crystal, obschon mir das Blitzen in ihren Augen verriet, dass sie, wie ich, dennoch gern Zeuge einer solchen Szene geworden wäre – selbst wenn es vermutlich dazu führen würde, dass wir zwei auch im Wasser landeten. Eine Weile schwiegen wir. Mir fiel auf, dass die Sonne eigentümlich tief stand. Es gab mir die Bestätigung für das, was ich bereits seit Tagen fühlte – es war bald wieder Neumond. „Ich hab das lang nicht mehr gemacht…“, brach Crystal plötzlich die Stille, die Augen gedankenverloren auf einen Punkt am Horizont gerichtet. „Was?“ „Rausgehen, sich so was wie das hier ausdenken, Spaß haben…“ Sie seufzte so tief, dass ihre Brust leicht einfiel. „Etwas mit Freunden unternehmen, weißt du?“ „Vermisst du dein altes Leben?“, fragte ich wie aus einem Impuls heraus. Manchmal war mir Crystal immer noch ein Rätsel, auch wenn ich zugeben musste, dass ich sie, in Anbetracht der eigentlich kurzen Zeit, gut einschätzen konnte. „Nein“, antwortete sie, ohne zu zögern, senkte aber den Blick. „Seit dem Tod meines Vaters, hab ich mich von allen abgekapselt. Das war nicht schwer, ich hatte schon vorher kaum Freunde.“ Langsam hob ich ein Bein über den Ast, damit ich ihr direkt gegenübersitzen konnte. Es war selten, dass sie so viel erzählte und noch seltener, dass es dabei um sie ging, deshalb schöpfte ich Hoffnung, endlich den Augenblick abgepasst zu haben, an dem ich ihr als Zuhörerin dienen konnte. Endlich zu erfahren, dass sie genug Vertrauen in mich hatte. Mich als ihre Freundin wahrnahm. „Die Jungs auf meiner Schule haben mir eigentlich immer nur Angst gemacht oder waren lächerlich“, fuhr sie mit einem schiefen Lächeln fort und ihr Haar wellte sich geräuschlos in der Brise. „Deswegen hatte ich vor Jet auch noch nie einen Freund.“ Bei den letzten Silben errötete sie und ich musste grinsen. Nicht, weil ich mich über sie lustig machte, sondern weil es mich freute, dass sie selbst dieses Thema mit mir teilen wollte. Außerdem war es süß… trotzdem würde ich Amber bei nächster Gelegenheit bitten, Jet ein bisschen auszuquetschen. Auch wenn ich davon überzeugt war, dass er zu der Sorte Mann gehörte, die mehr Hirn im Kopf als in der Hose hatte. Man wusste nie. „Und was die Mädchen angeht; da hab ich auch nie wirklich den Anschluss gefunden. Es ging immer nur um Klamotten, Stars oder Sex.“ Wir verdrehten simultan die Augen und mussten dann darüber wieder lachen. „Kurz bevor ich zum Rider wurde, kam ein Mädchen namens Lory auf die Schule – sie war anders, eher wie ich, aber na ja… wir hatten wohl nicht genügend Zeit, richtige Freunde zu werden.“ Das Licht flimmerte unruhig, als der Wind auffrischte und ein paar abgestorbene Blätter vom vergangenen Jahr herüberwehte. „Ansonsten ist da noch mein Sandkastenfreund Tony. Aber nachdem ich aus dem Koma aufgewacht war, war es schwer, richtig mit ihm umzugehen. Wir kennen uns zwar schon seit dem Kindergarten, aber wir hatten eigentlich nie viel gemeinsam.“ Ich biss mir auf die Lippe und kämmte das Haar zurück, das durch die Böen aufgeworfen worden war. Damit gerieten ein paar der schwarzen Strähnen in mein Blickfeld. Der Anblick ließ mich schaudern. „Apropos“, setzte Crystal da wieder an und musterte mich neugierig, „du hast mir erzählt, dass du und Amber euch auch schon seit dem Kindergarten kennt.“ Aha, da war er also. Der Moment, in dem sich die Seiten abwechselten und mir der Ball zugespielt wurde. Ich war dran mit der Nähkästchenplauderei. „Gut gemerkt“, lobte ich schmunzelnd. „Ambers richtiger Name ist Leander – ich denke nicht, dass es ihn stört, wenn du das weißt“, fügte ich entwarnend hinzu, als Crystal das Gesicht verzog und hob eine Hand. Dann konzentrierte ich mich auf das Wasser unter uns, löste einen fußballgroßen Orb heraus und zog ihn zu uns hoch. Mit der anderen Hand führte ich die gläserne, wabernde Flüssigkeit auseinander und formte die Teile zu plastischen Umrissen, wodurch eine Reihe von Rosenköpfen entstand, die ich nacheinander zum Erblühen brachte. Crystal sah fasziniert dabei zu. Most Wonderful Music: Hopeless Fall „Seine Familie zog in unsere Nachbarschaft, als ich vier war und er sieben. Der Grund für den Umzug war, wie ich später erfuhr, dass man ihn auf der alten Schule tagtäglich verprügelt hatte.“ „W-Wieso?“, brachte sie schockiert hervor. Meine Wasserfiguren wurden zu Federn. Ich wusste, dass ich das nur tat, um mich von meinen eigenen Gefühlen, die mich beim Gedanken an die Vergangenheit überkamen, abzulenken. „Er… hatte einen Sprachfehler“, murmelte ich und plötzlich wurden die Tropfen zu Schaukelpferden und Glücksklee. Solcher, wie wir beide ihn früher oft gesammelt hatten. „Er stotterte oder bekam gar nicht erst einen Ton hervor. Aber weil sein IQ laut den Ärzten für eine normale Schulbildung genügte, bestanden seine Eltern darauf, ihn weiterhin auf eine gewöhnliche Schule zu schicken.“ Ich drehte die Handflächen nach oben, ließ die durchsichtigen Fische über meine Fingerspitzen und runter zu den Armen schwimmen, dann wieder zurück. Mir fiel gar nicht auf, dass ich meinen Fokus auf das Spiel des Wassers gelegt und Crystals Anwesenheit beinahe vollständig ausgeblendet hatte. „Die anderen Kinder haben ihn die meiste Zeit nur gemieden, aber wenn ihnen danach war, haben sie ihn auch gehänselt. Ich hab immer versucht, ihn davor zu bewahren, aber…“ Unvermittelt glitten die Bläschen auseinander und wurden zu Vögeln, die in den Himmel davonflogen. Ich sah ihnen nach, bis sie in der Ferne zerplatzen und mit leisem Trommeln auf die Erde regneten. „Zwei gegen ein ganzes Rudel von gewalttätigen Riesenbabys? Das hat leider nicht so gut funktioniert.“ Endlich wagte ich es wieder, sie anzusehen. Sie weinte. „Alles gut, Crys?“, haspelte ich und rutschte eilig vorwärts, um ihre Arme zu berühren. „Ja“, flüsterte sie und wischte sich die Tränen weg. „Das tut mir nur so Leid…“ Ich lachte leise und gerührt. „Weißt du“, meinte ich auf einmal und mein Lächeln vertiefte sich. „Amber hat immer zu mir gesagt, dass er damals ohne mich verloren gewesen wäre. Aber in Wahrheit, war er derjenige, der mich gerettet hat. Er war immer für mich da, hat mich von Anfang an so akzeptiert wie ich bin und obwohl er nicht sprechen konnte, war er so voller Leben.“ Erneut rief ich etwas Wasser zu mir und ließ es in der Gestalt von Seifenblasen um uns herumtanzen. „Er hat alles gesehen, jedes Detail. Durch ihn habe ich die Schönheit dieser vorrangig abstoßenden Welt wahrgenommen und all ihre Farben… all seine Farben. Eine Welt, die so hart zu ihm war und die er trotzdem bemalen konnte, allein durch seine Art, sie anzusehen.“ Zaghaft balancierte ich eine der Bläschen über meinem Zeigefinger und beobachtete verträumt, wie sich das vielfarbige Licht in der unruhigen Oberfläche brach. „Moon… darf ich dich etwas fragen?“ „Klar doch“, summte ich, ohne die Augen vom Wasser zu lösen, das sich mittlerweile zu einem Elefanten verformt hatte. „Wie lange seid ihr zwei schon Crystal Rider?“ Die Blase veränderte sich noch einmal, diesmal zu einem Zelt, das im unvermittelt aufbrausenden Wind flatterte. Es war dunkler geworden, eine Wolkenfront war vor die Sonne geraten. „Wir wurden fast zeitgleich infiziert“, murmelte ich schließlich, den Blick eisern auf die Wasserfigur gerichtet. Sie wurde gerade zu einem brennenden Ring. „Ich war neunzehn, er zweiundzwanzig. Und wir sind jetzt seit ungefähr drei Jahren auf dem Internat. Wieso fragst du?“ „Ich dachte nur gerade“, erklärte sie und aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass sie meine Spielerei ebenso aufmerksam betrachtete wie ich, „dass du deine Gabe wirklich gut unter Kontrolle hast. Im Gegensatz zu Amber…“ Das schimmernde Nass erschuf ein Trapez und eine dazu passende Akrobatin, die sich gekonnt daran heraufschwang und überschlug und in meinen Ohren hallte es nach… das Echo… eines Leierkastens. Bevor es zu viel werden konnte, ließ ich die Szenerie fallen und die Schwerkraft riss das Wasser hinunter auf meine Beine, es rollte am Stoff meiner Hose ab. „Kann ich dir etwas anvertrauen, Crys?“ „Ja, selbstverständlich.“ Seufzend drehte ich mich ihr wieder zu und schälte einen Arm aus meiner Uniform, dann wendete ich den Stoff so, dass sie die Stickerei auf der Innenseite sehen konnte. Groove Addicts – To Be Free „D-Du bist…“, stammelte sie mit aufspringenden Brauen. „Du bist entschärft?“ Ich zuckte nur lächelnd die Schultern. „Aber wieso bist du dann noch hier?“ „Weil ich es hier ganz nett finde“, zwitscherte ich, schlüpfte zurück in den Ärmel und lehnte mich zurück, die Hände auf dem Ast abgestützt. „Was soll ich denn da draußen? Außerdem jucken diese Kontaktlinsen tierisch.“ An der Art, wie Crystal mich beobachtete, bemerkte ich, dass sie mich durchschaut hatte. Zwar wusste sie nicht, was an der ganzen Sachen ich ihr verheimlichte, aber sie war darauf gekommen, dass es etwas gab. Nervös leckte ich mir über die Lippen und versuchte, es mit einem neuen Grinsen zu vertuschen. „Aber warum versteckst du das Symbol?“, stellte sie da die Frage, die ich hatte kommen sehen. Dennoch hätte ich mein Vergangenheits-Ich am liebsten dafür getreten, dass es in seiner Sentimentalität überhaupt erst davon angefangen hatte. „Ich… hab’s einfach nicht so gern, wenn das jeder sieht. Dann behandeln sie einen gleich so förmlich und starren dir in einer Tour auf die Brust. Und ehrlich gesagt, finde ich das nicht so prickelnd, wenn man mir permanent auf den Vorbau glotzt. Kannst du sicher nachvollziehen.“ Ich setzte ein absichtliches Lachen dahinter und hörte selbst, wie gekünstelt es klang. Crystal griff nach meiner Hand. Und als ich aufsah, rutschte mir das aufgezogene Lachen regelrecht von den Lippen. Ihre Augen schillerten eigenartig und ich musste blinzeln, als sie urplötzlich violett schienen – mein Violett. Was hatte das denn bedeuten? „Außer Jade und jetzt dir weiß davon niemand“, gab ich mich letztendlich geschlagen und legte das Kinn auf meinem angezogenen Knie ab. „Ich habe sie darum gebeten, es für sich zu behalten, obwohl die Entschärfungsquote mit mir besser ausgefallen wäre. Aber wenn die Regierung davon erfährt, dann schieben sie mir eine Arbeit zu, wofür sich meine Gabe gut eignet und ich… ich kann dann nicht mehr hierher zurück.“ Und jene Arbeit… ich wusste, dass es eigentlich nicht infrage kam, aber die Angst war trotzdem da. Die Angst, dorthin zurückgeschickt zu werden. „Steh wieder auf, du wertloses Zirkusmonster!“ Keuchend löste ich mich von meinem Bein, rückte ab und sah mich gehetzt um. „Alles in Ordnung?“, fragte Crystal vorsichtig und ich nahm einen tiefen Atemzug, ehe ich mir das Haar aus der Stirn strich und ein Lächeln versuchte. Es gelang besser als gedacht. „Ja, alles bestens. Ich musste nur an was denken…“ Es wurde schwieriger, die Fassung zu bewahren, so als balancierte ich auf einem Seil, das unübersehbar einige Meter von mir entfernt im Nichts endete. Aber es war unmöglich, anzuhalten. Angespannt warf ich einen Blick herum, bis die matte Oberfläche des Sees vor mir auftauchte. „Hey, Crys“, wandte ich mich mit möglichst viel Enthusiasmus wieder an sie, „soll ich dir mal was zeigen?“ Sie nickte verwirrt und ich wies sie an, mir zu folgen, bevor ich mich vom Ast gleiten ließ und die Füße auf dem darunter liegenden abstützte, um dann allmählich wieder nach unten zu klettern. Als wir festen Boden unter den Füßen hatten, zog ich sie am Arm mit zum See und platzierte sie so, dass sie freie Sicht auf die Wasseroberfläche hatte. „Was hast du vor?“ „Das wirst du gleich sehen!“, rief ich strahlend. „Entspann dich und genieß die Vorstellung.“ Most Emotional OSTs Ever: Nature Sie legte den Kopf schräg, tat aber wie geheißen und wartete, während ich die Uniformjacke abstreifte, ins Gras warf und dann den ersten Schritt setzte. Das Wasser unter mir wurde auf meinen Befehl hin hart, sodass meine Füße nur in einer winzigen Schicht standen, als ich weiterging, bis ich die Mitte des Sees erreicht hatte. Einige Sekunden verharrte ich noch, fühlte, wie es in der Tiefe unter mir rauschte und sang, wie Leben in die Wogen kam und es anfing, sich aufzubauen. Und dann ließ ich es los. Links und rechts von mir rasten die Fontänen empor, einzelne Tropfen splitterten heraus und schossen zurück gen Boden, wobei sich das Licht kraftvoll in ihnen brach. Ein Regen aus Diamantscherben. Mit geschlossenen Augen hob ich die Arme über den Kopf und ließ mich in eine Drehung fallen. Durch meinen ganzen Körper flutete das Adrenalin, als die Spannung meine Beinmuskulatur anzog, es sich in alle Länge straffte und bis zu meinen Zehenspitzen hinunter fiel, wo sich auch mein Fuß aufrichtete und ich nur noch auf der Spitze stand. Das andere Bein rotierte mich herum und dann flog ich. Wieder und wieder, den richtigen Takt der unsichtbaren Musik abwartend. Ich nutzte die Bewegung, um mich aus der Pirouette heraus in einen Sprung zu heben und noch während des Flugs, gab ich dem Wasser um mich herum das Zeichen, sich zu verwandeln. Die Strudel wurden zu kunstvollen Wellenmustern, peitschten mit gefährlicher Anmut neben meinem herumwirbelnden Körper auf den Wasserspiegel, aber sie würden mich nicht verletzten. Niemals. Selbstvergessen beschrieb ich eine Schleife aus schnellen Schrittfolgen über eine Spur aus kräuselnden Wellen, trieb es höher hinauf und ließ es wie ein Feuerwerk zerspringen. Der Niederschlag benetzte meine Wangen, verfing sich in meinem Haar, perlte am Stoff der Uniform ab. Ich hatte schon so lange nicht mehr getanzt. Und ich wusste auch genau, warum. Die Erinnerungen, die ich damit verband, waren nicht gerade rosig. Aber jetzt, in diesem eigenartig ruhigen und flirrenden Moment, war alles nur ein fließendes Farbenspiel. Aquarell, das sanft ineinander verläuft und selbst dunkle Farben in Glanz hüllt. Verwischt und gedämpft. „Tanz für mich, Violet…“ Und die Vergangenheit wird zum Film… Ich saß auf dem Trapez und ließ mich rücklings fallen, sodass meine Kniekehlen gegen das Eisen der Schaukel drückten. Kopfüber raste die Manege an mir vorbei, ein verzerrtes Flechtmuster aus Augen und Kleidungsfetzen. Applaus wie das Grollen mehrerer hungriger Löwen. Mein rabenschwarzes Haar flog mir um die Wangen. Dann ließ ich mich fallen, meine Beine schabten über die spitzen Enden der Metallplatte, im Fall änderte ich die Richtung und drehte mich wie eine Katze, um mich dann pfeillang anzuspannen und mit den Händen zuerst in das Becken zu springen. Das Wasser fing mich auf, umschloss sanft und mitfühlend meine Glieder, aber mir blieb nicht viel Zeit, hier auszuharren. Ich stieß mich ab und rief die Wellen von beiden Seiten zu mir. Wie ein Delfin sprang ich wieder empor, umgeben von tropfenwerfenden Springfluten, die sich in Spiralen um meinen Körper wanden. Der Applaus schwoll an, ein paar Leute riefen meinen Namen. Nein, nicht meinen Namen. Sondern den Namen, den sie mir gegeben hatten. Blue Hour. Das Wasser trug mich aus dem Becken heraus und zurück in die Mitte der Manege, wo mein Partner auf mich wartete. Während ich auf ihn zuging, führte ich die Nässe aus meiner Kleidung heraus, woraufhin der durchsichtige Seidenstoff meiner Rockschöße wieder um meine Beine spielte. Er versuchte, nach meiner Hand zu greifen, aber ich warf ihm nur das aufgesogene Wasser entgegen und drehte mich kunstvoll ab. Ein Lachen lief durch die Zuschauer. Mein klatschnasser Partner setzte mir sofort nach, bekam meine Taille zu fassen und ich breitete wie einstudiert die Arme aus und hob die Beine in einen Spagat, indes ich eine Fontäne über unsere Köpfe führte, dass es wie ein Regenbogen aussah. Aber dann geschah es. Luka Megurine – Circus Monster Karaoke Er hatte mich gerade wieder abgesetzt, als mir der kleine Junge in einer der ersten Reihe im Publikum auffiel. Ich wusste sofort, dass er es nicht war, aber die Irritation genügte. Ich verlor das Gleichgewicht, als ich zum nächsten Sprung ansetzen wollte, taumelte und landete schließlich ungelenk auf dem Sandboden. Das Wasser entglitt meiner Kontrolle und krachte über mir zusammen, kurz darauf war ich wieder durchnässt bis auf die Haut. Mein Partner eilte heran, wollte mich auf die Beine ziehen, aber ich wehrte ihn ab. Was tat ich hier? Das war absurd! Nichts von alledem geschah freiwillig! Unruhe kam in die Tribünen. Wieder versuchte mein Partner, mich hochzuzerren, aber ich machte mich steif und schwer, bis er mich doch losließ und ich zurück auf den Boden sank, um zu weinen. Ich schluchzte haltlos, konnte es nicht mehr aufhalten. Was passierte hier? Ich hatte Angst. Ich wollte nachhause. Alles drehte sich! Hört doch endlich auf, mich anzuschreien! „Steh wieder auf, du wertloses Zirkusmonster!“, riefen sie. Dann kam faules Obst geflogen. Manche Traditionen ändern sich nie, vor allem nicht im Zirkus. Jemand packte mich grob bei den Armen und schleifte mich aus der Manege. Ich wusste, ich hatte eine Strafe zu erwarten. Das war dumm von mir gewesen. Ich hätte mich zusammenreißen sollen – wäre das wirklich so schwer gewesen? Es gelang mir doch schon so lange… Im nächsten Moment war ich draußen. Eine feuchte Spur aus verrottetem Tomatenfleisch lief aus meinen Haaren und tropfte an meiner Wange hinab. Und dann kam der erste Schlag. Als ich wieder auftauchte, wurde alles noch schlimmer. Ich befand mich immer noch auf dem Wasser, aber die Luft hatte sich um einiges abgekühlt und der Himmel hing voll von Wolken. Mein Herz tat weh, als hätte man es in Glut gebadet und was ich auch tat und versuchte, die Erinnerungen ließen sich nicht mehr abschütteln. Und fühlten sich noch tausendmal schrecklicher an als sonst. Irgendwo zwischen all der Angst und den Schmerzen konnte ich Crystal ausmachen, die mich vom Ufer aus immer noch beobachtete. Um ihren Körper herum lag eine Wolke aus rauchblauem Staub – oder war es Nebel? Ich konnte es nicht sagen, denn alles, was mich bei ihrem Anblick überkam, war die nackte Panik. Obwohl ich sehr weit am Rande spürte, dass sie nicht Crystal selbst galt, sondern eben jener Substanz um sie herum. Im nächsten Augenblick realisierte ich, dass ich schon eine Weile lang schrie, da sich ein Kratzen in meiner Kehle bemerkbar machte. Ich stand auch nicht mehr, sondern kauerte auf der Wasseroberfläche, die Hände ganz tief in den Haaren vergraben, denn mein Kopf wollte zerspringen. Ja, das würde er tun, jede Sekunde war es soweit! Die Gräser um mich herum und das Wasser wurden papierstumpf, rissen auf und bluteten Hass. So viel Hass auf diese kranke, kalte Welt! Ich hätte sie alle in der Luft zerrissen, wenn ich gekonnt hätte – all diese Maskenclowns im Zirkus! Und im Anschluss meine Eltern, die mich nach meiner Infizierung, dorthin verkauft hatten… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)