Stille Nacht von Palaver98 (Lasst uns gemeinsam singen) ================================================================================ Kapitel 2: Winterklagen ----------------------- Ludwig rieb sich die Ohren. Genauso wie seine Nase und Wangen waren sie von der Kälte rötlich angelaufen. Ein Glück, dass er gefütterte Handschuhe und einen dicken Schal besaß, den er mehrfach um seinen Hals gewickelt hatte. "Noch bevor die Blätter fallen", wurde gesagt. Ha, die Blätter waren schon längst gefallen, sofern es überhaupt noch Bäume gab, von denen Blätter hätten fallen können. Und es sah nicht so aus, als würde sich auf längere Sicht die Lage verändern. Ludwig seufzte und stieß eine weiße Atemwolke zwischen seinen Lippen hervor, die durch die Luft zog und schnell verflog. Um sich ein wenig warm zu halten lief Ludwig den Graben hinunter. Als er niedriger wurde, duckte er sich vorsichtig. "Den Kopf verlieren" war schon längst zum geflügelten Wort unter den Soldaten geworden. Erst vorgestern hatte es wieder geschneit. Tagsüber hatte der Schnee sich immer am Grabenboden mit der Erde zu lästigem Schlamm vermischt. Jetzt hingegen wurde es so kalt, dass der Boden gefror und man zumindest einigermaßen anständig laufen konnte. Ludwig grub in seiner Manteltasche, holte eine schmale, halb zerfledderte Pappschachtel heraus und entnahm eine Zigarette. Als er sie zwischen seine aufgesprungenen Lippen steckte fiel ihm ein, dass er sein letztes Zündholz bereits vor über einer halben Stunde verbraucht hatte. Er steckte die Zigarette wieder zurück. Jeder, an dem Ludwig vorbei lief, hatte sich so gut wie möglich in seinen Mantel gehüllt. Oft standen die Männer dicht zusammen um sich gegenseitig zu wärmen, nicht selten noch zusätzlich in eine Decke eingewickelt. Glücklicherweise hatte er von Monika einen dicken, selbstgestrickten Überzieher aus Wolle per Feldpost geschickt bekommen, den er nun stets unter seinem Uniformrock trug. Er war mehr als dankbar dafür. Ludwig richtete den Pelzkragen seines Feldmantels. Zumindest ein Gutes hatte der Winter, es blieb hier vorne relativ ruhig. Für Frontverhältnisse, natürlich. Aber wenn der Frühling begann, wenn es wieder wärmer würde, dann würden auch wieder die unendlich wirkende Folge der Granatenhagel, Maschinengewehrsalven und Sturmangriffe wieder beginnen. Von der anfänglichen Begeisterung war nun nicht mehr viel übrig, vor allem nicht an den vordersten Linien. Stattdessen hing meist eine stille, starre Schwere in der Luft, die nur zeitweilig durch Kugeln und Granaten gebrochen werden konnte. Von Granaten wie solcher, die einmal auf einen Schlag die Hälfte seines Zuges getötet hatte, als sie Stellung im Graben beziehen wollten. Er selbst war mit einer tiefen Schramme davongekommen. Er hustete. Hoffentlich hatte er sich nichts eingefangen. Einer der Ärzte hatte ihm einmal gesagt, im Sommer gäbe es Kugeln und Granatsplitter, im Winter stattdessen Fieber und Grippe. Heldenhaft an Typhus und Lungenentzündung gestorben, hatte der Arzt dann noch leise gemurmelt, als er einen Krankenbericht überflog. Ludwig hatte getan, als hätte er nichts gehört. Da entdeckte er ein Grüppchen Soldaten, das an einer Kreuzung dreier Gräben auf einer langen, sperrigen Holzkiste gedrängt beisammen saß und rauchte. Sie alle hatten die Krägen ihrer Mäntel hochgeschlagen, sodass diese ihre Gesichter an der Seite bis auf die Wangen bedeckten. Es waren drei. Der Erste hatte einen Vollbart, dem man ansah, dass er schon lange nicht mehr gepflegt wurde. Krausig, mit etwas Schmutz und Schnee darin, genauso wie die Gesichter. Unter seinen Augen waren die Tränensacke bereits angeschwollen, wie es für ältere Menschen üblich war, ebenso die schlaff wirkenden Augenlider. Beides verlieh ihm einen fast wehleidigen Ausdruck. Unter dem Rand seiner, mit einer zerschliessenem, feldgrauen Tuch bespannten Pickelhaube schauten noch die buschigen Augenbrauen hervor. Der Zweite trug einen leicht geschwungenen Schnurrbart, der aber auch nicht viel besser aussah als der Vollbart des anderen. Auffallend waren die hohen Wangenknochen, die sich unter der ausgezehrten Haut deutlich abzeichneten, sowie die Hakennase, hätte sie doch besser zum Älteren gepasst. Unter das geknautschte Käätzchen hatte er einen dünnen Schal um seinen Kopf gewickelt, wahrscheinlich um Ohren und Wangen besser vor der Kälte zu schützen. Der Dritte war wohl der Jüngste. Anstatt eines Bartes hatte er nur einen leichten Flaum über der Oberlippe. Ein Freiwilliger, vielleicht, Student, eventuell. Doch anstatt der strahlenden, hellen Ausstrahlung, die man von seinesgleichen gewohnt war, machte auch er schon längst diese matte, graue Erscheinung. Anders als der Erste hatte er seine Pickelhaube nicht tief über die Stirn gezogen, sondern trug sie schräg nach hinten, sodass sein braunblonden Haares sichtbar war. Er war der Einzige, der beide Hände in die Manteltaschen gesteckt hatte und beide Beine durchstreckte. Allen dreien gemein war der leere Blick, der leicht zusammengesunkene Oberkörper und die Lethargie, die sie umgab. Das einzige, was diese Lethargie brach, war der wabernde Rauch ihrer Zigaretten. Ludwig ging auf sie zu, sie bemerkten ihn, erhoben sich rasch und salutierten. "Schon gut, kann mir einer kurz Feuer geben?", fragte er mit rauer Stimme. Der Jüngste hielt ihm seine Zigarette entgegen, damit er seine daran anzünden konnte. Sie standen schweigend zusammen, in der Kälte, in ihre Mäntel gehüllt, und rauchten. Ihre Zigaretten waren krumm und aus rauem Papier, der Tabak war grob und kratzte. Der graue Rauch vermischte sich mit ihren weißen Atemwölkchen, an diesem grau verhangenen Wintermorgen. Francis betrachtete möglichst unauffällig die Gesichter der Soldaten. Sahen doch alle irgendwie gleich aus. Hohle Wangen, raue, oft aufgekratzte und dreckverkrustete Haut und leere Blicke. Und jetzt im Winter hing einigen sogar Raureif in den ungepflegten Bärten. Francis überlegte, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Das war, als er hinter die Linien zur allgemeinen Lagebesprechung für diesen Frontabschnitt beordert worden war. Also so vor zwei bis drei Wochen. Francis rieb sich die behandschuhten Hände. Hätte er keinen Kalender und würde er nicht Tagebuch führen, er hätte schon längst jedes Zeitgefühl verloren. War doch jeder Tag irgendwie wie der andere: Maschinengewehrfeuer hier, Granateneinschläge dort, warten und ausharren im Dreck der tranchées und Schützenlöcher und hin und wieder mal ein Sturmangriff. Entweder Allemagne oder er selbst. Francis ließ die Zigarette vom linken in den rechten Mundwinkel wandern. Zut, das war seine letzte. Wurde Zeit, dass mal wieder Rationen ausgeteilt wurden. Oder er musste tauschen. Das Aktfoto von Francoise hatte er schon längst weggegeben. Für eine halbe Flasche Wein. "Hé, France, möchten sie wieder ihr l'image d'amour zurücktauschen?", wurde er plötzlich von hinten angesprochen. Er drehte sich um. Einer seiner Männer stand vor ihm, in zerschlissenem, blauen Rock und aufgerissener roter Hose, und hielt besagtes Aktfoto in der Hand. "Je voudrais drei oder vier Zigaretten", erklärte er. "Désole, das hier ist meine letzte", erwiderte Francis und zuckte mit dem Mundwinkel, um die Zigarette wackeln zu lassen. "Ah, ce n'est pas possible! Niemand hat mehr was übrig", entfuhr es dem Soldaten laut. Sofort schien er zu bemerken, was er da gerade gesagt hatte und presste die gefurchten Lippen mit aufgerissenen Augen wieder zusammen. Francis lächelte leicht. "Keine Sorge, mir geht es genauso. Alle denken so, je crois, aber niemand will es sagen", sagte er "aber Allmagne geht es da drüben in seinem Graben sicherlich genauso dreckig." Der Soldat nickte kurz, dann wandte er sich wieder um und ging. Francis sah ihm noch hinter her, dann drehte auch er sich um, um zu gehen. Er musste noch im Kommandostand vorbeischauen, einen Bericht für die vergangenen Tage verfassen. Würde sowieso immer dasselbe drinstehen: "An der Front nichts Neues zu vermelden.". Es krachte es gewaltig hinter ihm. Francis stolperte, fiel zu Boden und legte seine Hände schützend über den Kopf. Erst nachdem mehrere Augenblicke verstrichen waren, ohne, dass erneut eine Explosion ertönte, stand er vorsichtig auf, um zu sehen, wo die Granate eingeschlagen war. Er ging wieder zurück und bog um eine Ecke. Die Granate war nicht direkt im Graben eingeschlagen, sondern neben der Kante. Dort war jetzt ein Stück herausgerissenen. Es stieg immer noch etwas Rauch aus der Einschlagspunkt auf. Es schien keine sehr große Granate gewesen zu sein. "Verluste?", fragte Francis nüchtern. Einer der Soldaten, die gerade hinzukamen, zeigte mit dem Finger auf zwei Leichen, die etwas entfernt bäuchlings auf dem Boden lagen. Sie waren wohl nicht durch die Explosion gestorben. Die Granatsplitter hatten sie aufgerissenen. Einem ragte noch ein scharfkantiger Eisensplitter aus dem zerfetzten, blutigen Nacken. Das rote Blut quoll immer noch aus dem Hals und breitete sich über den dunkelblauen Mantelkragen und erdbraunen Grabenboden aus. Der Splitter hatte den Hals von hinten zur Hälfte aufgerissen, sodass der Kopf wie bei einer kaputten Puppe auf eine Seite überhing. Die Beine waren weit gespreizt, die Arme jedoch lagen recht eng am Körper. Die Handflächen und die verkrampften Finger zeigten nach oben. Francis beugte sich herunter und griff mit beiden Händen unter die Leiche, und drehte sie mit einem kräftigen Ruck um. Durch die heftige Bewegung wackelte der halb abgetrennte Kopf und rutschte noch mehr zur Seite, sodass ein größerer Schwall Blut heraus floss. Der Mund des Mannes war aufgerissenen, zwischen seinen rotgefärbten Zähnen tropfte Blut hervor. Das rechte Auge war ebenfalls weit geöffnet, wie bei einem großen Schreck, das linke hingegen halb geschlossenen, wie bei dämmriger Müdigkeit. Francis hielt kurz inne. Dann griff er in die Innentasche des Mantels und holte ein schmales, ledernes Portemonnaie heraus. Er öffnete es, griff mit Zeige- und Mittelfinger hinein und fischte das Aktfoto von Francoise heraus. "Und, auch schon Pläne für die Weihnachtszeit, England?", fragte Allister zynisch grinsend. "Well, das Übliche: Im trench rumstehen und auf den Sieg, den Tod oder das Christkind warten", antwortete Arthur, ohne sich seinem schottischen Bruder zu zuwenden. Der Brite schaute durch das Periskop, das er mit beiden Händen festhielt, über den Grabenrand. Nichts tat sich auf dem Niemandsland und drüben bei Deutschland. Ab und zu glaubte er, die Spitze einer Pickelhaube, die über den Grabenrand heraus ragte, erkennen zu können. Ansonsten nur die üblichen Granattrichter, Stacheldrahtverhaue, Sandsäcke und Leichen gefallener Kameraden. Wobei, einen Unterschied gab es tatsächlich. Jetzt im Winter war alles von einer dünnen, weißen Schneeschicht bedeckt. Fast schon ganz ansehlich, dieses Weiß auf dem hässlichen Schlachtfeld. Wehmütig dachte er an die Winter der vergangenen Jahre. Er, Schottland, Alice und, wenn er Zeit hatte und über den großen Teich kam, sogar Kanada, hatten dann immer gemeinsam Christmas Eve gefeiert. Alfred wäre es zu peinlich, mit ihnen in England zu feiern und er wollte sowieso nichts mit dem Rest der Welt zu tun haben, insbesondere nicht mit den Ländern Europas. Aber er schickte trotzdem immer eine Wagenladung Geschenke und Weihnachtsgrüße an alle. Arthur erinnerte sich an etwas, das Amerika einmal gesagt: "Ihr europeans nutzt doch jede occasion, euch wegen machtpolitischen Kleinigkeiten gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Someday managed ihr's noch, euch alle zu zerfleischen." Hatte der Kerl doch einmal Recht gehabt. "He, England, willst du eine Zigarette?", fragte Allister Kirkland wieder. Diesmal wandte sich Arthur ihm zu. Allister hielt ihm eine verschrumpelte Zigarettenschachtel entgegen, aus der eine Zigarette ragte. "Thank you", sagte Arthur, als er sie mit zittrigen Fingern herauszog. Allister zog den Wollschal um seinen Hals etwas zurecht, dann steckte er sich ebenfalls eine Zigarette in den Mund und entzündete sie mit einem Streichholz. Dann bot er Arthur die kleine Flamme an. Er nickte dankend und steckte sich seine an. Allister lehnte sich mit dem Rücken und mit verschränkten Armen gegen die Holzbretter der Grabenwand neben Arthur. Wie es typisch für ihn war, trug er sein Glengarry schräg auf seinem roten Haarschopf. Seinen uniformgemäßen Kilt hingegen hatte er schon längst gegen eine dicke Hose eingetauscht. "Say, Scotland, wie findest du es eigentlich, dass du hier mit mir im Krieg seien musst?", fragte Arthur nach einer kleinen Weile. Allister antworte nicht, stattgessen blickte er hinauf in den Winterhimmel. Dann erwiderte er: "Ich werde es dir ganz ehrlich sagen: Für mich warst du schon immer der größte ass, dem ich je begegnet bin. Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben und hätte dich hier alleine vor die Hunde gehen lassen. Mich gehen deine Streitereien nichts an." "I beg your pardon", sagte Arthur heiser. Plötzlich wandte Allister ihm sein Gesicht zu und fing an zu grinsen. "Aber irgendjemanden muss ja geben, der auf dich aufpasst, oder? Wäre very bad, wenn du im Graben oder Stacheldreht verreckst. Wir müssen ja auch an Alice, Kanada und Amerika denken. Sie sollen schließlich nicht jede Weihnachten von jetzt an ohne uns feiern müssen", meinte er. Arthur fiel darauf erst keine Antwort ein, aber dann lächelte er schwach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)