Einsamer Engel von YvaineLacroix ================================================================================ Kapitel 1: Lost in the Dark --------------------------- Paris 1886 Allein. Dieser Zustand beschrieb mein Leben in den letzten fünf Jahren treffend. Obwohl ich in einem großen prächtigem Haus lebte, umgeben von zahllosen Dienstboten, die sich um mein leibliches Wohl kümmerten, fühlte ich mich einsam. Ich hatte niemanden mit dem ich reden konnte, niemanden der sich für mich als Person und meine Wünsche und Hoffnungen interessierte. Freundinnen gab es nicht, hatte es nie gegeben. Meine Eltern waren schon vor Jahren aus ihrem irdischen Dasein geschieden und hatte mich in dieser kalten Umgebung zurückgelassen. Ohne Wärme und ohne Liebe. Ich war allein. Das energische Klopfen an meiner Zimmertür riss mich jäh aus meinen düsteren Grübeleien. Noch bevor ich den Besucher vor meiner Tür hereinbitten konnte, wurde diese aufgerissen und mein Vormund Victor Rigaud stolzierte mit einem arroganten Lächeln im Gesicht in den Raum. In den Händen hielt er ein großes Paket, welches er achtlos auf mein Bett fallen ließ. Dann setzte er sich ungefragt neben mich aufs Sofa und ergriff meine Hände. „Meine liebste Emilie, ich habe mir erlaubt dir ein Geschenk mitzubringen.“ Er blickte mich mit seinem üblichen lüsternen Funkeln in den Augen an und hob meine linke Hand an seine Lippen, um sie zu küssen. Hastig entzog ich sie ihm und erhob mich. Ich eilte zum Fenster, nur weg von ihm, wo ich nach draußen blickend verharrte. Ich ertrug es schon lange nicht mehr, wenn er mich berührte. „Ich bin nicht deine Liebste, Victor, und das werde ich auch nie sein. Und gleich was du mir auch mitgebracht haben magst, ich will es nicht.“ sagte ich mit ruhiger Stimme. Das einzige Zeichen meiner inneren Anspannung waren meine Finger, die sich in den Stoff des Vorhangs krallten, so dass meine Fingerknöchel weiß hervor traten. Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, spürte ich wie eine Welle des Zorns über ihm zusammenbrach. Er war ein sehr jähzorniger Mensch und ertrug es nicht, wenn ich mich ihm widersetzte, was ich trotz besseren Wissens immer wieder tat. Mit wenigen Schritten war er hinter mir und legte seine Hand trügerisch sanft in meinen Nacken, der daraufhin unangenehm zu kribbeln begann. Noch hatte er sich unter Kontrolle, doch ich fühlte nur zu deutlich wie die Wut unter seiner kühlen Fassade brodelte. Ein weiteres falsches Wort von mir und er würde mich das ganze Ausmaß seines Zorns spüren lassen. Und was das bedeutete wusste ich nur zu gut. „Na, na. Redet man so etwa mit seinem zukünftigen Gemahl? Du solltest nicht vergessen wer hier der Gnade des anderen ausgeliefert ist, meine Liebe.“ säuselte er dicht an meinem Ohr. Ich wagte nicht mich zu bewegen, als er begann mit seinen Fingern die empfindliche Haut meines Nackens zu streicheln. „Wenn du dich ab und an etwas zugänglicher zeigen würdest, dann wäre ich nicht immer so hart zu dir, weißt du? Also öffnest du nun das Paket oder wollen wir uns... anderweitig vergnügen?“ Er stand so dicht hinter mir, dass ich seinen heißen Atem auf meiner Wange spüren konnte. Er wollte mich. Wie schon so oft. Doch gleich was ich sonst von ihm halten mochte, er hatte sich mir nie unsittlich genähert. Nicht einmal einen Kuss hatte er mir gestohlen. Bisher nicht. Sein höhnisches Gelächter verfolgte mich, als ich fluchtartig Richtung Bett eilte, wo ich das Päckchen näher in Augenschein nahm. Es war lang und rechteckig, verziert mit einer schlichten Schleife. Ich zog sacht an deren Enden und hob den Deckel ab. Verblüfft nahm ich das weiße Kleid heraus und breitete es auf dem Bett aus. Es war ein Traum aus Spitze und Seide mit wunderschönen Applikationen am Saum und Oberteil. Ein Kleid wie geschaffen um darin zu heiraten. Ich gab ein ersticktes Keuchen von mir, als ich begriff was dieses Geschenk bedeutete. Mein Gesicht war schreckensbleich, als ich mich zu Victor um wandte. „Wann?“ war das einzige was ich von mir geben konnte. Er grinste teuflisch und lehnte sich mit verschränkten Armen lässig an die Wand. Offensichtlich genoss er mein Entsetzen in vollen Zügen. Minuten schienen zu verstreichen ehe er endlich antwortete: „Überrascht, Emilie? Du wusstest doch, dass dieser Tag kommen würde. Da du nun das 21. Lebensjahr vollendet hast, wüsste ich nicht weshalb ich noch länger warten sollte. Ich habe eine Sondergenehmigung erwirkt, so dass wir in drei Tagen vermählt werden können.“ Das letzte bisschen Farbe wich aus meinem Gesicht. „In drei Tagen?“ wisperte ich fassungslos. Das durfte einfach nicht wahr sein! Der Tag, vor dem ich mich mehr fürchtete als vor allem anderen, durfte nicht so kurz bevor stehen! Sein Lächeln wurde noch eine Spur boshafter. Er löste sich von der Wand, trat ans Bett heran und nahm meine klamme Hand in die seine, um einen feuchten Kuss darauf zu drücken. „Ja, in drei Tagen ist es endlich soweit. Du ahnst nicht wie sehr ich diesen Tag all die Jahre herbeigesehnt habe; der Tag, an dem du endlich die Meine wirst.“ Seine Finger streichelten provozierend über meine Haut, was mich leicht schauern ließ. Ich hielt den Blick gesenkt, aus Angst ihm zu verraten wie hilflos ich mich aufgrund dieser Nachricht fühlte. Mühevoll gelang es mir tiefe und lange Atemzüge zu nehmen, obgleich ich viel lieber dem beklemmenden Gefühl in meiner Brust freien Lauf gelassen hätte. Doch ich durfte in seiner Gegenwart keine Schwäche zeigen. Die Genugtuung würde ich ihm nicht auch noch gönnen. Ich schaffte es meine Fassade aufrecht zu erhalten, als er nun mein Kinn anhob und mich mit einem bedrohlichen Funkeln in seinen kalten blauen Augen ansah. „Ich warne dich, Emilie. Wenn du zu fliehen versuchst, dann wirst du es bitter bereuen, das schwöre ich dir. Also denk erst gar nicht daran, sonst musst du mit den Konsequenzen leben, die ich dann nur zu gern vollstrecke. Und du weißt was dir blüht, solltest du meinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen, nicht wahr?“ Ich nickte schwach. Oh ja, das wusste ich nur zu gut! Mich fröstelte. „Braves Mädchen,“ raunte er und tätschelte meine Hand. Dann wandte er sich zur Tür. „Ich lasse dich nun allein, damit du dein Hochzeitskleid in Ruhe anprobieren kannst. Wir sehen uns dann später beim Essen.“ Die Tür fiel mit einem vernehmlichen Laut ins Schloss und ich hörte wie Victor dem Mann, der davor Wache stand, harsch den Befehl erteilte mich nirgends ohne Begleitung hingehen zu lassen. Ich saß in der Falle, ohne Aussicht auf Rettung. Das Entsetzen darüber Victor schon so bald ehelichen zu müssen, war so groß, dass ich unkontrolliert zu zittern anfing. Meine schmalen Schultern bebten und ich umschlang meinen Oberkörper mit den Armen, bevor ich begann mich sacht vor und zurück zu wiegen. In meinen Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Fieberhaft überlegte ich was ich nun tun sollte. Denn eins stand für mich fest. Ich konnte Victor nicht heiraten. Ich verabscheute ihn aus tiefstem Herzen, für das was er mir angetan hatte und noch antun würde. Es gab nur einen Weg, der mich davor bewahren würde als seine Frau zu enden. Ich musste fliehen und hoffen, dass er mich nie wieder fand. Denn dann würde er seine Drohung wahrmachen und mich das ganze Ausmaß seines Zorns spüren lassen. Ganz gleich welche Gefühle er auch für mich hegte, vor Gewalt hatte er noch nie zurück geschreckt. Flucht war also der einzige Ausweg, den ich sah und so verbrachte ich die nächste Stunde damit mir einen Fluchtplan zurecht zu legen. Mir kam zugute, dass ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr versucht hatte Victors Einfluss zu entkommen. Die Wachen waren zunehmend träger und unvorsichtiger geworden. Soweit ich wusste, patrouillierten nur noch zwei Männer im Garten und der war so groß, dass es ein leichtes sein würde ihnen im Schutze der Dunkelheit auszuweichen. Wenn mir das gelang konnte ich durch die Hecke schlüpfen und wäre frei. Blieb nur noch der Wächter vor meiner Zimmertür, den es auszuschalten galt. Es war von großer Bedeutung, dass ich ihn ruhig stellte, damit meine Flucht nicht so schnell bemerkt wurde. Als mein Blick schließlich auf eine große mit chinesischen Motiven bemalte Vase fiel, wusste ich wie ich vorgehen konnte. Flink traf ich meine Vorbereitungen. Ich schlüpfte in ein schlichtes dunkelblaues Gewand und legte ein dazu passendes dunkles Cape an. In der Innentasche meines Kleides verstaute ich ein paar nützliche Kleinigkeiten. Leider war es mit nicht möglich etwas zu essen und zu trinken mitzunehmen, aber das war mir für den Moment gleich. Zunächst einmal musste ich das Anwesen weit hinter mich gelassen haben, ehe ich mich um die Bedürfnisse meines Körpers sorgen konnte. Dann wartete ich auf den Einbruch der Dunkelheit. *** Lautlos schlich ich durch die Straßen von Paris. Ich bemühte mich mit den Schatten zu verschmelzen und hielt immer wieder atemlos inne um auf die schnellen Schritte etwaiger Verfolger zu lauschen. Offenbar war es mir für den Moment gelungen diese abzuschütteln, aber ich durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Sie konnten mich jederzeit finden solange ich mich im Freien aufhielt. Ich musste sich verstecken. Nur wo? Zitternd presste ich mich an eine Hauswand und zog das durchnässte Cape enger um mich. Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber es sah nicht so aus als würde es in dieser Nacht aufhören zu regnen. Ich musste weiter und mir einen Unterschlupf suchen. Wenn ich hier stehen blieb würde ich mir noch den Tod holen. Meine Flucht war bis auf eine winzige Kleinigkeit genauso verlaufen wie ich mir es dutzende Male in meinem Kopf vorgestellt hatte. Der Wächter vor meiner Tür fiel auf meinen schrillen Hilferuf herein, stürzte in den Raum und wurde von mir mit der schweren Vase niedergeschlagen. In den dunklen Korridoren traf ich zum Glück auf niemanden und konnte über die Dienstbotentreppe hinunter und gelangte anschließend unbemerkt ins Freie. Auch die beiden Patrouillen im Garten stellten kein großes Problem dar. Und ich wäre auch nicht bemerkt worden, wenn mein Cape sich nicht dummerweise in den Zweigen der Hecke verfangen hätte. Erst kurz bevor einer der patrouillierenden Männer um die Ecke bog, konnte ich mich befreien und durch die schmale Lücke in der Hecke schlüpfen. Doch er hatte meinen Schemen davon eilen gesehen und sogleich Victor alarmiert. Dennoch konnte ich zufrieden mit mit sein. Ich war noch nicht verloren und Victors Männer hatten für den Moment keine Ahnung wo ich mich befand. Leise huschte ich also weiter um die nächste Ecke und blieb jäh stehen, als ich erkannte wo ich mich befand. Direkt vor mir erhob sich majestätisch die legendäre Opéra Garnier, in die seit den mysteriösen Vorfällen vor sieben Jahren keine Menschenseele einen Fuß gesetzt hatte. Es hieß das Phantom, das noch immer in der Oper hausen sollte, würde jeden bestrafen, der es wagte sein Reich zu betreten. Ich wusste nicht genau was sich vor sieben Jahren an diesem Ort zugetragen hatte; die Menschen sprachen nicht darüber, weil sie vergessen wollten. Ich wusste nicht einmal genau ob das sogenannte Phantom der Oper wirklich existierte oder ob es der Phantasie einer verwirrten Seele entsprungen war. Fest stand, dass die Oper, in die sich niemand hinein wagte, das ideale Versteck für mich war. Wer würde mich schon dort vermuten? Dennoch näherte ich mich nur zögernd dem großen, verlassenen Gebäude. Die Türen des Haupteinganges waren mit Brettern zugenagelt worden und auch alle Fenster waren verriegelt. Dort würde ich also nicht hineingelangen. Doch als ich das Gebäude mich vorsichtig immer wieder um blickend zu umrunden begann, hatte ich schon bald eine Möglichkeit entdeckt hineinzukommen. Ich kniete vor der kleinen vergitterten Öffnung, die gerade groß genug war, dass so eine schmale Person wie ich es war hindurch kriechen konnte, und zerrte an den Gitterstäben. Zu meiner großen Freude gelang es mir das Gitter zu entfernen. Ich legte es beiseite und zögerte nur einen winzigen Moment, bevor ich mich rückwärts durch die so entstandene Öffnung zwängte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)