"Katyusha" von Palaver98 ================================================================================ Kapitel 1: Katyusha ------------------- Rastsvetali yabloni i grushi, poplýli tumani nad rekoi, výkhadyila na byereg Katyusha, na výsoki byereg, na krutoi. (Die Apfel- und die Birnbäume erblühten, Nebelschwaden lagen über dem Fluss, da ging Katjuscha hinaus aufs Ufer, auf das hohe, steile Ufer.) Es war ein geradezu malerisches Bild, dass sich vor ihr ausbreitete. Der Hügel fiel sanft hinab, die Landschaft weitete sich bis zum Horizont aus. Bäume stießen immer wieder vereinzelt oder in kleinen Gruppen in den blauen Himmel, in dem nur einige dünne, schmale Wolken hingen und weit hinten stand ein Wald. Am Fuß des Hügels verlief ein schmaler Fluss, nunmehr von einer Eisschicht bedeckt, die glitzerte, wo kein Schnee auf ihr lag. Eigentlich regte sich kein Lüftchen, dann aber ließ ein leichter Windstoß Katerynas blauen Rock kurz flattern. Die junge Frau genoss den Anblick, der sich ihr bot, atmete einmal tief die frische, aber kalte Luft ein und strich sich nachdenklich durch ihr platinblondes Haar. Sie erinnerte sich noch, wie es hier im Sommer aussah. Bäume zeigten ihr volle Pracht, bunte Blumen blühten auf den Wiesen, das Wasser des Flusses plätscherte leise vor sich hin und Vögel flogen durch die Lüfte. Jetzt war alles von einer weißen Schneeschicht bedeckt. Die Bäume hatten ihre Blätter abgeworfen, ihre nackten Äste bogen sich unter der Last des Schnees. Trotzdem streckten sich die Bäume wie knöcherne Gerippe nach oben. Das grüne Gras und die farbenfrohen Blumen waren unter der Schneedecke verschwunden, kein Vogel zeigte sich am Himmel. Nur hin und wieder dröhnten Flieger vorüber. Glücklicherweise trugen sie zumeist den roten Stern ihres jüngeren Bruders und nicht das Kreuz Ludwigs. Genauso wie die Panzer- und Lastwagenkolonnen, die sich ihren Weg durch die russische Landschaft unten an den ihrem Hügel entlang bahnten. Auch wenn sie jetzt weit weg waren, Kateryna wusste, dass irgendwo da draußen die Kämpfe tobten. Kämpfe, dir nicht nur über ihr Schicksal entscheiden würden. Výkhadyila, pyesnyu zavodyila, pro stepnovo, sizovo orla, pro tavo, katorovo lubyila, pro tavo, tshi pyisma beregla. (Sie ging hinaus und sang ein Lied, über einen grauen Steppenadler, über den, den sie liebte, über den, dessen Briefe sie bewahrte.) Ihr Brüderchen schlug sich tapfer, auch wenn er anfangs von dem Deutschen und seinem älterem preußischem Bruder regelrecht überrannt worden war. Sie erinnerte sich noch gut, wie er durch die Tür gestolpert war, mit zerzaustem Haar, zerschürftem Gesicht, zerrissenem und blutverschmiertem Mantel. Sie und die jüngste von ihnen, Natalia, hatten dann seine Wunden versorgt und ihm Mut gemacht. Und jetzt war Ivan wieder an der Front gezogen. Kateryna konnte sich noch gut an den Abschied erinnern. Die beiden Schwestern hatten ihren Bruder erst fest umarmt, er hatte ihnen sein freundliches Lächeln geschenkt, dann war er auf den Lastwagen gestiegen. Dann hatten sich die Lastwägen in Bewegung gesetzt und waren schnell die Straße hinunter gefahren. Sie hatten ihm noch hinterher gewinkt, als sie ihn schon lange nicht mehr sehen konnten. Sie hatte ihm noch nicht einmal mehr durch sein silberblondes Haar fahren können, wie sie es früher getan hatte, als er noch kleiner gewesen war als sie. Natalia hatte noch den ganzen Tag lang geweint. Und auch Kateryna fühlte stets eine Beklemmung im Herzen, wenn sie daran denken musste, dass ihr Brüderchen gerade irgendwo da draußen unter Gewehr- oder Artilleriefeuer lag, drohte von Panzern zermalmt zu werden oder sich durch zerstörte Häuser und Straßenzüge kämpfte. Und sie dachte ständig daran. Sie fürchtete sich so sehr vor dem, was ihrem Bruder zustoßen könnte, dass sie erst gar nicht daran denken mochte, was danach kommen würde. Kateryna holte einen Brief hervor, den sie bei sich trug seit sie ihn erhalten hatte. Es war der erste Feldbrief, den ihr Brüderchen Ivan ihr geschrieben hatte, nachdem er wieder ausgerückt war. Er war nicht sehr lang und es stand auch nicht viel Bedeutungsvolles darin. Sie fuhr mit dem Finger über die mit Bleistift geschriebenen Zeilen. Aber das brauchte es auch gar nicht. Zwischen ihnen, Ivan, Natalia und ihr, brauchte es nicht viele Worte. Ihr Bruder mochte manchmal zwar unerwartet ungeschickt im Umgang mit anderen oder angsteinflößend wirken, aber die Geschwisterliebe zwischen ihnen ließ sich dadurch nicht trüben. Nur Natalia schlug in dieser Hinsicht, sehr zu Leidwesen ihres Bruders, öfters gerne über die Stränge, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. „He, Schwester, hast du schon Neues von unserem Bruder gehört?“, ertönte plötzlich hinter ihr eine helle Frauenstimme. Kateryna drehte sich um und sah Natalia in ihrem blauen Kleid durch den Schnee zu sich herüber stapfen. „Nein, habe ich noch nicht“, antwortete sie mit Sorge. Oi, tý pyesnya, pyesen'ka dyevitshya, tý leti za yasným sontsem vsled i boitsu na dalnem pogranyitshie ot Katyushi pyeredai privyet. (Ach, du Lied, du kleines Lied eines Mädchens, fliege hinter der hellen Sonne her und bringe dem Krieger im fernen Lande von Katjuscha einen Gruß.) Vor ihnen hatten sich deutsche Truppen auf dem Hügel im steinernen Landhaus verschanzt. Ivan Braginski kauerte mit drei weiteren Soldaten in einem großen Granattrichter. Über ihnen peitschten Gewehrkugeln durch die Luft, Granaten ließen bei jeder Explosion den Boden erbeben und schleuderten Schnee und Erde in die Höhe. Ivan hörte einen Panzer herannahen, aber er konnte nicht sagen, ob es ein deutscher oder ein russischer war. Er kam von hinten und fuhr mit rasselnden Ketten an ihrem Granattrichter vorbei. Ivan erkannte seinen T-34, als er aus den Augenwinkeln hinauf linste. Da pfief es und der Panzer ging laut krachend in einem Feuerball auf. Trillerpfeifen ertönten. Begleitet von verstärktem Artillerie- und MG-Feuer setzte die Infanterie zum Angriff an. Weitere Panzer rollten heran. Er konnte sich noch gut an den Abschied erinnern. Weil die Bahngleise von deutschen Pionieren gesprengt worden waren, wurden die Soldaten mit Lastwägen zum Kriegsschauplatz gebracht. Seine beiden Schwestern, Yekaterina, die ältere, und Natalia, die jüngere, standen beide mit vielen anderen am Straßenrand und winkten ihm hinterher. Er entfernte sich schnell von ihnen, sodass er schon bald ihre Gesichter nicht mehr erkennen konnte. Braginski atmete ein letztes Mal tief durch, dann sprang er aus dem Erdloch, rannte geduckt vorwärts und feuerte aus seiner Maschinenpistole. Vorbei am brennenden und qualmenden Panzerwrack, Kugeln pfiffen ihm um die Ohren, eine Explosion ließ Erde und Schnee auf ihn regnen. Überall Krachen, Knallen, Rattern, hastige Bewegungen, Schreie, Rufe. Er näherte sich den Stacheldrahtverhauen. Schräg vor ihm feuerte ein MG 42 auf die schutzlos heran nahenden Rotarmisten, machte sie einen nach dem anderen nieder. Ivan warf sich zu Boden, schoss auf die MG-Besatzung. Sie hatten sich zu gut im Graben hinter Sandsäcken verschanzt. Er zog eine Handgranate, entsicherte sie, warf sie auf die MG-Stellung. Krachen, Schreie, das Maschinengewehr feuerte nicht mehr. Ivan richtete sich sofort wieder auf, lief durch eine Lücke durch den Stacheldraht auf den vordersten Graben zu. Ein Deutscher legte mit seinem Gewehr auf ihn an, Ivan schoss eine Salve aus der MP ab, der Deutsche war verschwunden und er und hastete weiter. Ivan sprang in den Graben, Soldaten folgten ihm. Da bezog ein weiterer Zug Deutscher im Laufgraben gegenüber Stellung. Pust' on vspomnit dyevushku prastuyu, pust' uslýshit, kak ona payot, pust' on zemlu byerezhot radnuyu - a lyubov Katyusha zbyerezhot. (Er soll an sein einfachen Mädchen denken und hören, wie sie singt, er soll die heimatliche Erde beschützen und Katjuscha ihre Liebe bewahren.) Das Gefecht war vorbei. Ivan Braginski schritt langsam durch die Überreste der deutschen Stellung, die sie eingenommen hatten. Ein großer Teil der Gräben, Wälle aus Sandsäcken und der Stacheldrahtverhaue war durch Granaten und Panzer eingeebnet worden, an vielen Stellen stieg schwarzer Rauch in den Himmel auf, aus manchen Unterstände flackerte Feuer. Das Landhaus war nun wenig mehr als eine Ruine. Der Boden war durch Kugeln und Granaten aufgerissen und zernarbt, überall lagen Tote. Deutsche wie Russen. Bäuchlings, auf dem Rücken, auf der Seite, im Stacheldraht, über Grabenrändern, im Dreck und Schnee. Verstümmelt, verrenkt, oder schlicht und einfach zusammengebrochen. In den Pfützen vermischten sich Wasser, Schlamm und Blut. Sein langer weißer Schal war ebenfalls völlig verdreckt. Wieder hatte seine Rote Armee starke Verluste hinnehmen müssen, obwohl sie Ludwig und seine Wehrmacht immer weiter zurückdrängten. Doch der Deutsche war ein zäher Kerl, der ließ sich nicht so einfach überrennen. Von den drei Soldaten, die mit ihm im Granattrichter gelegen hatten, waren alle gefallen. Nur drei von vielen, was sollte es denn. Es standen ja noch zahlreiche weitere bereit. Ivan kannte den Befehl. Nicht zurückweichen. Wer zurückweicht wird erschossen. Er würde sich um jeden Preis verteidigen. Und angreifen. Es Ludwig und seinem Bruder Gilbert heimzahlen. Koste es, was es wolle. Er neigte zitternd den Kopf. Wie lange noch würde es weitergehen? Wie lange würde er das alles noch ertragen können? „He, Russland, wir müssen bald weiter. Ruh dich doch noch ein wenig aus“, rief ihm jemand zu. Behutsam drehte sich Ivan um. Er lächelte verschmitzt, dann sagte er mit Grabesstimme: „Wie kommst du bloß darauf, dass ich mich ausruhen müsste?“ Am nächsten Tag zogen sie wieder weiter. Ludwig war auf dem Rückzug, das war unübersehbar. Am Wegesrand fand Ivan Braginski immer wieder zurückgelassene Panzer, Lastwägen, Autos und Motorräder. Und tote Deutsche. Viele von ihnen hatten keine Wunden. General Winter hatte wieder mal erfolgreich zugeschlagen: sie waren von Hunger und Kälte geschwächt erfroren. Ivan lief ein Schauer über den Rücken. General Winter, sein stärkster Krieger. Aber zu welchem Preis? Er erinnerte sich noch gut. Als Ludwig zurückgewichen war, da waren Väter, Mütter, Kinder und Geschwister nach draußen gegangen und konnten erst dann verzweifelt zwischen den zahllosen Toten nach den Ihren suchen, die hier und da der Schnee freigab. Manchmal fragte er sich, wer eigentlich dieses Land wirklich beherrschte. Ivan betrachte den Deutschen, der vor ihm auf dem Boden lag. Er war vielleicht um die zwanzig Jahre alt und einen Kopf kleiner als er selbst. Er lag auf dem Rücken, sein Körper war bereits teilweise von Schnee bedeckt, das Gesicht lag noch frei. Wangen, Lippen, Hände und Füße waren bleich wie eine Wolke. Sein linkes Auge war einen Spalt geöffnet, genau wie Mund. Dem Mann fehlten Mantel, Handschuhe, Stiefel und Socken. Wahrscheinlich hatten seine Kameraden sie ihm abgenommen. Die Beine lagen recht eng beieinander und etwas verdreht, um ihn auszuziehen hatte er schließlich umgedreht werden müssen. Die Arme waren jedoch leicht von sich gestreckt, die Handflächen und die steifen Finger zeigten nach oben. Eine dünne Schicht aus Raureif auf seinem Körper spiegelte das Sonnenlicht, das durch den klaren Himmel schien, kaum merklich wieder. Ivan erinnerten die zurückgekämmten blonden Haare an Ludwig. Sahen die Deutschen alle so aus? Diese Haare hatten allerdings eher einen leichten Braun-Stich. Ivan fuhr sich kurz durch sein eigenes, platinblondes Haar. Plötzlich musste er wieder an seine beiden Schwester Kateryna und Natalia denken, die daheim auf ihn warteten. Wie es ihnen wohl gerade ging? Er musste auch seinen schönen Schal wieder einmal waschen. Er war schließlich ein Geschenk seiner älteren Schwester. Otsvetali yabloni i grushi, uplýli tumani nad rekoi. Ukhadyila z byerega Katyusha, unasyila pyesen'ku damoi. (Die Apfel- und die Birnbäum haben ihre Blüten verloren, die Nebelschwaden über dem Fluss sind verflogen, da verließ Katjuscha das Ufer, und nahm ihr Lied mit nach Haus.) „Ach ja, Schwester, hast du schon gelesen? Unser Bruder hat uns heute wieder geschrieben", sagte Natalia und hielt Kateryna eine Feldpostkarte vor die Nase. Verdutzt nahm sie die Karte und betrachtete sie genauer. Tatsächlich war darauf, wie immer freundlich lächelnd, ihr Brüderchen Ivan zu sehen und hinter ihm ein Lastwagen, auf dessen Ladefläche ein mehrläufiger Raketenwerfer montiert war. Sie drehte die Karte um und erkannte sofort die Handschrift. Sie begann zu lesen: „Liebe Schwester, wir machen gute Fortschritte, Deutschland kämpft aber immer noch erbittert. Trotzdem denke ich, wir werden ihn bald bezwungen haben. Falls nötig, werde ich ihn auch vollständig platt machen. Und wenn es bis nach Berlin geht. Vielleicht könnten wir ja irgendwann danach Freunde werden. Ich hoffe, dass es euch beiden, Natalia und dir, gut geht. Hier an der Front ist es hart, aber wir haben alles und sind zuversichtlich. Ich freue mich schon auf unser Wiedersehen nach dem Krieg, dein Brüderchen Ivan" Als sie zu Ende gelesen hatte, glimmte der Hoffnungsschimmer in Kateryna wieder ein bisschen stärker auf. Es war nur sehr kurz und sie wuste, dass Ivan ihnen nicht die ganze Wahrheit schrieb. Aber es war eine Nachricht von ihm. Er lebte und er war noch stark genug, zu schreiben. Sie drei Geschwister hatten schon so viel leidvolles durchstehen müssen. Hoffentlich besaß Ivan noch den schönen weißen Schal, den sie ihm früher, als sie noch Kinder gewesen waren, geschenkt hatte. Kateryna drückte die Karte gegen ihre Brust und schloss die Augen. Fast vermeinte sie, die Gestalt ihres jüngeren Bruders genaur vor ihr zu sehen, wie er sich zu ihr herunterbeugte und sie anlächelte. Der lange Schal um seinen Hals wehte lebhaft im Wind auf und ab. Seine Lippen formten wie von weit entfernt lautlos Worte, doch sie wusste trotzdem, was er sagte: "Ich komme zurück." Rastsvetali yabloni i grushi, Poplýli tumani nad rekoi. Výkhadyila na byereg Katyusha, Na výsoki byereg na krutoi. (Die Apfel- und die Birnbäum erblühten, Nebelschwaden lagen über dem Fluss, da ging Katjuscha hinaus aufs Ufer, auf das hohe, steile Ufer.) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)