Schillern von KaethchenvHeilbronn ================================================================================ Prolog: -------- Es wehte ein eiskalter Wind über die Esplanade, auf der es bei Nacht noch kälter war, als bei Tage, wenn die Menschen sie vereinnahmten. Aber jetzt war es ruhig, keine Menschenseele weit und breit. Und doch lief jemand durch die Gassen, vielleicht weil er Sehnsucht hatte, vielleicht weil ihn etwas anderes antrieb… Über allen Gipfeln Ist Ruh‘, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch… Die Straßen Weimars lagen voller Schnee. Es hatte in der Nacht noch geschneit und jeder Stein, jeder Strauch war mit einer puderweißen Watteschicht überzogen. Während die Hausbesitzer ihren Eingang freifegten, schoben die braunen Wollhandschuhe einen ganz privaten Haufen Schnee zusammen. Der Junge, der diese Handschuhe trug, richtete sich auf und formte eine Schneekugel in seinen Händen. Der Wind spielte mit seinen kurzen hellbraunen Haaren und verstrubbelte sie, doch er ließ sich nicht ablenken. Sorgfältig bearbeitete er den Schnee, fast wie eine liebende Mutter betrachtete er die formbare Kugel. Er liebte das Weiß, diese enorme Leuchtkraft – Reflexion, wie ihm sein Vater erklärt hatte. Der Schnee knirschte hinter ihm, und er drehte sich um. „Karl.“ Überrascht sah er den kleinen Jungen an, das Gesicht fast so weiß wie der Schnee, eingerahmt durch dunkle Locken. Die blauen Augen leuchteten in der Reflexionskraft des Bodens, und auf den rosigen Lippen lag ein seichtes Lächeln. „Hallo, August.“ „Was tust du hier?“, fragte der Größere, die Kugel in seinen Händen vergessen. „Mutter hat mich geschickt.“, antwortete Karl. Der Blonde nickte, er verstand, und blickte seinen Freund mit einfühlsamen tiefbraunen Augen an. „Nein!“, rief da der Lockenkopf, der ebenso erahnte, was der Ältere nun dachte. „Vater stirbt nicht! Vater kann nicht sterben!“ August seufzte und nahm den anderen sanft am Arm. „Jeder Mensch muss einmal sterben, und den Zeitpunkt kann sich niemand heraussuchen, Kleiner.“ Da musste Karl grinsen, sodass man seine schneeweißen Zähne sah. Mit diesem Grinsen zog er August an der Schulter zu sich hinunter und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Aber mein Vater“, flüsterte er dem Größeren ins Ohr, sodass es dort durch den Atem warm wurde, „ist kein Mensch. Vater ist ein Vampir.“ August war zunächst baff, dann unterdrückte er ein Lachen; er wollte dem Kleinen nicht auch noch seine letzte Hoffnung nehmen, denn dass Karls Vater, dass Schiller schwer krank war, sein Zustand beunruhigender als sonst schon immer – denn Schiller war oft, ständig krank – konnte man nicht leugnen… „Dann kann er natürlich nicht sterben.“, meinte er dennoch lächelnd und ließ die Kugel fallen, um seinen Freund in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken. Eine Schneeflocke fiel Karl auf die Wange. Ja, fast so weiß wie Schnee. Die Vögelein schweigen im Walde… Der Schnee, der vor Monaten gefallen war, war schon lange geschmolzen, und die Esplanade war ohne ihren weißen Überzug wieder stockdunkel bei Nacht. Die Schritte, die man im Schnee hätte sehen können, würden unentdeckt am nächsten Tag bleiben. So wusste niemand, dass er alleine gekommen, aber in Begleitung gegangen war. Nur der Mond, der voll am Himmel stand, war Zeuge, aber der würde dieses Geheimnis wohlbehütet mit ins Grab nehmen. Warte nur, balde Ruhest du auch. Kapitel 1: Der unendliche Weg des Lebens ---------------------------------------- Die Krokusse sprossen aus der Erde, die Bienen summten und erfreuten sich am Nektar der blühenden Blumen. Die Wiesen wurden Tag für Tag bunter und die Wälder dichter. August saß in der Stube am Fenster und beobachtete die Natur, als er das Klacken der Haustür vernahm. Seine Mutter musste vom Einkauf zurück sein. Freudig, da er doch heute unbedingt mit ihr nach draußen wollte, sprang er auf. Er würde sie zwar erst überreden müssen, denn da sein Vater sie immer noch nicht geehelicht hatte, war sie sowie ihr Sohn bei den hohen Damen nicht gern gesehen, aber August war das egal. Zumindest versuchte er es gleichgültig hinzunehmen. Die Lästermäuler – vornehmlich Frauen – waren sicherlich nur eifersüchtig, dass der große Goethe eben seine Mutter liebte. Eilig lief er ihr also entgegen und – und blieb im Flur erschrocken stehen: Denn das war nicht seine Mutter, diese vom Blitz getroffene Gestalt, der das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. „Mutter! Was ist passiert?! Was ist los?!?“, fragte er besorgt und eilte sofort zu ihr, um sie zu stützen. „Junge…“, gab die Frau erschöpft von sich. „Ein Glas Wasser, bitte.“ „Sofort.“ Er brachte sie in die Küche und goss ihr aus dem Krug ein Glas Wasser ein. „Mutter, du siehst aus, als wäre dir der Tod begegnet. Was ist geschehen?“, wiederholte er seine Frage. Sie nahm einen kräftigen Schluck und fuhr sich zittrig durch die gelockten Haare, bevor sie antwortete. „Schiller.“ Es war nur ein Wort, ein Name, aber August verstand. „Nein“, brachte er über seine Lippen. Seine Mutter nickte nur. „Nein!“ „Pscht!“, ermahnte ihn die Frau. „Sag kein Wort zu deinem Vater!“ „Aber…“ „Kein Wort, mein Sohn. Wir werden es ihm verschweigen, so lange es geht.“ August nickte mit wässrigen Augen. Er dachte an Karl, den armen Jungen, der so jung seinen Vater verloren hatte. Das war ungerecht! Das war wider die Natur! Kreislauf des Lebens hin und her, der Mann hatte das nicht verdient und sein Sohn noch weniger! „Darf ich…rüber zu Karl?“ „Jetzt nicht. Lass sie trauern. Er wird schon kommen, wenn er dich braucht.“ Der Junge nickte ein weiteres Mal. Plötzlich waren Schritte auf der Treppe zu hören. „Dein Vater kommt.“, flüsterte die Mutter und erinnerte ihn: „Kein Wort.“ Goethe, ein Mann mit dunklem Haar und Augusts Augen, betrat die Küche und gab seiner Frau einen Kuss. „Hallo, Liebling. So spät vom Einkaufen zurück?“ „Ja, es…gab eine Menge Tratsch.“ „So? Was erzählt man sich denn?“, fragte Goethe amüsiert. „Das Übliche.“, antwortete sie ausweichend, und ihr Mann wandte sich nun August zu. „Das Wetter ist schön heute, nicht?“, stellte er fest. „Ist es, Vater. Wunderschön.“ „Lust auf einen kleinen Spaziergang, bis deine Mutter das Essen fertig hat?“, schlug er vor. „Wir könnten Schillern und Karl fragen, ob sie mitkommen.“ Stille trat in der sonst so gemütlichen Küche ein. Mit forschendem Blick betrachtete Goethe Frau und Sohn, die eben diesem auszuweichen suchten. Plötzlich weiteten sich seine Augen und er musste sich am Tisch abstützen. „Sagt nichts, ich spüre es.“, brachte er heraus. „Er hat uns verlassen. Er hat uns tatsächlich verlassen…“ August blickte seinen Vater an und musste bestürzt feststellen, wie verloren dieser aussah. Das erste Mal, dass dieser Mann so wirkte, als wüsste er nicht weiter, als wäre er einfach hilflos. Ohne ein weiteres Wort machte Goethe plötzlich kehrt und verschwand eilig aus dem Raum, die Treppen hinauf. August konnte nicht anders; ihm flossen die Tränen. Seine Mutter nahm ihn in den Arm und so standen sie da in der Küche, stumm einander im Arm, nur Augusts leises Schluchzen zu hören, und nahmen Anteil am Leid der Familie Schiller, die ihren Vater verloren hatte. Kapitel 2: Der Glaube an eine andere Realität --------------------------------------------- August saß verloren am Fenster. Der Frühling sah schon gar nicht mehr so schön aus, wie heute Morgen noch. Sein Vater hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen, war auch nicht zum Essen aufgetaucht. Die Mutter war wieder in die Stadt, sie konnte das nicht, hier tatenlos herumsitzen. Als es an der Haustür klopfte, sprang August sofort auf. Mit klopfendem Herzen lief er in den Flur, um zu sehen, wen der Diener eingelassen hatte. Karl stand da, der kleine zwölfjährige Junge, die dunklen Locken ungekämmt, die Haut noch blasser als sonst und dunkle Schatten unter seinen geröteten Augen. „A…August…“, brachte er heraus und fiel seinem Freund in die Arme. Dieser schloss die Tür und zog den Kleinen dicht an sich. Als sie im Wohnzimmer im großen Sessel saßen, ließ Karl seinen Tränen freien Lauf. „Das ist…das ist nicht gerecht…!“, schluchzte er. „Er hat mich…! Vater hat mich angelogen!“ August fuhr ihm beruhigend über den Rücken, mit der anderen Hand sanft durch die Haare. „Er hat dich sicher nicht belogen.“, flüsterte er, wobei er einfach nicht daran glauben konnte, dass Schiller wirklich behauptet hätte, ein Vampir zu sein. Schiller gab keine unhaltbaren Versprechen. „Aber…! Wieso ist er dann tot?!? Wieso, August?!“ Verzweifelt blickten die blauen Augen des Kleinen zum anderen auf. August hatte keine Antwort auf diese Frage, weshalb er seinem Freund einfach nur die Lippen an die Stirn legte. Karl war eiskalt. Seine Hände waren schon immer eiskalt gewesen. August hoffte, er hatte die labile Gesundheit nicht von seinem Vater geerbt und schloss Karl wieder in seine Arme. „Versuch ein wenig die Augen zuzumachen, Kleiner. Du bist sicherlich müde.“ Karl folgte dem Rat, und auch wenn es eine Weile dauerte, bis er sich beruhigt hatte, ging sein Atem schließlich immer regelmäßiger und er schlief tatsächlich in Augusts Armen ein. Es war wieder ein Tag im Frühling, aber aus dem zwölfjährigen kleinen Jungen, der vor August stand, war ein sechzehnjähriger junger Mann geworden, der den vier Jahre älteren mittlerweile um gute zehn Zentimeter überragte. „Karl, guten Abend.“ „Tut mir Leid, dass es so spät geworden ist, August, ich war noch…heute ist der Neunte.“ August nickte wissend. Ja, heute vor vier Jahren war Schiller gestorben. „Komm rein.“, sagte er. Als die beiden am kleinen Esszimmer vorbeigingen, fanden sie Augusts Vater vor, der mit einer Tasse Milch bei seiner abendlichen Lektüre saß. „Grüß dich, Karl.“ „Guten Abend, Herr Goethe.“ August fiel der melancholische Blick auf, mit dem sein Vater den Gast betrachtete. Er dachte bestimmt an Schiller. „Karl?“ „Äh, ja, ich komme schon.“ Sie liefen die Holztreppe hinauf und betraten Augusts Zimmer. Der Schreibtisch stand immer noch an gleicher Stelle, aber er wurde anscheinend häufiger benutzt, wie noch vor vier Jahren. Immerhin war August jetzt erwachsen und hatte schon einiges am Weimarer Hof zu tun. „Was ist?“, fragte er, als Karl an der Tür stehenblieb und unschlüssig zu ihm hinüberblickte. „Ich…“, fing der Schwarzhaarige an und griff in seinen Rock. Er holte ein Spielzeug hervor. Bei genauerem Hinsehen erkannte August die Spielzeugguillotine, die sein Vater Karl einmal geschenkt hatte und mit der sie als Kinder zusammen gespielt hatten. „Was willst du damit?“, fragte der Ältere mit einem Lachen. Auf Karls Gesicht legte sich ein Lächeln. „Vater ist nicht tot.“ August versuchte nicht genervt zu wirken. Karl war die ganzen Jahre über immer wieder darauf zurückgekommen, dass sein Vater noch lebte. Jedes mal musste er es ihm erneut ausreden. Das tat weh. „Karl…“, fing er an, doch der andere unterbrach ihn, so hitzig, wie es nur ein Schiller konnte. „Nein!“, rief er und schritt auf ihn zu. „Mein Vater lebt, ich weiß es! Er hätte mich nie belogen! Niemals! Die ganzen Jahre über bin ich mir sicherer geworden: Er ist ein Vampir und so lebendig, wie ein Untoter es eben sein kann.“ August konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen. „Karl, komm zu Sinnen. Weißt du, was du da redest? Wen bitte hat der Arzt für tot erklärt? Welchen Leichnam haben wir begraben?“ „Nicht meinen Vater!“ August seufzte. „Was willst du mit der Guillotine?“ „Dein Vater hat mich darauf gebracht.“ Fragend sah der junge Goethe sein Gegenüber an. „Mein Vater?“ „Ja, als ich vorgestern zu Besuch war und du nicht zuhause, haben wir uns unterhalten. Er sprach immer von meinem Vater, dass er ihn vermisse, und er dachte an die schönen Zeiten zurück, als er zu Besuch war – die Guillotine erwähnte er – Unsere Väter haben gedichtet und wir saßen zusammen auf dem Boden und haben gespielt, erinnerst du dich?“ „Ja, ich erinnere mich. Und…?“, hakte August nach, denn er verstand immer noch nicht, auf was der andere hinauswollte. „Hier ist des Rätsels Lösung!“, rief Karl und hob die Spielzeugguillotine wie einen gefundenen Schatz in die Höhe, um sie zu schütteln. „Hörst du das? Da ist etwas drin eingeschlossen!“ „Karl, das ist lächerlich.“ „Ist es nicht!“ Der Jüngere trat heftig mit dem Fuß auf. „All die Jahre willst du es mir ausreden! Wieso tust du das?!“ „Weil es die Wahrheit ist!“ Der Dunkelhaarige biss sich trotzig auf die Unterlippe, seine Finger fest um die Guillotine geschlossen, die Augen starr auf August gerichtet. Er zitterte vor Zorn. „Karl“, fing August beschwichtigend an. „Ich will doch nur nicht, dass du dich unglücklich ma– “ Da schmetterte ihm Karl mit einem Mal das Spielzeug vor die Füße, dass es in tausend Stücke zersprang. Ungewöhnlich ruhig war August geblieben, sah auf den Splitterhaufen hinab, und da erst nahm sein Herzschlag an Geschwindigkeit zu. „Karl…“, sagte er abermals und warf sich auf die Knie, um eine bleistiftgroße Schriftrolle aus den Trümmern zu fischen. Schuldig sah er zu seinem Freund auf. Er hatte also all die Jahre Recht gehabt. „Das…was…?! Zeig her!“, befahl Karl und entriss dem anderen das Papier. Hastig rollte er es aus und begann zu lesen. Es war die Schrift Goethes. Nach Korinthus von Athen gezogen Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt. Einen Bürger hofft' er sich gewogen; Beide Väter waren gastverwandt, Hatten frühe schon Töchterchen und Sohn Braut und Bräutigam voraus genannt. Aber wird er auch willkommen scheinen, Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft? Er ist noch ein Heide mit den Seinen, Und sie sind schon Christen und getauft. Keimt ein Glaube neu, Wird oft Lieb' und Treu Wie ein böses Unkraut ausgerauft. Und schon lag das ganze Haus im stillen, Vater, Töchter, nur die Mutter wacht; Sie empfängt den Gast mit bestem Willen, Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht. Wein und Essen prangt, Eh er es verlangt; So versorgend wünscht sie gute Nacht. Aber bei dem wohlbestellten Essen Wird die Lust der Speise nicht erregt; Müdigkeit läßt Speis' und Trank vergessen, Daß er angekleidet sich aufs Bette legt; Und er schlummert fast, Als ein seltner Gast Sich zur offnen Tür herein bewegt. Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer Tritt, mit weißem Schleier und Gewand, Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer, Um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band. Wie sie ihn erblickt, Hebt sie, die erschrickt, Mit Erstaunen eine weiße Hand. Bin ich, rief sie aus, so fremd im Hause, Daß ich von dem Gaste nichts vernahm? Ach, so hält man mich in meiner Klause! Und nun überfällt mich hier die Scham. Ruhe nur so fort Auf dem Lager dort, Und ich gehe schnell, so wie ich kam. Bleibe, schönes Mädchen! ruft der Knabe, Rafft von seinem Lager sich geschwind: Hier ist Ceres', hier ist Bacchus' Gabe, Und du bringst den Amor, liebes Kind! Bist vor Schrecken blaß! Liebe, komm und laß, Laß uns sehn, wie froh die Götter sind! Ferne bleib, o Jüngling! bleibe stehen, Ich gehöre nicht den Freuden an. Schon der letzte Schritt ist, ach! geschehen Durch der guten Mutter kranken Wahn, Die genesend schwur: Jugend und Natur Sei dem Himmel künftig untertan. Und der alten Götter bunt Gewimmel Hat sogleich das stille Haus geleert. Unsichtbar wird Einer nur im Himmel Und ein Heiland wird am Kreuz verehrt; Opfer fallen hier, Weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört. Und er fragt und wäget alle Worte, Deren keines seinem Geist entgeht. Ist es möglich, daß am stillen Orte Die geliebte Braut hier vor mir steht? Sei die Meine nur! Unsrer Väter Schwur Hat vom Himmel Segen uns erfleht. Mich erhälst du nicht, du gute Seele! Meiner zweiten Schwester gönnt man dich. Wenn ich mich in stiller Klause quäle, Ach! in ihren Armen denk an mich, Die an dich nur denkt, Die sich liebend kränkt; In die Erde bald verbirgt sie sich. Nein! bei dieser Flamme sei's geschworen, Gütig zeigt sie Hymen uns voraus, Bist der Freude nicht und mir verloren, Kommst mit mir in meines Vaters Haus. Liebchen, bleibe hier! Feire gleich mit mir Unerwartet unsern Hochzeitschmaus! Und schon wechseln sie der Treue Zeichen: Golden reicht sie ihm die Kette dar, Und er will ihr eine Schale reichen, Silbern, künstlich, wie nicht eine war. Die ist nicht für mich; Doch, ich bitte dich, Eine Locke gib von deinem Haar. Eben schlug dumpf die Geisterstunde, Und nun schien es ihr erst wohl zu sein. Gierig schlürfte sie mit blassem Munde Nun den dunkel blutgefärbten Wein; Doch vom Weizenbrot, Das er freundlich bot, Nahm sie nicht den kleinsten Bissen ein. Und dem Jüngling reichte sie die Schale, Der, wie sie, nun hastig lüstern trank. Liebe fordert er beim stillen Mahle; Ach, sein armes Herz war liebekrank. Doch sie widersteht, Wie er immer fleht, Bis er weinend auf das Bette sank. Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder: Ach, wie ungern seh' ich dich gequält; Aber, ach! berührst du meine Glieder, Fühlst du schaudernd, was ich dir verhehlt. Wie der Schnee so weiß, Aber kalt wie Eis Ist das Liebchen, das du dir erwählt. Heftig faßt er sie mit starken Armen, Von der Liebe Jugendkraft durchmannt: Hoffe doch bei mir noch zu erwarmen, Wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt! Wechselhauch und Kuß! Liebesüberfluß! Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt? Liebe schließet fester sie zusammen, Tränen mischen sich in ihre Lust; Gierig saugt sie seines Mundes Flammen, Eins ist nur im andern sich bewußt. Seine Liebeswut Wärmt ihr starres Blut; Doch es schlägt kein Herz in ihrer Brust. Unterdessen schleichet auf dem Gange Häuslich spät die Mutter noch vorbei, Horchet an der Tür und horchet lange, Welch ein sonderbarer Ton es sei: Klag- und Wonnelaut Bräutigams und Braut Und des Liebestammelns Raserei. Unbeweglich bleibt sie an der Türe, Weil sie erst sich überzeugen muß, Und sie hört die höchsten Liebesschwüre, Lieb' und Schmeichelworte mit Verdruß- Still! der Hahn erwacht!- Aber morgen Nacht Bist du wieder da? - und Kuß auf Kuß. Länger hält die Mutter nicht das Zürnen, Öffnet das bekannte Schloß geschwind: Gibt es hier im Hause solche Dirnen, Die dem Fremden gleich zu Willen sind?- So zur Tür hinein. Bei der Lampe Schein Sieht sie - Gott! sie sieht ihr eigen Kind. Und der Jüngling will im ersten Schrecken Mit des Mädchens eignem Schleierflor, Mit dem Teppich die Geliebte decken; Doch sie windet gleich sich selbst hervor. Wie mit Geists Gewalt Hebet die Gestalt Lang und langsam sich im Bett empor. Mutter! Mutter! spricht sie hohle Worte, So mißgönnt ihr mir die schöne Nacht! Ihr vertreibt mich von dem warmen Orte, Bin ich zur Verzweiflung nur erwacht? Ist's Euch nicht genug, Daß ins Leichentuch, Daß Ihr früh mich in das Grab gebracht? Aber aus der schwerbedeckten Enge Treibet mich ein eigenes Gericht. Eurer Priester summende Gesänge Und ihr Segen haben kein Gewicht; Salz und Wasser kühlt Nicht, wo Jugend fühlt; Ach! die Erde kühlt die Liebe nicht. Dieser Jüngling war mir erst versprochen, Als noch Venus' heitrer Tempel stand. Mutter, habt Ihr doch das Wort gebrochen, Weil ein fremd, ein falsch Gelübd' Euch band! Doch kein Gott erhört, Wenn die Mutter schwört, Zu versagen ihrer Tochter Hand. Aus dem Grabe werd' ich ausgetrieben, Noch zu suchen das vermißte Gut, Noch den schon verlornen Mann zu lieben Und zu saugen seines Herzens Blut. Ist's um den geschehn, Muß nach andern gehn, Und das junge Volk erliegt der Wut. Schöner Jüngling! kannst nicht länger leben; Du versiechest nun an diesem Ort. Meine Kette hab' ich dir gegeben; Deine Locke nehm' ich mit mir fort. Sieh sie an genau! Morgen bist du grau, Und nur braun erscheinst du wieder dort. „1797“, las August das am unteren Rand vermerkte Datum. „Das ist eine Ballade meines Vaters.“ „Die er geschrieben hat, als er meinen Vater schon fünf Jahre kannte.“, ergänzte Karl. „Als er wusste, dass er ein Vampir ist. Hier ist der Beweis.“ August ließ die Schriftrolle sinken. „Aber…“, fing er an. „Wieso hat Vater nie etwas gesagt? Wieso sitzt er jetzt da unten, immer noch jedes Mal betrübt, wenn die Sprache auf Schillern fällt, obwohl er weiß, dass er noch irgendwo da draußen ist?“ Karl nahm das Papier wieder an sich und steckte es sich in die Innentasche seines Gehrocks. „Er weiß nicht nur, dass er irgendwo da draußen ist, sondern er weiß auch genau wo.“ „Wo er ist?!“, wiederholte August. Der Dunkelhaarige nickte. „In Korinth.“ Die erste Zeile der Ballade. Der Jüngling, der nach Korinth kommt. Das leuchtete dem Älteren ein. Als er zu Karl aufsah, ahnte er, was in dessen Kopf gerade vorging. „Karl, du willst doch nicht…? Das ist…“ „Doch“, meinte der Größere bestimmt. „Ich werde aufbrechen nach Korinth und beweisen, dass mein Vater kein Lügner ist. Und ihn zur Rede stellen, wieso er seine Familie verlassen hat.“ „Wir könnten auch einfach meinen Vater fragen.“, schlug August vor, so geradlinig, wie er immer dachte. Karl schüttelte den Kopf. „Er hätte uns auch gleich alles erzählen können, aber was hat er stattdessen gemacht? Mir als kleines Kind diese Ballade versteckt in einer Spielzeugguillotine geschenkt. Er darf oder will es mir also unter keinen Umständen persönlich sagen.“ August sah verblüfft zum anderen auf. „Er darf nicht?“ Karl antwortete nicht, sondern trat einen Schritt an seinen Freund heran. „Wirst du mich begleiten?“ „Nach Korinth?“ „Ja.“ August wusste nicht, was er darauf antworten sollte. „Karl, wir können doch nicht einfach…Wir haben hier Verpflichtungen…“ Der Schwarzhaarige lachte. „Dein Vater hat vor vielen Jahren auch einfach alles hingeschmissen und ist seine Italienreise angetreten.“ „Das ist doch etwas völlig anderes!“, widersprach August. „Ja, immerhin geht es hier um einen Vampir.“, entgegnete Karl. Der Ältere seufzte und raufte sich die Haare. „Ich werde gehen.“, sprach Karl weiter. „Auf jeden Fall. Und ich würde es nur allzu lieb begrüßen, wenn du mit mir kämest. Ich kenne dich jetzt schon so lange, seit meiner Geburt bist du für mich da gewesen. Darum verlange ich viel, ich weiß, wenn ich dich auch noch um so etwas bitte, August, aber…gerade das hier würde mir sehr viel bedeuten.“ Ehrlich sahen die blauen Augen in die braunen hinab. „Überleg es dir.“, meinte der Dunkelhaarige. „Du hast einen Tag. Ich werde morgen Abend um Neun bei euch hinterm Haus sein. Wenn du dich dazu entschließt, mit mir zu kommen, dann werde ich dich finden.“ Mit diesen Worten ließ er August in dessen Zimmer stehen, die Splitter der Guillotine überall auf dem Boden zerstreut, genauso wie dessen Gedanken. Kapitel 3: Erste Schritte auf dem Weg ------------------------------------- Die schwarze Nacht hatte sich über die Stadt gelegt, der Mond beschien schleierhaft die Straßen. Unten im Wohnzimmer saß August unruhig im Sessel. Er hatte auf dem Schreibtisch seines Vaters eine Notiz zurückgelassen. Nachdem er tausend Versuche gestartet, seine Gedanken in Worte zu fassen, und nur Romane zustande gebracht, hatte er sich dazu entschlossen, das Papier einfach mit den Worten „Suchen Schillern“ und seiner Unterschrift zu füllen. Derweil war Karl schon auf der Straße. Es brach ihm das Herz, seine Mutter zurückzulassen. Bei diesem Gedanken fasste er sich an sein Halstuch, unter dem er das Goldkettchen erfühlte, das sie ihm einst geschenkt hatte. Aber er hatte ja noch seinen jüngeren Bruder Ernst, in dessen Obhut er die Mutter gut behütet glaubte. Der Himmel war herrlich klar und Karls Augen hatten sich so gut an die Dunkelheit gewöhnt, dass er ohne Mühe durch die Gärten fand und fünf Minuten später als vereinbart endlich bei Goethes an den Fensterladen klopfte. Sofort war August an der Gartentür, auf dem Rücken einen Rucksack. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“, meinte er. „Ich halte meine Versprechen, keine Angst.“, sagte Karl. „Danke, dass du mich begleitest.“ Und sie machten sich auf den Weg. Es war klar, dass es nach Korinth ging – Karl hatte auch eine Karte aus dem reichhaltigen Bestand seines Vaters mitgenommen – aber wie sie dort hinkommen sollten, war noch ungeklärt. „Wo hast du deinen Proviant?“, hakte August nach der ersten Straßenecke nach. „Ich hab einen Beutel Geld dabei, das genügt mir.“, war Karl der Meinung und klopfte sich gegen die Brust, wo unter dem Mantel die Münzen klingelten. Der Ältere zog hierauf skeptisch seine Augenbrauen in die Höhe. Die Schillers hatten schon immer seltsame Ansichten gehabt. „Wir brauchen Pferde.“, gab der Dunkelhaarige als nächstes von sich. „Aha, eine neue Erkenntnis.“, stellte August fest. „Und du glaubst, um diese Uhrzeit empfängt uns noch irgendwo ein Rosshändler?“ „Nein.“, antwortete Karl, lief aber unbeirrt weiter. August ließ den anderen machen. Als sie draußen vor der Stadt auf eine Koppel stießen, sah er jedoch erstaunt zum Größeren auf. „Du wusstest, dass hier Pferde sind?“ „Ja.“, antwortete Karl. „Woher?“ Der Dunkelhaarige antwortete nicht, sondern sprang tatenfreudig über den Zaun. „Karl! Du willst doch nicht…!“ „Wir können dem Besitzer ja ein paar Münzen dalassen.“ „Karl!“ „Pscht!“, zischte der Jüngere und legte sich einen Finger auf die Lippen. „Wir müssen leise sein, sonst verschrecken wir die Pferde.“ August rang mit sich, aber Karl sah ihn durch den Zaun an, mit seinen blauen Augen, die im Licht des Mondes glänzten, und wirkte wieder so wie damals vor vier Jahren, als er nicht glauben wollte, dass sein Vater ein Lügner war. „Nun gut.“, seufzte der Ältere und folgte seinem Freund etwas umständlich und weniger leichtfüßig hinein in die Koppel. „Such dir ein starkes Ross aus“, zischte ihm Karl zu. „Schließlich müssen sie uns weit tragen.“ „Wollen wir nicht gleich ein geflügeltes nehmen?“, fragte August, weniger ernst gemeint. Karl lachte leise, sodass eines der Pferde nervös den Hals drehte. „Vielleicht finden wir ja eines, schließlich gibt es auch Vampire.“ Die Sonne wagte sich so langsam hinter den Bäumen hervor, als die beiden Reisenden an die Grenze nach Bayern kamen. Still, da wohl beide etwas müde, waren sie nebeneinander her geritten und so führten sie nach dem unkomplizierten Grenzübergang ihren Weg auch fort. Der erste, der sich zu Wort meldete, war Karls Magen. „Hunger…“, gab der Dunkelhaarige von sich. August grinste gehässig. „Dann iss doch dein Geld.“, schlug er vor. Karl äußerte sich nicht dazu. Ein paar Meter weiter an der nächsten Weggabelung hielt August sein Pferd an und zog den Rucksack vom Rücken. Er nahm ein Laib Brot heraus und reichte es seinem Freund. Auf Karls Gesicht legte sich ein Lächeln, als er es entgegennahm. „Danke“, sagte er, „Ohne dich wäre ich verloren.“ August schwieg hierauf nur und bewegte sein Pferd zum Weiterlaufen. Karl musste grinsen, die Backen voller Brot: Wenn jemand behauptete, er würde nach seinem Vater kommen, so traf das auf August aber ebenso zu. Nach einer weiteren halben Stunde hatte sich der Ältere ebenfalls ein karges Frühstück, das er auf dem Rücken seines Pferdes zu sich nehmen konnte, gegönnt, und nun wurden beide etwas redseliger. Schließlich forderte August Karl auf, die Karte hervorzuholen, damit sie eine Route festlegen konnten. „Gib mir deine Zügel.“, ergänzte er, und Karl reichte sie ihm, sodass er die Karte zücken und auffalten konnte, ohne dass sie anhalten mussten. „Korinth ist ziemlich weit weg.“, stellte der Jüngere fest. „Hast du irgendeinen Vorschlag?, schließlich bist du der Erfahrenere.“ August wandte seinen Blick nicht vom Weg ab, als er antwortete. „Wir sollten uns den langen Landweg ersparen und in Bonapartes Gebiet bleiben, damit wir nicht über den Balkan müssen.“ „Ah“, machte Karl, „Das hört sich gut an. Dann reisen wir also per Schiff?“ „Das wäre das Beste, ja.“, meinte August mit einem Nicken. „Korinth ist eine Hafenstadt. Da bietet es sich an, von Venedig aus überzusetzen.“ „Venedig!“, rief Karl begeistert. „Diese bezaubernde, von der Muse geküsste, architektonisch eindrucksvolle Stadt! Ich wollte schon immer einmal nach Venedig!“ „Das bedeutet aber, dass wir über die Alpen müssen.“, gab August zu bedenken, womit er jedoch die Euphorie des anderen nicht bremsen konnte. „Also durch Bayern nach Tirol und Venetien, und schließlich in die Stadt meiner Träume!“ „Wir sollten bald einen Ort zum Einkehren finden.“, merkte August an. „Unsere Pferde brauchen eine Pause.“ Nach einer halben Stunde erschienen endlich die ersten Häuser eines oberbayrischen Dorfes. „Dort vorne ist eine Gaststätte.“, erkannte August. „Binden wir die Pferde vor der Tür unterm Dach an.“ „Besser nicht.“, widersprach Karl. „Fragen wir den Wirt nach einem Stall.“ „Wieso das?“, wollte sein Freund wissen. „Wir haben doch nicht etwa vor, länger zu bleiben?“ „Nein“, antwortete der Jüngere und blickte sich unauffällig um. „Aber ich hab das Gefühl, dass wir verfolgt werden.“ Jetzt sah sich August ebenfalls um. „Verfolgt? Ich sehe niemanden, habe den ganzen Weg über keine Menschenseele bemerkt.“ Karl sprang vom Pferd, als sie vor dem Gasthaus ankamen. „Ich weiß auch nicht, aber sicher ist sicher.“, meinte er. „Hebst du die Zügel, während ich mit dem Wirt verhandle?“ Entgegen Karls ständigem Gefühl, dass sie verfolgt würden, blieb es in der Gaststätte ruhig, und auch wer die Straße passierte, blieb nicht stehen, um sich etwa über zwei Reisende auf Pferden zu erkunden. Trotzdem verharrte Karl bis spät abends am Fenster der Kammer und sah unruhig hinab auf den Weg. Erst als August ihm androhte, er würde am nächsten Morgen alleine wieder heimwärts aufbrechen, kam der Dunkelhaarige zur Vernunft und legte sich in sein Bett. Als kurz vor den Alpen und nach weiteren Raststationen Karl jedoch immer noch von dem dubiosen Verfolger sprach, wurde es August zu viel. „Karl, wir werden nicht verfolgt! Wer sollte das auch tun?! Und überhaupt, wieso zeigt er sich nicht, dein Verfolger?!? Sei so gütig und verschone mich damit, das bildest du dir nur ein.“ Der Jüngere schnappte sich beleidigt die Zügel seines Pferdes. Sie wollten gerade das kleine Dorf, in dem ihre letzte Raststätte lag, verlassen. „Dann bleib hier.“ August sah den anderen verwirrt an. „Wir reiten beide dort in den Wald um die Biegung, und dann schleichst du dich wieder zurück. Du wirst sehen, dass ich Recht habe.“, meinte Karl und sah seinen Freund herausfordernd an. „Nun gut.“, stimmte August zu. „Wenn mir nichts anderes übrig bleibt, als dich endlich davon zu überzeugen, dass du dir da etwas zusammenspinnst.“ Und so stiegen sie, der Ältere mit seinem Rucksack auf, der langsam an Inhalt abgenommen hatte, auf ihre Pferde und ritten los. Die Straße im Wald machte besagte Biegung, die sie ganz durchritten. Nach fünf Minuten Weg hielt Karl sein Pferd an. „So“, sagte er und stieg ab. „Hier binde ich dein Pferd an den Baum.“ „Wie?“, hakte der andere nach. „Du bleibst nicht hier?“ „Nein, ich reite weiter. Wenn du dich überzeugt hast, dass morgenfrüh oder vielleicht noch heute Abend unser Verfolger im Gasthaus dort im Dorf ankommt, dann kannst du ja wieder nachkommen.“ August verdrehte die Augen. Schiller. Diese Idee konnte nur von einem Schiller kommen. Total aus dem Bauch heraus und ohne die Folgen zu bedenken. „Also?“, fragte Karl. „Gut.“, war alles, was August von sich gab, ehe er sich umkehrte und neben der Straße im Wald zurücklief. Der Dunkelhaarige sah ihm nach. Er biss sich auf die Unterlippe, hoffte, dass August so schnell wie möglich und heil wieder zurückkommen würde. Karl war bis an eine kleine Hütte in einer bereits hügeligen Landschaft gekommen, als er freudig von seinem Sitz der Reue und des schlechten Gewissens aufspringen und August um den Hals fallen konnte. Der Ältere war etwas überfordert mit dieser Begrüßung, und als Karl auch noch nach seiner Hand griff, seinen Redeschwall aus Selbstvorwürfen nicht unterbrechend, entzog er sich ihm schnell. „Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen, Karl, solange du mich fortan mit deinen Halluzinationen verschonst.“ Der Dunkelhaarige sah erstaunt zum anderen hinab. „Du bist auf keinen Verdächtigen gestoßen?“, fragte er ungläubig, doch der Ältere nickte. „Der einzige, über dessen Erscheinen im Dorf ich ein wenig erstaunt war, ist Iffland.“ „Iffland?!?“ Kapitel 4: Quod erat demonstrandum ---------------------------------- „Iffland?!?“, wiederholte Karl. „Der August Wilhelm Iffland, der Vaters Konkurrent am Theater in Mannheim war?!“ „Ja, wer denn sonst?“, antwortete August leicht genervt. „Weißt du, was…“, fing der Jüngere nervös an, „was er dort im Dorf wollte?“ August schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe – Nun, doch.“, fiel es ihm da wieder ein. „Ich habe lediglich gehört, dass er den Gastwirt gefragt hat, ob er etwas Silber im Haushalt habe. – Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wieso er ausgerechnet in diesem Bauerndorf seinen Bedarf an Silberwaren befriedigen sollte, aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass gerade Iffland hinter uns her ist?“ „Doch.“, gab Karl von sich, plötzlich schrecklich aufgewühlt. August nahm ihn vorsichtig am Arm. „Karl?“ Der Dunkelhaarige sprang aufs Pferd. „Komm, August! Wir müssen weiter!“ „Wa – Karl! Ich bestehe auf eine Erklärung!“ „Die bekommst du, wenn du mir folgst! Komm!“ So jagten sie beide ihre Pferde die Hügel hinauf, den Bergen entgegen. Karl hielt sein Versprechen und begann zu erklären. „Mein Vater hat mir von Iffland erzählt, aber schon als ich noch sehr jung war. Ich erinnere mich noch daran, dass er das Wort „Feinde“ benutzte und sagte, dass Iffland ihn bis vor die Stadtmauern Weimars verfolgt hätte.“ „Bis vor die…?“ „Natürlich dachte ich später bei mir, dass er ihn in geistigem Sinne verfolgt hatte, Vater diesen lästigen Menschen nicht aus seinen Gedanken vertreiben konnte – bis eben Goethe all jene beanspruchte – aber jetzt bin ich mir sicher: Iffland hat ihn wahrhaftig verfolgt.“ August zog sein Pferd hinter Karls um die Wegbiegung. „Wieso das denn?“ „Weil er ein Vampirjäger ist, deshalb auch das Silber für seine Pistolenkugeln!“ Verblüfft schwieg der Ältere, während sie über die Erde galoppierten. Erst als Karl sein Pferd langsamer laufen ließ, sprach er wieder. „Und wieso folgt er uns dann?“, konnte er sich nicht erklären. „Wieso wohl?“, antwortete der Dunkelhaarige. „Weil er glaubt – nein, weil er weiß, dass uns bekannt ist, wo sich mein Vater momentan aufhält.“ „Und wir führen ihn geradewegs zu ihm?“, konnte es August nicht fassen. „Nein.“, widersprach Karl. „Deshalb müssen wir uns bemühen, ihn abzuhängen.“ August nickte und betrachtete das Gebirge, das immer näher kam. „Das wird eine Herausforderung, wenn es über die Alpen geht.“ Die Jahreszeit neigte sich dem Sommer zu, und jeden Tag, an dem die beiden auf dem Rücken ihrer Pferde unzählige Höhenmeter hinauf und wieder abstiegen, wurde es wärmer. Karl zog sich das Tuch vom Hals und tupfte sich damit den Schweiß von der Stirn. „Dort unten ist eine Alm.“, sagte August, als wenn er ihn aufmuntern wollte, und lenkte sein schon erschöpftes Pferd auf den abfallenden Weg. Karl nickte nur. Die Alm war etwas abgelegen von der gewöhnlichen Route zum Passieren der Alpen und außer einem älteren Mann, der seine Schafe auf der Weide nebenan grasen ließ, bewohnte die Hütte niemand, weshalb die zwei Reisenden dort unterkommen konnten, wenn nötig auch auf längere Zeit, wie der Almwirt versicherte. Am Abend erhielten beide sogar eine kleine Käseplatte, die August nur unter angemessener Entschädigung in Form von einigen Münzen entgegennehmen wollte, welche der Almwirt mit aller Heftigkeit ablehnte. So ignorierte Karl die Verhandlungen der beiden Sturköpfe, während er schon mal den Käse kostete. Karl war eben erschöpft auf seinem Bett zusammengesunken, als August mit einem Bottich Wasser die Kammer unterm Dach betrat. „Aufstehen, Faulenzer! Erst wird sich gewaschen.“ Der Dunkelhaarige gab lediglich ein Schnauben von sich und rührte sich kaum. „Wenigstens das Gesicht und die Hände.“, beharrte August. „Das tut gut.“ Selbst hatte er schon seinen Gehrock ausgezogen und legte ihn auf dem Bett ab, bevor er sich sein Halstuch öffnete. Karl sprang auf und lief ans kleine Fenster. „Was ist?“, fragte der Ältere schmunzelnd. „Du glaubst doch nicht immer noch, dass wir verfolgt werden?“ Karl gab nur einen nicht genau definierbaren Laut zwischen „Ja“ und „Nein“ von sich. August ließ sich daran nicht weiter stören und öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes, um dann vor dem Bottich niederzuknien und sich eine Ladung Wasser ins Gesicht zu schmeißen. Als Karl sich wieder zu ihm umdrehte, rannen ihm die Tropfen den Hals hinab, bis er sie mit einem Handtuch auffing. „Na gut, na gut.“, murmelte der Dunkelhaarige und überschwemmte bald die halbe Kammer, als er sich das kalte Wasser ins Gesicht klatschte. Aber August hatte Recht: das tat gut. Kapitel 5: Wenn der Gipfel ahnen lässt -------------------------------------- Als die beiden am nächsten Tag aufwachten, war es schon längst Mittag und der Almwirt draußen bei seinen Schafen; er hatte ihnen unten auf dem Tisch ein bäuerlich karges, aber für seine Verhältnisse großzügiges Frühstück gerichtet. Nach dem Essen bestand Karl darauf, einen kleinen Spaziergang hinauf auf den hinter der Alm liegenden Gipfel zu machen. „So weit ist es nicht mehr bis oben.“, versprach er, und August musste schließlich nachgeben. Im Nachhinein war der Ältere sogar glücklich mit seiner Entscheidung: Die Natur, die sich ihm hier bot, faszinierte ihn: Die außergewöhnlichen Formen des Berges, einige höhere Gipfel in der Ferne sogar schneebedeckt, und Blumen, die nur hier wuchsen, von denen man im Tal nicht einmal träumen konnte. Da bemerkte August erst nach einiger Zeit Fußmarsch, dass Karl noch nichts gesprochen hatte, was für ihn ziemlich ungewöhnlich war. Das war nicht seine Art. Aber es war auch nicht Augusts Art, an solch einer Stelle nachzufragen. Also liefen sie schweigend nebeneinander, bald hintereinander her, als der Weg steiler und schmaler wurde. Endlich hatten sie das Gipfelkreuz erreicht. Die Aussicht von hier oben war atemberaubend. August wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der Stirn, der in der Sonne glitzerte, bevor er beide hochkrempelte. Er sah zu Karl, als er sich sein Tuch vom Hals zog. „Wer hätte gedacht, dass wir einmal in unserem Leben zusammen auf einem Gipfel der Alpen stehen und hinab ins Tal schauen würden.“, sagte er mit einem Lächeln. Karl blickte ihn an, schon die ganze Zeit, aber er erwiderte das Lächeln nicht. „Was ist?“, fragte August jetzt doch, etwas besorgt, und machte einen Schritt auf seinen Freund zu. Da regte sich der Dunkelhaarige endlich, indem er sich an den Hals griff. Dort unterm weißen Tuch erfühlte er die aus feinen, goldenen Gliedern geschmiedete Kette und holte sie hervor, um sie nachdenklich zu betrachten. „Was meinst du, wie es unseren Lieben in Weimar geht?“, fragte er. August war erleichtert, Karls seltsames Benehmen als Heimweh einordnen zu können, und antwortete: „Ich weiß es nicht, aber ich hoffe doch, es geht ihnen allen gut.“ Karl nickte. „Von wem ist die Kette?“, wollte der Ältere nun wissen. „Von meiner Mutter, aber eigentlich gehört sie schon lange mir.“ „Hmhm.“ Der Jüngere ließ die Kette wieder unter seinem Kragen verschwinden. „Sollten wir uns nicht langsam wieder an den Abstieg machen?“, erinnerte er. August nickte nur, bevor er dem anderen folgte. Gegen Abend waren sie beide zurück auf der Alm. Der Almwirt war immer noch nicht wieder zurück, aber August stellte die Vermutung an, er wäre hinunter in die nächste Stadt oder das Dorf, Nahrungsmittel kaufen, da sie, hauptsächlich Karl, ihm ja alles weggefuttert hätten. „Hab ich gar nicht.“, beschwerte sich der Dunkelhaarige gleich. August stand vom leeren Tisch auf. „Wo gehst du hin?“, fragte Karl. „Nach draußen, wir haben hier drinnen eh nichts zu tun. Außerdem sollen Sonnenuntergänge in den Bergen schön anzusehen sein.“ Karl musste sich überwinden, dem anderen nach draußen zu folgen. Wieso, das wusste er nicht. Er wusste nur, dass er gründlich verwirrt war. Auf einer Wiese, auf der normalerweise die Schafe grasten, ließ sich der Jüngere neben August nieder. Um ein Gespräch zu beginnen, bis die Sonne mit dem Gipfel kollidieren würde, fragte der: „Glaubst du, wir haben Iffland abgehängt?“ Karl rupfte einen Grashalm vom Boden und drehte ihn zwischen seinen Fingern. „Wohl nicht.“, antwortete er. August sah ihn verwundert an. August, der immer noch die Ärmel hochgekrempelt hatte, das Halstuch aus, das Hemd aufgeknöpft. Nun begann die Sonne sich hinterm Berg zu verstecken, funkelte nur noch auf beiden Seiten hervor. „Ist das nicht herrlich, Karl?“ Als der Jüngere nicht antwortete, drehte sich August zu ihm herum. Der Dunkelhaarige saß da und sah ihn an. „Karl?“ Karl antwortete nicht, ließ den Wind durch seine dunklen Locken streichen. August stutzte. „Karl, deine…“, fing er an, „Deine Augen…sie…sie glänzen…leuchten – nein. Sie schillern.“ Karl sprang auf, und August musste sich den Sonnenuntergang alleine ansehen. Voller Entsetzen stürzte Karl in die Hütte. Sein erster Gedanke war: er brauchte den Bottich kaltes Wasser! Dann fand er oben in ihrer Kammer noch ein Stückchen Brot, das er verschlang, obwohl er sich jetzt lieber mit einem Rotwein betrunken hätte. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Wieso er August…mit solchen Augen sah. Wieso er nachts wach lag, weil der andere so gut roch, wieso er tagsüber so nahe bei ihm sein wollte, wie nur möglich. Karl fuhr sich durch die Haare. Noch nie hatte er derartige Gefühle gehabt. Keinem Mädchen in Weimar gegenüber. Aber hatte er für August immer schon so empfunden? Es hatte angefangen mit der Reise, die sie zusammen angetreten hatten. Also nein? Vielleicht, kam Karl der Gedanke, vielleicht war dieses Gefühl doch schon immer da gewesen, nur jetzt, da sie beiden nur sich hatten, wurde es ihm klar. Wurde ihm klar, dass er… Karl wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er war nicht…er war nicht in… – es war doch Liebe, oder? Verzweifelt, wie er sich denn jetzt August gegenüber verhalten sollte, ließ sich der Dunkelhaarige aufs Bett sinken. Wie sehr er doch wünschte, sein Vater wäre noch da, mit dem er über seine Gefühle reden könnte, denn mit niemand anderem würde er es wagen, über solch ein schändliches Verlangen zu sprechen. Als August zurück in die Kammer kam, stellte sich Karl schlafend, doch auch am nächsten Morgen verhielt sich August völlig normal, was den anderen unbeschreiblich erleichterte. Erst als der Almwirt mit Eiern und frischem Brot von seinem Ausflug zurückkam und von einem seltsamen, schwarz gekleideten Mann sprach, der auf dem Pfad in der Nähe ritt, war die Ruhe vorbei. „Entschuldigen Sie uns vielmals, aber wir werden nicht am Frühstück teilnehmen können.“, meinte August, während Karl die Leiter hoch spurtete, um ihre Sachen aus der Kammer zu holen. „Wir bedanken uns aufrichtig und vielmals für Ihre vorbildliche Gastfreundschaft, mein Herr. Hier, nehmen Sie das als bescheidenen Dank.“ Karl kam zu spät zurück in den Raum, um Augusts letzten Satz zu verhindern, und so brach wieder eine Verhandlung der beiden aus, in der August darauf bestand, dass der Almwirt das gebotene Geld annahm, während der dies auf keinen Fall tun wollte. Schließlich nahm Karl dem Älteren die Münzen aus der Hand, legte sie einfach auf den Holztisch und zog ihn mit sich aus der Hütte. Schnell, bevor Iffland sie erreichte – oder der Mann ihnen das Geld hinterher tragen konnte – schwangen sie sich auf ihre Pferde und ritten davon, weiter gen Venedig. Kapitel 6: Stadt der Masken --------------------------- Venedig war nicht weniger beeindruckend, als Karl es sich ausgemalt hatte, vielmehr überstieg es seine Erwartungen. Irgendein Fest war im Gange und so liefen die Venezianer in farbenprächtigen Kostümen und Masken durch die Stadt, an jeder Straßenecke wurde etwas anderes geboten. Auf dem Markusplatz unter dem wunderschönen Glockenturm, dem Campanile, fand ein Marionettentheater statt, dort wurden dem Publikum wilde und exotische Tiere präsentiert, hier gab es eine Lotterie, ein paar Meter weiter Astrologen und Wahrsager. Die beiden waren so am Staunen, dass sie gar nicht bemerkten, wie sie selbst begafft wurden. Die Weimarer fielen auf, in ihrer schlichten, alltäglichen Kleidung, so ganz ohne Maske und Maskerade. Karl entdeckte mit Schrecken, dass auch Kämpfe zwischen Tieren bei den Feiernden beliebt waren, und er presste sich eine Hand auf den Mund, als Bärenblut auf das Pflaster tropfte. „Ekel erregend.“, stimmte ihm August zu und sie liefen schneller. Erst als sie den großen Platz verließen, bemerkten sie die Blicke der Leute. „Karl, die Menschen schielen uns hinterher. Es ist nicht gut, wenn wir so sehr auffallen. Wir sollten– “ Plötzlich wurden sie beide von hinten im Nacken gepackt und in eine Seitengasse gezogen. Völlig unvorbereitet auf eine solche Situation wussten sie im ersten Moment gar nicht, wie sie Widerstand leisten sollten, und fanden sich nach einigem unnachgiebigem Zerren schneller als sie schauen konnten in einem der schmalen Häuser wieder, einem maskierten Mann gegenüber. Der Fremde trug ein schwarzes Kostüm mit weißen Rüschen, einen federnen Hut, und als er die weiße Maske abnahm, traten Karl und August einen Schritt zurück. Voller Überraschung starrten sie den Mann an. „Herr von Humboldt!“ Alexander von Humboldt lächelte sie beide an. „August, Karl…! Ihr seid so erwachsen geworden. Es muss eine Ewigkeit her sein, dass ich euch das letzte Mal sah.“ „Und da haben Sie uns gleich erkannt?“, wollte Karl wissen. Humboldts Miene wurde wieder ernst. „Nun, ihr seid der ganzen Stadt aufgefallen, so wie ihr herumlauft. Es ist bald Pfingsten. Das Maskenfest dauert eine Woche. Wusstet ihr das nicht?“ Während Karl den Kopf schüttelte, legte sich August eine Hand an die Stirn. „Natürlich weiß ich das.“, stöhnte er, „Aber wir hatten bei unserer Anreise andere Sorgen, da ist es mir entfallen.“ „So?“, fragte Humboldt, aber er unterbrach sich selbst, indem er die Hände hob. „Nein, Moment, am besten ich suche euch erst einmal etwas Passendes zum Anziehen heraus, bevor wir reden. Nehmt doch Platz.“ Er wies die beiden an, sich auf das Sofa vor dem unbenutzten Kamin zu setzen, dann verließ er den Raum, um wenig später mit Kleidern bepackt wieder zurückzukehren. „Hier.“, sagte er und reichte Karl den schwarzen Stoff, August erhielt etwas in Samtgrün. „Ich bin auf der Durchreise.“, fing Humboldt schließlich zu berichten an, „Mein Schiff liegt im Hafen. Aber sagt, was macht ihr zwei in Venedig? Ohne Goethe?“ „Wir sind auf der Suche nach meinem Vater.“, antwortete Karl, während er sein Kostüm inspizierte. „Deinem Vater?“, wiederholte Humboldt etwas skeptisch, „Dann…dann war er es doch, den ich hier in der Stadt an der Stimme geglaubt habe zu erkennen?“ „Sie haben…?!“, kam es überrascht von Karl, „Sehr gut, er war also wirklich hier! Wann haben Sie ihn gesehen?“ „Gehört, Karl, gehört.“, lenkte Humboldt ein. „Das…das muss vorgestern gewesen sein.“ „War er alleine?“ „Nein, er…er unterhielt sich mit einem anderen Mann, etwas kleiner als er. Man erkennt mit den Masken ja niemanden. Aber…“ Humboldt schüttelte den Kopf. „Er lebt?“ „Ja…“, fing Karl an. „Gewissermaßen“, ergänzte August, schon seinen Gehrock ablegend. „Sagen Sie…“, fing der Dunkelhaarige wieder an, bevor Humboldt weitere Fragen stellen konnte, „Könnten Sie uns eventuell nach Korinth bringen? – Wenn es ein allzu großer Umweg wäre, dann– “ „Nein, nein“, lachte Humboldt, „Für die Söhne guter Freunde mache ich das doch gerne. Meine Route geht nach Asien, da wird es nicht zu viel Zeit kosten, auf dem Weg um die Peloponnes hinein bis zum Golf von Korinth zu segeln.“ „Vielen Dank!“, rief Karl begeistert, „Und auch vielen Dank dafür, dass Sie uns mit dieser Maskerade versorgt haben. Wir wären wahrhaftig nur unnötig aufgefallen.“ Humboldt lachte nur. „Dankt mir nicht zu viel und probiert die Sachen erst einmal an. Ich hoffe doch, sie passen euch.“ Karl nickte und zog nun ebenfalls seinen Gehrock aus, während August seine Weste aufknöpfte. Humboldt verließ stillschweigend den Raum. Da fiel Karl ein, warum er dies tat – sein Vater hatte einmal, was Humboldt betraf, etwas in diese Richtung angedeutet – und ihm wurde seine eigene Schwäche wieder allzu deutlich, die er vor einigen Tagen auf der Alm entdeckt hatte. So drehte er sich beschämt von August weg und konzentrierte sich auf sein Kostüm. „Wunderbar!“, war Humboldts Kommentar, als er wieder ins Zimmer zurückkam. Mit der weißen Maske, die August trug, dem gerüschten Hemd, der smaragdgrünen Hose und dem samtenen Gehrock, dessen Kragen mit weißgrünen Federn geschmückt war, hätte man unter der Maskerade auch Goethe persönlich erwarten können. Dank der weißen Handschuhe und des grünen Stoffs, der auch Hals und Hinterkopf bedeckt hielt, war keine Stelle nackte Haut mehr frei geblieben. Ein passender Hut rundete die Sache ab. Karl trug über Hose und Weste einen langen, schwarzen Mantel mit goldenem Stoff verziert, eine ebenfalls goldene Halbgesichtsmaske und einen Bausch schwarzer Federn auf dem Kopf. „Nehmt die Masken ab und esst etwas.“, forderte sie Humboldt auf, als er einen Weißbrotkorb und einen mit Meeresfrüchten, Käse und Wurst gefüllten Teller auf dem kleinen Tisch abstellte. „Herr von Humboldt, wir wollen Ihnen wirklich nicht zur Last fallen.“, beschwerte sich August, doch der Hausherr winkte ab. „Das muss sowieso aufgebraucht werden, da wir morgen das Schiff besteigen wollen. Meine Mannschaft hat genug Proviant für die Reise besorgt.“ August nickte zögerlich, während Karl schon den ersten Bissen genommen hatte. Kapitel 7: Übersetzen --------------------- Am Morgen wurden Karl und August früh von Humboldt geweckt. Er trug schon sein Kostüm und schlug auch ihnen beiden vor, die Maskerade bis zum Besteigen des Schiffes überzuziehen. Nachdem alle Sachen gepackt waren, machte man sich auf den Weg zum Hafen. Während Karl es bereute, schon wieder von seiner Stadt der Träume scheiden zu müssen, ohne auch nur einmal auf den Kanälen mit den Gondeln gefahren zu sein, fühlte sich August reichlich seltsam in seinem Kostüm, doch so fielen sie wirklich nicht mehr in der Menge auf und es sah ihnen keiner hinterher. Mindestens über vier Brücken liefen die drei Reisenden, bis sie ihr Ziel erreichten. Hunderte kleine Boote lagen im Wasser, endlose Stege führten hinaus aufs Meer. Die Segel und Masten der großen Schiffe ragten beeindruckend in den Himmel. „Hier“, sagte Humboldt, „Das ist meines.“ August folgte ihm mit andächtigen Schritten, während seine Sinne gar nicht wussten, was sie zuerst aufnehmen und verarbeiten sollten. Dort saß einer der Seeleute auf der Reling, die Pfeife im Mund, er flocht irgendetwas aus Schnüren zusammen, hier seilte sich ein anderer vom großen Hauptmast ab, um den die Möwen kreisten, ein weiterer schrubbte das Deck oder holte die dicken Taue ein, da spielten sie Karten – und alle begrüßten sie ihren Schiffsherrn mit freudigen Gesichtern. „Herr von Humboldt!“ „Guten Morgen!“ „Geht es endlich wieder los?“ „Wir haben Sie schon vermisst. Das Schiff will weiter.“ Humboldt lief zu seinem Kapitän, Forscherkollegen, oder wer auch immer dieser Mann war, dass er ihn als einzigen mit einem Handschlag begrüßte, hinüber, da sah sich August nach Karl um. Und wie vom Blitz getroffen stellte er fest, dass er den Jüngeren hier auf dem Schiff nirgendwo auffinden konnte. Ohne Humboldt Bescheid zu geben, lief er wieder zurück zum Landesteg. Und es fiel ihm ein Stein vom Herzen: Da unten stand der Gesuchte. „Karl!“, rief er hinunter, bevor er die Holzplanke hinab stieg, „Karl, was machst du hier?! Wieso bist du uns nicht gefolgt?!?“ Während durch Augusts Maske gar keine Emotionen mehr abzulesen waren, sah man an Karls Mund, dass ihn etwas bedrückte. „Ich weiß nicht, ob wir…“, fing er unsicher an. „Ob wir was?“, fragte August nach. „Ob wir tatsächlich abreisen sollten.“ Jetzt war der Ältere endgültig verwirrt. „Wieso nicht?“ „Weil…weil ich glaube, dass Vater noch hier ist.“ „Was? Hier in Venedig?“ Karl nickte. „Ja. Kennst du dieses Gefühl nicht, das dir sagt, wenn du im Begriff bist, etwas Falsches zu tun? Ich bin mir sicher, Vater ist noch in der Stadt.“ August sah unter seiner Maske skeptisch drein. „Karl…es ist ziemlich riskant, bloß auf ein Gefühl zu bauen.“ „Aber ich fühle mich besser, wenn ich hier bleibe.“ Beide wurden sie von Humboldt aufgeschreckt, der nach ihnen rief und den Landesteg hinab gelaufen kam. „August. Karl. Was ist denn los? Wollten wir nicht so schnell wie möglich ablegen?“ „Wir…“, fing August an, „Wir wollen doch bleiben. Karl meint zu wissen, dass sein Vater noch in der Stadt ist. Ich bitte Sie um Vergebung, dass wir Ihnen erst solche Umstände machen und dann doch nicht mitkommen wollen.“ Humboldt schüttelte den Kopf. „Das ist schon in Ordnung. Ihr müsst wissen, was das Beste ist. Wenn ihr euch entschieden habt zu bleiben, dann bleibt. Aber mein Angebot, dass ich euch mitnehme, steht bis wir die Segel setzen.“ „Vielen Dank.“, entgegnete August. „Also“, fing Humboldt an und hob kurz seinen Hut, „Dann macht’s gut, ihr zwei. Passt auf euch auf.“ „Danke, das gilt auch für Sie.“ „Schönen Gruß an eure Väter.“ „Die Grüße werden wir ausrichten.“, versprach August. Als Humboldt zu Karl sah, der bis jetzt noch nichts gesprochen hatte, nahm dieser all seinen Mut zusammen. „Darf ich Sie zum Abschied noch um ein Wort unter vier Augen bitten?“, fragte er. Humboldt sah man die Überraschung ob seiner Maske nicht an, aber er nickte. „Selbstverständlich.“, sagte er und trat mit Karl einige Schritte zur Seite. „Nun?“ Karl legte seine Hände ineinander, um sie vom Zittern abzuhalten. „Ich stelle diese Fragen nicht, weil ich Sie in irgendeiner Weise beleidigen möchte, Herr von Humboldt, ich tue es, da ich mich gerade in einer Situation befinde, in der ich alleine nicht weiter weiß.“ Humboldt nahm seine Maske ab, damit Karl das Zutrauen in seinem Gesicht sehen konnte. Er war tatsächlich, wie der Jüngere wieder feststellte, ein sehr schöner Mann. „Ich hoffe, dass ich helfen kann.“, meinte er. „Das hoffe ich auch. Es geht um August und mich. Mich und meine Gefühle für ihn.“ Humboldts Lächeln wurde ein wenig breiter, was Karl nicht positiv oder negativ zu deuten wusste. „Nun, seinen Sie nicht böse auf ihn, aber mein Vater hat mir erzählt, dass Sie…“ „Dass ich mich mit solchen Gefühlen auskenne, ja.“ „Können Sie mir irgendeinen Rat geben? Ich bin mir nämlich ganz und gar nicht sicher.“ „Was fühlst du denn?“, fragte Humboldt. Karl musste sich erst die Worte zurechtlegen, bevor er antworten konnte. „Ich fühle Wärme. Und…und eine Anziehung, die von ihm ausgeht. Ich will ihm nahe sein.“ „Willst du ihn berühren?“ „Ja.“ „Wo?“ Karl schluckte. Seine Maske verdeckte die geröteten Wangen nur spärlich. „Ich…weiß nicht…“ Humboldt kam einen Schritt näher. „Würdest du mich küssen, wenn ich es dir erlaube?“ Karl wich erschrocken zurück. „Sie…Sie sind zwar ein wunderschöner Mann, Herr von Humboldt, aber…verzeihen Sie, nein.“ Der Ältere lachte. „Da gibt es nichts zu verzeihen, Karl. Aber wir haben deine Frage geklärt.“ „S-so?“ Humboldt nickte. „Deine Gefühle haben nichts mit einer Neigung zu Männern hin zu tun. Du fühlst es nur bei August, stimmt’s?“ „J-ja.“ „Siehst du. Das ist lediglich innige Freundschaft, die du für ihn empfindest. So eine Freundschaft, die auch eure Väter teilten – oder muss man nun wieder teilen sagen? Du bist jedenfalls dabei, erwachsen zu werden, Karl, da sind solche Unsicherheiten völlig normal.“ Der Dunkelhaarige nickte. Langsam legte sich ein erleichtertes Lächeln auf sein Gesicht. „Danke, Herr von Humboldt. Vielen Dank.“ „Nicht doch, Karl. Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen!“ Karl war August dankbar, dass er nicht nachfragte, was er mit Humboldt zu bereden gehabt hatte. Das war eben die gute Erziehung im Hause Goethe. „Und?“, fragte der Ältere stattdessen nach etwas anderem, „Was unternehmen wir jetzt?“ „Wir suchen meinen Vater.“ „Und wie stellst du dir das vor?“ Karl zuckte mit den Schultern, als sie durch die Straßen vom Hafen zurück in die Stadt liefen. Da fiel sein Blick auf den Kanal. „Wir könnten uns von einem Gondoliere durch die Gassen schiffen lassen.“, schlug er vor. August lachte. „Du willst doch bloß Gondel fahren.“ Karl blieb an einer Brücke stehen. „Und wenn schon, ich hab das Geld.“ Der Ältere hob einladend die Hände in Richtung der Treppen, die hinunter in den Kanal führten. „Danke.“, meinte Karl und lief voran. „Sieh das als Anzahlung.“, rief ihm August nach und folgte ihm. „Anzahlung?“, fragte der Dunkelhaarige. Sein Freund stellte sich neben ihn ans Ufer und hob seine Hand, um einen vorbeischippernden Gondoliere herbeizurufen. „Für morgen.“, antwortete er. Karls Mund formte daraufhin ein breites Grinsen. „Du hast es nicht vergessen?“ „Wie sollte ich so etwas vergessen.“, lachte August und half Karl in die Gondel. „Dann musst du dir für morgen aber noch was anderes einfallen lassen.“, meinte der Jüngere, „Sonst hab ich ja mein Geburtstagsgeschenk selbst bezahlt.“ „Mach dir da mal keine Sorgen.“ So fuhren sie beide durch die Stadt. Karl staunte nicht schlecht über die vielen Facetten Venedigs, die noch unentdeckt für ihn waren. Eine wunderschöne Fahrt, aber seinen Vater fanden sie nicht. „Wie auch, wenn alle Masken tragen?“, seufzte August. „Ich hätte ihn erkannt.“, meinte aber Karl, „Er ist mein Vater. Ich erkenne ihn auch mit Maske.“ Der Ältere entgegnete darauf nichts mehr, sondern stieg ans Ufer, nicht ohne sich auf Italienisch beim Gondoliere für die Fahrt zu bedanken, die Karl soeben bezahlte. „Meinst du, Herr von Humboldt hat was dagegen, wenn wir seine Wohnung so lange benutzen, wie wir hier in der Stadt sind?“, fragte August. Da hielt ihm Karl breit grinsend einen Schlüssel entgegen. „Schau an, was der liebe Humboldt mir überlassen hat.“ Unter seiner Maske zog der Ältere eine Augenbraue in die Höhe, bevor er dem anderen schmunzelnd zu ihrem neuen Quartier folgte. Kapitel 8: Was unter der Maske schlummert ----------------------------------------- Als Karl am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich im ersten Moment so richtig wie ein Geburtstagskind. Normalerweise, wenn er früher immer gefragt worden war, wie er sich denn nun mit einem Lebensjahr mehr fühle, hatte er nie richtig irgendeine Veränderung feststellen können. Aber heute…Heute fühlte er sich anders, so seltsam, wie er sich schon die letzten Wochen zeitweise gefühlt hatte. Ihm war zumute, wie ihm in den Situationen zumute gewesen war, in denen er August mit anderen Augen gesehen hatte. So überkam den Dunkelhaarigen eine Welle heißkalter Schübe, als er gleich beim Aufwachen seinen Freund auf dem Bettrand neben sich vorfand. August hatte gestern Abend darauf bestanden, derjenige zu sein, der auf dem Sofa schlief, da Karl heute ja Geburtstag hatte, und nun saß er doch hier bei ihm, in den Händen einen Teller mit den indischen Keksen, die Humboldt ihnen gestern zum Nachtisch angeboten hatte. „Alles erdenklich Gute zu deinem Geburtstag, Karl. Mögen dir noch unzählige Jahre geschenkt sein, die wir zusammen verbringen können.“ Dem Jüngeren wurde ganz schummrig, als er in Augusts strahlend braune Augen sah, die Maske hatte er abgelegt. „D…das…Danke!“ Karl konnte nicht anders; er fiel seinem Freund um den Hals, die Kekse purzelten vom Teller aufs Bett, aber er ließ den anderen nicht los und verfluchte Humboldt und seine Beschönigungen. – Das, was er hier fühlte, war mitnichten innige Freundschaft. August lachte, als ihn Karl endlich wieder losließ. „Ich glaube, das hat Vater mal erwähnt, dass ihr Schillers anhänglich seid.“ Der Dunkelhaarige hob die Kekse auf, um irgendwie von der Röte abzulenken, die ihm ins blasse Gesicht stieg. „Jetzt hast du mein schönes Kunstwerk ganz zerstört.“, redete August weiter, „Ich hab mit deinem Taschenmesser Zahlen in die Kekse eingeritzt und hatte sie zu einer Rechnung angeordnet.“ Karl besah sich einen Keks. „Ich weiß doch, dass Siebzehn herausgekommen wäre.“, meinte er. Als August ihn nur ansah, sprang er schnell aus dem Bett. „Suchen wir heute weiter?“ „Wir sollten uns heute erst einmal neue Vorräte in der Stadt zusammensuchen.“, schlug der Ältere vor, „Schließlich wollen wir uns wohl nicht ausschließlich von indischen Backwaren ernähren. Du hast doch noch Geld?“ „Ja, genug.“ „Sehr gut.“ Am Mittag saßen beide wieder in Humboldts Wohnung, aufgrund der größeren Bequemlichkeit auf dem Sofa, und nahmen ihr mühsam in der Stadt erbeutetes Mittagessen zu sich. Man sollte das Leben der Venezianer auch vormittags nicht unterschätzen: Die Straßen waren zu dieser Zeit schon voll, und es ging reichlich chaotisch zu. Sie hätten sich auch in eines der Straßencafés setzen können, oder in ein Wirtshaus, aber sie wollten so wenig wie möglich unter den Leuten bleiben, um nicht doch unangenehm aufzufallen. Karl betete, dass August nicht bemerkte, wie er von den Nudeln keinen Bissen herunterbekam – oder vielmehr, warum er sein Essen nicht wirklich anrührte. Es war besser geworden, als August, die Maske auf, draußen unter den Leuten einer von vielen war. Aber jetzt gab es wieder nur ihn, und Karl konnte seine Blicke nicht von ihm lassen. Der Dunkelhaarige bereute den Sicherheitsabstand, mit dem er sich neben den anderen aufs Sofa gesetzt hatte, viel lieber wäre es ihm jetzt, säße er ganz dicht bei August, könnte ihm durch die Haare fahren, ihn fest in den Arm nehmen und – „Karl?“ „Ah, ähm…!“ Völlig aufgeschreckt besann sich der Jüngere auf den Teller in seinen Händen, den er gerade bedrohlich schräg gehalten hatte. „Schmeckt’s dir nicht?“, fragte August, eher besorgt als misstrauisch über das Verhalten seines Freundes. „Doch, nein, also…“ „Was ist denn?“ „Ich… – ich hab an das Plakat gedacht, das du mir vorhin übersetzt hast.“, fiel Karl die erstbeste Ausrede ein. „Das Plakat über den Ball heute Abend im Dogenpalast?“, hakte August nach. Karl nickte eifrig. „Ich hab mir überlegt, ob wir da heute Abend nicht hingehen wollen. Vielleicht finden wir meinen Vater dort.“ Der Gedanke war ihm tatsächlich schon bei ihren Einkäufen gekommen, und er hatte auch kurzweilig über seinen eben gemachten Vorschlag nachgedacht. Bis ihn wieder andere Sachen, beginnend mit „A“, so fürchterlich abgelenkt hatten… „Von mir aus machen wir uns den Spaß.“, meinte August, „Ein Versuch ist es wert. Wenn er wirklich noch in der Stadt ist, dann wird er sich ein solches Ereignis wohl auch nicht entgehen lassen.“ Karl nickte, schon wieder ganz gefesselt von Augusts Blick. Oder war es seine Stimme? „Wir – “ Nervös sprang der Dunkelhaarige auf. So konnte es nicht weitergehen. „Wir könnten uns jetzt ja schon unters Volk mischen.“, schlug er vor, um so schnell wie möglich aus diesen vier Wänden zu kommen, die ihn immer näher auf den Älteren zu schoben. August stimmte zu, bestand aber seinerseits noch darauf, seine Portion Nudeln artig aufzuessen. „Es kostet Eintritt?“ „Natürlich kostet es Eintritt. Wir müssen uns Karten kaufen. Es kann ja nicht die ganze Stadt in den Dogenpalast stürmen.“, erklärte August, während er den italienischen Worten des Mannes am Eingang folgte. „Gib mir das Geld.“, forderte er Karl auf, „Ich zahle es dir, sobald wir in Weimar sind, zurück. Mein bescheidenes Geburtstagsgeschenk an dich.“ Der Dunkelhaarige ließ sich dieses Angebot nicht zweimal machen und reichte dem anderen freudig die benötigten Münzen. Als sie in ihren Kostümen durch die Vorhalle liefen, links und rechts Tische, an denen es Sekt gab, belegtes Weißbrot mit Lachs und Kaviar, geräucherter Schinken, frischer Käse, Weintrauben, Melone…, da bekamen sie die prunkvollsten der Kostüme zu sehen, die Perlen, das Beste vom Besten, nicht zu vergleichen mit dem bunten Treiben draußen auf den Straßen. Karl versuchte sich nichts anmerken zu lassen, als August vorschlug, sich hier eine der schönen Damen, die ohne Begleitung gekommen waren, für den Abend herauszusuchen. „Mach du mal, ich suche meinen Vater.“ August lief dem Größeren hinterher. „Aber Karl, das hält dich doch wohl nicht davon ab, ein junges Mädchen anzusprechen. Du bist heute siebzehn Jahr geworden, bist fast erwachsen. Außerdem, wenn wir in einer Unterredung mit so reizenden Damen sind oder mit ihnen tanzen, fallen wir doch viel weniger auf, meinst du nicht auch?“ Karl blieb vor der Tür zum Festsaal stehen. Er sah August nicht an und hoffte, dass seine Maske den Schmerz, den er im Herzen spürte, in seinem Gesicht verdecken würde. „Wenn du darauf bestehst.“, sagte er. Der Ältere wusste nicht so recht, was er mit dieser Aussage anfangen sollte, aber seine Reaktion blieb Karl durch die weiße Maske verborgen. So betraten sie gemeinsam den großen Saal. Geschmückte Paare drehten sich unter den glitzernden Kronleuchtern übers Parkett, vorne spielten zwei Quartette Streicher, eines in den Spiegeln der Wandvertäfelung. Rundherum im Raum standen Gruppen von Leuten, die angeregt oder seicht miteinander plauderten, einige waren auch auf die Balkone hinaus in die Nacht getreten, um hinter den Blättern exotischer Pflanzen ganz für sich zu sein. „Wenn du etwas trinken oder essen möchtest“, meinte August, „dann werde ich auch das bezahlen. Nur für deine Mädchen, die du einlädst, kommst du selbst auf.“ Karl glaubte ein Zwinkern unter Augusts Maske erkannt zu haben, bevor der voran lief und gleich auf eine Gruppe maskierter Frauen zusteuerte. Der Dunkelhaarige folgte ihm leicht missmutig. August hob seinen Hut zur Begrüßung und sprach die Damen auf Italienisch an. An dem Kichern, das folgte, war zu hören, dass es sich wirklich um junge Mädchen handelte und nicht etwa um alte Witwen, die sich hinter der bunten Maskerade versteckten. Karl hob ebenfalls kurz seinen federnen Hut und schenkte jeder der drei Frauen einen Blick. Das Mindeste, was er tun konnte. August legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Tja, wenn du deinen Vater findest, ist das das erste, was du machen kannst: Beschwer dich bei ihm, dass er dir Latein, Griechisch, Französisch und sogar Englisch hat beibringen lassen, aber kein Wort Italienisch.“ Karl verzog sein Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln. „Ich brauche kein Italienisch.“, meinte er und trat an eines der Mädchen heran. Er verbeugte sich vor ihr und bot ihr seinen Arm an. Kichernd nahm die Dame an, und Karl führte sie auf die Tanzfläche, nicht ohne August noch einen triumphalen Blick zuzuwerfen. Der lachte nur und wandte sich seinerseits an eine der Frauen. „Vuoi ballare, Signorina?“ Kapitel 9: Im Lichte des Mondes ------------------------------- Die Maske des Mädchens war golden und mit rotem Glitzer verziert, sodass es den Anschein hatte, sie würde die ganze Zeit über Blut weinen, während ihre Lippen aber ein echtes Lächeln formten. Karl wollte August schon danken, für diesen weisen Vorschlag, da ihn das Mädchen, das er in seinen Armen über die Tanzfläche führte, voll und ganz von seinen verwirrenden Gefühlen ablenkte, aber das war nur dem ersten Anschein nach so gewesen. Denn als es an seiner Tanzpartnerin und ihrem Kostüm nichts Neues mehr zu entdecken gab, fing der Dunkelhaarige an, sie mit August zu vergleichen, wieder an ihn zu denken. Er stellte sich vor, wie es wäre, hier jetzt ihn in den Armen zu halten und mit ihm übers Parkett zu gleiten. Ein weiteres Gefühl mischte sich zu dem bisherigen und zwang Karl sogar dazu, innezuhalten. Das italienische Mädchen sah ihn mit ihren weinenden Augen fragend an. Ein Unbehagen war es, das Karl in sich spürte, das seinen Magen verdrehte, der sowieso schon voll von Irrlichtern war, die nur um das Thema „August“ kreisten. Ein paar Meter weiter, auf dem Weg von der Tanzfläche hinunter, kam ihm endlich eben dieser zur Hilfe. „Sag ihr, ich brauch eine Pause.“, bat Karl seinen Freund. Unter Augusts Maske blitzte die Schadenfreude auf, da der Jüngere anscheinend doch nicht nur mit Gesten auskam, bevor er der Bitte folgte, und schließlich auch seine Tanzpartnerin vom Parkett führte. Als die vier vor dem Porträt einer der früheren Dogen ankamen, wo sie vorhin die Freundin der beiden Frauen zurückgelassen hatten, war diese dort nicht mehr aufzufinden. „Dove si è Lucia?“ „No so…“ August sah sich mit den besorgten Mädchen um, die nach ihrer Freundin fragten, als ihn Karl plötzlich am Arm packte, um Halt zu suchen. „August, ich glaub…ich…mir ist…er…“ Der Ältere kam nicht dazu, sich irgendeinen Reim aus dem Gestammel des anderen zu machen, außer dass es ihm sicherlich nicht gut ging, da stieß Karls Tanzpartnerin ein erleichtertes „Ah!“ aus: Sie hatte ihre Freundin auf der Tanzfläche entdeckt. „Lucia ha trovato un compagno di ballo!“ August zeigte an Karl gewandt hinüber zu dem Mädchen und dem Mann in schwarzem Umhang und silberner Maske, der sie in den Armen hielt. „Sie sagt, Lucia hätte nun auch einen Tanzpa– “ „Das ist Iffland.“ „Was?!?“ Entsetzt starrte August den Jüngeren an, der sich jetzt fast panisch im grünen Ärmel seines Kostüms festkrallte. „Das ist Iffland, ich weiß es!“, zischte Karl. „Lucia!“ Aufgeschreckt registrierte August, was seine Tanzpartnerin gerade im Begriff war zu tun. „Nein! No, Signorina! Non devi– !“ Doch da sah der Mann mit der Silbermaske, aufmerksam gemacht durch die freudigen Rufe der jungen Frau, schon zu ihnen herüber, und Karl war sich sicher, er hatte sie erkannt. „Ver– !“ Er nahm August am Arm und zog ihn durch die Menge. „Iffland?! Wieso ist er hier? Wie hat er uns gefunden?!?“ „Lauf, August!“ Mit wehendem Umhang folgte ihnen der maskierte Mann durch die kostümierten Leute, schob jeden grob zur Seite, der ihm im Weg stand. Karl duckte sich und zog seinen Federbusch vom Kopf, um unterzutauchen. „Gib her.“, meinte August, und schneller als der Dunkelhaarige schauen konnte, hatte sein Freund den Hut schon mit ein paar netten italienischen Worten einem anderen der Gäste aufgesetzt. „Raus auf den Balkon!“, zischte Karl und schob den anderen um die Ecke. So stolperten sie hinaus in die Nacht und drückten sich neben der Balkontür an die Steinwand. August sagte nichts, der Jüngere konnte nur sehen, wie sich unter dem grünen Samt seine Brust schnell hob und senkte. Auch Karl schwieg, er hätte keinen anständigen Satz zustande gebracht. In seinem Inneren spielte es verrückt, die Bedrohung durch Iffland schien sich in seinen Eingeweiden niederzuschlagen, aber anderswo war dieses Kribbeln; sein Körper verlangte nach August. Mehr von dieser Nähe, mehr von diesem Geruch… Abrupt wandte sich der Dunkelhaarige vom anderen ab. Wie in einem Rausch kam er sich vor, als er sich Halt suchend auf der Balustrade abstützte und hinab auf die Stadt blickte, die nur noch verschwommen vor ihm lag. August beobachtete seinen Freund besorgt, machte schließlich einen Schritt auf ihn zu. „Karl…?“ Der Jüngere zitterte, seine Atmung war unregelmäßig geworden. „Karl, du…du brauchst keine Angst zu haben. Iffland wird uns hier nichts antun können, und…und wir könnten ihm doch gar nicht verraten, wo dein Vater ist. Er wird ihn nicht finden.“ Voller Zutrauen kam August noch näher, legte dem Größeren einen Arm um den Körper – Da packte ihn Karl und drückte ihn gegen die Wand, und als er sein Gesicht in die Halsbeuge des Älteren presste, den Mund geöffnet, spürte er die langen Eckzähne in seinen Mundwinkeln, und wie ein Blitz schlug die Erkenntnis ein. Starr vor Schock verharrten beide, August mit dem Rücken an der Wand und seinen Händen in Karls Griff, Karl mit dem Mund über Augusts von grünem Samt bedeckter Halsschlagader. „A…August, i-ich…ich bin ein Vampir.“, keuchte Karl, „Iffland ist nicht hinter meinem Vater her, er – er will mich. …Und ich will…“ Da packte August den Dunkelhaarigen an den Schultern und zog ihn von sich, um ihm ins Gesicht zu sehen. Tatsächlich. Da war es wieder. Die goldene Maske verdeckte zwar die Hälfte Karls Gesichts, aber die blauen Augen stachen hervor, glitzerten im Mondschein von violett bis grün. „Deine Augen…sie schillern wieder…“ Da war von drinnen hinter den Palmenblättern plötzlich ein Fluchen in deutscher Sprache zu hören. „Iffland.“, erkannte August, plötzlich mit viel mehr Angst in seiner Stimme. Gerade als die schwarzen Schuhe hinter den Blättern erschienen, packte Karl den anderen ein weiteres Mal, nahm ihn in den Arm, und sprang mit einem Satz vom Balkon hinab in die schwarze Nacht. Kapitel 10: Der Sturm der Seele, der Drang nach Blut ---------------------------------------------------- August ließ sich aufs Sofa fallen. Er war am Ende, alles drehte sich. Karl, sein bester Freund, war ein Vampir. Genauso wie dessen Vater. Er hatte ihn vorhin beinahe gebissen, und eben waren sie vor einem Vampirjäger geflüchtet, quer durch Venedig, nachdem Karl mit ihm auf dem Arm aus vier Metern Höhe von einem Balkon gesprungen war. „Verdammt…verflucht noch eins!“, zischte Karl, seine Stimme bebte, er konnte nicht stillstehen. August war der erste von beiden, der sich wieder gefasst hatte, ganz wie es für einen Goethe typisch war: Die aufrührenden Gefühle und damit auch die Schwäche wurden einfach verdrängt, um sich voll und ganz aufs Sachliche zu konzentrieren. „Iffland ist seit Weimar hinter uns her, weil du ein Vampir bist.“ Karl fuhr sich übers Gesicht, nickte nur, während er das tausendste Mal vor der Küchentür kehrt machte, um wieder in die andere Richtung zu laufen. „Und du…du wolltest mich beißen.“ Wieder nur ein Nicken von Karl, der Augusts Blick auswich und unter seinen leisen Flüchen wieder an der Küchentür angekommen war. August legte sich zwei Finger an die Stirn und versuchte zu ignorieren, wie nervös Karl ihn mit seinem Rumgetrappel machte. Schließlich seufzte er und stand auf, um den Jüngeren zur Vernunft zu bringen. Doch der blieb sofort stehen und drehte sich hastig zu dem Älteren, der seine Maske abgenommen hatte, herum. „Bleib…bleib da, wo du bist!“ „Karl.“ „Bleib stehen, August.“ „Karl, du– “ „Du sollst dich von mir fernhalten, sage ich!“, schrie der Dunkelhaarige verzweifelt. Der Ältere hob abwehrend die Hände und nahm wortlos wieder auf dem Sofa Platz. Nervlich völlig am Ende sank Karl an der Wand auf den Fußboden hinab. „Entschuldige, August, aber…“ Er schüttelte den Kopf, „Ich hätte es wissen müssen. Schon in Weimar hätte ich darauf kommen können. Ich wusste, dass da eine Koppel Pferde vor unserer Stadt ist, genauso wie ich wusste, dass Iffland uns verfolgt hat. Aber wie…wie hätte ich mir erklären sollen, dass ich die Pferde gerochen und Iffland gespürt habe?!“ „Und deinen Vater?“ Karl sah auf. August hatte seinen Platz nicht verlassen. „Ja, meinen Vater habe ich auch gespürt.“ „Ist er immer noch in der Stadt?“, wollte der Ältere wissen. Da umspielte ein leicht verzweifeltes Lächeln Karls Lippen. „Du fragst, ob ich ihn irgendwie fühle, seine Anwesenheit?“ Der andere nickte. „August. Alles, was ich zurzeit spüre und was mir durch Kopf und Herz geht, bist du.“ Bevor sein verblüffter Freund auf dieses Geständnis hin irgendetwas antworten konnte, schlug Karl die Arme über seinem Kopf übereinander. „Wie hat Vater das nur ausgehalten?!“, rief er, „Wie konnte er durch Weimar, durchs Leben schreiten, ohne je irgendeinen Mitbürger anzufallen?!? Die ganzen Jahre über in Jena, in Weimar…! Nie gab es einen Aufruhr, nie eine Leiche! Und ich bin seit heute ein richtiger Vampir und hätte dich beinahe…!“ August betrachtete sorgevoll das Häufchen Elend, das in der entferntesten Ecke ihm gegenüber im Raum saß und ihm verboten hatte, sich zu nähern. „Vielleicht hat er sich von Tierblut ernährt.“, vermutete der Ältere schließlich. Da schnellte Karls Kopf in die Höhe. Seine Augen schillerten. „Ich gehe mir was suchen.“, beschloss er und sprang auf. „Was…?! Nein!“, war August dagegen und sprang ebenfalls auf, „Karl, warte! Du kannst da jetzt nicht raus! Iffland ist– “ „Wenn ich nicht gehe, August, töte ich dich!“ Und bevor er seinen Freund irgendwie davon abhalten konnte, war der aus dem Fenster gesprungen. August fragte sich im Stillen, ob es für Vampire üblich war, nicht mehr die Tür zu benutzen. Als Karl Humboldts Wohnung und August zurückgelassen hatte, war es schon tiefe Nacht gewesen. Jetzt wurde es hinter den Gardinen schon langsam hell, aber der Ältere war immer noch wach, lag auf dem Bett und wartete. Er war müde, ja, sehr müde, aber er konnte nicht schlafen. Nicht wenn Karl da draußen war, in einer Stadt, in der ein Vampirjäger umherging, der anscheinend so schlau oder übersinnlich begabt war, dass er ihnen von Weimar nach Venedig hatte folgen können. August saß senkrecht im Bett, als vor der Gardine ein Schatten erschien. Sekunden später purzelte Karl ins Zimmer. Hustend lag er auf dem Boden, Krämpfe schienen seinen Körper in der Gewalt zu haben. „Karl! Karl, was ist los?!?“, rief August besorgt und sprang aus dem Bett. Als er bei dem Dunkelhaarigen ankam, hatte der sich übergeben. Zitternd versuchte sich Karl aufzurichten, Blut lief ihm das Kinn herab. „Das…es war…scheußlich.“ August eilte, einen nassen Lappen holen, um damit seinem Freund das Gesicht abzuwischen. „Du bist blasser als sonst.“, stellte er besorgt fest. Karl antwortete nichts, stattdessen ließ er sich von dem Älteren aufs Bett bringen. Der fragte nicht, was passiert war, er wartete, bis der andere von selbst sprach. Das tat Karl, nachdem er seine Augen geschlossen hatte. „Ich hab ein Pferd gefunden. Hab es gebissen und getrunken. Das Gefühl, das man als Bluthunger bezeichnen könnte, ist verschwunden, aber es hat scheußlich geschmeckt. Und ich fühle mich elend. Krank.“ „Ich kann mir vorstellen, dass du dich erst daran gewöhnen musst.“, meinte August. Karl öffnete seine blauen Augen. „Nein, Tierblut ist nichts für Vampire.“, meinte er matt, „Nicht wirklich. Ich weiß es irgendwie.“ „Hm“, gab August von sich. Er saß auf der Bettkante und sah aus dem Fenster, wo es immer heller wurde. „Ob dein Vater deswegen so krank war? An Schwindsucht ist er nun jedenfalls ja nicht gestorben.“ „Möglich.“, gab der Dunkelhaarige von sich und schloss wieder seine Augen. Er war müde. „Ich mach deine Sauerei weg und dann geh ich uns was zum Frühstücken kaufen.“, beschloss August, obwohl er selbst nicht wirklich ausgeschlafen war, aber er hatte Hunger. Karl hörte, wie August den Boden aufputzte, Maske und Hut vom Nachttisch nahm und den Raum verließ, dann glitt er in einen erholsamen Schlaf, den er sich nach den Aufregungen und plötzlichen Veränderungen in seinem Leben redlich verdient hatte. Durch eine zufallende Tür wurde er eine Weile später unsanft aus seinem Schlummer gerissen. Seine reflexartig aufgekommene Besorgnis verging, als er August erblickte, und kam sofort wieder zurück, als der die Einkäufe in die Ecke pfefferte und seine Maske abnahm: Dem Älteren stand die Wut ins Gesicht geschrieben. „Karl, wie kannst du mich nur derartig belügen?!“ Der Dunkelhaarige starrte den anderen verwirrt an. „In der ganzen Stadt erzählen sie davon!“, rief August und riss Karl aus dem Bett. „Ein junges Mädchen, unten an der Brücke! Was glaubst du, was du da getan hast?!? Der Hals aufgeschlitzt – natürlich verbreiten sich die Vampirgerüchte wie ein Lauffeuer! Und du Lügner erzählst mir was von Pferdeblut!“ „Du hitziger…!“ Karl stieß den Älteren von sich. „August! Ich würde so etwas niemals tun! Weder einen Menschen töten, noch dich belügen! Lass diese voreiligen Schlüsse!“ Vor Aufregung heftig atmend hielt August inne. „Dann…“, fing er wieder an, „Dann war es dein Vater!“ Der Ältere flog mit dem Rücken an die Wand, als Karl ihm mit der flachen Hand auf die Wange schlug. „Halt den Mund, Goethe! Wie kannst du so etwas von meinem Vater denken! Er ist noch weniger als ich zu so etwas fähig!“ „Ja, ist das so?!?“, schrie August, „Er hat seine Familie verlassen und meinen Vater, der seit seinem vorgespielten Tod ein gebrochener Mann ist! Aber redet euch nur ein, ihr wärt die besten aller Menschen, ihr Schillers, denn das ist alles, was ihr könnt!“ Und mit einer Hand auf seiner schmerzenden Wange stürmte August hinaus auf die Straße. Kapitel 11: Freundschaft ist ---------------------------- August hatte den ganzen Tag über versucht, irgendwo ein Pferd aufzutreiben, da sie ihre, mit der Absicht per Schiff weiterzureisen, bei der Ankunft in Venedig verkauft hatten. Doch kein Gaul war irgendwo zu haben, alles war eingeplant und vergeben für den Festumzug zu Pfingsten. Kutschen gingen nur noch hinein in die Stadt. Ob dieser Aussichtslosigkeit auf eine baldige Heimkehr war August völlig verzweifelt, aber das Schlimmste war, dass ihn das schlechte Gewissen plagte. Er hätte Karl nicht sofort beschuldigen sollen. Vertraute er dem Jüngeren etwa nicht mehr? Aber diese ganze Vampir-Angelegenheit war in den letzten Tagen etwas zu viel für ihn geworden. Mit dem Glauben generell an so etwas hatte er keine Probleme – sein Vater war derjenige, der ein Buch über den Teufel geschrieben hatte. Was ihn nervlich mitnahm war vielmehr die Tatsache, dass Karl nicht wusste, wie ihm geschah. Der Jüngere war doch so überfordert mit seinem neuen Schicksal, dass er seinen besten Freund beinahe totgebissen hätte…! August blieb stehen und nahm seinen Hut kurz vom Kopf, um sich damit ein wenig Luft zuzufächeln. Wunderbar, jetzt hatte er sich auch noch verlaufen. Orientierungslos irrte er durch die dunklen Straßen Venedigs. Die Sonne war soeben untergegangen, und nur einzelne Laternen leuchteten seinen Weg. Als August glaubte, Schritte zu hören, drehte er sich um. Nichts. Die Gasse war menschenleer. Gefeiert wurde in einem anderen Stadtteil. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen lief er weiter. Eine schwarze Katze huschte von einem Häusereck zum nächsten – Und plötzlich schmiss sich eine Gestalt vom Dach und sprang auf ihn zu. August schrie auf, als ein maskierter Mann ihn an die Hauswand warf und seine spitzen Eckzähne bleckte. Er kniff seine Augen zusammen und dachte schon an das Schlimmste, da tat es einen Schlag. Der Angreifer war zu Boden gestürzt, Karl stand mit wehendem Umhang in der Straße. „A-alles in Ordnung, August?“, fragte er außer Atem. Der Ältere war nur dazu fähig zu nicken, bevor der fremde Maskierte wieder aufsprang. „Ha, sieh an! Ein Artgenosse!“, rief er mit einem breiten Grinsen auf dem halb verdeckten Gesicht, zu beider Erstaunen in Deutsch. Es war ein kleinerer, drahtiger Mann in geschmackvollem, aber nicht sehr extravagantem Kostüm. Er ließ seinen Blick zwischen Karl und August hin und her schweifen. „…Nun, dann werde ich mal wieder gehen.“ „Halt!“, hielt ihn Karl zurück, „Warst du es, der gestern Nacht ein unschuldiges Mädchen getötet hat?!?“ Angesprochener drehte sich wieder zu ihnen herum. „Was wird das?“, lachte er, „Willst du mir Vorwürfe machen? Du hast gut reden mit– “ Er brach plötzlich ab und sah beide noch einmal eindringlich an. „Ach, so ist das.“, stellte er schließlich erstaunt fest, „Ich spüre gar kein Bündnis. Ich kann…“ Er machte ein paar bedenkliche Schritte auf Karl zu. „Ich kann dich, so schutzlos wie du bist, ganz einfach außer Gefecht setzen, und dann hab ich deinen Freund einzig und allein für mich. Wie dumm von euch. Riechst du nicht, wie er duftet? Zum Anbeißen lecker…“ „Nein…!“, rief August. „Doch!“, rief der Angreifer und wollte sich auf Karl stürzen, da ertönte ein Schuss. „Drecksvampire!“ Der Fremde fauchte und stürmte auf Iffland zu, der am Ende der Gasse erschienen war. Bevor August mit dieser neuen Situation klarkommen konnte, hatte ihn Karl gepackt und sprang mit ihm im Arm hinauf aufs Dach. Völlig fertig und noch keineswegs sicher, dieser Gefahr entgangen zu sein, krallte sich der Ältere an seinem Freund fest und öffnete erst dann seine Augen wieder, als Karl ihn vor Humboldts Wohnung auf dem Erdboden absetzte. August wollte nicht, dass Karl den Anfang machte, wie er es nach einer Streitigkeit schon immer getan hatte, also versuchte er sich so schnell wie möglich zu fassen, um dem anderen zuvorzukommen. Er griff nach der kalten Hand seines Freundes, der bei ihm am Bettrand saß. „Karl, vergib mir. Könnte ich alles zurücknehmen, was ich Schlechtes und Falsches gesagt habe, so würde ich es tun.“ „Ich…“ Karl entzog sich seinem Griff, „Ich habe dir schon längst vergeben, August, und muss mich selbst bei dir entschuldigen. Ich hätte dich nicht schlagen…“ Der Dunkelhaarige fuhr sich übers Gesicht. „Es ist nicht böse gemeint, wenn ich jetzt aufstehe, aber…ich bekomme so langsam wieder Hunger…“, meinte er und lehnte sich an die Wand, einige Meter vom Bett entfernt. „Schon in Ordnung. Alles.“, versicherte August mit einem Lächeln. Karl steckte dieses Lächeln an. Seine Augen schillerten. Schnell brach er den Blickkontakt ab. „Hast du…“, fing er stattdessen an, „Hast du gehört, was der Fremde gesagt hat?“ „Was…was meinst du?“, fragte August und musste beschämt an die Worte über seinen angeblich ‚zum Anbeißen leckereren‘ Duft denken. „Er erwähnte ein Bündnis, das er nicht spüre…dass ich schutzlos sei…was meinte er damit?“, wollte Karl wissen. August überlegte. Schließlich fiel ihm der Zusammenhang ein, in dem sie das letzte Mal über ‚Schutz‘ gesprochen hatten. „Vielleicht meint er das, was dein Vater mit dem Schutz Weimars meinte, der ihn vor Iffland bewahrt hat.“ „Das könnte sein.“, stimmte ihm Karl nachdenklich zu, „Oder…“ Fragend sah der Ältere quer durchs Zimmer seinen Freund an. „Was?“ Karl winkte ab. „Nichts.“ „Doch, da ist was. Dir ist eine Idee gekommen. Teil sie mir mit.“ Unsicher sah der Dunkelhaarige auf. „Nun…ich dachte…vielleicht…dein Vater…vielleicht war er der Schutz, da beide dieses ‚Bündnis‘ eingegangen sind.“ „Ein Bündnis, wie aus Vaters Ballade?“, hakte August nach. „Nein. Doch, schon. So in etwa. Und möglicherweise…“ Der Ältere lächelte den anderen aufmunternd an. „Sprich weiter.“ Karl seufzte. „Es ist möglich…Vater hatte ja schon ewig diese Krankheitsanfälle, welche, wie ich vermute, daher rührten, dass er sich von Tierblut ernährte. In seiner Zeit in Weimar ging es ihm jedoch besser. Könnte dein Vater nicht…sein Blutspender gewesen sein…?“ August sah seinen Freund eine Weile an. Dann nickte er. „Ja, das hört sich plausibel an.“, stimmte er zu, „Das bedeutet, wenn ein Vampir einen Menschen beißt, ihn aber nicht tötet, entsteht ein Bündnis zwischen den beiden, womit der Vampir vor Feinden geschützt ist.“, schlussfolgerte er weiter. „Ja, ich…ich denke das ist korrekt.“, meinte Karl. August schlug die Bettdecke zurück und erhob sich. „Dann will ich dieses Bündnis mit dir eingehen.“ „W-was?!? – Nein!“, rief Karl und machte einen Satz zurück, „Das…das geht nicht…! Ich werde dich umbringen! Das Pferd – ich wollte es nicht töten, aber…ich konnte nicht aufhören, obwohl es so scheußlich war, und du bist…! Verstehst du?!“ August nickte zögerlich. „Ich verstehe.“, meinte er, war irgendwie erleichtert, dass er nun doch nicht seinen Hals hinhalten musste, obwohl er es jederzeit getan hätte. Immerhin war Karl sein bester und einziger Freund. Kapitel 12: Geisterstunde ------------------------- Am Abend saß August alleine auf dem Sofa. Karl war sozusagen ausgeflogen, nach seinem Abendessen suchen. Der Ältere schüttelte den Kopf. Immer noch fühlte er sich schuldig, da er Karl gestern Morgen doch tatsächlich als Mörder beschimpft hatte. Noch mehr bereute er die unschönen Dinge, die er über Schiller Senior gesagt hatte. Sein eigener Vater hätte ihm sicherlich den Kopf abgerissen, wäre er dabei gewesen. August drehte die weiße Maske in seinen Händen. Eines verstand er nicht. Wieso war Schiller aus Weimar geflüchtet? Wieso hatte er seinen Tod vorgetäuscht? Und das alles, obwohl Goethe ja Bescheid wusste. Schiller war doch in Weimar sicher gewesen, bei Goethe. Wieso war er also von dort fort gegangen?, nach Korinth aufgebrochen? August hätte gerne noch einmal einen Blick in Vaters Ballade geworfen, aber den Zettel hatte Karl. Er seufzte. Alles Überlegen, es half wohl nichts; sie mussten Karls Vater finden, das war der einzige Weg, die Wahrheit zu erfahren. Plötzlich krachte es im Flur, und Karl fiel mit der Tür ins Zimmer. „Wir müssen weg, August! Lauf! Iffland ist hinter mir her!“ „W– was?!?“, rief der Ältere entsetzt, doch da ertönte schon ein Schuss auf der Straße, der die Fensterscheibe zerspringen ließ. „Komm!“ Karl packte den anderen am Arm, der sich die Maske aufs Gesicht drückte. Unter Ifflands Fluchen ließ sich August von seinem Freund über die Dächer tragen, die Pistolenkugeln schlugen links und rechts in der schwarzen Nacht ein. „Verteufelt!“, zischte Karl und setzte den Älteren auf der Straße ab. So schnell sie ihre Füße tragen konnten, rannten sie die Gasse hinab. „Ich – ich hätte ihn nicht zu dir führen sollen…!“ „Red nicht, lauf!“, entging August Karls, seiner Meinung nach, unangebrachter Entschuldigung. „Da runter!“ Sie stolperten die Treppen zum Kanal hinab, krochen unter der Brücke hindurch, um auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern. „Hier rein!“ August schob den anderen durch eine offen stehende Tür und verriegelte sie hinter ihnen. Schnaufend sah sich Karl um. „Wir…wir sind in einem Theater?“ „Das Teatro La Fenice.“, bestätigte August und lief voran in den großen Saal. Gleich nach der ersten Sitzreihe ließ er sich außer Atem auf den Boden sinken. Karl konnte die gewaltige Größe des Saals mit Bühne, Orchestergraben und Logen gar nicht richtig genießen, so angespannt war er. „Wir sollten uns irgendetwas ausdenken. Wer weiß, wie schnell Iffland wieder unsere Fährte aufgenommen hat.“ Als er keine Zustimmung vom anderen hörte und sich herumdrehte, sah er, wie August sich die Maske abnahm. „Komm her.“ Verwirrt sah der Jüngere in die ausdrucksstarken, braunen Augen. „Komm her.“, wiederholte August seine Forderung, wobei er sich die weißen Samthandschuhe auszog. „Was…?“ Überfordert nahm Karl neben seinem Freund auf dem Boden Platz. „Hast du deinen Hunger stillen können, bevor Iffland dich gefunden hat?“ „Wie – ? Nein – was…?“ „Beiß mich.“ Entsetzt weiteten sich Karls blaue Augen. Grüne Punkte tauchten in seiner Iris auf. „August, ich sagte doch…!“, rief er, wollte aufspringen, um Abstand zu gewinnen, doch da packte ihn der Ältere am Arm und zog ihn zu sich. „August, ich kann nicht…!“ „Iffland tötet dich, wenn du es nicht tust, Karl!“ „Aber ich bring dich nicht um!“ „Du bringst mich ja auch sicher nicht um!“ Karl verkrampfte, als der andere ihm eine Hand an die Wange legte. Er fluchte innerlich, dass er sich von Iffland hatte erwischen lassen müssen, bevor er etwas gegen seinen Hunger unternommen hatte. Hilflos begann er zu zittern. Augusts Geruch…das war einfach nicht auszuhalten. „Lass mich los.“, keuchte er, die Augen fest zugekniffen. „Karl.“ „August…lass los…“ „Karl, sieh mich an!“ Widerwillig öffnete der Dunkelhaarige seine Augen. Sie schillerten dunkelblau. Türkis. Intensiv. „Es kann jede Sekunde zu spät sein! Beiß mich!“ Karl entriss sich Augusts Griff und warf sich nach hinten an die Sitzlehnen, wo er schnaufend sitzen blieb. Der andere war immer noch viel zu nah, aber einen Meter hatte er damit zwischen sie gebracht. Einen Meter, der ihm sagte, wie falsch das Ganze war. „August…ich kann wirklich nicht…“, brachte er heraus, eine zitternde Hand an seiner Stirn. Da schmiss August seine Maske weg und riss sich das Tuch vom Hals, die oberen Knöpfe seines Hemdes auf. „Hier“, sagte er, und Karls Augen betrachteten wie hypnotisiert die nackte Haut, wie sie zart das Schlüsselbein bedeckte und so wunderschön weich aussah. Ihm war fast, als könnte er das Blut in der Halsschlagader pochen hören. „A– “ Karls Stimme versagte, der Rausch hatte ihn gepackt, Augusts Geruch war überall, und seine Worte – „Ich vertrau dir, Karl. Tu es. Bitte. Ich bitte dich darum.“ Wie in einem Traum kam er dem anderen näher, legte seine zittrigen Finger an dessen Brust. August neigte seinen Kopf zur Seite, ließ den Dunkelhaarigen das Gesicht in seine Halsbeuge senken. Der Ältere unterdrückte einen Schrei, als sich die spitzen Eckzähne in seine Haut bohrten, er griff nach Karls Hand an seiner Brust. Sein Hals brannte, auch als der andere nun zu saugen begann. Der fremde Vampir von der Straße hatte August mit ‚zum Anbeißen lecker‘ nicht annähernd richtig beschrieben. Alles in Karl verlangte nach mehr von dieser Süße, von diesem betörenden Geruch und unwiderstehlichen Geschmack. So sehr er auch nach mehr lechzte, seine Zähne noch tausendmal in dieses sündhaft reizende Fleisch bohren könnte, war ihm stets bewusst, dass das August war, sein bester Freund, und er rang mit sich, brachte all seine Willensstärke auf und riss sich vom Älteren los. Es war Instinkt, dass Karl noch einmal über die blutende Wunde leckte, die sich daraufhin bis auf zwei gerötete Punkte schloss. Als er dem Älteren wieder ins Gesicht blickte, wurde er von einem Lächeln überrascht. Es war ein müdes Lächeln, aber es war ehrlich, und August beugte sich nach vorne, um dem Dunkelhaarigen das Blut von Kinn und Lippen zu küssen. Immer noch mit zittrigen Fingern fasste sich Karl an den Hals, um seine Kette auszuziehen und sie August umzulegen. Danach nahm er sein Taschenmesser hervor und schnitt dem anderen eine Locke vom Haupt, die er zum Balladenzettel in seine Tasche steckte. Aus irgendeinem Grund erschöpft ließ sich Karl neben seinen Freund sinken und legte seine Arme um ihn. „Geht…geht es dir gut?“ Der Ältere hatte die Augen geschlossen und seinen Kopf an die Stuhlreihe hinter ihnen gelehnt. „Ja. Könnte mir nicht besser gehen.“ Karl lächelte zufrieden und schmiegte seine Wange an die Schulter des anderen. „Ich danke dir, August. Für alles danke ich dir.“ Als er selbst die Augen schloss, spürte er, wie ihm der Ältere mit einer Hand in die Haare fuhr. „Kannst du dir vorstellen, Karl, wie sich ein kleiner Junge fühlt, der stets mit seiner Mutter hinter Schloss und Riegel gehalten wird, weil er ‚unehrlich‘ ist, eine Schande für die Gesellschaft, wenn eines Tages der Vater sagt: ‚Komm, August, wir gehen einen Freund besuchen.’? Es war der schönste Tag in meinem Leben, als wir in Jena ankamen und mich deine großen blauen Augen so zutraulich angeblickt haben. Endlich war da jemand, mit dem ich spielen konnte, jemand, der nicht vor mir weglief.“ Wie um wirklich sicher zu gehen, den anderen bei sich zu haben, nahm August die Hand des Jüngeren, bevor er weiter sprach. „Die vier Lebensjahre, die zwischen uns liegen, haben mich immer Verantwortung für dich fühlen lassen. Ich sah es als meine Aufgabe, Vater daran zu erinnern, dass er dir auch ja etwas zum Spielen mitbrachte, wenn er zu Besuch nach Jena kam.“ Karl lachte leise. „Er hat dich gelegentlich mitgebracht. Das war alles, was ich brauchte.“ August ließ seine Hand aus Karls Haaren auf dessen Bauch wandern. „Was macht der Magen? War ich bekömmlicher als das Pferd?“ Der Dunkelhaarige rückte noch näher, um seinen Kopf in die Halsbeuge des Älteren zu legen. Die Augen geschlossen, sog er den wohligen Geruch in sich ein. „Meinem Magen ging es nie besser; du bist perfekt.“ „Aber…“, fing August an, etwas unbeholfen, da sein Freund nun fast auf ihm saß, mit dem Gesicht seinem Hals so gefährlich nah, „Du…du willst doch nicht schon wieder…?“ „Ich will, aber ich tu es nicht.“, nuschelte Karl gegen die zarte Haut. „Gut. Aber wenn du vorhast, die ganze Nacht hindurch auf mir zu liegen und an mir zu riechen, dann…dann…“ „Wieso? Stört es dich?“ „Nun…Solange ich mich am Tage dann wieder ungehindert bewegen kann, nein.“ „Siehst du.“ Als Karl Augusts Hemd noch einen Knopf weiter öffnete, hörte er den Älteren lachen. „Was ist?“ „Ich stell mir gerade vor, wie mein Vater damit umgegangen ist.“ „Och, bestimmt auch nicht so schlecht.“ „Hm, wer weiß, vielleicht sollte ich morgen mal schauen, ob ich ein paar verfaulte Äpfel* auftreiben kann. Gut möglich, dass die den gleichen Effekt haben, und du so nicht dauernd an mir hängen musst.“ Karl sah August an und fuhr ihm durch das volle Haar. „Du findest mich jetzt schon lästig?“, fragte er enttäuscht. Ein bisschen zu echt enttäuscht, fand August, und zog seinen Freund in eine innige Umarmung. Kapitel 13: Blut ist ein ganz besondrer Saft -------------------------------------------- Vorsichtig, als wolle es die Ruhenden nicht wecken, drang das erste Licht durch die Schlitze der verriegelten Fensterläden in das Theater ein. Es war das Leuten des Campanile, das August aus seinem Schlaf holte. Seine erste Tat an diesem Morgen war zu bemerken, dass Karl reichlich schwer war. „Hoch mit dir. Aufstehen.“, flüsterte er und rüttelte den Jüngeren, der auf ihm lag, sanft an der Schulter. Verschlafen öffnete Karl seine blauen Augen. Es dauerte eine Weile, bis er sich zurechtgefunden hatte. Sie waren immer noch im Teatro La Fenice, in Venedig. Vor Iffland waren sie geflüchtet, der nach ihrem geschlossenen Bündnis nicht mehr aufgetaucht war. „Ob es geklappt hat?“, fragte Karl. August nickte hastig. „Ja, ja, es hat alles geklappt. Nun sei bitte so freundlich und geh von mir runter.“ „Oh, entschuldige!“ Karl stieg von ihm hinunter und richtete sich auf. Gähnend streckte er sich. August suchte die Vampirzähne in seinen Mundwinkeln dabei vergeblich. „Wir sollten von hier verschwinden.“, fasste sich der Ältere und erhob sich ebenfalls. Er lief an Karl vorbei, schon auf dem Weg zum Ausgang. „Warte einen Moment.“, hielt ihn da der Dunkelhaarige zurück. Er stand im großen Mittelgang des Theaters und hatte die Augen geschlossen. „Ich spüre ihn.“ August sah seinen Freund verwirrt an. „Du spürst wen?“ „Meinen Vater!“, verkündete Karl triumphierend. „Er ist auf einem Schiff!“ Nun hatte es August umso eiliger. „Auf dem Weg nach Korinth nehme ich an.“ Karl kam gerade noch dazu, dem zuzustimmen, da hatte ihn August gepackt und zog ihn hinaus auf die Straße. Venedig war so belebt, wie sonst auch; die Stadt ließ sich am frühen Morgen nicht stören. Karl und August ließen sich auch von nichts mehr stören. Weder daran, dass sie keine Masken mehr trugen, noch dass ihnen wieder alle deswegen nachschauten. Sie fühlten sich sicher nach ihrem eingegangenen Bund. So sicher, dass sie sogar bereit dazu gewesen wären, dem Teufel persönlich gegenüberzutreten. Karl bedauerte es, nicht mit Humboldt mitgefahren zu sein. Es war schwierig gewesen, am Hafen jemanden zu finden, der bereit dazu war, sie mit nach Korinth zu nehmen. Schließlich hatten sie ein Handelsschiff gefunden, das gerade nach Griechenland auslaufen wollte, und auf dem man sich bereiterklärte, sie gegen eine, in August Augen schrecklich überzogene, Bezahlung mitzunehmen. Als Karl sich in der zweiten Nacht an Deck mit verspanntem Rücken wieder neben seinen Freund auf die Taue im Lagerraum niederließ, unterdrückte er das Fluchen nicht mehr. „Zum Henker mit diesem fürchterlichen Kahn! Ein Drecksloch sondergleichen!“ „Na, na, wer war es denn, der von Humboldts Schiff wieder herunter gerannt ist?!“, entgegnete August. „Wir standen ja schon drauf, da musste sich der werte Herr Schiller auf sein Gefühl verlassen. Humboldt hätte uns garantiert nicht im Lagerraum schlafen und verhungern lassen. – Und er hat auch kein Geld verlangt.“ Karl schnaubte, wütend auf sich selbst. „Humboldt hätte uns bei sich in seinem weichen Bett schlafen lassen.“ August zog eine Augenbraue in die Höhe. „War das jetzt die Antwort auf unseren momentanen Schlafplatz, oder auf die Bezahlung, die Humboldt entgegengenommen hätte?“ Karl stieß ihm in die Seite, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen. Der Ältere legte einen Arm um ihn und er bettete sein Haupt auf Augusts Schulter. Sie trugen wieder Zivil. „August?“ „Hm?“ „Willst du denn gar nicht wissen, was ich Humboldt gefragt habe, als ich ihn unten am Hafen, bevor er abgelegt hat, unter vier Augen sprechen wollte?“ Der Ältere sah abwägend in das Gesicht seines Freundes, das ihn neckisch anblickte. „Nun?“, siegte die Neugierde. Karls Grinsen wurde zu einem Lächeln, und fast hatte August den Eindruck, dass sich seine Wangen röteten. „Ich hab ihn um Rat gebeten, da ich mir mit meinen Gefühlen zu dir so uneinig war.“ „Du hast…?!?“ Der Dunkelhaarige kicherte leise. „Nun, ich hatte ja keine Ahnung, dass es dein Blut war, das mich so anzog.“ August verdrehte die Augen. „Und das…das kann man nicht auseinanderhalten?“, fragte er schließlich vorsichtig. „Nein“, meinte Karl und schloss die Augen, während er sich ein wenig zum anderen herumdrehte. „Ich konnte es jedenfalls nicht. Alles, was ich wusste, war, dass du so wunderbar gut rochst, dass ich dir nahe sein, dass ich dich berühren wollte…“ Er sog genießerisch den Duft seines Freundes durch die Nase ein, ließ eine Hand auf Augusts Brust gleiten. „Es kribbelte immerzu in meinem Bauch, so wie jetzt…“, flüsterte er und drückte sein Gesicht in Augusts Schal. „Wie hätte ich denn wissen sollen, dass es lediglich Hunger war…?“ „Ja…wie hättest du.“, entgegnete der Kleinere leise und ließ vorsichtig eine Hand in Karls Haare wandern. Ansonsten lag er ruhig da, hörte zu, wie der Atem seines Freundes nur wenig unterhalb seines Ohrs gleichmäßig seine Haut streifte, wie sein eigenes Herz zunehmend schneller schlug, als die Hand von seiner Brust langsam ein wenig hinaufwanderte und damit begann die zwei obersten Knöpfe an seiner Weste zu öffnen. „Karl“ „Was?“ August antwortete nicht, sondern schloss die Augen, und der Dunkelhaarige zog ihm in einer flüssigen Bewegung das seidene Tuch vom Hals. Wenig später presste sich Karls Nase dort gegen seine Haut und er hörte den Jüngeren tief einatmen. Als er plötzlich die Zunge des Größeren spürte, wie sie über die zwei roten Punkte auf seiner Haut leckte, erschauderte er. „D-darf ich…?“ „Du bist doch schon dabei.“, presste August hervor und krallte unwillkürlich seine Hand ein wenig fester in Karls Haare, da er jeden Moment mit dem Biss rechnete. Er musste nicht lange auf ihn warten. Langsam senkten sich die spitzen Eckzähne in seine Haut, er keuchte auf vor Schmerz, und doch genoss er die Energie, die durch seinen Körper pochte, angetrieben vom ängstlich schnellen Herzschlag, der ihn immer schwerer Atmen ließ, je länger Karl sein Blut saugte. Ihm wurde heiß, er keuchte abermals, dieses Mal Karls Namen, und klammerte sich an seinem Freund fest, bis dieser wieder von ihm abließ. Die Augen, mit denen Karl ihn anschaute, schillerten wunderschön, und dass der Jüngere sich mit einem leichten Grinsen das Blut von den Lippen leckte, passte zu diesem Anblick. Seufzend und erschöpft ließ sich der Dunkelhaarige schließlich auf den Älteren fallen. „Oh Gott, du schmeckst so gut, August…“, flüsterte er. Sein Kopf, den er auf Augusts Brust gebettet hatte, wippte leicht, als dieser leise lachte. „Nicht doch, du beschämst mich.“ „Ich spreche die Wahrheit.“ Schmunzelnd strich der Ältere durch die dunklen Locken und sie schwiegen eine Weile, bis Karl seinen Kopf hob und seinen Freund unsicher ansah. „…Tut es sehr weh, wenn ich dich beiße?“, fragte er vorsichtig. August schüttelte den Kopf. „Ich würde lügen, wenn ich behauptete, es tue gar nicht weh, aber es sind keine Schmerzen, die mich unglücklich machen.“ „Nein, unglücklich sollst du niemals sein, August!“, rief Karl und schlang fest seine Arme um den Freund. „Du musst mir sagen, wenn ich zu weit gehe, versprichst du mir das?“ „Ich verspreche es.“, entgegnete der Ältere leise und strich dem Größeren sanft über die Wange. „Das ist gut.“, beruhigte sich Karl wieder. „Ich will dich nämlich nur glücklich machen, nichts sonst.“ „Darin machst du dich nicht schlecht.“, meinte August und zwinkerte dem Dunkelhaarigen zu, welcher sich daraufhin lachend wieder zurück auf seine Brust sinken ließ. Bis sie Korinth erreichen würden, hatte Karl ja noch ein paar Nächte und Bisse zum Üben… Kapitel 14: Advent ------------------ August stemmte seine Hände in die Hüfte, Karl streckte seinen Rücken durch, der dabei ungesund knackste. Vor ihnen zeigte sich die Landschaft Korinths, der große Hafen, hinter dem die Häuser mit ihren flachen Dächern lagen und vom Gebirge eingerahmt wurden, das am Stadtrand hinaufragte und noch einige antike, mehr oder minder gut erhaltene Tempel zur Schau trug. „Wusstest du, dass Korinth zurzeit unter der Herrschaft der Türken ist?“ Karl nickte. „Mein Vater hat es mir erzählt, als er mir die Namen der bedeutendsten Städte gelehrt hat.“ „Diese Stadt scheint ihm fürwahr etwas zu bedeuten.“, meinte August und rieb sich den Hals. „Tut es weh?“, fragte Karl sofort nach, da ihn ein wenig das schlechte Gewissen überkam. „Nein, juckt nur.“, entgegnete der Ältere und schritt voran. „Weißt du, wo Schiller wohl ist?“, fragte er seinen Freund. Karl sah sich prüfend um. „Ein Dorf, denke ich. Es stehen Lehmhütten und Zelte zwischen zerfallenen, antiken Tempeln…“ Auf seine Stirn legten sich Falten, als er noch etwas zu spüren meinte. „…Vater ist unglücklich und verwirrt.“ „Dann sollten wir uns beeilen, ihn zu finden, nicht?“, schlug August vor. Der Dunkelhaarige nickte zuversichtlich. „Da entlang.“, sagte er und deutete auf den Weg, der aus der Stadt hinaus, ins Gebirge führte. „Wieder dein Gefühl?“, hakte August nach. „Dieses Mal ist es aber gefestigter.“, versicherte Karl. Der Ältere nickte, und so liefen sie los. Von der ersten kleinen Anhöhe hinter der Stadt, die sie nach einer Weile erreicht hatten, sah man nicht weit in der Ferne Rauch aufsteigen. Da August meinte, auch die Ruine eines Tempels zu sehen, machten sie sich auf den Weg dorthin. Sie hatten die Hälfte geschafft, da knurrte Augusts Magen ungesund. „Ich hoffe, dort ergibt sich mir die Möglichkeit, irgendwo etwas Essbares zu mir zu nehmen.“ „Bestimmt.“ Je näher sie dem Dorf kamen, desto stärker verdichtete sich für Karl der Verdacht, dass sie goldrichtig waren. Er wusste plötzlich ganz genau, dass sein Vater hier war, dass er ihn wiedersehen würde. „Vater…“ „Hm?“ August sah fragend zu seinem Freund auf, doch da war der schon losgerannt. „Karl!“, rief der Ältere aufgeschreckt und versuchte hinterherzukommen. „Karl!“, schallte es über die Hügel, aber es war nicht Augusts Stimme. Es war Schillers. Drüben beim Tempel erschien er, Friedrich Schiller, der, die Arme ausgebreitet, seinem Sohn entgegen rannte. „Karl!“ „Vater!“ Mit einem Satz war der Dunkelhaarige die wenigen Zentimeter hinauf gesprungen und warf sich seinem Vater um den Hals. „Karl, mein Karlchen! Wie groß du geworden bist…!“ August schluckte, als er bemerkte, dass Schiller Tränen in den Augen hatte. Karl weinte hemmungslos und wollte seinen Vater gar nicht mehr loslassen. „W-wieso bist du weggelaufen, du…! Du hast deine Familie im Stich gelassen – wieso?!?“ Schiller fuhr Karl liebevoll durch die dunklen Locken. „Ich kann dir alles erklären, mein Sohn, ich– “ „Friedrich!“ Erschrocken wandten sich alle drei um. Ein großer, hagerer Mann kam mit strengem Schritt auf sie zu, so blass, dass er wahrhaft für tot gehalten werden konnte. „Mein Sohn, widersetze dich noch einmal deinem Vater, und – !“ „Wer…?!?“ Karl ließ erschrocken seinen Vater los, als der alte Mann langsam auf sie zukam, und wischte sich mit dem Ärmel hastig über die Augen. Schiller hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, das beruhigte sowohl Karl als auch August. „Vater“, sprach Schiller den Mann an, „Er war erst drei, als du uns verlassen hast, aber erkennst du ihn nicht? Das ist Karl, dein Enkelsohn.“ Karl wurde unwohl, als ihn der Mann mit forschendem Blick betrachtete, sodass er näher zu August trat. „Karl, das ist Johann Caspar Schiller, dein Großvater.“, erklärte ihm sein Vater und legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. „Tatsächlich?!“, entfuhr es August. „Mein Großvater trug genau die gleichen Vornamen!“ Jetzt ruhte Schiller Seniors prüfender Blick auf ihm. „Und wer ist er?“, fragte er. August räusperte sich. „August von Goethe, angenehm Sie kennenzulernen, Herr– “ „Schon wieder!“, rief der Alte, und seine Augen begannen unaufhaltsam zu flimmern. „Da verliere ich nicht nur meinen Sohn an einen Goethe, sondern auch noch meinen Enkel! Was ist das bloß für eine heillose Brut, dass euch so etwas gelingt?!“ „Vater!“, rief Schiller erbost und trat einen Schritt auf ihn zu. „Fühlst du es denn nicht?! Fühlst du nicht, dass Karl kein Mensch ist?!?“ Caspar Schiller hielt in seinem Zorn inne und seine Augen erloschen. „Kein…?“ „Nein“, versicherte sein Sohn, „Ich war selbst überrascht und verwirrt, als ich ihn spüren konnte. Aber ja: Er ist einer von uns – gegen deine Erwartungen.“ Karl hatte nach Augusts Arm gegriffen und wunderte sich über das glückliche Grinsen auf dem Gesicht seines Vaters. Caspar Schiller zog seine Augenbrauen zusammen und stierte die beiden Korinther Neuankömmlinge skeptisch an. Schließlich machte er auf dem Absatz kehrt, und sein dunkler Mantel wehte, als er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zurück in den Tempel schritt. „Vater…“, war alles, was Karl herausbrachte. Schiller lächelte sie nur an und kam auf August zu. „Dich habe ich noch gar nicht begrüßen können, willkommen.“, sagte er freundlich und reichte dem Kleineren die Hand. „Du bist auch so herrlich erwachsen geworden. Kommst ganz nach deinem Vater.“ August lächelte erleichtert. „Danke, das fasse ich als Kompliment auf.“ „Das darfst du.“, entgegnete Schiller lächelnd. „Nun, dann kommt erst einmal mit ins Dorf. Ich kann verstehen, wenn ihr einige brennende Fragen habt – wie ich auch an euch. Aber ich denke, wir sollten uns erst setzen, bevor wir diese klären.“ So ging Friedrich Schiller voran, durch die Tempelruine hindurch, bis sie sich auf einem Weg wiederfanden, der rechts und links von aneinandergereihten Lehmhütten und einigen Zelten gerahmt wurde. Neugierig betrachteten Karl und August die Passanten, die ihnen entgegenkamen. Allesamt waren sie blass, trugen jedoch gewöhnliche Kleidung, nur einige waren trotz der Hitze in schwarze Mäntel gehüllt. Auch Frauen begegneten ihnen, ebenso schön blass wie die Männer, in schlichten bis extravaganten Kleidern. „Wo sind wir hier nur hingeraten…“, flüsterte Karl. „Dorthin“, antwortete August, „wo ich bestimmt nichts zu essen finden werde…“ Kapitel 15: Familientreffen --------------------------- Die Frau mit den rotblonden Locken lächelte zufrieden und beobachtete August, wie er über das eben auf dem Feuer vor der Hütte gegrillte Schaf geradezu herfiel. „Vielen – vielen Dank, Frau – “, bekam er nur zwischen eiligen Bissen heraus, und sie musste lachen. An ihrem Lachen hörte man, dass sie eine Schillern war. „Nenn mich einfach Nanette.“, sagte sie. „Und danken brauchst du mir auch nicht. Ich musste Vaters harschen Empfang für dich ja irgendwie wiedergutmachen. Das Schaf zu reißen war ein Leichtes, keine Sorge…“ August nickte und nahm noch einen Bissen, während Karl sich neben ihn und gegenüber seiner Tante auf die mit Fell bedeckte Truhe setzte. „Zu trinken haben wir erstaunlicherweise alles hier.“, verkündete Friedrich Schiller und trat in die Runde. „Was darf ich dir anbieten, August?, Wein, Wasser, Bier?“ Bevor der junge Goethe schlucken konnte, um zu antworten, hob Schiller eine Hand. „Nein, halt – natürlich: Zu Schaf nur Wein für Goethe.“ Karl lachte, als sein Freund beeindruckt nickte. Nachdem August seinen Schmaus beendet hatte, brach Nanette wieder auf, das dreckige Geschirr zu säubern, und Schiller nahm ihnen gegenüber Platz. „Bevor ich euch mit meinen Fragen löchern werde“, fing er an, „bin ich euch wohl zunächst einige Antworten schuldig.“ „In der Tat.“, stimmte Karl zu. „Wieso hast du nur mir erzählt, dass du ein Vampir bist? – Es hat mir niemand geglaubt!“ Schiller lachte sofort auf. „Ach, Karl, du verfällst dem falschen Glauben der Menschen. Wir sind keine Vampire.“ „Ach, nein?!?“, fragte August verwirrt und fasste sich an den Hals, an dem er meinte, noch genau den Gegenbeweis zu spüren. „Nein“, antwortete Schiller auch seinem erstaunten Sohn. „Den Namen »Vampir«, den haben uns nur die Menschen gegeben, weil sie es nicht besser wissen. Aber wir sind keine Vampire, wir sind Schiller.“ Karl und August blickten ihr Gegenüber skeptisch an. „Ja, schaut nicht so, Schiller! Wir sind Schiller, weil wir das Schillern besitzen.“ „Das in den Augen!“, entwich es August sofort und Schiller musste schmunzeln. „Genau“, sagte er. „Dies allein macht uns unsterblich – für den Preis, dass wir uns von Menschenblut ernähren müssen.“ „Also sind alle „Vampire“ auf dieser Welt Schiller?“, wollte Karl wissen. Sein Vater nickte. „Ja, alle sind Schiller. Aber nur die alteingesessene Adelsfamilie hat das Privileg, auch in der Welt der Menschen den Nachnamen »Schiller« zu tragen.“ Karls Augen weiteten sich. „Das heißt…wir…?!?“ Schiller seufzte. „Ja, wir gehören dieser Adelsfamilie an. Leider.“ Karl und August tauschten untereinander fragende Blicke. „Wieso leider?“ „Nun“, begann Schiller, „Weil dies auch der Grund dafür war, dass ich euch verlassen musste.“ Er lachte verlegen, als ihn die anderen beiden nur unverständlich anblickten. „Ich sehe, ihr seid reichlich verwirrt; lasst mich erklären. – Noch einen Schluck Wein, August? Du, Karl?“ „Bitte.“ Nachdem er ihnen eingeschenkt hatte, war Schiller zum mit Tüchern verhängten Eingang der Hütte getreten. Er spähte kurz hinaus, als wenn er sich versichern wollte, dass sie nicht belauscht wurden, dann nahm er wieder auf seiner Seite des kleinen Tisches Platz. „Es ist so“, fing er an. „Als ich aus der Karlsschule in Stuttgart geflohen bin, weg von Vater, weg von diesem unsäglichen militärischen Drill, da wusste ich noch nicht, wer ich war. Ich wusste, dass ich Schriftsteller werden wollte, aber ich wusste nicht, was bald mit mir geschehen würde. Auf meiner Flucht aus Württemberg wurde es mir schließlich klar, ich veränderte mich, aber nicht nur auf die Art, wie sich alle anderen Jungen in diesem Alter verändern, wenn sie zu Männern werden, sondern auch auf mir ganz unheimliche Weise: Ich wurde stärker, schneller und lechzte plötzlich nach Blut. Ich hatte Angst davor, was ich mit meinem besten Freund Streicher machen würde, wenn das so weiterging, weshalb ich ihn zurückließ und meine Reise nach Weimar alleine fortsetzte. Da hatte aber Iffland, mein Konkurrent am Mannheimer Theater-“ „Iffland ist uns gefolgt!“, rief Karl da plötzlich und sprang entsetzt auf. Wie hatten sie das vergessen können?! „Er ist euch - ?!?“ „Bis Venedig.“, versuchte August die Ruhe zu bewahren. „Bis Venedig ist er uns gefolgt, dann…“ Er senkte kurz den Blick und wusste nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. „Wir haben einen Hinweis bekommen“, sprach Karl ein wenig nervös weiter, „dass ein Bündnis…ein Bündnis uns vor ihm schützen könnte. I-ich weiß nicht, ob wir es richtig gemacht haben, aber-“ „Habt ihr.“, unterbrach ihn sein Vater mit einem sanften Lächeln. „Ich habe es schon gespürt, als ihr angekommen seid. Vater auch, nur deshalb war er so missgelaunt. Und macht euch wegen Iffland keine Sorgen.“, fuhr er fort, „Ein sogenannter Vampirjäger spürt nur ungefähr, wo sich seine Beute befindet, aber er spürt auch, dass sich hier in diesem Dorf unzählige Vampire befinden. Iffland weiß, dass es seinen Tod bedeuten würde, hier aufzukreuzen.“ August nickte und Karl ließ sich erleichtert zurück auf die Truhe sinken. „Iffland“, nahm der junge Goethe den Faden wieder auf. „Er hat Sie bis nach Weimar verfolgt?“ „Genau.“, antwortete Schiller, „Bis nach Weimar, wo…“ Mit einem leichten Lächeln sah er hinab auf seine Hände. „Dank Goethe konnte er bald nichts mehr ausrichten. Ich…ich dachte nun endlich begriffen zu haben, wer ich bin, wo ich hingehöre, da…da kam dein Großvater vorbei, Karl, unerwartet, unangekündigt. An meinem vierzigsten Geburtstag nahm er erstmals seit meiner Flucht wieder Kontakt zu mir auf, da, wie ihr wissen müsst, das heiratsfähige Alter bei uns Schillern bei eben genau jenen vierzig Lebensjahren liegt. Vermählungen der Adelsfamilie, erklärte er mir, fänden nur alle fünf Jahre hier zu Korinth statt und ich, als sein einziger Sohn, sei verantwortlich dafür, die alteingesessene Familie der Schiller unter den Schillern weiterzuführen.“ August und Karl sahen den Älteren aus großen Augen an. „Natürlich war ich nicht bereit dazu.“, sprach dieser weiter, „Vater wollte das aber nicht verstehen, kam in den nächsten Jahren immer wieder auf mich zu. Er…er versprach mir, ich könnte meine lieben Schwestern wiedersehen und deine Mutter, Karl, würde von nichts erfahren und unverschont bleiben, wenn ich mit ihm käme…“ Der Blonde musste traurig lächeln. „Ich gab schließlich nach, und in der Nacht meines vorgetäuschten Todes war es soweit: Vater kam mich holen, damit ich hier, in Korinth, meine Blutsbraut heiraten würde.“ „Aber…!“ Karl sah seinen Vater entsetzt an. „Du…du hast doch schon Kinder und du bist verheiratet! Was ist mit Mutter?!“ Schiller legte seinem Sohn eine Hand an die Wange. „Junge, kein Grund dich zu grämen, ich liebe deine Mutter aufrichtig und von Herzen. Und ja, wir sind nach Menschengesetzen verheiratet. Aber das zählt für einen Schiller nicht, wenn sie ein Mensch ist. Auch du und Ernst… Mein Vater hat bis heute nicht geglaubt, dass auch nur einer von euch ein Schiller ist. Normalerweise benötigt es dazu zwei Elternteile, die beide Schiller sind.“ „Und…“ Karl versuchte nicht zu aufgewühlt zu klingen. „Wieso…kannst du Mutter nicht zu einem Schiller machen? Geht das denn nicht? In den Legenden, die sich die Menschen über Vampire erzählen, da…da funktioniert es doch auch…“ Schiller nickte. „Ja, mein Sohn, das funktioniert. Ich hätte sie zu einem Schiller machen können, ich hätte nur mit ihr den Bund eingehen und sie dann mein Blut trinken lassen müssen.“ „Aber…?“ Schiller sah seinen Sohn sanft lächelnd an. „Deine Mutter ist ein Engel, Karl.“, flüsterte er. „Sie ist so gut, so christlich. Ich habe mir vom ersten Augenblick an, in dem ich sie sah, geschworen, dieses schöne Geschöpf nicht zu einem blutsaugenden Monster zu machen.“ „Sie hätte…sie hätte bestimmt nichts dagegen gehabt…“, meinte Karl, nun doch mit ein paar Tränen in den Augen. Sein Vater nahm seine Hand und drückte sie sanft. „Nein, Karl, sie wäre in Ohnmacht gefallen und nie wieder aufgewacht.“ Betreten sah Karl zu Boden, Schiller schwieg ihn an. „Warum haben Sie…“ Beide sahen sie zu August auf, der mit verbitterter Miene neben ihnen saß und sich nun nicht mehr zurückhalten konnte. „Warum haben Sie meinen Vater ohne ein Wort des Abschieds verlassen?“, brachte er heraus, da er nicht fand, dass dieser so etwas verdient hatte. Schiller ließ seinen Sohn los und fuhr sich verzweifelt übers Gesicht. „Ich…ich habe so vieles falsch gemacht, ich weiß, aber…mein Vater hat mir keine andere Wahl gelassen. August, du musst verstehen: Hätte ich mich von Goethe verabschiedet, ich wäre niemals gegangen.“ August kräuselte die Stirn voll Unverständnis. „Das Bündnis…“, fing Schiller an, versuchte mit seinen Händen nach Worten zu suchen. „Die Verbindung zwischen uns…täglich durfte ich von ihm…Goethe…er war mir soviel wert, dass…verflucht!“ Schiller sprang auf. „Goethe wäre meine Blutsbraut geworden, ginge es nach mir! Müsste ich nicht eine Familie weiterführen, hätte er ein Schiller werden wollen, dann…!“ August sah nur entwaffnet zu Schiller auf, aber Karl war mit einem Satz bei ihm. „Vater!“, rief er. „Hier bin ich doch! Ein Schiller, dein Nachkomme – du musst nicht mehr irgendeine Frau heiraten! Ist es nicht so?!?“ Schiller lächelte matt. „Doch, so ist es. Was die fünfzig Verwandten und dreißig Bekannten wohl dazu sagen werden, dass sie umsonst angereist sind? Ob sie unserer Familie verzeihen werden?“ Er senkte den Blick. „Ob Goethe mir verzeihen wird? Ich habe ihm zwar einmal von den Wünschen meines Vaters erzählt, sodass er wohl weiß, was mit mir ist, wo ich bin, aber…eigentlich habe ich ihn doch nur im Stich gelassen. Nein, niemals mehr wird er mir verzeihen.“ „D-doch, das wird er.“, versicherte August. Schiller hatte dafür nur ein müdes Lächeln übrig. „Das ist nett von dir, August, das zu-“ „Nein, Herr Schiller, wahrhaftig! Er wird Ihnen verzeihen, da bin ich mir sicher.“ Da zögerte der Blonde. „Meinst du?“ Nun nickte auch Karl. „Geh zu ihm, um es herauszufinden, geh zurück nach Weimar.“ „Karl, ich kann hier nicht weg…“ Der Dunkelhaarige nahm seinen Vater an den Armen und sah zuversichtlich zu ihm auf. „Es wäre nicht das erste Mal, dass du aus Großvaters Fängen flüchtest.“ Schiller blickte abwägend erst seinen Sohn an, dann dessen Freund. „Ich soll es also wagen?“, fragte er unsicher. „Ja!“, stimmten sie beide zu. „Ich soll aufbrechen gen Weimar, zurück zu Goethe?“ „Ja!“ „Nun, denn!“, rief Schiller schließlich, und sein Mut war zurückgekehrt. „Dann werde ich mich heute Nacht noch davonstehlen.“, verkündete er enthusiastisch. „Wie glücklich ich jetzt schon bin, ihm in die Arme fallen zu können. Ich hoffe, ich werde formulieren können, wie sehr ich ihn all die Zeit seit meiner Abreise vermisst habe.“ Schon wollte er aus der Hütte stürmen, Karl und August sahen sich glücklich an, da drehte er sich noch einmal herum. „August, er…“, begann er, als wenn ihm noch etwas Wichtiges eingefallen wäre. „Goethe und deine Mutter sind doch immer noch – Er hat doch nicht…geheiratet, oder?“ Kapitel 16: Die Freiheit zu verlieren ------------------------------------- „Goethe hat doch…nicht geheiratet, oder?“ Aus Augusts Gesicht wich die Freude. „Nun, meine…meine Mutter hat er ein Jahr nach Ihrem Verschwinden geehelicht.“ Schiller sah auf die beiden herab, rührte sich nicht. Das Lächeln war ihm auf dem Gesicht erstorben. Plötzlich ließ er sich wie ein nasser Sack auf die am Boden ausgebreiteten Felle sinken und sah mit erschreckend leeren Augen an die Decke, sodass Karl und sein Freund nicht wussten, was sie tun sollten. „Er hat geheiratet…“, flüsterte Schiller, „Goethe hat geheiratet…“ „Aber, Vater…“, fing der Dunkelhaarige nervös an, „Du sagtest doch, dass dieser Bund zwischen Menschen nicht für uns Schiller zähle.“ „Das stimmt auch“, begann Schiller leise, „Nur ist Goethe ein Mensch, und mir ist es nicht gestattet, diesen christlichen Bund zwischen ihm und Christiane zu zerstören.“ Er fasste sich mit zittrigen Fingern an die Brust, wo er eine dunkle Haarsträhne hervorholte, zusammengebunden mit einem roten Faden. „Und ich kann ihm noch nicht einmal vorwerfen, damit unser Bündnis gebrochen zu haben…ich tat es ja selbst, als ich ging…“ Die beiden Jungen konnten nur hilflos auf den Mann zu ihren Füßen hinabschauen. Die Worte, die ihm hätten gut zusprechen sollen, waren ihnen abhandengekommen. In die Stille hinein begann Schiller zu husten. Er wollte gar nicht mehr aufhören zu husten. „Vater, was ist mit dir…?“, fragte Karl besorgt. Da krümmte sich Schiller und fasste sich an den Bauch. „Vater…!“ „Er wird doch nicht…!“, versetzte August, während der Dunkelhaarige sich neben seinen Vater auf den Boden warf. „Er wird doch nicht wieder Tierblut getrunken haben…?!“ „Nur noch“, brachte Schiller heraus. „Nie mehr etwas anderes, a-als Goethe…“ „Vater, du…! Wie kannst du nur?! Nanette! Nanette!“ Es war die Vollmondnacht im Oktober 1811, als Schiller im Bett lag, eingepackt in nasse Tücher und warme Laken. Das Fieber war seit seinem Zusammenbruch Anfang der Woche schlimmer geworden. Nanette nahm auf einem Stuhl neben dem Bett ihres Bruders Platz. „Friedrich“, seufzte sie, „Wieso tust du so etwas?“ Sie erwartete gar keine Antwort von ihm, aber er lächelte sie müde an. „Sag nichts“, meinte sie, „Ich habe es mir von Karl erzählen lassen.“ Behutsam nahm sie seine eiskalte Hand. „Aber wer hätte es denn erahnen können, dass Karl ein Schiller ist? Sei nicht wütend auf Vater, er tat nur seine Pflicht als Familienoberhaupt. Das, was du mit Goethe hattest… Es kommt nun mal nicht so oft vor, dass ein Schiller einen Mann zum Bündnispartner hat. Normalerweise fühlt er sich zu einer Frau hingezogen, sei sie nun eine von uns oder nicht, aber…da tun sich nicht diese Probleme auf, verstehst du…?“ Schiller versuchte den Kopf zu schütteln. Nanette musste lachen. „Ja, ich dachte mir schon, dass du das nicht verstehen willst.“ Da klopfte es behutsam an den Rahmen der Schlafzimmertür, die auf stand. Nanette erhob sich von ihrem Stuhl. „Karl, komm herein.“ Sie tätschelte ihm aufmunternd die Schulter, als sie an ihm vorbeilief, um sich zu August ins Wohnzimmer zu gesellen, wo dieser auf dem Sofa eingenickt war. Zögerlich trat Karl ans Krankenbett seines Vaters. Schiller schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. „Setz dich“, brachte er heißer heraus. Karl nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem Nanette gesessen war. „Großvater war vorhin hier.“ „Hm, hat er sich mal blicken lassen?“ „Ja, aber sprich bitte nicht.“ „Geht schon. Was wollte er?“ Karl schwieg kurz, bevor er antwortete. „Er hat sich fürchterlich über dich aufgeregt. Du weißt ja, diese Woche hätte…hättest du dir eine Braut aus den angereisten Frauen aussuchen und…heute Nacht heiraten sollen…“ Schiller nickte. „Da hat meine Krankheit wenigstens etwas Gutes: Heiraten darf ich erst wieder in fünf Jahren.“ Karl nickte. Er war auch unglaublich froh darüber, schließlich konnte er sich seinen Vater mit niemandem sonst als seiner Mutter oder Goethe vorstellen. So blickten sie einander eine Weile stumm an, bis der Dunkelhaarige feststellte, wie schön die Augen seines Vaters leuchteten. „Was…“, fing er an, „Was ist dieses Schillern überhaupt?“ Ein träumerisches Lächeln breitete sich auf Schillers Lippen aus. „Schillern“, sagte er leise, da seine Stimme nicht zu mehr imstande war. „Dein Großvater meint, es sei Erleuchtung. Manche halten es für Macht…oder Liebe.“ „Und…und für was hältst du es, Vater?“ „Ich?“ Schiller grinste und da bemerkte Karl erst, wie er dieses Grinsen vermisst hatte. „Nun, für mich ist Schillern Freiheit. Die Freiheit, sein Herz an denjenigen zu verlieren, an den man es auch verlieren will.“ Da hielt es den Jungen nicht mehr auf dem Stuhl und er warf sich seinem Vater an die Brust. „Nicht weinen, mein Sohn…“ „Ich…ich weine nicht.“ Schiller hob langsam eine Hand, um Karl über den Kopf zu streicheln. „Ich hab dich so vermisst, Papa.“ „Ich dich auch, mein Sohn…“ Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Schiller wieder auf der Höhe war. Auch August besuchte ihn in dieser Zeit am Krankenbett, doch der sonst so lebensfrohe Mann redete auf alle seine Bemühungen hin kaum mit ihm, blickte ihn nur traurig an und wirkte schlaff. Kurz war der junge Goethe davor, einfach aufzustehen und zu gehen, doch davor war er Schiller wenigstens eine Erklärung schuldig. „Ich…ich sehe, ich sollte besser gehen“, fing er betroffen an, „Ich quäle Sie nur.“ Schiller lächelte matt. „Es ist eine süße Qual. Du darfst gerne bleiben.“ Da schüttelte August den Kopf. „Nein, ich verstehe schon. Und es ist ja auch Ihr Recht, wenn Sie…mir die Schuld daran geben, dass Vater Mutter nun endlich geheiratet hat und…“ „Aber nein, August.“, widersprach der Blonde und seine Stimme klang dabei das erste Mal wieder lebendig, „Bitte, das würde mir doch niemals einfallen, dir oder deiner Mutter irgendeine Schuld zu geben.“ Er schüttelte den Kopf. „Es sind nicht die Züge deiner Mutter, die ich sehe, wenn ich dir ins Gesicht blicke, welche mich quälen. Es ist…“ August zuckte ein wenig zusammen, als die kalten schlanken Finger Schillers sich um seine legten. „Du siehst deinem Vater sehr ähnlich, August, und ich…ich vermisse ihn so sehr.“ Da musste der Jüngere schlucken und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, weshalb er einfach nur die dargebotene Hand des anderen fest drückte. Am Abend lag er bei Karl im Bett, den Dunkelhaarigen, der ihn gerade gebissen hatte, im Arm, und musste an ihre Väter denken. Er stellte sich vor, wie Goethe und Schiller zusammen im Bett lagen, einander im Arm. Der Gedanke fühlte sich keineswegs seltsam an, so sehr er seine Mutter liebte und wusste, dass sie zu Vater gehörte. Denn genauso wusste er auch, dass Schiller zu Vater gehörte, so wie er zu Karl. Das war ja immerhin…etwas anderes, versicherte er sich. Auch wenn er sich bisher noch zu keiner Frau auf diese Weise hingezogen gefühlt hatte, war das mit Karl etwas anderes. Er war sein bester Freund. Mehr als das: sein Bündnispartner. Sanft lächelnd blickte er den Jüngeren an. „Was ist?“, fragte dieser leise. „Ich gehöre dir.“, flüsterte August. Da lachte Karl leise und zog ihn in eine innige Umarmung, um sein Gesicht in der Halsbeuge des Älteren zu vergraben und tief dessen Duft einzuatmen. „Ja, du gehörst mir…“ Anderthalb Wochen nach seinem Zusammenbruch war Friedrich Schiller wieder auf den Beinen und diesen Abend konnte er das erste Mal wieder am gemeinsamen Abendessen der Familie teilnehmen. Der Tisch war reich gedeckt, denn auch wenn Schiller sich zum Überleben von Blut ernährten, hieß das nicht, dass sie es sich nehmen ließen, einige schmackhafte Sachen einfach zum Genuss zu verspeisen. Und so kam die Familie abends immer zum gemeinsamen Mahl zusammen, bei dem Neuigkeiten ausgetauscht wurden, aber es auch um simple Geselligkeit ging. So saß die große Familie auch heute Abend wieder beisammen und erfüllte so die kälter werdende Jahreszeit mit Wärme. Karl, der neben August saß, räusperte sich und wies diesen damit darauf hin, dass sie beobachtet wurden. Von der anderen Seite der Tafel blickten sie die forschenden Augen Johann Caspar Schillers an. August wandte sich nichtsdestotrotz wieder seinem gegrillten Spieß zu. Karl tat es ihm gleich und nahm sich noch eine Wassermelone. „Dass du immer dieses süße Zeug machen musst, Doro.“, meckerte Schiller Senior mit seiner Tochter. „Das ist schlecht für die Zähne – und was ist ein Schiller ohne Zähne?!“ „Aber, Vater. Der Nachtisch muss doch süß sein.“ Der wieder genesene Friedrich Schiller sah seine Schwester mit hochgezogener Augenbraue an. „Das Blut von deinem Georg ist also nicht süß genug, hm?“ „Och, Fritz, sei ruhig. Du weißt doch gar nicht, was für ein Glück ihr Männer habt! Frauenblut ist viel süßer als Männerblut.“ Während alle seine fünf Schwestern einstimmig dieses Urteil bestätigten, nickte Schiller nur. „Da hast du Recht, ich weiß es wirklich nicht, da ich doch noch nie Frauenblut gekostet habe.“ Man merkte Schiller Senior an, wie sehr er sich für diese Aussage seines Sohnes schämte. „Aber ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass irgendetwas auf dieser Welt süßer sei, als das Blut Goethes.“ „Meine Meinung.“, lachte Karl, woraufhin August leicht schockiert zwischen Vater und Sohn hin und her schaute, die ihn beide äußerst unschuldig angrinsten. Beinahe fühlte er sich wie ein von Wölfen umringtes Schaf… Da schob Schiller Senior plötzlich seinen Stuhl zurück und verließ wortlos die Tafel. Seine Frau, Karls Großmutter, warf einen entschuldigenden Blick in die Runde, bevor sie ihrem Gatten folgte. Nanette rollte mit den Augen, während Schillers älteste Schwester ihrem Bruder eine Hand an den Arm legte. „Lange wird er dich nicht mehr in Ruhe lassen, Friedrich“, sagte sie. „Er wird dir eine Braut suchen, die du in fünf Jahren heiraten wirst, egal wie sehr du dich sträubst.“ „Ich befürchte es, Lissi.“, seufzte Schiller. Nun standen auch die beiden mittleren Schwestern auf, die August etwas unheimlich fand. Sie waren beide als kleine Mädchen schwer krank geworden, weshalb ihre Eltern, um sie am Leben zu halten, keine andere Möglichkeit gesehen hatten, als ihnen von ihrem Blut zu trinken zu geben. Deshalb waren sie schon recht früh zu einem ausgereiften Schiller geworden und sahen nun nach all den Jahren immer noch sehr mädchenhaft aus, während ihr Verstand und die Art sich zu bewegen schon vollkommen der einer erwachsenen Frau entsprach. August musste bei ihrem Anblick an zum Leben erweckte Puppen denken und wusste sie nicht so recht einzuschätzen. „Du hättest vorhin etwas essen sollen.“, sprach Lotte, die ältere von beiden, ihren Bruder mit ihrer weichen, hohen Stimme an. „Es hätte sich sicher jemand gefunden.“ Schiller winkte ab. „Nein, nein, macht euch keine Sorgen um mich. Das geht schon.“ Betti, die jüngere, sah ihn aus ihren großen, rot schillernden Augen an. „Aber nicht, dass du wieder so endest, wie letzte Woche.“ Nanette klatschte in die Hände. „Schwestern, auf! Lassen wir die Herren ein wenig alleine und kümmern uns ums Geschirr.“ Sie drückte Schiller einen Kuss auf die Wange, bevor sie ihren Schwestern nach draußen folgte. Karl atmete hörbar aus. „Puh“, meinte er, „Und ich fand es schon mit nur zwei Schwestern anstrengend…“ Schiller lachte seinen Sohn an. „Nun, da stell dir mal vor, wie August sich jeden Abend fühlt.“ In der Tat sah sein Freund etwas überfordert drein. „Da wir jetzt aber wieder unter uns sind“, fing Schiller an, „und es mir auch wieder besser geht, möchte ich euch fragen, woher ihr überhaupt wusstet, dass ich hier bin?“ „Nun…“, begann Karl, „Ich stritt mich mit August, da er nicht glauben wollte, dass du ein Vampir bist – wie ich dich damals nannte. Da habe ich die Spielzeugguillotine auf den Boden geschmissen und – “ „Die, die Goethe dir einmal mitgebracht hat?“, hakte Schiller nach. „Ja“, bestätigte sein Sohn. „Sie ist zersplittert und zwischen den Scherben kam ein Gedicht Goethes zum Vorschein.“ „Die Braut von Korinth“, ergänzte August, und Karl hob seinem Vater das Papier entgegen, das er aus seiner Tasche holte. Schiller nahm den Zettel erstaunt entgegen, ließ seine Augen über die Zeilen huschen, und als er am Ende angekommen war, lachte er. „Dieser gerissene…! Wie ein Lausbube entkommt er der Hölle!“ „Wie meinen?“, fragte August verwirrt. „Seht“, meinte Schiller und deutete auf die Schriftrolle. „Diese Zeilen haben euch genau gesagt, wo ich bin und was ich bin, und haben ihm zugleich das Leben gerettet! Verrät ein Bündnispartner nämlich seinen Schiller, muss er sterben.“ August riss entsetzt die Augen auf. „Goethe war es einzig und allein möglich, euch über mich zu unterrichten, indem er es in Rätseln packte. Und das ist ihm grandios gelungen.“ Schillers Augen huschten noch einmal über Goethes Handschrift. „Darf ich“, begann er, „Darf ich es behalten?“ „Bitte“, meinte August. „Aber gerne“, sagte Karl. Schiller betrachtete noch eine ganze Weile die Worte und Verse in dieser Schrift, die ihm so bekannt war, als wäre es seine eigene, und er stellte einmal mehr fest, wie schmerzlich er seinen Goethe vermisste. Kapitel 17: Lustspiel --------------------- Karl fühlte sich nicht so wohl bei der Sache. Sein Vater hatte ihn dazu überredet, sich heute von Schiller Senior das Dorf zeigen zu lassen. Nun schritt der hagere Mann stumm neben ihm her, seine stolze kühle Miene stets aufrecht haltend. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Herr Großvater?“, begann Karl nach einer Weile vorsichtig. „Das darfst du, mein Junge.“ Karl sah zum geradeaus stierenden Gesicht auf. „Wieso haben Sie nicht an mich geglaubt? Hätten Sie nicht abwarten können, bis ich erwachsen werde, um dann erst, wenn ich immer noch nicht Ihren Erwartungen entsprochen hätte, meinen Vater von uns zu holen?“ Schiller schnaubte. „Du entsprichst immer noch nicht meinen Erwartungen, das ist es ja.“, gab er von sich. Karl schwieg und versuchte seine Empörung verdeckt zu halten. „Hier ist der Brunnen, aus dem die Frauen das Wasser holen.“, berichtete Schiller weiter, als wenn er schon die ganze Zeit über nur den Stadtführer gespielt hätte. „Dort drüben siehst du das große Zelt, in dem sich die Frauen treffen. Vielleicht solltest du heute Abend mal dort vorbeischauen, anstatt dich mit diesem Goethe zu vergnügen.“ Empört nach Luft schnappend sah Karl zum Älteren auf. „I-ich ‚vergnüge’ mich nicht mit ihm!“ Schiller Senior verdrehte nur theatralisch die Augen. „Ach, nein.“ Karl wollte sich hierüber nicht unnötig aufregen, weshalb er, um das Thema zu wechseln, auf den Bretterbeschlag deutete, den man vor ein paar Säulen gezimmert hatte. „Was ist dort drüben?“, fragte er. Schiller blieb stehen. „Dort sind die Käfige mit den Gruls.“ „Gruls?“, fragte Karl neugierig. Sein Großvater lachte gehässig. „So naiv, wie du bist, hast du dich natürlich nie gefragt, wen ihr dort in Weimar unter die Erde gescharrt habt, hm?“, meinte er. „Nein, ich – es ist so viel passiert, da dachte ich gar nicht mehr dran.“, hatte Karl das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. „Nun“, begann Schiller Senior. „Ihr habt nicht meinen Sohn begraben, sondern ein Grul. Das ist eine Art Pflanze, vielleicht auch eher ein Tier. Legt man ihm ein Bildnis in den Käfig, so nimmt es die Gestalt der abgebildeten Person an. Im Sarg zerfällt es dann mit der Zeit zu Staub und man muss bei Gelegenheit nur ein paar zusammengesammelte Knochen hineinwerfen. So verabschieden wir Schiller uns schon seit Jahrhunderten von den so genannten Lebenden, ohne aufzufallen.“ Karl sagte daraufhin nichts, er starrte nur hinüber zu den abgeschirmten Käfigen. „Sag nur Bescheid, dann züchten wir dir auch eines.“, redete sein Großvater weiter. Karl wandte sich ab. „Ich möchte zurück zu unserer Hütte.“ Caspar Schiller trat ihm in den Weg und sah ihn mit durchdringendem Blick an. „Reizt es dich wieder, hm? Kaum siehst du ihn eine Weile nicht, steigen schon die Gelüste auf?“ „Das sind keine Gelüste!“ Karl wollte dem Größeren ausweichen, aber der griff nach seinem Arm. „Oh doch, es sind Gelüste. Und daran ist auch nichts Verwerfliches, sofern du sie für die richtige Person empfindest. Für eine junge Frau.“ Karl sah seinem Großvater entschlossen in die Augen. „Es ist meine Freiheit zu entscheiden, für wen ich was empfinde!“ Mit diesen Worten riss er sich los und stürmte davon. „Komm her.“ Karl folgte zögerlich Augusts Händen, die ihn aufs Bett zogen. „Wieso…?“ Warme braune Augen sahen zu ihm auf. „Wenn du mir schon wehtust, dann will ich es wenigstens bequem dabei haben.“ „Ich will dir nicht weh– “ „Komm her.“ Mit einem Ruck hatte ihn August zu sich gezogen. Karl kniete über ihm, musste an die Worte seines Großvaters denken. Der Blonde legte ihm lächelnd eine Hand an die Wange. „Willst du mich heute Abend gar nicht beißen? Sag bloß, du bist noch satt.“ Als Karl ihn nur anstarrte, hielt August inne. „Oder…“, begann er und ließ langsam seine Hand sinken, das Grinsen vom Gesicht verschwunden. „…hast du jemand anderes gefunden…?“ Karl wurde warm, als er den Schmerz in Augusts Stimme hörte, die Eifersucht spürte. „Niemals“, sagte er und ließ sich endlich an den Körper des anderen sinken. „Niemals, August, werde ich anderes Blut trinken als deines.“ Er vergrub sein Gesicht in den Haaren des Älteren, sog den wohligen Geruch ein, der ihm wieder das Kribbeln im Magen bescherte. „Und niemand wird mich je dazu bringen, dieses Versprechen zu brechen.“ August spürte die Worte an seinen Hals gehaucht, spürte Karls Zunge auf der Haut. „Gib mir deine Hand.“, brachte er heraus, und Karl kam der Bitte nach, fasste ihn fest, bevor er langsam seine Eckzähne ins Fleisch bohrte. August blieb der Schrei im Halse stecken, mit flatternden Wimpern schloss er die Augen, zog den Körper des anderen dichter an seinen. Als Karl sein Blut zu saugen begann, entwich ihm ein kehliges Lachen. „Es tut schon gar nicht mehr weh“, meinte er. „Es tut nur noch, ah…gut…“ Karl verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an seinen Großvater, als er sich von August das Blut von den Lippen küssen ließ. Die nächsten Wochen fing Karl jedoch an zu zweifeln. Was war das, was er für August empfand? Hatte sein Großvater am Ende doch Recht und…? Aber es war doch nichts…nichts Verwerfliches dabei, wenn er diesen wunderbaren jungen Mann liebte, oder? Zumindest empfand der Dunkelhaarige keinerlei Scham, wenn er an dessen Brust lag, den süßen Geschmack seines Blutes im Mund, dem aufgehetzten Herzschlag lauschte und sich wünschte, dieser Moment würde niemals vergehen. Aber er getraute sich nicht, mit August darüber zu sprechen, was genau das wohl war, was er fühlte, was das Kribbeln in seiner Magengegend zu bedeuten hatte, wieso er es so genoss, wenn der Ältere ihm das Blut von den Lippen küsste… Nächsten Sommer sollte er es aber ganz von selbst herausfinden. Es war in Spanien, an dessen Mittelmeerküste er mit August, Vater und Großvater Urlaub machte. In der Strandhütte, die er sich mit August teilte, ist es eines Nachts geschehen. Es war eine heiße, schwüle Nacht. Sie schliefen ohne Decke, August roch noch intensiver als sonst und schien schon zu glühen, als Karl ihm über den Hals leckte und seine Zähne in der blassen Haut versenkte. Der Ältere keuchte dabei wie immer so herrlich auf, krallte seine Finger fest in die dunklen Locken seines Freundes und zog ihn mit dem anderen Arm so dicht an sich, wie nur möglich. Dabei passierte es, dass Karl an seinem Oberschenkel spürte, dass August die gleichen Gefühle überkamen, wenn er ihn biss, wie er selbst sie fühlte. Sein Großvater hatte ihn gewarnt. Trotzdem gab Karl dem Bedürfnis nach, seinen Körper noch fester an den des Älteren zu pressen, fuhr ihm mit zittrigen Fingern durch die Haare, über die Brust, den Bauch, auf dem er durch das dünne Hemd jede Muskelbewegung spürte, als sie sich gegeneinander bewegten und August seinen Namen stöhnte. Karl ließ keuchend von ihm ab, küsste sich mit blutverschmierten Lippen den Hals seines Freundes hinauf, um ihm außer Atem und ein wenig ängstlich in die Augen zu schauen. Doch der Blick des Älteren nahm ihm jede Angst und jeden Zweifel, sodass er gierig ihre Lippen aufeinanderpresste und aufstöhnen musste, als August den leidenschaftlichen Kuss innig erwiderte. Weitere solcher Küsse folgten, der Ältere zog ihm das Hemd von den Schultern, drängte ihn mit Händen und Lippen, welche über Brust und Bauch huschten, in die Kissen, und als sie endlich nackt und eng umschlungen aufeinander lagen, spürte Karl, welch Lust August ihm bescheren konnte, auch ohne dass er einen Tropfen Blut von ihm trank. Mit klopfenden Herzen und außer Atem lagen sie sich schließlich in den Armen, der Dunkelhaarige sein Haupt auf Augusts Schulter gebettet, welcher ihm zärtlich über den Nacken streichelte. „Meinst du das…das hängt mit unserem Bündnis zusammen, dass…ich dich…dass ich mich so zu dir hingezogen fühle?“, fragte der Jüngere nach einer Weile leise. „Ich weiß es nicht.“, antwortete ihm August und lächelte ihn liebevoll an, „Ich weiß nur, dass…dass ich schon immer, wenn du mich gebissen hast, diesen…diesen brennenden Wunsch in mir spürte, dir so nahe wie möglich zu sein.“ Karl erwiderte das Lächeln mit einem glücklichen Grinsen und lehnte sich für einen sanften Kuss zu seinem Freund. „Meinst du…“, begann er nach einer Weile wieder, „Meinst du, unsere Väter…hatten…jemals den gleichen Wunsch?“ Da räusperte sich August und wurde ein wenig rot. „Ich…darüber möchte ich eigentlich nicht nachdenken.“, meinte er und der Jüngere musste herzlich lachen. Er lachte auch ein wenig seinen Großvater aus, der ihm zusammen mit seinen Morallehren gestohlen bleiben konnte. „Ich liebe dich, August.“, gestand er. „Ich dich auch, Karl.“ Und es fühlte sich unglaublich richtig an. Kapitel 18: Generationenvertrag ------------------------------- Karl lag noch im Bett – er hatte gestern noch bis spät in die Nacht bei Kerzenschein gezeichnet – als August zu ihm kam. Der Ältere nahm auf dem Bett Platz und beugte sich zu seinem Freund hinab, um ihm einen sanften Kuss zu geben. „Willst du nicht endlich mal aufstehen, Schlafmütze?“ Karl reckte sich nur für einen weiteren Kuss dem anderen entgegen. Schmunzelnd blickte August ihn schließlich an. „Dein Großvater ist da. Er möchte, dass du zu ihm kommst.“, meinte er. Karl seufzte auf und fuhr dem Kleineren durch die Haare. „Ob er es weiß?“ Er küsste den Hals des Älteren. „Er weiß es schon längst.“, flüsterte August und schloss einen Moment genießerisch die Augen. „So?“ „Bestimmt.“ Er drückte Karl noch einen Kuss auf die Lippen, bevor er sich erhob. Karl blieb noch ein paar Minuten liegen und starrte an die Decke, dann stand er endlich auf, um sich zu waschen und anzuziehen. Im Wohnzimmer traf er nicht nur seinen Großvater, sondern auch seinen Vater an. Friedrich Schiller jedoch sah ganz und gar nicht zufrieden aus. „Was gibt es?“, fragte Karl. Bevor Schiller Senior antworten konnte, sprach sein Vater: „Wieso hast du August nicht mitgebracht?“ „Ähm…“ Sein Großvater schnaubte. „Wieso sollte er – “ „August gehört zur Familie. Wir sollten vor ihm nichts verheimlichen.“, unterbrach ihn Schiller energisch. „Dieser Unglücksstifter gehört nicht zur Familie!“ „Vater!“ Schiller packte den Alten an den Schultern. „Sag mir, was hast du gegen ihn?!? Einen plausiblem Grund will ich hören!“ Das blasse Gesicht Caspar Schillers färbte sich ungesund rot. „Das weißt du ganz genau! Er hat mir meinen Enkelsohn verführt, genauso wie sein Vater meinen Sohn verdorben hat!“ Kompromisslos schleuderte der Alte Schiller von sich. Da konnte Karl nicht länger zuschauen. „Herr Großvater, hören Sie zu!“, sagte er mit fester Stimme und trat an den anderen heran. „Sie wollen doch, dass Ihr Sohn glücklich ist.“ „Natürlich will ich das, aber mit einer Frau! Mit einer Frau soll er glücklich sein!“ „Und wenn ich das nicht kann?!“ Schiller rieb sich den Arm, an dem ihn sein Vater grob von sich gestoßen hatte, und blickte trotzig zu ihm auf. „Was ist, wenn ich nur mit Goethe glücklich sein kann? Nur einzig und allein mit ihm?“ Caspar Schiller schäumte vor Wut. „Eine Schande ist das! Eine Schande für die ganze Familie!“ Er wedelte drohend mit seinem Zeigefinger, versuchte sich zu fassen, Worte zu finden. „Ich werde…! Ich werde diesen Ehrbeschmutzer von hier verbannen! Und wenn er nicht gehen will, werde ich ihn eigenhändig töten!“ Karl starrte den Alten entsetzt an. Der Alte meinte doch wohl nicht August…! Er biss die Zähne aufeinander, dass sie knirschten. „Das wirst du nicht!“, schrie er und wutentbrannt stürmte er auf den Mann zu, doch sein Vater schmiss sich zwischen sie und zog seinen Sohn zu sich. „Karl. Karl beruhige dich.“ Zornig sah Schiller zu seinem Vater auf. „Gut. Ich schlage dir einen Handel vor.“, fing er an, „Ich will meinen Sohn nämlich nicht unglücklich sehen.“ Schiller Senior richtete sich seinen Kragen. „Was soll das für ein Handel sein?“, fragte er. Karl sah unwillig zu seinem Vater auf, der ihn immer noch festhielt. Es kostete Schiller einige Überwindung, das merkte der Dunkelhaarige, bevor er antworten konnte. „Du wirst die Beziehung von Karl und August dulden, Vater. Im Gegenzug will ich deinen Wunsch erfüllen und zum ersten Vollmond nach der Sommersonnenwende im Jahre 1816 eine Frau heiraten, mit der ich einen Schiller zeugen werde, der ganz deinen Vorstellungen entsprechen wird.“ Entsetzt blickten Karls blaue Augen auf. „Aber, Vater…!“ „Kein Aber.“, unterbrach ihn sein Vater sanft, „Es ist sowieso zu spät für mich, glücklich zu werden. Deshalb möchte ich es wenigstens dir gewähren, mein Sohn.“ Karl wollte widersprechen, aber da meldete sich Schiller Senior zu Wort. „Einverstanden“, sagte er. „Schenke mir einen Schiller, der unsere Familie weiterführen wird, und ich werde dies…“ Er sah abfällig zu Karl. „…dieses Vergehen dulden.“ „Abgemacht.“ Vater und Sohn gaben sich die Hand, woraufhin Karl sich seinem Vater an die Brust warf und zu weinen begann. Sie hatte lange schwarze Haare. Ein glänzendes, seidiges Schwarz. Ihre Augen waren grün und ihre Haut typisch blass. Sie hatte ein aufgesetztes Lachen, neigte zur Extravaganz und war das eindrucksvolle Gegenteil zu Karls Mutter. „Ich hasse sie.“ August legte Karl einen Arm um die Schultern. „Das ist selbstverständlich, dass du sie hasst. Aber dein Vater kommt doch gut mit ihr aus.“ Der Jüngere gab nur ein Grummeln von sich. Tatsächlich benahm sich Schiller, zwar nicht wie ein Frischverliebter, aber doch immer zuvorkommend seiner zukünftigen Angetrauten gegenüber. Er unternahm zahlreiche Ausflüge mit ihr, verbrachte einige Nächte mit ihr zusammen auf den Felsen, wo sie gemeinsam den Sonnenuntergang bewunderten. Während Karl sich sicher war, dass sein Vater das alles nur ihm zuliebe tat, war Caspar Schiller momentan der glücklichste Schiller in Korinth, vielleicht sogar des ganzen Erdballs. Er konnte manchmal richtig lächeln, war zu Späßen aufgelegt und behandelte alle höchst gütig, nur August schien er immer noch zu verachten. „Es tut mir Leid“, hatte Karl einmal seinem Freund gegenüber angefangen, über dieses Thema zu sprechen, aber das wollte der Blonde gar nicht hören. „Es muss dir nichts Leid tun, Karl, du kannst nichts dafür. Nur mir muss es Leid tun, dass dein Vater wegen mir solche Strapazen auf sich nimmt.“ Madame Cordes, so hieß die Glückliche, begann gerade im Nebenraum schrill zu lachen, und machte so noch einmal überdeutlich, um welche Strapazen es sich hier handelte. Kapitel 19: Drum prüfe, wer sich ewig bindet … ---------------------------------------------- Es war noch eine Woche hin, bis Korinth die größte Feier der letzten zehn Jahren erleben sollte. Die Frauen im Dorfe waren so aufgescheucht wie ein Schwarm Bienen, die Männer verbrachten ihre Zeit damit, nach und nach der Adelsfamilie und ihrem Oberhaupt Caspar Schiller Glückwunschbesuche abzustatten. Karl und August war das alles zu viel geworden, sie hatten sich ein Zelt etwas Abseits aufgestellt, am Rande der beginnenden Felder. „Das wird die schwärzeste Nacht für meinen Vater werden.“, nuschelte der Jüngere in das Halstuch seines Freundes, als sie frühmorgens noch zusammen auf dem Bett lagen. „Er wird seine Freiheit verlieren. Er wird sein Schillern verlieren, seine Unsterblichkeit. Er wird dem Begriff »todunglücklich« eine neue Bedeutung geben…“ August hätte gerne gesagt: „So schlimm wird es schon nicht werden“, aber ihm fehlte der Mut, den Dunkelhaarigen anzulügen. „Er hat deinen Vater geliebt. Er liebt ihn immer noch.“, begann Karl so aufs Neue. „Ich weiß.“, entgegnete der Ältere sanft. „Und Vater weiß es auch. Er hätte meine Mutter nicht heiraten sollen.“ „August, bitte. Es war sein gutes Recht. Wirf ihm das nicht vor.“ August seufzte. „Wir sollten unsere momentane Abgeschiedenheit und die Beschäftigung der anderen anders ausnutzen, als uns solche trüben Gedanken zu machen, Karl, meinst du nicht auch?“ Karl sah, etwas überrumpelt über den Themenwechsel, zu August auf. Der fuhr ihm liebevoll durch die dunklen Locken und lächelte ihn herausfordernd an. „Beiß mich, oder ich küss dich.“ Die blauen Augen sahen der Sonne zu, wie sie sich ins Tal senkte, wie sie ihm noch einmal leuchtete. Er stellte sich vor, die Landschaft wäre nicht so öde, wäre bepflanzt, hätte Laubbäume zu bieten, Nadelbäume, ein paar ansehnliche Häuser, ein wenig Weimarsche Kultur. Schwer war es jedoch, sich statt den unruhigen, kitzelnden, schlanken Fingern einen festen Händedruck vorzustellen, der warm war, voller Halt und Vertrauen. „Wenn morgen die Sonne aufgehen wird, sind wir ein Ehepaar, mein Schatz.“ Obwohl ihre Stimme, so hoch und schrill, keinesfalls angenehm in Schillers Ohren klang, erwiderte er ihr Lächeln. „In der Tat, das werden wir sein.“ „Ich bin so glücklich, Friedrich.“ Er nahm sie in den Arm und ließ es zu, dass sie ihren Kopf an seine Schulter legte. Sanft fuhr er durch ihre glatten Haare, seidiger als Seide. Sie war eine Schönheit, das konnte er nicht leugnen. Er sollte sich glücklich schätzen, dass sein Vater diese Wahl getroffen hatte. Noch bevor die Sonne gänzlich vergangen war, mussten sie aufstehen. Als sie die ersten Hütten wieder erreichten, stand schon Lissi wartend da, um die baldige Braut in Empfang zu nehmen. „Cornelia“ Sie begrüßten sich mit einem Kuss auf die Wange. Lissi sah ihren jüngeren Bruder an. Sie lächelte, aber sie verstand bestens. „Geh zu Vater, er will dich noch einmal fertig eingekleidet sehen, bevor ihr zum Forum aufbrecht.“ Schiller nickte nur. „Bis nachher.“ Er verabschiedete sich von Cornelia mit einem Handkuss. Es war nicht mehr hell, aber noch nicht dunkel über Korinth. Der Mond war hinter Wolken verschwunden und würde bald an seiner höchsten Stelle stehen, dann, wenn das Brautpaar vor dem Altar stand. Schiller betrat die Hütte mit einem breiten Lächeln, und sein Vater sprang sofort von seinem Sessel auf. „Mein Sohn! Da bist du ja!“ Wirklich. Dieser Mann war glücklich. „Ich konnte mich gar nicht von Cornelia losreißen, tut mir Leid.“ Caspar Schiller lachte. „Das sei dir verziehen, Junge. Nun geh dich umziehen; Nanette hat dir etwas bereitgelegt. Und dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg. Ganz Korinth wartet schon auf dich.“ Schiller nickte und warf den Vorhang beiseite, um durch den Gang in sein Zimmer zu gelangen. Dort lag auf seinem Bett ein schwarzer Gehrock, passend dazu eine Hose, eine Weste und ein schneeweißes, mit Rüschen besetztes Hemd. Wie unter Trance entkleidete er sich, zog die Sachen über. Er schloss den letzten Knopf an seiner Weste, hängte sich den Gehrock um, seine Hände zitterten dabei. Als er sich im Spiegel betrachtete, konnte er nicht mehr. Langsam und stumm sank er auf dem Boden zusammen, die Tränen rollten ihm über die Wangen. Nie mehr!, hatte er sich damals geschworen; nie mehr würde sein Vater über ihn bestimmen. Er war aus dieser Militärschule geflohen mit dem Gedanken an Freiheit. Mit dem Gedanken an diesen Mann, den er treffen musste, kennenlernen, der diese wunderbaren Zeilen geschrieben hatte, die ihn seit dem ersten Lesen gefesselt hatten; mit dem Gedanken an ihn war er aus den Fängen seines Vaters, aus dieser Festung geflohen. Und mit dem Gedanken an Goethe würde er sich heute Nacht auch wieder in die Ketten der Gefangenschaft zurückbegeben. Die Nacht war schwarz, unzählige Fackeln leuchteten ihren Weg; die größte war der Mond. Zusammen mit seinem Vater betrat Schiller das Forum. Cornelia strahlte. Sie trug weiß, wirkte auf einmal gar nicht mehr so blass. Ihr Kleid hätte ihm den Atem geraubt, ihre Schönheit ihm Flügel verleiht, wäre er mit seinen Gedanken nicht bei Goethe. Goethe. Wieso hatte er das aufgegeben? War ihm nicht klar gewesen, dass so etwas nicht noch einmal passieren konnte, dass das, was sie beide gehabt, was sie miteinander gelebt hatten, einmalig gewesen war? Er fühlte sich unvollständig, als er Cornelias Hand nahm, so unvollständig, wie schon die ganze Zeit seit seiner Abreise aus Weimar. Er wusste sehr wohl, dass er unsterblich war, aber doch war er damals ein wenig gestorben. Er hatte eine Hälfte verloren, wohlmöglich noch seine bessere Hälfte. Er hatte denjenigen verloren, der ihn verstand, der ihn ergänzte, der ihm die Fantasie war, der ihm die Liebe war, der von ihm alles verlangen könnte, er hätte es getan, ja, der es sogar geschafft hatte, seine eigentlich von Natur aus kalten Hände zu wärmen. Cornelias Hand war eiskalt. Der Mondpriester stand als gebrechlicher alter Mann vor ihnen. Er redete mit harscher Stimme. Schiller hörte nicht zu. Es roch nach Weihrauch. Er kämpfte dagegen an, sich auf diesen Geruch einzulassen. Er wollte ihn nicht verlieren, den Duft, der seit Weimar immer schwächer geworden war. Wenn er ihn verlieren würde, wäre das sein Ende. Cornelia lächelte ihn an. Er konnte sehen, wie erwartungsvoll ihnen sein Vater zusah. Wie erwartungsvoll alle zusahen. Das ganze Dorf war gekommen, wenn jetzt, endlich nach fünf Jahren, doch noch der Sohn der hohen Adelsfamilie diese Schönheit heiraten würde. Eine Traumhochzeit. Schiller sah August und Karl, die oben auf einem Hügel unter einem Maulbeerbaum saßen. Er wollte heulen, lächelte seine Braut stattdessen an. Der Priester hob seine Hände. „So wollen wir euch nun also hören, und der nächtliche Mond soll eure Antworten bezeugen.“ Goethe. „Willst du“ Goethe, hören Sie! „Cornelia Magdalena Eliza Cordes“ Goethe, ich bitte Sie! „deinen Blutspartner lieben und achten“ Goethe, ich flehe Sie an! „und ihm die Treue halten bis in alle Ewigkeit?“ Auf Knien flehe ich Sie an! „So antworte mit »Ja, ich will«.“ Ich brauche Sie doch! Er schluckte. Cornelia lächelte ihn an. Ihre Augen schillerten, als die Worte ihre blutroten Lippen verließen. „Ja, ich will.“ Er schloss die Augen. Sein Herz schlug viel zu schnell „Willst du, Johann Christoph Friedrich Schiller“ Plötzlich war es ruhig. Die Worte des Priesters waren so weit weg, als stünde er hinter einer Mauer. Schiller spürte eine einzige Träne auf seiner Wange, wie sie lief. Und lief. Und lief. Und rannte. Etwa…zu ihm? – Konnte das wirklich…?! Kapitel 20: … ob sich das Herz zum Herzen findet ------------------------------------------------ Als Schiller aus seiner Betäubung erwachte, spürte er als erstes seine Hand. Sie wurde fest gedrückt. Cornelia. Dann hörte er, wie die Stimme des Priesters wieder zu ihm vordrang. Er öffnete die Augen und sah. Und er musste lächeln. Nur weil er es ganz einfach wusste. „So antworte mit »Ja, ich will«.“ „Vater!“ Schiller drehte sich herum. Die ganzen Gäste drehten sich herum, um zu sehen, wer da so dreist die Zeremonie unterbrach. Karl, immer noch oben unterm Maulbeerbaum, packte August am Arm, um nicht vor vollkommenem Erstaunen den Halt zu verlieren. „Ernst!“, rief er, als er erkannte und innerlich spürte, wer da angerannt kam, „Oh mein Gott, August! Es ist mein Bruder! Ernst!“ Schiller sprang vom Podium und hechtete durch die Menge. „Friedrich, was– ?!“, stieß Caspar Schiller entsetzt aus, aber er wurde nur zur Seite gestoßen. „Ernst, mein Junge!“ Schiller schloss Karls jüngeren Bruder in die Arme. Er erdrückte ihn fast. „V-Vater, wieso weinst du?! Ich bin doch hier, weil…! Ich bringe gute Nachrichten!“ „Ich weiß“, brachte Schiller unter Tränen hervor. „Ich spüre es. Deshalb bin ich doch so glücklich, so…!“ „Was soll das?!?“ Schiller Senior hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und packte seinen Sohn am Arm. „Du gehst jetzt sofort wieder da hoch und– “ „Aber, Vater, er – argh, du tust mir weh!“ „Komm mit, sag ich! Du schließt jetzt diese Ehe– “ „Das wird er nicht tun!“ Schiller lebte. Er spürte wieder, dass er unsterblich war. Er spürte wieder, was es hieß, verstanden zu werden, was Fantasie war, was Liebe. Mit einem Ruck riss er sich von seinem Vater los und rannte die Straße mit einer solchen Course hinab, wie er sie noch nie gemeistert hatte, um sich an ihrem Ende seiner wiedergefundenen Hälfte in die Arme zu werfen. Johann Wolfgang von Goethe hatte kein bisschen seines Duftes und seiner Wärme verloren. Sein Lachen war immer noch so unheimlich sanft. „Aber Schiller, wieso schluchzen Sie denn so dramatisch?“ „Weil Sie Ihren finalen Auftritt nicht dramatischer hätten inszenieren können.“ Er verschluckte sich fast an seinem Lachen. Goethe ließ ihm gewähren, dass er ihn noch immer in den Armen hielt, und streichelte ihm durch die blonden Haare. Als Karl und August den Hügel hinunter kamen, war bei den Gästen Unruhe und Unverständnis ausgebrochen. „Wer…? Ein Mensch?!?“ „Ist das nicht der Dichter Goethe?!“ „Was geschieht hier?“ „Sollte das nicht eine Hochzeit zwischen Herrn Schiller und Madame Cortes sein…?“ Cornelia konnte einem fast schon ein wenig Leid tun, wie sie da so verlassen und einsam auf dem Podium stand. „Vater!“ Schiller ließ Goethe endlich los, um ihm zu ermöglichen, seinen Sohn in die Arme zu schließen. „August, du…“ Karl konnte den Schmerz in Goethes Gesicht sehen, als dieser den Jungen an sich drückte. „Du weißt, wieso ich hier bin.“, sagte er leise und ließ August wieder los. Der sah zu seinem Vater auf, als wenn es ihm jetzt erst klar geworden wäre. „Mutter…“, war alles, was er herausbekam. Goethe wich seinem Blick aus. Er war noch nie besonders gut, wenn es um solche Sachen ging. „Ja, du…du wirst Sie wohl nicht mehr wieder sehen. Nicht hier. Sie hat an dich gedacht, als sie…“ „Wann?“, fragte August. „Am 6. Juno diesen Jahres. Ich habe mich gleich nach ihrer Beerdigung auf den Weg hierher gemacht.“ Goethe sah wieder zu Schiller auf. Er lächelte ihn an. „Es tut mir Leid, ich wollte Ihnen eigentlich den Freiraum geben, den Sie für die Weiterführung Ihrer Familie gebraucht hätten, aber, verzeihen Sie mir, ich konnte das Verlangen in mir nicht bekämpfen, Sie wieder sehen zu wollen.“ „Es sei Ihnen alles verziehen.“, entgegnete Schiller, und er ignorierte das zwischen Scham, Entsetzen und blanker Wut entstellte Gesicht seines Vaters, als er Goethes Gesicht sanft in die Hände nahm und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte. Er lachte kurz auf. „Spüren Sie, wie…“ „Ich sehe es“, meinte Goethe leise. „Sie zittern. Aber wir sollten…“ Er schob Schiller leicht von sich und sah in die Runde. „Meine Damen und Herren“, fing er schließlich mit lauter Stimme an. „Ich kann es an Ihren Gesichtern ablesen, dass Sie sich diese Nacht so nicht vorgestellt hatten. Aber ich möchte Sie beruhigen, Sie werden nicht leer ausgehen. Ganz besonders Sie nicht, Herr Schiller.“, wandte er sich Schiller Senior zu, der vor Wut zitterte. Karl wunderte sich, dass er noch nicht auf Goethe losgegangen war und ihn zerfleischt hatte. „Schauen Sie, hier“ Goethe nahm Ernst an den Schultern und schob ihn ein wenig nach vorne. „Das ist Ihr Enkelsohn, Karls jüngerer Bruder. Sie spüren alle sicherlich, dass er kein Mensch ist.“ Caspar Schillers Augen weiteten sich. „Was?!? Er auch?! Das…das ist mein Enkelsohn und er ist ein Schiller…?“ „Ja, das…das bin ich, Herr Großvater.“, bestätigte Ernst, wenn auch etwas schüchtern. Langsam kam Schiller auf sie zu. „Wie alt ist er?“ „Fünfzehn“, antwortete Ernst. „Ich bin im Jahre Ihres…Verschwindens geboren.“ Der Alte musterte den Jungen mit scharfem Blick. „Seit wann weißt du, dass du ein Schiller bist?“ „Seit…seit letztem Jahr erst. Ich hab…wir waren an Ostern Eier suchen im Garten des Herrn von Goethe und da hab ich…“ Er stockte und versuchte mit geröteten Wangen dem Blick seines Großvaters auszuweichen. „Ein Mädchen ist hingefallen und hat sich das Knie und die Hände aufgeschürft.“, sprach Goethe für ihn weiter. „Sie hat geblutet. Ich konnte Ernst gerade noch davon abhalten, über sie herzufallen.“ Als Goethe den erstaunten, aber anerkennenden Blick in Caspar Schillers Augen sah, musste er schmunzeln. „Und ich verspreche Ihnen, ich habe nur diesen einen Sohn, der schon vergeben ist, um Ihnen Ihren Enkel »verderben« zu können. Also brauchen Sie sich keine Sorgen mehr um einen Nachfolger zu machen, der Ihre Familie weiterführen kann.“ Caspar Schiller nickte. Etwas abwesend, aber er nickte. Er schien kräftig zu überlegen, warf seinem Sohn einen skeptischen Blick zu. „Ich werde Cornelia nicht heiraten“, stellte der gleich klar. „Nicht unter diesen Umständen. Hier hast du deinen Nachfolger. Also lass Karl mit August und mich und Goethe in Frieden.“ Caspar Schiller nickte noch einmal. Er sah wieder zu Ernst. Ganz langsam legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Plötzlich nahm er Ernst an der Hand und riss diese nach oben. „Habt ihr das gehört?! Hier ist er, mein Enkelsohn! Mein Stammhalter!“ Die Gäste klatschten Beifall, einige Frauen lachten herzhaft und erleichtert. „Wenn ihr noch fünf Jahre Geduld habt, dann wird Ernst…?“ „Ernst Friedrich Wilhelm“, merkte der Junge mit einem schüchternen Lächeln an. „Dann wird Ernst Friedrich Wilhelm Schiller hier auf dem Forum seine Blutsbraut heiraten!“ Ernst wurde wieder rot, als er bemerkte, wie ein paar der anwesenden Mädchen kichernd zu ihm schauten oder ihre Mütter am Rock zupften, um sie zu fragen, ob sie denn eine Chance hätten. „Aber wir…“ Wieder wandten sich alle Blicke Goethe zu. Dieser sah zu Schiller auf. Er wirkte leicht unsicher. „Wenn wir schon einmal diese Nacht hier versammelt sind, und der Mond noch so wundervoll leuchtet…“ Er lachte. „Ich weiß nicht, wie das bei Schillern üblich ist, aber ich folge einfach mal dem mir bekanntem Ritual und…“ Damit nahm er Schillers Hand und machte mit ihm einen Schritt auf dessen Vater zu. „…und halte um die Hand Ihres Sohnes an.“ Kapitel 21: Bluthochzeit ------------------------ Ein Raunen ging durch die Menge. Schiller sah genauso erstaunt wie alle anderen drein. „Aber, Goethe! Dazu müssten Sie ein Schiller werden…!“ Goethe nickte lächelnd. „Es hört sich zwar ungewöhnlich an, wenn ein Goethe ein Schiller wird, aber ich war schon immer dazu bereit gewesen.“ Er drückte Schillers Hand fester. „Wenn Sie es sind, der mich verwandelt.“ „Das – nein, das geht nicht!“, rief Caspar Schiller entrüstet. „Das…ist nicht…das ist nicht vorgesehen!“ „Aber wieso nicht, Papa?“ Der Alte drehte sich herum, um zu sehen, wer ihm da eben so in den Rücken gefallen war. Es war seine eigene Tochter, Nanette. Sie sah ihn sanft lächelnd an. „Wenn sie es doch wollen.“ Alle seine Töchter sahen ihn mit diesem Blick an. Und plötzlich hatte er das Gefühl, dass seine gesamten Gäste ihrer Meinung waren. „Friedrich hat so viele Jahre auf Menschenblut verzichtet, immer an Herrn von Goethe gedacht. Du willst doch nicht deinen eigenen Sohn todunglücklich machen, Vater.“ „Das kommt selten vor, Herr Schiller, aber es kommt vor, dass es zwei Männer sind, die das Bündnis eingehen.“ „Ich, ähm…“, meldete sich der Mondpriester zu Wort. „Ich habe in meiner langen Laufbahn in der Tat auch schon zwei Männer miteinander vermählt.“ Caspar Schiller biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich unwohl dabei fühlte, aber er spuckte die folgenden Worte aus: „Nun gut. So sei es.“ Und während die Menge Platz machte, damit Schiller und Goethe zum Podium laufen konnten, nahm Schiller Senior seinen jüngeren Enkelsohn an die Hand. „Bitte enttäusch du mich nicht, Ernst. Sonst bin ich ein gebrochener Mann.“ Ernst schluckte und ließ seinen Blick schüchtern hinüber zu dem Mädchen schweifen, das ihn schon die ganze Zeit unverhohlen betrachtete. Goethe merkte, als sie schließlich oben auf dem Podium standen, was in Schiller vorging. Er hatte es immer gewusst, was der andere fühlte, dachte, wollte. All die Jahre ohne Menschenblut. Verständlich, dass der Blonde vor Verlangen zitterte. So versuchte der Ältere dem Priester mit einem Blick klarzumachen, dass er sich beeilen sollte. Und endlich, dachte Schiller, fühlte es sich richtig an, was er hier tat. Wieso er hier stand. Wie Goethe ihn anlächelte und sagte: „Ja, ich will.“ Er hätte wieder gegen Tränen, diesmal der Rührung, ankämpfen müssen, wenn er nicht schon ganz wo anders mit seinen Gedanken gewesen wäre. „So antworte mit »Ja, ich will«. Er sah in die warmen braunen Augen, die morgenfrüh schon schillern würden. Rot wahrscheinlich. Orange. Er hatte Angst, dass seine Stimme aufgeben würde, aber sie gehorchte ihm. „Ja, ich will.“ „Möge der Mond euch auf ewig zusammenführen. Sie dürfen die Ehe nun besiegeln und das Bündnis eingehen.“ Schiller wusste, dass manche Paare das Bündnis, wenn sie es noch nicht getan hatten, noch vor dem Priester und den Gästen eingingen, und er wusste auch, dass er Cornelia hier auf diesem Podium gebissen hätte. Aber genauso gut wusste er, dass es jetzt, in dieser Situation, unmöglich war. Das konnte er weder Goethe, noch seinem Vater antun. Ganz zu schweigen den Kindern, die zusahen. Also legte er nur zaghaft seine Lippen auf Goethes, und sie gaben sich einen kurzen Kuss. Er hielt Goethe an beiden Armen, als er ihn wieder anblickte. Das Jubeln der Menge war ein Rauschen in seinen Ohren. „Ich…kann nicht mehr…“, brachte er heraus. Goethe lächelte ihn an, grinste. „Dann sollten wir gleich zu unserem Hochzeitschmaus übergehen.“ Karl hatte seine Hände aneinandergelegt. „Tja“, meinte er. Sah zu August auf. Der begann zu lachen. „Ich bin froh“, meinte Karl. „dass wir Vater nicht gefragt haben. Wie weit die beiden gehen, meine ich.“ August nickte, den Blick auf die Straße gerichtet, wo ihre Väter soeben mit Schillers Course zwischen den Lehmhütten verschwunden waren. „Sonst wüssten wir jetzt genau, was sie machen.“ Er verzog leicht das Gesicht. „Und das will ich ehrlich gesagt nicht wissen.“ Caspar Schiller rief in die Runde und lud seine Gäste zum großen Bankett auf der Wiese ein. „Ich dachte, ihr Schiller braucht nichts zu essen. Nichts Normales.“ Karl nahm seine Hand. „Brauchen wir auch nicht, aber was ist schon ein Fest, ohne einen Festschmaus?“ Goethe hatte die Augen geschlossen. Er konnte sich nicht bewegen, Schiller kniete über ihm, drückte seine Handgelenke neben seinem Kopf auf die Matratze. „W-wieso…“ Sein Atem ging viel zu schnell. „Schiller…!“ Der Blonde lachte leise, das Gesicht zu ihm hinuntergebeugt, sodass seine blonden Locken über die gebräunte Haut des Älteren streichelten. „Was ist?“ „Wieso beißen Sie mich nicht…endlich?“ „Weil ich dieses Gefühl genießen will.“, antwortete er, seine Stimme nur ein heißeres Flüstern. „Das Gefühl, dass Sie wieder hier sind. Dass ich Sie beißen kann, dass ich Sie schmecken darf…“ Goethe schluckte. Die Augen des anderen schillerten so intensiv und wild, wie er sie noch nie gesehen hatte. „Ich spüre, dass Sie es auch wollen. Dass Sie es nicht mehr erwarten können, …endlich…wieder…von mir gebissen zu werden…“ „Das…das stimmt, Schiller, das stimmt alles, ich…! Jetzt…bitte…!“ Langsam ließ Schiller seinen Kopf sinken, presste seine Lippen an Goethes Stirn. „Elf…elf Jahre…“ Er zitterte am ganzen Körper. Sog den Geruch des anderen ein, als wenn sein Leben davon abhängen würde. Ließ seinen Mund die Schläfe entlang wandern, über die Wangenknochen, zum Ohr, weiter hinab. „Bitte…“ Er löste das Halstuch. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Da waren die zwei kleinen roten Punkte. Immer noch seine Brandmarkung. Nach all diesen Jahren. „Ich liebe Sie, Goethe.“ „Ich Sie – hnnngh!“ So gut hatte er es gar nicht in Erinnerung. Mit jedem Schluck, den Schiller von ihm nahm, wurde dessen Griff an seinen Handgelenken ein wenig schwächer. Er machte sich los und umfasste den schmalen Körper, um ihn näher an sich zu ziehen. „Goethe, ich…“, keuchte der Blonde gegen seinen Hals. „…geht nicht…kann…“ Blut tropfte auf Goethes Weste, als Schiller vergeblich versuchte, sich aufzurichten, wie ein Betrunkener, jedoch seine Arme nachgaben. „I-ich muss…oh, mein – ich muss aufhören, sonst…“ „Nein. Noch nicht aufhören. Bitte…“ „Aber– “ „Nicht aufhören.“, flehte er mit tiefer Stimme und fasste Schiller am Hinterkopf, um ihn wieder zu sich herunterzuziehen. Ihm wurde schummriger, mit jedem Schluck, den Schiller von ihm nahm. Und Schiller trank wie ein Verdursteter. Elf Jahre. Er hatte einiges nachzuholen. Goethe wollte dem Blonden das Hemd aufknöpfen, aber seine Hände wurden zu schwach. Die Augen fielen ihm zu. Schwer atmend ließ Schiller seinen Kopf auf die Brust des anderen sinken. Die Weste war sowieso schon ruiniert, jetzt machte es auch nichts mehr aus, dass Blut von seinem Kinn auf den Stoff tropfte. „Goethe.“ Er sagte das, weil er unter seinem Ohr keinen Herzschlag mehr hörte. Fast keinen. So gut wie keinen. Goethe reagierte nicht. Hastig richtete Schiller sich auf, was in seinem Rausch nicht so einfach war. Er biss sich ins rechte Handgelenk. Wenn schon, dann sollte Goethe das Blut schmecken, das durch diese Hand pochte, die er stets zum Schreiben inspiriert hatte. „Goethe.“ Er hob den Kopf des anderen sanft an. Die Augen öffneten sich einen Spalt. „Trinken Sie.“, flüsterte Schiller und legte Goethe sein Handgelenk an die blassen Lippen. Es dauerte, bis Goethe fähig war, das erste Mal zu schlucken. Er hustete. „Mehr.“, ermahnte ihn Schiller. Goethe tat noch ein paar Schlucke, die genügen sollten, aber Schiller wollte sicher sein. Und er wollte Goethe küssen. Also saugte er einmal kräftig an seinem Handgelenk, bevor er sich zum anderen hinunterbeugte und ihre blutgetränkten Lippen aufeinander legte. „Morgenfrüh…“, flüsterte er, nachdem Goethe auch den letzten Tropfen Blut von seinem Mund geküsst hatte. „…werden Ihre Augen so wunderbar schön schillern…“ Goethe hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, seine Lider immer noch geschlossen. Er war erschöpft, ließ sich von Schiller in den Arm nehmen. Aber eines musste er noch loswerden. „Haben Sie mein Gedicht gelesen? Die Braut von Korinth?“ „Ja. Es ist fantastisch.“ Es war kurz still in der kleinen Hütte. „Wollen Sie die letzte Strophe hören?“ Kapitel 22: Die letzte Strophe ------------------------------ Karl wachte in Augusts Armen auf. Wenn er genau darauf achtete, schmeckte er noch das Blut des anderen von der vergangenen Nacht in seinem Mund. Die Nacht, die ihre beiden Väter vereint hatte. August brummte etwas gegen seine nackte Brust, und er vergrub sein Gesicht in dessen Haaren. „Es ist so hell draußen…“, flüsterte Karl. „Ist das ein Feuerwerk?“ August hob gemächlich seinen Kopf und sah an die Zeltdecke, wo tatsächlich rotes Licht flackerte. Gerade wollte er Karl zustimmen, da krallte sich dieser plötzlich in seinen Oberarm. „Ah, Karl! Du tust mir– !“ August verstummte, als er Karls entsetzten Gesichtsausdruck sah. „Was…?“ „Vater!“ Hektisch zog sich Karl seine Hose an und stürmte aus dem Zelt, August strauchelte hinterher. Dem Älteren stockte der Atem, der dunkle Rauch trieb ihm Tränen in die Augen. Karl ging es nicht besser. Entsetzt blieben sie beide vor der Hütte stehen, die lichterloh brannte. Die Hütte, in der ihre Väter lagen. „Karl, dort drüben…!“ August brauchte nicht mehr sagen, da erkannte Karl seinen Großvater, der mit einem großen Tonkrug zu seinen Füßen vor der Hütte stand und regungslos den lodernden Flammen zusah. Mit einem Mal war Karl bei ihm und packte ihn wutentbrannt am Kragen seines Hemdes. „Du vermaledeiter…! Mörder!“ Caspar Schiller sah Karl nicht an, hielt seinem harschen Griff und seinen Schlägen stand. „Ich bring dich um, du…! Ich bring dich um!“ August konnte dieser Szene nur von der andern Seite der Hütte zusehen. Seine Augen waren leer, das Feuer warf unruhige Schatten auf sein Gesicht. „August, er hat sie auf dem Gewissen! Er hat unsere Väter umgebracht…! Dieser verdammte– “ Da packte Caspar Schiller plötzlich seinen rechten Arm und hielt ihm mit der Linken einen Zettel entgegen. Karl starrte den alten Mann außer Atem an. Er zitterte. Plötzlich weiteten sich seine Augen. War das da etwa eine Träne? War das wirklich eine Träne, die seinem Großvater die Wange hinablief?!? Karl schluckte. Er nahm den Zettel entgegen, als August langsam auf sie beide zukam. Und er sank auf die Knie. „K-Karl, was…“, fing der Ältere unbeholfen an, setzte sich zögerlich zu ihm. „Was ist geschehen?“ Karl antwortete nicht, er reichte August nur das Stück Papier, das wohl von einem längeren abgerissen worden war. Es war Goethes Handschrift. Höre, Mutter, nun die letzte Bitte: Einen Scheiterhaufen schichte du; Öffne meine bange kleine Hütte, Bring in Flammen Liebende zu Ruh; Wenn der Funke sprüht, Wenn die Asche glüht, Eilen wir den alten Göttern zu. Caspar Schiller wühlte den trockenen Sand ein wenig auf, als er sich herumdrehte. „Ich hab es nicht gerne getan.“, sagte er leise, als er ging. August zog Karl in seine Arme, und sie fielen zusammen auf die Erde, wussten nicht wohin mit ihrem Schmerz. Es dauerte eine Weile, bis der Himmel wieder heller wurde; immer noch waberten Rauchwolken durch die Luft und verdeckten die Sonne. „Dabei…“ August wischte sich über die Augen. „Dabei wollte Vater doch immer unsterblich sein. Wieso…wieso sollte er sich umbringen, wenn er es nun geschafft hat?“ Karl fuhr dem anderen durch die Haare, sah auf zum Himmel, wo der Rauch allmählich verschwand. „Vielleicht…“ Er überraschte August, als er aufstand. „Wo…willst du hin?“, fragte der Ältere verwirrt. Karl versuchte sich an einem Lächeln und reichte ihm die Hand. „Komm mit.“ Der Dunkelhaarige führte ihn hinüber zu den Bretterverschlägen, die er öffnete, und trat ein. August schloss zu ihm auf, verstand nicht ganz, was das für Wesen waren, die hier in den Käfigen saßen. „Das Dorf wird morgenfrüh unsere Väter im Meer bestatten. Wir sollten auch hingehen.“, meinte Karl. August sah ihn fragend an. Er schluckte die erneut aufwallenden Tränen hinunter. „Wieso klingst du so fröhlich, wenn du so etwas Trauriges sagst?“ „Weil ich genau weiß, dass die Eitelkeit deines Vaters größer ist als alles andere.“, antwortete Karl und musste nun schon fast lachen. „Er würde sich niemals umbringen. Und Vater würde das nie von ihm verlangen.“ Der Dunkelhaarige nahm seinen Freund in den Arm. Und erklärte ihm, was es hieß, dass zwei Gruls fehlten. „Die Asche, die wir ins Meer streuen werden, ist also nicht die unserer Väter, sondern die ihrer Gruls.“ August betrachtete die Wesen hinter den Gitterstangen noch ein wenig skeptisch. Karl zog ihn mit sich wieder hinaus in die Freiheit. „Die Liebe.“, begann der Ältere da, als sie eine Brise Meeresluft erreichte, die unten vom Hafen zu ihnen hinaufgeweht kam. „Hm?“ Karl sah August fragend an. „Größer als Vaters Eitelkeit ist wohl seine Liebe, die er Schiller entgegenbringt.“ Der Jüngere gab seinem Freund einen zärtlichen Kuss. „Reisen wir morgen nach der Bestattung ab?“, fragte er, „Diese Welt hat noch so vieles zu bieten.“ August nickte langsam. „Meinst du…“, begann er, „Meinst du, wir sehen sie irgendwo, irgendwann wieder?“ Karl lächelte ihn an und nahm seine Hand, um sie fest zu drücken. „Ganz bestimmt.“ Hosted by Animexx e.V. 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