Back to who I really am von Fhin ================================================================================ Kapitel 20: Memento ------------------- Takumi Unruhig saß ich auf meinem Bett und wartete. Immer wieder wanderte mein Blick zur Uhr. Ich wusste nicht genau, wann Gilbert kommen würde, aber egal wie lange es noch dauern würde, ich würde warten. Ich war aufgekratzt. Die Ereignisse der letzten Stunden wühlten mich auf. Meine Gedanken sprangen zwischen Misaki, Gerards unerwarteter Liebe Sarah gegenüber, den verabscheuenden Worten meines Großvaters und Gilberts unerwartet freundlichem Verhalten mir gegenüber umher. Eins war klar, wenn ich noch länger hierbleiben würde, würde ich durchdrehen! Es gab nur eine Sache, die mich noch hier hielt, und das war Gilberts Absicht, mich an diesem Abend noch einmal aufzusuchen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir etwas sagen wollte, was für mich von großer Bedeutung wäre. Quälend langsam bewegten sich die Zeiger auf der antiken Pendeluhr, die die Wand meines Zimmers schmückte. Es war bereits nach 22 Uhr. Wieso so spät? Was hatte Gilbert vor? Ich hörte Schritte auf dem Flur. Mit klopfendem Herzen richtete ich mich auf und wartete ab. Doch die Schritte entfernten sich wieder. Die Person, wer auch immer es gewesen war, war an meinem Zimmer vorbeigegangen. Enttäuscht ließ ich mich zurück auf das Bett sinken. Es herrschte vollkommene Stille im Haus. Weitere Minuten vergingen, bevor sich leise Schritte näherten. Dieses Mal wollte ich mir nicht zu große Hoffnungen machen, doch als die Schritte vor meiner Tür stoppten, setzte ich mich erwartungsvoll auf. Es klopfte leise. „Ja?“ Die Tür öffnete sich und es war tatsächlich Gilbert, der mein Zimmer betrat und die Tür leise hinter sich schloss. „Guten Abend, Master Takumi“, begrüßte er mich und verneigte sich galant. „Guten Abend“, erwiderte ich und unterdrückte meine Ungeduld, endlich zu erfahren, worum es ging. Ich wartete ab. Gilbert griff in sein Jackett. Er zog etwas heraus. Ein Buch. Fragend sah ich ihn an. „Master Takumi“, begann er seine Erklärungen, „das hier ist das Tagebuch Ihrer Mutter.“ Ich hatte das Gefühl, als würde mein Herz für einen Moment aussetzen, nur um dann viel zu schnell weiterzuschlagen. Ich sah ihn mit großen Augen an, unfähig, etwas zu sagen. Misaki Gequält versuchte ich, meine Augen zu öffnen, als der Wecker klingelte und mich aus meinem unruhigen Schlaf riss. Es dauerte einige Sekunden, bevor ich mich ausreichend orientieren konnte, um mich zur Seite zu drehen und den Wecker auszuschalten. Es vergingen weitere Sekunden, in denen ich die Augen wieder schloss und beinahe wieder eingeschlafen wäre. Als ich merkte, wie ich wegdämmerte, riss ich ruckartig die Augen auf. Ich schüttelte leicht den Kopf und schaltete die kleine Lampe auf meinem Nachttisch ein. Noch sehr verschlafen setzte ich mich langsam auf und schaffte es schließlich, aufzustehen. Nach einer erfrischenden Dusche, einer Tasse Kaffee und einer Kleinigkeit zum Frühstück ging es mir schon deutlich besser. Ich musste an diesem Tag bereits um acht Uhr in der Vorlesung sitzen. Bald würden die Prüfungen stattfinden und ich fühlte mich momentan alles andere als gut vorbereitet. Ich konnte es mir keinesfalls erlauben, meine Vorlesungen zu verpassen, auch wenn mir zurzeit ganz andere Dinge durch den Kopf gingen. Ich dachte an Takumi. Er wollte sich heute bei mir melden und eventuell würde er heute schon nach Japan zurückfliegen. Das hatte er gesagt. Natürlich würde er durch die Zeitverschiebung und den langen Flug erst morgen hier ankommen, aber das wäre okay. Hauptsache er kam zurück. Ich vermisste ihn. Wir hatten kaum Zeit zusammen verbracht, bevor er wieder nach England geflogen war. Es war ein komisches Gefühl, alleine in dieser neu eingerichteten Wohnung zu wohnen. Die Nächte waren am schlimmsten. Alleine in dem großen Doppelbett, in dem ich eigentlich gemeinsam mit Takumi hätte liegen sollen. So in meine Gedanken vertieft, hatte ich ganz die Zeit vergessen. Ich sah auf die Uhr. Es war bereits 7:35 Uhr. Rasch stellte ich das Geschirr in die Spüle, eilte ins Bad und putzte mir schnell die Zähne, bevor ich mich auf den Weg zur Uni machte. Takumi Ich klappte das Buch zu, in dem ich seit über einer Stunde gelesen hatte. Für einen Moment schloss ich die Augen und ließ mir das Gelesene durch den Kopf gehen. Ich musste zugeben, dass ich ganz schön aufgewühlt war. Meine Mutter war kurz nach meiner Geburt gestorben, ich hatte sie nie kennengelernt. Ich kannte sie nur von Fotos und hatte nur wenige Geschichten über sie gehört. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas in Händen hielt, was ihre eigenen Gedanken enthielt. Nichts, was ich von anderen über sie hörte, sondern Worte, die direkt von ihr stammten. Zum allerersten Mal in meinem Leben hatte ich die Gewissheit, dass meine Mutter mich geliebt hatte. In dem Tagebuch erzählte meine Mutter, wie sie die Ehe mit Gerards Vater Edward Walker aus einer Verpflichtung heraus eingegangen war, wie sie Gerard zur Welt gebracht hatte, wie sie ihr Leben zwischen Krankheit und den Verpflichtungen als Tochter Richard Rachesters gelebt hatte. Sie war nicht unglücklich mit Edward und sie liebte ihren Sohn Gerard, den sie liebevoll Gerry nannte, über alles, aber die große Liebe hatte sie in jemand anderem gefunden. In meinem Vater, Yū Hirose, ihrem Butler. Ich schluckte, als ich das Buch wieder aufschlug, um einige Passagen noch einmal zu lesen. Anscheinend hatte sie mit Mitte zwanzig erfahren, dass sie an der gleichen Krankheit litt, an der ihre Mutter gestorben war. Als ihr klar wurde, dass sie womöglich bald sterben könnte, hatte sie sich meinem Vater hingegeben und war schwanger geworden. Die Ärzte hatten ihr wohl davon abgeraten, mich zu bekommen, doch sie hatte das Kind, das aus der Liebe zu Yū entstanden war, nicht verlieren wollen. Und so hatte sie mich zur Welt gebracht, hatte mir meinen Namen gegeben und hatte mich die kurze Zeit, die sie mit mir hatte, geliebt. Kurz darauf war sie gestorben. Ich spürte einen dicken Kloß im Hals, als ich die letzten Worte meiner Mutter las: „Vater, Mutter, Gilbert und alle, die in diesem Schloss arbeiten, mein unzuverlässiger, aber lieber und wundervoller Ehemann Edward, mein verwöhnter, aber bezaubernder Engel Gerard, der Mann, der immer an meiner Seite war, Yū... und auch du „Takumi“, ich werde euch alle immer, immer lieben.“ Erneut klappte ich das Tagebuch zu und legte es beiseite. Ich fuhr mir durchs Haar und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Ich hatte in dieser Familie so viel Hass erfahren, dass ich gar nicht wusste, wie ich mit den liebevollen Worten meiner Mutter umgehen sollte. Plötzlich überkam mich eine unglaubliche Sehnsucht nach Misaki. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass die einzige Person in dieser Familie, die mich je geliebt hatte, schon seit mehr als zwei Jahrzehnten tot war und ich sie nie hatte kennenlernen dürfen. Ich hatte in dieser Familie wahrlich nichts mehr zu suchen. Nichts hielt mich hier. Diese Familie war keine Familie für mich. Meine Familie befand sich in Japan und sie bestand aus meinen Zieheltern, den Usuis, und meiner großen Liebe, Misaki. Entschlossen griff ich nach meinem Handy und rief die Auskunft an, die mich kurze Zeit später mit der Verkaufsstelle des Heathrow Airports verband. Zu meinem Glück gab es noch genau einen Platz für den letzten Flug nach Tokyo um 22:10 Uhr. Ich reservierte mir das Ticket. Natürlich wäre ich lieber sofort ins Flugzeug gestiegen, aber so musste ich eben noch einen knappen Tag länger hierbleiben. Das würde ich auch noch überstehen. Misaki Gerade noch rechtzeitig erreichte ich den Hörsaal. Ich erblickte Souta, der mir zuwinkte und auf den freien Platz neben sich deutete. Ein kleines bisschen nervös setzte ich mich neben ihn. Ich merkte, dass es immer noch etwas komisch für mich war, ihn zu sehen, nachdem ich vor seinen Eltern so getan habe, als sei ich seine Freundin. „Morgen, Misaki“, begrüßte er mich mit einem Lächeln, das sicher so manchem Mädchen Herzklopfen bereitet hätte. „Morgen“, erwiderte ich den Gruß und schenkte auch ihm ein flüchtiges Lächeln, bevor auch schon Professor Ueda den Raum betrat und mit einem Blick und einem Räuspern den Hörsaal zum Verstummen brachte. Ich merkte schnell, dass meine Gedanken an diesem Morgen absolut nicht bei der politischen Ökonomie des Ressourcenreichtums, sondern vielmehr immer noch bei Takumi waren. Ich hätte zu gerne gewusst, wie es ihm ging, was bei ihm los war, ob er nun einen Flug gebucht hatte und wann er wieder hier sein würde. Aber ich dachte auch an die Gespräche, die uns bervorstanden. Er wollte mir ganz genau erzählen, was alles passiert war. Und es hatte so geklungen, als sei das alles für ihn nicht gerade einfach gewesen. Und ich... ich hatte ihm versprochen, ihm zu erklären, wieso ich nicht ans Handy gehen konnte, als er versucht hatte, mich zu erreichen. Das bedeutete, ich musste ihm von Souta und unserer kleinen Scharade vor seinen Eltern erzählen. Ich war mir sicher, dass ihm das gar nicht gefallen würde. Andererseits hoffte ich, dass er Verständnis haben würde. Immerhin wollte man ihn auch zu einer arrangierten Hochzeit zwingen. So in Gedanken versunken ging die Vorlesung viel schneller um, als es mir lieb gewesen wäre. Ich hatte kaum etwas mitbekommen. Für die anstehende Klausur am Semesterende musste ich mich unbedingt nochmal um die Notizen meiner Kommilitonen bemühen. Mit schlechtem Gewissen packte ich meine Sachen zusammen. Bis zu meiner nächsten Vorlesung waren es noch zwei Stunden, die ich normalerweise in der Bibliothek verbrachte. „Misaki?“, sprach Souta mich an. „Ja?“ „Ähm...“, druckste er etwas herum, „hast du vielleicht Lust, einen Kaffee zu trinken oder so?“ Ich zögerte kurz, beschloss dann allerdings, zuzusagen. Da ich in der Vorlesung kaum etwas mitbekommen hatte, hatte ich eh nicht genug mitgeschrieben, um alles gut nachzubereiten. Außerdem konnte ich die Gelegenheit nutzen, um Souta um seine Notizen zu bitten. Nur einige Minuten später saßen wir in der Caféteria des Fachbereichs, in der zahlreiche Studierende Kaffee tranken, aßen, arbeiteten oder einfach in kleinen oder größeren Gruppen zusammensaßen und redeten. „Ich wollte mich nochmal bei dir dafür bedanken, dass du vor meinen Eltern meine Freundin gespielt hast“, sagte Souta, nachdem wir uns je mit einer Tasse Kaffee - Milchkaffee für mich - an einen freien Tisch gesetzt hatten. „Es ist schon in Ordnung“, erwiderte ich sofort, „du hast dich doch schon bedankt. Mach dir keine Gedanken.“ „Naja“, druckste er herum, „weißt du... also... meine Eltern, besonders meine Mutter, waren wirklich begeistert von dir und... sie würden dich gerne mal zum Essen einladen oder so.“ Soutas Augen zuckten nervös zwischen meinem Gesicht und seinem Kaffee hin und her. „Ich, also...“, begann ich. Ehrlich gesagt gefiel mir das nicht besonders. Es tat mir sehr leid für Souta, aber ich konnte doch nicht bis in alle Ewigkeit seine Freundin spielen - oder so lange, bis er tatsächlich eine Freundin gefunden hatte, die er seinen Eltern vorstellen konnte. „Ich weiß, das ist viel verlangt“, beeilte er sich zu sagen, „Wo du doch schon einen Freund hast und so...“ Er wirkte ehrlich geknickt. „Souta...“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es fiel mir schwer, nein zu sagen, aber andererseits hatte ich bei der Sache wirklich ein ungutes Gefühl. „Tut mir leid, Misaki“, unterbrach er mich, noch bevor mir etwas Passendes eingefallen wäre, „Das war eine dumme Idee... Von Anfang an, das Ganze... Ich habe mir einfach nicht richtig überlegt, was für Konsequenzen es mit sich ziehen würde, wenn ich dich meinen Eltern als meine Freundin vorstelle. Ich war einfach verzweifelt wegen dieser arrangierten Hochzeit.“ Ich schluckte. Erneut dachte ich darüber nach, wie schrecklich es sein musste, jemanden heiraten zu müssen, den man gar nicht kannte, geschweige denn liebte. Und wenn ich mir vorstellte, dass Takumi Sarah hätte heiraten sollen... „Ich mach’s“, sagte ich unwillkürlich. Soutas Miene erhellte sich sofort. „Wirklich?“, fragte er erleichtert. „Ja“, bestätigte ich, „Aber... das kann nicht immer so weitergehen, Souta. Du musst dir etwas überlegen. Dieses eine Mal spiele ich noch mit, aber dann...“ Souta nickte. „Du hast recht, Misaki, danke!“ Er klang ehrlich erleichtert und dankbar. „Wann soll ich denn zum Essen kommen?“, fragte ich. „Wenn es dir passt gleich morgen Abend“, erwiderte er und blickte leicht verlegen, „Meine Mutter kann es kaum abwarten.“ Takumi Obwohl es bereits mitten in der Nacht war und ich am nächsten Tag noch genug Zeit gehabt hätte, begann ich jetzt schon mal, meine Sachen zu packen. Ich war viel zu aufgewühlt wegen des Tagebuchs meiner Mutter und viel zu aufgeregt, weil ich in einigen Stunden das Flugzeug besteigen und zurück nach Japan zu meiner Misaki fliegen würde. Ich verstaute gerade das Tagebuch in meinem Handgepäck, als mein Handy einen kleinen Piepton von sich gab. Es war die Buchungsbestätigung für meinen Flug. Ich konnte es kaum erwarten, Misaki bereits am nächsten Abend wiederzusehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)