Das Rauschen des Nils von Nightshade ================================================================================ Kapitel 2: Ein kleines Wunder ----------------------------- KAPITEL 2: Ein kleines Wunder Ob ER das ist? Ob es nun zu Ende ist? Ich hoffe es... Es ist so dunkel und kalt. Nein, nicht dunkel, da ist Licht. Flackerndes, goldenes Licht... Ich muss die Augen aufmachen und das Licht sehen. Nein! Wenn ER das ist und kommt, um mich zu holen! Ich darf nicht, nein, ich muss im Dunkeln bleiben. Sie versteckt mich, sie liebt mich, beschützt mich. Nur die Dunkelheit bewahrt mich vor IHM. Vor IHM und den Seinen... Das Licht kommt näher... Nein... nein, das darf es nicht! Mein Herz... es schlägt noch... Ich höre es ganz deutlich... Es war noch nie so laut... Was das wohl heißt...? Angst, es heißt Angst! Ich habe Angst! ER kommt und holt mich doch! Nein, nein das darf er nicht! Dunkelheit, wo bist du? Nimm mich zu dir! Hol mich fort von dem Licht... Hilf mir... Ich will nicht... Es wird dunkel... ich fühle mich schweben... ich fühle... fühle etwas... Meine Dunkelheit... komm zu mir... Ja... Bleib bei mir... bleib... „Sei behutsam!“, flüsterte Atemu Dimas zu, als dieser seine Fracht vorsichtig in einem der Schlafzimmer ablegte, die zu den Gemächern des Pharao zählten. Total nervös lief er zum zehnten Mal zur Tür und rief den Flur hinunter:“Der Heiler!!! Wo ist der Heiler! So beeil dich doch!!!“ Er war noch immer völlig geschockt und begriff nur langsam. Es war ein Wunder, ein schreckliches wohl, aber immerhin ein Wunder! Die Tür klickte ins Schloss und der Pharao sah auf:“Bei Ra! Was hat so lange gedauert???“ Ohne den völlig überdrehten Pharao zu bemerken eilte der Heiler zum Bett und besah sich den Patienten. Behutsam löste er den Ring, der noch immer mit einem kurzen Stück Kette um dessen Hals lag. „Dimas, bitte bringe den Pharao hinaus! Er soll sich beruhigen und schicke nach Sharah, sie soll heißes Wasser und vier Diener mitbringen!“, befehligte der alte Heiler die Leibwache und machte sich daran den Pharao – ohne auf dessen Proteste einzugehen – aus dem Gemach zu schieben. Als er alleine war, besah er sich seinen Patienten, seine Patientin. Sie war bewusstlos und völlig abgemagert. Er konnte nur raten, wie lange sie gefangen und was ihr während der Zeit alles widerfahren war. „Armes Mädchen... Du armes... armes... Ding...“, nuschelte er, während er vorsichtig das Stück Stoff aufschnitt, welches ihren mageren Körper bedeckte. Darunter entdeckte er Wunden, die niemals richtig behandelt wurden und nun schreckliche Narben hinterlassen hatten. Müsste er Angaben machen, würde der Heiler das Mädchen auf vielleicht 14 oder 15 schätzen, aber so abgemagert wie sie war, konnte er das nicht genau sagen. Es war wahrlich ein Wunder, dass sie noch lebte! Die Tür öffnete sich erneut und Sharah trat ein, seine geliebte Frau:“Mein Stern... Dimas klang sehr besorgt...“ Die Arme voller Verbandszeug und Handtücher kam sie ans Bett und ließ beinahe alles fallen, als sie das Mädchen entdeckte:“Oh... oh nein, wie schrecklich! Mein Stern... sag... ist sie... können wir...?“ „Beruhige dich, meine Liebste... Sie atmet! Aber ich fürchte wir werden viel... sehr viel Zeit brauchen, damit sie auch wieder leben kann!“, antwortete der Heiler und nahm seiner geliebten Frau die Sachen aus dem Arm. „Heißes Wasser..?“, fragte er sie und riss sie damit aus der Starre: „Natürlich! Ich hole es! Ich habe die Dienerinnen mitgebracht, sie warten draußen auf Anweisungen.“, erklärte sie und ging zur Tür. Das Öffnen der Tür, ein paar geflüsterte Worte und die Tür wurde ein weiteres Mal geschlossen. Mit dem heißen Wasser und ihrem Mann machte sich Sharah an die Arbeit. Derweil lief der Pharao in seinem Audienzsaal Furchen in den Teppich. „Mein Pharao! Habt ihr zugehört? Das Vieh...“, versuchte der alte Berater es erneut und seufzte dann schwer. Es hatte sich bereits herumgesprochen, welch grausigen Fund der Pharao unten in den alten Kerkern gemacht hatte. Verständnisvoll nickend kramte der alte Mann seine Sachen zusammen und deutete den anderen es ihm gleichzutun. „Wir verschieben die Planung auf Morgen. Bis dahin muss das Vieh warten...“, erklärte er und verließ mit den anderen den Raum. Nachdem auch der letzte gegangen war, ließ der Pharao sich schwer seufzend auf das Fenstersims sinken. Er hatte noch immer das Bild des Mädchens vor sich – so dürr, so zerbrechlich. Nur im Unterbewusstsein hörte er, wie jemand den Raum betrat und war überrascht, als ihm plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter legte. Erschrocken zuckte er kurz zurück und sah auf:“Ach... Jouno... Du bist es...“ „Hey, mein Freund! Ich dachte, ich schau mal, wie es unserem Schatzjäger geht!“, grinste Jouno und setzte sich auf einen Stuhl:“So kurz vor dem Fest sehen alle deinen Fund als Zeichen! Der gütige Pharao rettet ein gefangenes Mädchen aus den tiefen, dunklen Kerkern!“ „Das ist nicht witzig, Jouno!“, knurrte Atemu, sichtlich verärgert:“Du hättest sie sehen sollen!“ Er warf schicksalsergeben die Hände in die Luft und stand auf, um sein Auf und Ab fortzusetzen:“Sie war fast tot... Wer weiß wie lange sie dort gefangen war... Ich kam in die Zelle und sah bloß tot und wollte gerade wieder gehen, als sie mir auffiel... Zu... lebendig um tot zu sein...“ Aufmerksam lauschte der sonst so muntere und immer fröhliche Jouno seinem langjährigen Freund. „Sie hing an so einem Ring um ihren Hals an der Kette und gab keinen Laut von sich... Aber als ich mit der Fackel näherkam, um zu sehen ob sie wirklich noch lebte, da fing sie ganz schwach an zu wimmern...“, kurz blieb Atemu stehen und sah seinen Freund mit großen Augen an:“Sie hatte Angst vor dem Licht... Das Wimmern hörte dann auf und ich hatte Angst, dass sie in dem Moment gestorben war... Jouno! Ich dachte, wieso finde ich sie.. um sie dann sterben zu sehen...!?“ Völlig aufgelöst lief er wieder auf und ab:“Jetzt ist Heiler Kamosh bei ihr... Er hat mich fortgeschickt...“ Jouno lauschte seinem Freund und stand dann auf:“Atemu... mein Freund... Meister Kamosh weiß was er tut und er wird nicht zulassen, dass sie ihm wegstirbt! Du wirst sehen, schon bald ist alles wieder in Ordnung!“ Mit den Worten, dass er mal schauen würde, was die Küchenmeisterin wieder Feines zauberte, verschwand Jouno. Er versuchte Atemu mit seinen Reden aufzumuntern und dafür war dieser seinem Freund dankbar, aber es half nichts, er würde nicht eher Ruhe haben, bis er wusste, was mit dem Mädchen war... Noch viele Stunden lief der Pharao durch seinen Audienzsaal. Die Sonne berührte schon den Horizont, als es an der Tür klopfte und die Frau des Heilers ihren Kopf durch einen Spalt schob:“Atemu... mein Junge...“ Lieblich lächelnd trat sie ein und ging auf Atemu zu, um ihn in eine innige Umarmung zu ziehen. Sie war die Hebamme bei seiner Geburt und seine Mutter war eine sehr gute Freundin gewesen. Dadurch standen sie sich nahe, fast wie eine Familie, die einzige Familie, die sie haben konnte denn Sharah selbst konnte keine Kinder bekommen. „Hast du Neuigkeiten?“, überfiel Atemu sie gleich:“Geht es ihr gut? Wird sie es schaffen? Sag, Sharah, was ist mit-“ Mit einem leisen „Sssht“ legte sie ihm den Zeigefinger auf die Lippen:“Beruhige dich kleiner Atemu! Es ist alles in Ordnung. Mein Kamosh ist noch bei ihr und wacht über sie.“ Mit einem erleichterten Seufzer ließ Atemu sich auf einen nahestehenden Stuhl fallen:“Bei Ra... ich hatte schon befürchtet...“ Sharah kniete sich vor ihren Pharao und legte ihre Hand auf sein Knie:“Sie wird es schaffen... Es wird dauern, aber irgendwann kann sie leben! Du hast ihr das Leben gerettet, kleiner Atemu! Ich hoffe... du weißt mit dieser Bürde umzugehen...?!“ Atemu wollte ihr schon widersprechen, dass dies keine Bürde, sondern ein Wunder sei, aber dann leuchtete ihm ein, was sie meinte:“Sie hat niemanden mehr... nicht wahr? Sie kann nicht einfach nach Hause zurück und ein normales Leben führen...“ Ein trauriges Kopfschütteln von Sharah:“Nein... nein, sie ist ganz allein auf dieser Welt... Mein Kamosh schätzt, dass sie seit mindestens 10 Jahren dort unten eingesperrt sein muss... Ihre Muskeln sind zu schwach um ihr geringes Gewicht zu tragen... Ihre Augen werden nur die Dunkelheit kennen und ihr Herz... Nun...Wir können nur erahnen, was sie durchmachen musste... Das arme kleine Ding...“ Tränen schimmerten in ihren Augen und Atemu konnte nicht anders, als Sharah in den Arm zu nehmen:“Dann müssen wir ihre Familie sein! Dann müssen wir ihrem Herz zeigen, wie man lacht und ihren Augen das Licht zurückbringen!“ Entschlossen stand er auf und zog Sharah, noch immer mit Tränen in den Augen, ebenfalls wieder auf die Beine. „Pfleg' sie Sharah, so wie du mich damals nach dem Tod meiner Mutter gepflegt hast.“, sagte er und legte seine Hand auf die Wange der Frau:“Sei ihr eine Mutter... So wie mir und hilf ihr... Ich schwöre, dass sie eines Tages wieder lachen wird!“ Voller Optimismus stürzte der Pharao sich die nächsten Tage in seine Arbeit. Er ging jeden Tag einmal in das Schlafgemach des Mädchens und setzte sich auf einen Stuhl an ihr Bett. Anfangs saß er einfach dort und überlegte, wer so etwas Grausames nur tat... Der Diener, den sie selbstverständlich ausgefragt hatten, erwähnte nur, dass er nichts wüsste und auf Befehl von Makesh begonnen hatte, regelmäßig dort unten nach den Gefangenen zu sehen. Er hatte die Anweisung einmal in der Woche mit einer Kanne Wasser und einem halben Laib Brot dort hinunter zu gehen und die Gefangenen zu füttern. Er schwor, dass er immer jedem etwas gab und nicht verstand, wieso nach und nach die Gefangenen starben. Ebenso schwor er, er wisse nicht, wieso sie dort unten waren. Als Atemu ihn persönlich ausfragen wollte, er war inzwischen sicher, dass er mehr wusste, als er zugab, fand man den Diener tot auf – erstochen. Seit diesem Vorfall sprach Atemu auch mit dem Mädchen, wenn er an ihrem Bett saß. Er wusste anfangs nicht, was er sagen sollte, er war ja nicht einmal sicher, ob sie ihn hörte... Irgendwann fing er dann an, von seinem Land zu erzählen... Von dem heißen Sand der Wüste, dem hellen Licht der Sonne und dem Rauschen des Nils. Der Jahrestag seiner Krönung kam und ging, genau wie die Nilschwemme. Es wurde zur Gewohnheit, dass Atemu jeden Tag kurz nach Sonnenuntergang, denn da hatte er all seine Verpflichtungen für den Tag erledigt, in das Schlafgemach des Mädchens ging – Kamosh und Sharah waren dann schon weg – und dort die Vorhänge, die Tagsüber zugezogen waren, um es möglichst dunkel zu halten, aufzog. Lange schaute er dann aus dem Fenster in den Nachthimmel und erzählte dem Mädchen von den Sternformationen und welche Bedeutung sie im Kalender hatten. Nach knapp zwei Monaten, in denen Kamosh das Mädchen nur mithilfe von dünner Suppe und Wasser gefüttert hatte, saß Atemu mal wieder im Dunkeln an ihrem Bett. „Es ist schon seltsam. Ich habe mein achtzehntes Lebensjahr überschritten und doch werde ich wie ein Kind behandelt. Heute erst hat Sharah mich „kleiner Atemu“ genannt und auch Kamosh sieht mich nicht als Mann... Vielleicht liegt das an den Familienbanden... Vielleicht sieht man die Menschen dadurch, wie sie für einen sind und nicht, wie man sie sehen sollte...“, erzählte er und schweifte dann zu seiner Kindheit ab, um dem noch immer dürren und bewusstlosen Mädchen ein paar schöne Erinnerungen aus seinem Leben zu schenken. Sie ist wieder da... die Stimme. Ich höre sie schon länger... immer im gleichen Abstand beginnt sie zu erklingen. Wenn ich die Stimme höre, wird meine Dunkelheit etwas heller... Ich verstehe das nicht, sie beschützt mich... meine Dunkelheit... Die Stimme ist da und sie weicht... Warum... was ist mit dieser Stimme...? Ich verstehe die Worte nur langsam... Anfangs klangen sie wie fremde Worte... eine andere Sprache... Aber ich habe mich getäuscht... meine Dunkelheit... hörst du das? Sie erzählt von Sonne und Wasser... Sah ich diese Sonne bereits...? Irgendwann...? Ich erinnere mich nicht... In mir drin ist etwas... Etwas, dass sich erinnern will... Aber ist das gut? Meine Dunkelheit, sag mir... soll ich mich erinnern? Woran...? Ich weiß es nicht... es ist alles so verschwommen... Es ist so lange her... Meine Erinnerungen sind dunkel... Dort sind auch Stimmen... ich erinnere mich an Stimmen... Fremde Worte...? Nein... nein ich verstehe was sie mir sagen... So wie auch jetzt... Die Stimme spricht mit mir und erzählt mir etwas... Es scheint auch eine Erinnerung zu sein... Woran? Ein Boot auf dem Nil... was ist wohl ein Boot...? Der Nil ist Wasser... Wasser kenne ich... aber Boot...? Sag mir... meine Dunkelheit... kennst du das...? Boot...? Ich möchte wissen, was es ist... Wovon die Stimme da spricht... Was... was ist das... ein Boot? Ein Boot... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)