Last Farewell von Sinistra ================================================================================ Kapitel 1: Der Skandal ---------------------- „Jiyong, ist alles in Ordnung?“ Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah von seinem Teller auf und in das fragende Gesicht seines Gegenübers. Er hatte Seunghyun an diesem freien Abend zum Essen eingeladen. Zuerst hatte dieser gezweifelt, doch Jiyong hatte förmlich gebettelt. „Nur ein Essen unter zwei guten Freunden, wirklich!“, hatte er versichert und schließlich hatte der Ältere zugesagt. Die anderen hatten sie misstrauisch beäugt, als sie zusammen und in ihre besten Anzüge gekleidet die gemeinsame Wohnung verlassen wollten. Genau das hatte Seunghyun befürchtet, doch er schien sich für keine Ausrede zu schade zu sein. „Sagt es niemandem“, hatte er in verschwörerischem Tonfall zu den Jüngeren gesagt, „aber wir planen ein zweites Album von GD&TOP. Und ihr versteht, dass wir für unsere Planungen unter uns sein wollen?“ Seungri und Daesung hatten verständnisvoll genickt, nur Yongbae hatte skeptisch gewirkt. Aber letztendlich hatte auch er Seunghyuns Erklärung akzeptiert und sie hatten zusammen das Haus verlassen. „Du hast sie angelogen“, bemerkte Jiyong nun und warf seinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu. „Wie konntest du ihnen so eine dreiste Lüge auftischen, Hyung?“ Doch der Ältere zuckte nur mit den Schultern. „Komm schon, so aus der Luft gegriffen ist das doch gar nicht. Oder willst du nicht noch einmal mit mir zusammen arbeiten? Nur mit mir...“, fügte er hinzu und grinste verschmitzt. „Und essen gegangen sind wir doch auch, nicht wahr?“ Jiyong seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar. „Schon“, setzte er an, „aber ich habe trotzdem ein verdammt schlechtes Gewissen. Wie lang soll das noch so weitergehen? Ich will meine Freunde nicht belügen.“ Seunghyuns Grinsen verschwand von seinen Lippen und während er mit der Gabel in seinen Nudeln herumstocherte, murmelte er: „Jiyong, ich hab dir schon so oft erklärt, dass wir es nicht öffentlich machen können. Unser Manager würde uns lynchen, es würde einen Riesenskandal geben. Was glaubst du, was unsere Fans davon halten würden?“ Jiyong starrte ihn nur mit trotzig vorgeschobenen Lippen an und der Ältere fügte schnell hinzu: „Und was ist mit unseren Freunden? Was denkst du, was sie denken werden, wenn sie herausfinden, dass wir sie seit einem halben Jahr nach Strich und Faden belügen, hm?“ Nach einem kurzen, verstohlenen Blick über das größten Teils leere Restaurant griff Seunghyun über den Tisch hinweg Jiyongs Hand. „Wir können doch auch so zusammen sein... Wir müssen nur aufpassen.“ Sein jüngerer Freund seufzte und nickte leicht mit dem Kopf, während er seinen Blick wieder auf seinen mittlerweile leeren Teller senkte. „Ich versteh' es ja...“, murmelte er leise und der verletzte Blick versetzte Seunghyuns Herzen einen Stich, doch was konnte er schon an der Situation ändern? Für ihn war es mehr als undenkbar, eine Beziehung mit seinem Bandleader publik zu machen. Für ihn stand nicht nur seine Zukunft mit Big Bang, sondern auch seine Karriere als Schauspieler auf dem Spiel. Als Jiyong tief seufzte, hielt er es nicht mehr aus. „Lass uns gehen“, beschloss er und zog seine Hand von Jiyongs zurück, um seinen halb vollen Teller von sich zu schieben. „Ich hab' eh keinen Hunger mehr.“ Der Schwarzhaarige sah ihn, immer noch enttäuscht, an und stand dann mit ihm zusammen von ihrem Stammtisch in der hintersten Nische des noblen Italieners auf. Es war schon spät, wie ein Blick auf die Armbanduhr ihm verriet. Die wenigen anderen Gäste, die um diese Uhrzeit noch hier aßen, sahen die beiden Prominenten neugierig an, während sie zur Garderobe gingen und ihre Mäntel entgegennahmen. Draußen regnete es und Seunghyun spannte vor der Tür den kleinen Regenschirm auf, den er vor ihrem Aufbruch noch eingesteckt hatte. „Du denkst wirklich an alles“, stellte Jiyong lächelnd fest, als Seungyhun ihn zu sich unter den Schirm zog. Doch er registrierte auch den besorgten Blick, den der Ältere immer wieder über ihre Umgebung schweifen ließ, während sie so Arm in Arm die Straße entlang zu Seunghyuns Auto schlenderten. Als Jiyong die Wohnungstür aufschloß, war es bis auf den Fernseher im Wohnzimmer still und dunkel. Während Seunghyun ihre Jacken aufhing, schlich Jiyong ins Wohnzimmer, nur um festzustellen, dass die drei Jungs vor dem Fernseher eingeschlafen waren. Seungri hatte seinen Kopf an die Schulter des leise vor sich hinschnarchenden Yongbaes gelehnt und schlief selbst tief und fest. Daesung war im Sessel in sich zusammengesunken und atmete ebenfalls tief und ruhig. Jiyong lächelte bei dem friedlichen Bild, das sich ihm da bot, und ging auf leisen Sohlen zum Fernseher, um ihn auszuschalten. Er wollte die drei gerade wecken, als hinter ihm Seunghyuns tiefe Stimme erklang. „Lass sie schlafen. Sie werden nur Fragen stellen.“ Jiyong drehte sich zu dem hochgewachsenen Rapper um, der im Türrahmen lehnte und ihn ansah. „Komm mit ins Bett, Jiyong“, flüsterte er. „Morgen müssen wir wieder früh raus, hast du das vergessen?“ Jiyong schüttelte seufzend den Kopf. „Wie könnte ich...“, murrte er. Eine halbe Stunde später lag Seunghyun noch immer wach in seinem Bett. Im Bett neben ihm schlief Jiyong bereits. Er lauschte dem Atem seines Freundes und starrte die Decke über sich an. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Seit Wochen lag Jiyong ihm schon in den Ohren, jammerte ständig über die seiner Meinung nach übertriebene Vorsicht, die Seunghyun walten ließ. Er hätte wissen müssen, dass es so kommen würde. Jiyong war so unglaublich anhänglich und Besitz ergreifend. Wie oft hatten sie in den letzten Monaten schon gestritten, nur weil Seunghyun für ein Foto den Arm um einen weiblichen Fan gelegt hatte? Und wie oft hatte Seunghyun seinen Freund abschütteln müssen, weil dieser in der Öffentlichkeit wie eine Klette an seinem Arm gehangen hatte? Ihr Bandleader konnte sich in anderen Dingen für noch so reif und erfahren halten, doch in Sachen Beziehungen benahm er sich von Zeit zu Zeit wie ein uneinsichtiges, kleines Kind. Seunghyun bekam schon jetzt Bauchschmerzen, wenn er an den nächsten öffentlichen Auftritt dachte. Er lebte jedes Mal mit der Angst, dass Jiyong sie durch seine Unbedachtheit verraten könnte. Dann würde es für Erklärungen und Entschuldigungen zu spät sein... Der Älteste der Band wälzte sich in dieser Nacht noch lange im Bett hin und her, bevor die Müdigkeit ihn endlich übermannte. Entsprechend mürrisch war er dann auch am nächsten Morgen, als um sieben Uhr der Wecker sie alle aus ihren Betten scheuchte. Er war schon im Bad fertig und zog sich gerade an, als Jiyong endlich aus seinem Bett gekrochen kam. „Morgen“, nuschelte er noch im Halbschlaf und schlurfte in T-Shirt und Shorts ins angrenzende Badezimmer. „Beeil dich!“, rief Seunghyun ihm nach, während er vor dem großen Wandspiegel sein Hemd zuknöpfte. „Du bist verdammt spät dran, Jiyong. Musst du jedes Mal verschlafen?“ Er verdrehte die Augen, als aus dem Bad zur Antwort nur ein genervtes Knurren herüberkam. Er zupfte den Hemdkragen zurecht und klopfte an die Tür. „Lass mich, ich bin zu spät dran“, kam es schnippisch von der anderen Seite. Seunghyun stöhnte und drückte die Klinke runter. Offen – wie erwartet. Das kam beinahe schon einer Einladung gleich. Als er ins Bad trat, stand Jiyong mit dem Rasierer in der Hand vor dem Spiegel. Er trat von hinten an den Kleineren heran und schlang seine Arme um dessen Taillen. „Komm schon, GD, sei nicht so“, murmelte er an seinem Ohr. Er bemerkte amüsiert, wie der Jüngere beim Klang seiner Stimme schauderte. „Du sollst mich nicht so nennen“, beschwerte er sich und lehnte sich nach hinten gegen seinen Freund. „Entschuldige bitte.“ Doch im Spiegel sah Jiyong das unverhohlene Grinsen auf dem Gesicht des anderen. Er war noch immer enttäuscht vom gestrigen Abend. Nach dieser Art von Gespräch war er das immer. Er wusste, dass sie ihre Beziehung geheim halten mussten. Doch das hieß doch noch lange nicht, dass er das akzeptieren musste – oder? Der junge Mann hinter ihm war gerade im Begriff, seine Lippen auf Jiyongs Hals zu legen, als es an ihrer Zimmertür klopfte. „Ey!“, erklang Taeyangs sichtlich verärgerte Stimme. „Habt ihr vielleicht mal einen Blick auf die Uhr geworfen? Bewegt euch jetzt gefälligst aus euren Betten oder ich komme rein! In einer Viertelstunde müssen wir bei YG sein!“ Jiyong fuhr erschrocken zusammen, sodass er sich fast in die Wange schnitt, und fluchte leise. „Ich warte draußen“, erklärte Seunghyun und löste sich schnell von ihm. „Sonst tritt er uns noch die Tür ein.“ Als er die Tür öffnete, stand Yongbae immer noch davor und bedachte ihn mit einem strafenden Blick. „Tut mir wirklich Leid. Jiyong kommt gleich, ist noch im Bad“, erklärte Seunghyun schnell und ging an seinem Freund vorbei zur Wohnungstür. Er hatte sich fast schon ertappt gefühlt. Was, wenn Yongbae tatsächlich ins Zimmer gekommen wäre? Wenn er Seunghyun gesehen hätte, wie dieser sich bei offener Badezimmertür in ziemlich eindeutiger Weise an den halbnackten Bandleader schmiegte? Seunghyun schüttelte den Kopf. Sie konnten sich jetzt einfach nicht erlauben, nachlässig zu werden. Daesung und Seungri saßen bereits unten im Bus, als der Älteste zu ihnen stieß. „Morgen!“, grüßte er bemüht fröhlich und ließ sich auf den freien Platz neben Daesung fallen. Dieser musterte ihn irritiert. „Was?“, wollte der Rapper wissen und zog eine Augenbraue hoch. „Ähm“, setzte Daesung vorsichtig an, „du... du sitzt auf Yongbaes Platz, weißt du? Willst du nicht lieber neben Jiyong sitzen?“ Er wäre beinahe auf Seungris Schoß gekrochen, als der Ältere ihn gereizt ansah. „Bin ich dir etwa unangenehm, Dae? Dann setz du dich doch auf meinen Platz...“ „Nein, nein! Ist ja schon gut!“, erwiderte der Blonde kleinlaut und rückte weiter zu Seungri hinüber, der sich schon, so von seinem Kollegen bedrängt, an die Seitenwand des Busses quetschte. „Gut.“ Damit war die Sache für Seunghyun erledigt. Doch als fünf Minuten später Yongbae mit Jiyong aus dem Haus kam, konnte dieser seine Enttäuschung über den Sitzplatzwechsel kaum verbergen. Er ließ sich wortlos neben Yongbae nieder, wusste nicht, was er getan hatte. Jedoch war er sich sicher, Verärgerung in Seunghyuns Blick zu erkennen, der immer noch starr aus dem Fenster gerichtet war. „Bist du sauer? Weil ich verschlafen habe, meine ich?“, fragte er schließlich zögernd. Als der Angesprochene nicht gleich reagierte, übernahm Daesung das Wort. „Wir sind alle sauer, GD! Das ist nicht das erste Mal, dass wir viel zu spät kommen – wegen dir!“ Jiyong zog einen Flunsch. „Ist ja gut“, murmelte er. Doch seine Aufmerksamkeit galt weiterhin dem Ältesten, der ihm nun einen warnenden Blick zuwarf. Als der Bus schließlich vor dem Firmengebäude hielt, war die Atmosphäre zwischen den Bandmitgliedern so angespannt, wie schon lang nicht mehr. Die merkwürdige Stimmung, die Seunghyun und Jiyong an diesem Morgen verbreiteten, ging an keinem der anderen Mitglieder unbemerkt vorbei. Selbst während der Trainingseinheit vermied Seunghyun es, Jiyong zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Trainierten sie doch sonst immer zusammen, so hatte Seunghyun nun Daesung für sich als Opfer auserkoren. Dieser schien so überhaupt nicht begeistert über die Ehre zu sein, die ihm da zuteil wurde. Seunghyuns Blick gefiel ihm gar nicht. So musste sich ein Schaf fühlen, wenn es dem großen bösen Wolf gegenüber stand... „Was zur Hölle ist denn mit dem los?“, fragte in diesem Moment ein paar Meter weiter Yongbae und beobachtete das merkwürdige Paar aufmerksam. Jiyong zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Du glaubst gar nicht, wie gern ich das wüsste...“, seufzte er und unterdrückte die Eifersucht, die in ihm hochstieg, als er Daesung und Seunghyun bei ihren Dehnübungen beobachtete. Yongbae und Seunghyun warfen sich einen kurzen, ratlosen Blick zu. Was sollten sie schon von diesen äußerst merkwürdigen Vorgängen halten? In der Pause ließen sich alle am Rande des Übungsraums auf die Holzdielen fallen. Nur Jiyong kramte die Wasserflasche aus seinem Rucksack und zog sich aus dem Raum zurück. Seunghyun, der mit dem Rücken an der Wand lehnte und die Beine angezogen hatte, sah ihm missmutig nach. Was bildete der Jüngere sich ein, hier so ein Theater machen zu müssen? In seinem Inneren verwoben sich Sorge und Ärger zu einem Netz, das ihm für einen kurzen Moment die Kehle zuschnürte. „Was ist los? Jiyong wollte uns nichts sagen, Hyung.“ Yongbaes Stimme riss den Rapper aus seinen Gedanken und er sah zu seinem Freund hinüber. „Es ist alles in Ordnung, wirklich“, erklärte er und rang sich ein Lächeln ab. „Es gab gestern Abend eine kleine... Meinungsverschiedenheit. Aber er wird sich schon wieder beruhigen.“ Daesung verzog den Mund. So wie er seinen Bandleader kannte, würde der noch mindestens zwei Tage den Beleidigten spielen. Was hieß: Zwei Tage mehr Training mit Seunghyun. Und der sah nun wirklich nicht viel glücklicher aus, als Jiyong. Die jungen Männer schwiegen sich einige Minuten lang an, dann ergriff Seungri zögerlich das Wort. „Sollte... sollte ihm nicht mal jemand nachgehen? Er ist schon so lang weg...“, murmelte er kleinlaut und schielte zu Seunghyun. Dieser erwiderte den Blick einige unerträgliche Sekunden lang, doch Seungri hielt ihm stand. Schließlich stöhnte der Ältere genervt und raffte sich vom Boden auf. „Ist ja gut, ich geh ihn holen.“ Er stapfte aus dem Raum hinaus auf den langen Flur im vierten Stock. Weit und breit war kein Bandleader zu sehen. „Heey!“, rief der blond Gefärbte über den Korridor. „Jiyoong, jetzt komm schon, das Training geht weiter!“ Aus einer der benachbarten Türen sah eine junge Frau hinaus und schüttelte missbilligend den Kopf. „Ruhe da, wir proben hier!“ Seunghyun sah zu ihr hinüber und lächelte freundlich. „Tut mir Leid, Bom. Hast du GD vorbeigehen sehen?“ Sie überlegte einen Moment angestrengt, dann hellte ihre Miene sich auf und sie antwortete: „Ja, klar! Der ist vor einer ganzen Weile an unserer Tür vorbei und in Richtung Kaffeeautomaten. Wenn du ihn siehst, richte ihm aus, dass er mir immer noch das Geld für sein Mittagessen von neulich schuldet!“ Die beiden jungen Menschen sahen sich noch einen Moment lang in die Augen und es herrschte eine merkwürdige Stille zwischen ihnen. Schließlich fuhr sich der junge Mann verlegen durch sein Haar und hob dankend die Hand, bevor er seinem Leader hinterher ging. Zwei Flure weiter an den Automaten fand er den Jüngeren tatsächlich mit einem Pappbecher in der Hand an der Wand lehnend. Jiyong sah zu ihm auf. Seine Augen waren leicht gerötet. „Jiyong..“, murmelte der Rapper und rieb sich angestrengt über die Stirn. Sein Kopf begann langsam zu schmerzen. „Hör mal, ich...“ „Vergiss es“, unterbrach der Schwarzhaarige ihn und in seiner Stimme lag ein verräterisches Beben. „Ich kann deine ewigen Ausreden nicht mehr hören, Hyung. Ich halte das nicht mehr aus, ich will dich endlich für mich haben. Ganz für mich, verstehst du?“ Seunghyun sah in die tränenden Augen seines Freundes und näherte sich ihm langsam. Jiyong ließ sich ohne Widerworte in den Arm nehmen, erwiderte die Umarmung jedoch nicht. Der Ältere vergrub die Nase in dem dunklen Haar und redete leise auf ihn ein. „Du weiß, dass ich dich liebe, Jiyong. Nur... es geht einfach nicht, okay? Nicht jetzt...“ „Wann dann?“, murrte der Jüngere leise. „Ich will nicht mehr warten!“ Seunghyun antwortete nicht und war froh, dass sein Gegenüber in diesem Moment sein Gesicht nicht sehen konnte. Nach ein paar Sekunden löste Seungyhun sich wieder von ihm und sah den Bandleader an. Jiyong erkannte seinen Freund kaum mehr wieder. Vor ein paar Monaten war er noch so zärtlich gewesen, doch dann hatte er wieder begonnen, sich wieder um Filmrollen zu bemühen. Und nun stand er ihm gegenüber, das blond gefärbte Haar glatt zurückgegelt , und sah ihn beinahe schon teilnahmslos und kühl an. „Wir müssen zurück zum Training, Jiyong“, sagte er nur ruhig und machte auf dem Absatz kehrt in Richtung Tanzstudio. Jiyong rieb sich hastig über die brennenden Augen und folgte ihm schnellen Schrittes. Es würde noch ein harter Tag werden. Als Daesung am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wusste er zuerst nicht recht, wie ihm geschah. Noch halb im Schlaf versunken, konnte er dieses warme, weiche Ding neben ihm nicht einordnen. Erst, als sein Blick sich klärte, erkannte er, was – oder besser gesagt wer – ihm da die Hälfte seines eh schon kleinen Bettes wegnahm, und fuhr so schnell hoch, dass er von der Bettkante rutschte. „Verdammt nochmal, Jiyong!“, fluchte er ungehalten. Der zerzauste Junge in seinem Bett blinzelte ihn benommen an. „Eeeh?“, nuschelte er nur und wollte schon die Augen wieder schließen, als Daesung ihm die Bettdecke wegriss. „Hey, raus aus meinem Bett! Wo warst du denn die ganze Nacht!“ Daesung brauchte auf keine Antwort zu warten. Der Geruch, der zu ihm herüber zog, war Erklärung genug. „Sag mal, bist du betrunken?“, fragte er nun etwas ruhiger. Seine Empörung über die ungebetene Annäherung wich der Sorge um seinen guten Freund, der noch immer halb weggetreten in seinem Bett kauerte und ihn blinzelnd ansah. „Tschuldigung“, nuschelte Jiyong wieder und rieb sich mit einer Hand über die Augen. „Falsches Bett...?“ Der unschuldige Ausdruck auf seinem Gesicht ließ ein mildes Lächeln über Daesungs Gesicht huschen. „Dein Bett ist am anderen Ende des Flures, GD. Was ist denn überhaupt los gewesen mit dir? Du betrinkst dich doch sonst nicht... so sehr.“ Wie ein kleines Kind schob der Bandleader trotzig die Unterlippe vor und schwieg eine Zeit lang. Schließlich gab Daesung es auf und rappelte sich vom Boden hoch. „Wie auch immer. Du solltest zusehen, dass du munter wirst. Es ist schon acht Uhr durch und wir haben in vier Stunden ein Radiointerview.“ Jiyong sah seinem Kollegen schweigend nach, als dieser das Zimmer in Richtung Bad verließ. Die Erinnerungen an die letzte Nacht waren verschwommen und teilweise komplett in Dunkelheit gehüllt. Doch das ungute Gefühl in seinem Magen rührte sicher nicht nur von zu viel Alkohol her. Was um alles in der Welt hatte er in den letzten Stunden nur angestellt? Drei Stunden später saß die kleine Gruppe in ihrem Bus auf dem Weg zu einem der lokalen Radiosender. Jiyong hatte sich einen Fensterplatz gesichert und sah schweigend hinaus in den regen Stadtverkehr. Er hatte einen fürchterlichen Kater, sein Kopf schien zerspringen zu wollen und sein Magen rebellierte. Seunghyun hatte ihm eine Schmerztablette gegeben, doch die schien nicht helfen zu wollen. „Reiß dich zusammen“, hatte der Älteste ihn gemahnt. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Lass uns nicht darunter leiden beim Interview.“ Jiyong hatte reumütig von der Toilettenschüssel zu ihm hochgesehen und genickt. Er grübelte noch immer darüber nach, was in der letzten Nacht geschehen war. Nach dem Training hatte er sich von der Gruppe abgesetzt und sich ein Taxi zum nächsten Club genommen, soviel wusste er noch. Er erinnerte sich auch an die unbändige Wut und die bittere Enttäuschung, die in ihm gebrannt hatten, nachdem er sich gegen Ende der Trainingseinheit noch einmal mit Seunghyun gestritten hatte. Vielleicht hatte er ein oder zwei Gläser über den Durst getrunken... Naja, vielleicht auch ein paar mehr. Doch so sehr er sich auch anstrengte, irgendwann zwischen dem vierten und fünften Glas setzten die Erinnerungen aus. Als sie schließlich vor dem Hochhaus hielten, in dem sich der Sender befand, zog Taeyang seinen Bandleader förmlich aus dem Bus und legte möglichst unauffällig und lässig einen Arm um seine Schultern – nur für den Fall, denn der junge Mann schien nicht gerade sicher auf den Beinen zu sein. Als die Band so die modernen Räume des Senders im zehnten Stock betrat, sah man den Männern ihr Schamgefühl förmlich an. Die Moderatorin begrüßte sie übertrieben höflich und bat sie, auf ihren Stühlen Platz zu nehmen. Sie schien etwas irritiert von den Sängern zu sein, die sonst immer so überdreht und immer zu Scherzen aufgelegt waren. Heute schaute jeder zu Boden oder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen und der flippige Bandleader war leichenblass und verzog immer wieder kurz das Gesicht. Zum Glück sind wir beim Radio und nicht beim Fernsehen, schoß es Taeyang durch den Kopf, als er lächelnd die Begrüßung der Moderatorin erwiderte. „Heute haben wir die derzeit wohl erfolgreichste Boyband Südkoreas bei uns! Begrüßt mit uns – Big Bang!“, trällerte sie in ihr Mikrofon und bedeutete den Jungs mit einer enthusiastischen Geste, mitzuspielen. Die Sänger riefen fröhlich einen Gruß in ihre Mikrofone und bedankten sich bei Haneul für die Einladung. „Wie geht es euch heute, Jungs?“, fragte sie und schielte dabei zu Jiyong hinüber. In Seunghyun flammte ein absurder Beschützerinstinkt auf. „Es geht uns gut!“, entgegnete er schnell und legte unter dem Tisch unauffällig eine Hand auf Jiyongs Oberschenkel. „Soso, das freut mich aber! Ihr wisst, warum ihr hier seid?“, trällerte Haneul weiter. „Ja, ja!“, meldete Daesung sich zu Wort. „An alle Fans da draußen, die uns jetzt zuhören: Ihr könnt uns jede Frage stellen, die euch auf der Zunge brennt, wir beantworten sie gern. Also lasst uns nicht länger warten und ruft uns an, wir freuen uns auf euch!!“ Seine Stimme klang fröhlich wie immer, doch wer ihn kannte, sah ihm an, dass er sich an diesem Tag mehr als nur unbehaglich bei dem Gedanken fühlte, sich gleich den Fragen dutzender Fans ausgesetzt zu sehen. Es dauerte keine zehn Sekunden, da klingelte das Telefon bereits zum ersten Mal. Es folgten einige Anrufe mit mehr oder weniger belanglosen Fragen, die die Bandmitglieder charmant beantworteten. Keinem der Hörer schien aufzufallen, dass Jiyong sich an diesem Tag merklich zurückhielt und seine Bandkollegen für sich sprechen ließ, und die Stimmung im Studio lockerte sich sichtlich auf. Schließlich schaltete sich Haneul wieder ein. „So, Leute, das war's! Die 20 Minuten sind um! Wir bedanken uns bei – oh, einen Moment bitte!“ Sie hielt inne und lauschte der Ansage, die durch ihr Headset kam. Sie musterte die Idole vor sich einen Moment lang mit merkwürdigem Blick, dann sprach sie wieder zu den Hörern: „Anscheinend haben wir noch einen letzten Fan, der unbedingt mit unseren Stars sprechen will! Es ist Chunghee aus Seoul, der unbedingt mit GD sprechen möchte. GD, was sagst du, haben wir dafür noch Zeit?“ Der Bandleader war bei dem Namen des Fans hochgeschreckt und starrte die Moderatorin an wie ein Reh, dass sich den Scheinwerfern eines Autos gegenüber sah. Irgendetwas klingelte da in seinem Kopf und eine leise Vorahnung beschlich ihn. Trotzdem machte er gute Miene zum bösen Spiel und beugte sich vor zu seinem Mikrofon. „Aber sicher haben wir dafür noch Zeit, Haneul! Stell ihn ruhig zu mir durch!“ Es knisterte in der Leitung, dann erklang eine Männerstimme: „Hey, GD, erinnerst du dich an die letzte Nacht?“ Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Freunde sich auf ihren Stühlen versteiften. Seungri klapperte nervös mit den Fingerkuppen auf dem Tisch herum, bis Taeyang seine Hand über die unruhigen Finger legte und sie zum Schweigen brachte. „Ich – ich weiß nicht, was du meinst“, stotterte Jiyong unsicher. „Ich kenne dich nicht.“ Am anderen Ende der Leitung war ein Lachen zu hören. „Komm schon, wie kannst du mich vergessen? Der Club, das Hinterzimmer, in dem wir waren – nur wir beide...?“ Die Bandmitglieder liefen allesamt hochrot an und schauten Hilfe suchend zu der Moderatorin hinüber. Die jedoch schien die Story ihres Lebens zu wittern und ermutigte den jungen Mann noch dazu, genauer zu werden. Jiyong saß wie angewurzelt auf seinem Stuhl, das Gesicht war noch bleicher als zuvor und die Augen weit aufgerissen. Der Mann am Telefon schilderte Details, die die Erinnerung an die letzte Nacht plötzlich wieder in seinen Verstand zurückschwemmten wie eine Sturmflut. Bilder von einem Mann mittleren Alters kamen zurück. Ein Mann, dessen schweißbenetzter Körper über Jiyongs schwebte, während sie sich in einem nach Alkohol stinkenden Hinterzimmer die Kleider vom Leib rissen. „Ich – ich weiß nicht...“, stotterte Jiyong weiter, doch er wusste längst, dass die Situation ausweglos war. Die Erkenntnis drehte ihm den Magen um und er hievte sich vom Stuhl hoch, um aus dem Aufnahmestudio zu taumeln. Chunghee hatte inzwischen aufgelegt und einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Dann meldete Haneul sich zu Wort. „Big Bang, was könnt ihr uns über diese Ereignisse berichten? Stimmt es, was euer Fan gerade gesagt hat?“ Seunghyun schien sie mit seinen Blicken aufspießen zu wollen und Daesung und Seungri sahen sich ratlos und geschockt an. Nur Taeyang schien sich wieder gefangen zu haben und sprach mit betont ruhiger Stimme in sein Mikrofon. „Das ist entweder eine Verwechslung oder ein ganz mieser Scherz. GD war gestern nach dem Training die ganze Zeit über bei uns, das können wir alle bezeugen“, log er. „Ich glaube, das Interview ist hiermit beendet. Wir haben noch einen Termin, den wir nicht verpassen dürfen. Danke, dass ihr uns zugehört habt, VIP's!“ Auf diese Worte schien jeder gewartet zu haben, denn die Bandmitglieder schossen förmlich von ihren Plätzen hoch und verließen beinahe schon fluchtartig den Raum, nachdem sie sich von Haneul verabschiedet hatten. Auf dem Flur sahen die drei Männer sich an. „Was – was war das denn?“, murmelte Seungri leise. Taeyang zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall dürften wir jetzt ziemlich in der Klemme stecken. Wo ist Jiyong hingegangen?“ Seunghyun seufzte tief. „Ich gehe ihn suchen. Geht ihr schonmal vor zum Bus und wartet da auf uns.“ Widerwillig gehorchten die Jüngeren und Seunghyun machte sich auf die Suche nach seinem Freund. Jiyong hockte in der Herrentoilette auf den kalten Bodenfliesen und schluchzte heftig. Vor seinen Augen schien die Welt zusammenzubrechen wie ein altes Gemäuer - und er selbst hatte die Abrissbirne bedient. Seine Finger krallten sich in seine Wangen, bis es schmerzte. Er registrierte nicht, dass jemand die Tür öffnete, bis sich starke Finger um seine Handgelenke legten und seine Hände vom Gesicht wegzogen. Jiyong hätte diesen Griff unter tausenden erkannt. Beschämt verschloss er die Augen vor seinem Gegenüber. Dann erklang die ihm so vertraute und geliebte Bassstimme dicht an seinem Ohr. Doch ihr sonst so sanfter Klang war nun hart und verbittert. „Hast du mir etwas zu beichten, Jiyong?“ Kapitel 2: Die Krise -------------------- Seunghyun fühlte sich furchtbar beklemmt, als er sich über seinen Freund beugte, um ihm die Hände von den mit Striemen überzogenen Wangen zu nehmen. Er hatte sich und seinen Freund nur schützen wollen und was war der Dank dafür? „Jiyong“, murmelte er bitter. „Hast du mir etwas zu beichten?“ Der Jüngere sah ihn nicht einmal an, kniff krampfhaft die Augen zusammen. „Jiyong“, hakte er noch einmal nach, diesmal nachdrücklicher. Doch der Bandleader antwortete nicht, sondern riss seine Hände los und bedeckte damit wieder sein Gesicht. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit stotterte er leise: „Tut mir...tut mir Leid?“ Seunghyun konnte die Wut in sich nicht länger zurückhalten. Er packte erneut die Arme des Kleineren und riss ihn hoch auf die Beine, um ihn gegen die Wand zu pressen. Jiyong wimmerte gequält und starrte ihn aus großen, ängstlichen Augen an. Noch vor einer halben Stunde hätte Seunghyun alles getan, um den anderen zu schützen. In diesem Augenblick aber ließ ihn das Gewimmer des Jüngeren kalt. „Es tut dir Leid?“, wiederholte er in betont ruhigem Tonfall. „Es tut dir Leid?! Weißt du eigentlich, was du getan hast, du Idiot? Du hast nicht nur dir selbst ein Eigentor geschossen, ein verdammt dämliches, wenn ich das mal so sagen darf. Du hast uns alle da mit reingezogen! Verstehst du? Unsere Karrieren, unsere Freundschaft, es wird alles daran zerbrechen! Alles!“ Die letzten Worte schrie er dem jungen Mann, der inzwischen wieder unkontrolliert schluchzte, förmlich ins Gesicht. Dann ließ er ihn abrupt los, sodass er wieder zu Boden sackte. Kalt sah Seunghyun auf ihn herab. „Tritt mir lieber erstmal nicht mehr unter die Augen, Jiyong.“ Jiyongs Augen weiteten sich. „Nein...“, murmelte er leise. Seunghyun wandte sich ab und schickte sich an, die Toiletten zu verlassen. „Wir warten draußen im Wagen auf dich. Du hast fünf Minuten, dann weise ich den Fahrer an, ohne dich zu starten“, erklärte er kaltschnäuzig, dann ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Seit diesem Vorfall waren inzwischen drei Tage verstrichen und die Boyband hatte sich in ihrem Apartment verschanzt. Ihre Handys hatten sie ausgeschaltet. Yongbae hatte den Stecker vom Festnetztelefon gezogen, nachdem es fast anderthalb Tage ununterbrochen geklingelt hatte. Nun, am Morgen des vierten Tages, saßen Daesung, Yongbae und Seungri mit dem schweigsamen Seunghyun am Frühstückstisch. Seunghyun und Daesung wühlten sich seit drei Tagen täglich durch sämtliche Zeitungen und Klatschblätter, die man in Seoul bekommen konnte, ein guter Freund brachte sie ihnen jeden Abend vorbei. Die beiden verfolgten wie besessen die Berichterstattung und die Ausmaße, die der Skandal um ihre Gruppe angenommen hatte. Yongbae hatte am Abend des letzten Tages den Fernseher einschalten wollen, um die Nachrichten zu sehen. Aber Jiyong war, als er seinen Namen in den Nachrichten hörte, in hysterisches Schluchzen ausgebrochen und so hatte Yongbae auch diesen Stecker gezogen. Sie alle fühlten sich furchtbar und das lag nicht nur an dem Geschwätz, das die Medien verbreiteten. Sie mussten hilflos mitansehen, wie ihr sonst so starker Bandleader litt und sich langsam selbst zu Grunde zu richten schien. Man hatte ihn in den letzten Tagen nur selten gesehen. Seunghyun musste auf der Couch schlafen, da Jiyong das gemeinsame Zimmer von innen verriegelt hatte. Seungri beschmierte wie jeden Morgen ein Brötchen mit Jiyongs Lieblingsmarmelade und drapierte es liebevoll mit ein paar Obststücken auf einem Teller. Dann sah er flehend zu Yongbae hinüber. Der Zweitälteste war der Einzige, den Jiyong seit dem Radiovorfall in seiner Nähe duldete. Es kam Seungri seltsam vor, da der Leader sonst förmlich an Seunghyun geklebt zu haben schien, doch er konnte sich nicht erklären, warum plötzlich eine derartige Kälte zwischen den beiden herrschte. Yongbae nahm seufzend den Teller entgegen und erhob sich von seinem Stuhl. Am Ende des Flures klopfte er an Jiyongs Tür. Es kam keine Reaktion, doch Yongbae wusste, dass er nicht nachgeben durfte. Nach dem vierten Versuch hörte er, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, und schob die Tür langsam auf. Jiyong hatte sich wieder auf sein Bett gesetzt und sah zu Boden. Der Ältere stellte den Teller auf seinen Nachtschrank und legte eine Hand auf Jiyongs Schulter. „Komm schon, iss wenigstens heute alles auf. Seungri gibt sich solche Mühe für dich.“ Der Leader zuckte mit den Schultern. „Ich möchte nichts essen.“ Seufzend ließ Yongbae sich neben ihm auf die Bettkante sinken. „Hör mal, Jiyong. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist. Das ist es für keinen von uns. Aber wenn du dich so hängen lässt, gibst du nur ein noch leichteres Ziel ab. Du solltest an die Öffentlichkeit gehen und erklären, dass es nur ein verdammt mieser Streich war.“ Jiyong schwieg wieder eine Weile, dann flüsterte er kaum hörbar: „Das geht nicht.“ Yongbae zog die Augenbrauen zusammen, hielt jedoch den Mund. Er befand es für klüger, nun nicht weiter nachzuhaken. „Wie auch immer“, murmelte er stattdessen und klopfte Jiyong auf die Schulter, bevor er aufstand. „Iss deinen Teller auf, sonst macht dir nicht nur die Presse die Hölle heiß.“ Erst, als er aus dem Zimmer war, registrierte er, wie unglaublich fehl am Platz sein schlechter Scherz gewesen war. Doch für eine Entschuldigung war es zu spät, er würde alles nur noch schlimmer machen. Als er in die Küche zurückkam, sah Seungri ihn erwartungsvoll an. Der Gesichtsausdruck des Jüngeren verdunkelte sich jedoch sofort wieder, als Yongbae nur mit den Schultern zuckte. „Mach dir nichts draus.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin sicher, er weiß es zu schätzen.“ Seunghyun und Daesung waren inzwischen mit den Zeitungen durch. Der Großteil lag in Fetzen zerrissen um Seunghyuns Stuhl herum auf dem Boden und der Älteste hatte fast schon trotzig die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Daesung knabberte neben ihm lustlos, fast schon apathisch, an seinem Brötchern herum und starrte ins Leere. „Leute“, setzte Yongbae an. „Ich werde jetzt einkaufen gehen. Wir können uns nicht ewig verstecken und ich habe wenig Lust, hier morgen am Hungertuch zu nagen. Ich nehme mein Handy mit, also... wenn irgendwas ist: Ich bin gleich im Supermarkt um die Ecke. Wir...sehen uns.“ Seungri beobachtete seinen Freund dabei, wie er sich in einen langen Mantel hüllte und mit Hut und Sonnenbrille so gut wie möglich das Gesicht verdeckte. Die Tarnung war so offensichtlich, dass sie schon wieder regelrecht ins Auge stach. Normalerweise hätte Seungri über dieses Paradoxon geschmunzelt, wenn nicht gar gelacht, aber sein Lachen schien er vor kurzem auf dem Weg zwischen dem YG-Gebäude und seinem Zuhause irgendwo verloren zu haben. Bis jetzt hatte sich jedenfalls noch kein Finder bei ihm gemeldet... Yongbae war kaum zehn Minuten außer Haus, als Seunghyun ebenfalls von seinem Stuhl aufstand und die Küche in Richtung Sperrzone verließ. Vor dem Zimmer, das bis vor ein paar Tagen noch ihm gehört hatte, blieb er stehen und hämmerte gegen die Tür. Wie erwartet, gewährte man ihm keinen Einlass. Er schnaubte frustriert und klopfte erneut an. „Komm schon, GD, mach auf! Ich brauche meine Anziehsachen oder soll ich nackt hier rumlaufen?“ Von der anderen Seite hörte man ein paar schlurfende Schritte, dann wurde die Tür geöffnet und ihm gegenüber stand ein blasser, schwach wirkender Jiyong. Die Ringe unter seinen geröteten Augen zeugten von Schlaflosigkeit. Seunghyun versuchte seine Sorgen zu verdrängen und schob sich an dem Schwarzhaarigen vorbei in den miefigen Raum. „Verdammt, GD, kannst du nicht wenigstens mal das Fenster aufmachen?“, maulte er vor sich hin, während er zu seinem Kleiderschrank hinüberstapfte und die Türen aufriss, auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Im Vorbeigehen hatte er gesehen, dass der Teller vom Frühstück noch immer unangetastet auf dem Nachtschrank stand. Es machte ihn beinahe wahnsinnig, wie egoistisch der Bandleader handelte. Konnte er sich denn nicht vorstellen, wie sehr sie alle unter dem, was er getan hatte, leiden mussten? Konnte er nicht wenigstens so tun, als würde Seungris Essen ihm schmecken? Seunghyun wusste nicht, wie oft er den Jüngsten der Band in den letzten Tagen beim Weinen erwischt hatte. Seungri wollte es nicht offen zugeben, doch er war mit der derzeitigen Situation vollkommen überfordert. Der Rapper schob die Sachen im Schrank hin und her. Letztendlich holte er einen Satz Unterwäsche, ein schwarzes, bunt besticktes Hemd und eine dunkle Jeans heraus und drehte sich wieder zu seinem Freund um. Dieser saß wieder auf seinem Bett und starrte ihn unentwegt an. „Es tut mir so Leid, Hyung“, flüsterte er schließlich heiser. Seunghyun stieß hörbar und betont ruhig den Atem aus und zog sich seinen Schreibtischstuhl ans Bett, um sich darauf niederzulassen. Seit Tagen hatten die beiden Männer kein Wort mehr als nötig gewechselt, doch Seunghyun sehnte sich nach einer Antwort auf all die Fragen, die ihn quälten. Er saß einen Augenblick lang einfach nur still da und wartete darauf, dass Jiyong das Wort ergriff. Schließlich fasste der Jüngere sich ein Herz. „Ich wollte nicht, dass so etwas passiert“, murmelte er und senkte den Blick. „Ich wollte doch nur mit dir zusammen sein können...“ Seunghyun verdrehte die Augen. „Das konntest du doch, GD...“ Aber dieser schüttelte heftig den Kopf. „Wie können wir zusammen sein, wenn du dich für mich als deinen Partner schämen musst? Wenn du mich verstecken musst, aus Angst, dich zu blamieren? Das hat mich traurig gemacht, Hyung. Und wütend... Ich... ich habe an diesem Abend nicht gewusst, wohin ich gehen sollte, ich hätte es nicht ausgehalten, mit dir in einem Zimmer zu schlafen.“ „Die Couch?“, bemerkte Seunghyun nur trocken und zog die Augenbrauen hoch. Wieder schüttelte Jiyong den Kopf. „Wie hätte ich das denn den anderen erklären sollen? Ich hätte uns sicher verraten. Ich dachte, es wäre das Beste, die Nacht außer Haus zu verbringen...“ Seunghyun sah sein Gegenüber ungläubig an. „Mit einem völlig fremden, alten Mann im Hinterzimmer eines Nachtclubs? Willst du mich verarschen??“ Er stand abrupt auf und hätte beinahe den Stuhl umgeschmissen. Erschrocken fuhr Jiyong zusammen und Tränen stiegen ihm in die Augen. „Es tut mir so Leid, was sollte ich denn machen??“, versuchte er sich zu rechtfertigen, doch er ahnte bereits, dass es keinen Sinn haben würde. Sein Geliebter hatte sich vor ihm aufgebaut und sah auf ihn herab. Sein Gesicht war von Wut verzerrt, doch in seinen hübschen Augen schillerte Enttäuschung. Jiyong kannte ihn gut genug, um zu sehen, wie verletzt er wirklich war. Und es brach ihm schlicht und ergreifend das Herz, als er eine erste Träne über Seunghyuns Wange kullern sah. Er hatte den Ältesten selten weinen gesehen. Sehr selten. Erst in diesem Moment wurde ihm die Tragweite seines Handelns wirklich klar und er blickte betroffen vor sich auf den Teppich. Seunghyuns Stimme zitterte kaum merklich, als er zum Sprechen ansetzte. „Jiyong, du hast mich betrogen. Ist dir das eigentlich klar? Du hast es mit einem anderen Mann getrieben, während ich vor Sorge fast umgekommen bin, weil du nicht nach Hause gekommen bist. Hast du seitdem eigentlich mal auf dein Handy geschaut? Die vier verpassten Anrufe in dieser Nacht kamen von mir, du verdammter Idiot! Wie soll ich dir jetzt noch vertrauen, Jiyong? Und was soll nun aus unserer Band werden, hm? Glaubst du wirklich, dass YG Entertainment keine Konsequenzen ziehen wird? Naiver Trottel...“ Inzwischen war es nicht mehr zu überhören, dass auch Seunghyun weinte. Als Jiyong aufsah, konnte er gerade noch einen Blick auf das gerötete und tränenfeuchte Gesicht des anderen erhaschen, bevor dieser sich abwandte und mit seinen Sachen unter dem Arm das Zimmer verließ. Die Tür knallte hinter ihm zu. Als Jiyong, noch benommen von den soeben gesprochenen Worten, auf ihr weiß getünchtes Holz blickte, konnte er noch nicht ahnen, was die Zukunft bringen würde. Er registrierte überhaupt nicht, dass plötzlich kein Schlüssel mehr im Schloss steckte. Yongbae hatte eine knappe Stunde gebraucht, um die 300 Meter zum Supermarkt zurückzulegen, das Nötigste zu kaufen und zum Apartment zurückzukehren. Vor dem Hochhaus, in dem sich die Wohnung befand, hatten die Reporter förmlich gelauert. Als er durch die Tür nach draußen getreten war, hatte es ihn geschockt, tatsächlich ein Campingzelt auf dem Gehsteig zu entdecken. Trotz seiner Verhüllung hatten ihn die Medienvertreter natürlich sofort erkannt und Blitzlichter und laut gerufene Fragen waren auf ihn eingeprasselt wie ein Gewittersturm. „Taeyang, ist es wahr, was über G-Dragon gesagt wird??“ „Was kannst du uns über die Club-Affäre sagen?“ „Lief da schon länger was? Wusstet ihr davon?“ Yongbae unterdrückte den Wunsch, seiner Laune durch Gewalt Ausdruck zu verleihen. Er würde es damit nur schlimmer machen. „Lassen Sie mich in Ruhe!“, sagte er ruhig, aber bestimmt, und schob die Reporter beiseite, die ihm seinen Weg versperrten. So kämpfte er sich bis zum Supermarkt vor. Ihm blieb nicht die Zeit, um sich darüber klar zu werden, dass YG sogar ihre Security abgezogen hatte, die sonst vor oder in dem Apartmentgebäude postiert gewesen war. Das Drama hatte sich im Supermarkt fortgesetzt und erst ein Ende gefunden, als Yongbae mit zwei schweren Tüten beladen und erschöpft keuchend die Tür zu ihrem Wohnhaus wieder hinter sich verschlossen hatte. Wenigstens hatten sie jetzt genug Essen und Waschzeug für die nächste Woche. Wer weiß, wie sich die Sache entwickeln würde. Dem jungen Sänger drängte sich unweigerlich das Bild einer postapokalyptischen Hölle auf und er lächelte bitter. Kam der Sache doch ziemlich nahe, oder etwa nicht? Er schleppte die Einkäufe in den Fahrstuhl und im fünften Stock zur gemeinsamen Wohnung. Als er die Tür aufschloss, kam ihm die bedrückende Stille der vergangenen Stunden und Tage wieder entgegen und nahm ihn in Empfang. Viel lieber wäre er draußen bei den Reportern geblieben, als sich dieses Elend weiter anzuschauen, doch er hatte keine Wahl. Er konnte seine Freunde unmöglich im Stich lassen. In der Küche saß inzwischen nur noch Daesung vor seinem angefressenen Brötchen. Er hatte das Kinn auf die Hände gestützt und sah seinen Kollegen an. „Dae, konntest du nicht schonmal das Geschirr spülen?“, fragte Yongbae sichtlich genervt. „Ich kann hier nicht alles allein schmeißen. Glaubst du, mir fällt das Ganze leichter, als euch?“ „Sieht jedenfalls so aus“, murrte Daesung leise, erhob sich dann jedoch und stapelte die leeren Teller aufeinander, um sie zur Spüle zu tragen. „Seunghyun hat mein Zimmer besetzt“, bemerkte er trocken. „Er hat sich eingeschlossen, nachdem er bei GD gewesen ist... Ich will nicht nochmal anklopfen - er hat mich angesehen, als wollte er mich auffressen!“ Yongbae seufzte. War er denn hier im Kindergarten gelandet? „Dann hast du die Ehre, diese Nacht auf der Couch zu verbringen, Dae“, erklärte er gelassen und verkniff sich ein Grinsen, als der Jüngere ihn entgeistert ansah. Er tätschelte ihm beschwichtigend die Schulter und lächelte flüchtig. „Gib uns allen Zeit, Dae. Die einen brauchen Ruhe, die anderen Gesellschaft, so ist das nunmal. Es wird sich alles klären, du wirst schon sehen. Irgendwie finden wir schon eine Lösung. Das verspreche ich dir... Willst du für diese Nacht 'nen Schlafanzug von mir leihen? Wenn er dich auffrisst, bin ich der einzige normale Mensch, der hier übrig bleibt.“ Daesung starrte ihn einen Moment lang an, entsetzt über diesen offensichtlichen Humor, dann lachte er. „Danke, das Angebot nehm' ich an.“ Yongbae klopfte ihm auf den Rücken. „Ist gut.“ Es freute ihn ungemein, wenigstens einen der Jungs aufheitern zu können. Er hatte in den letzten Tagen so oft den Trostspender gespielt, dass er schon Angst bekommen hatte, bald seine Kraft zu verlieren. Es waren diese kurzen Erfolgserlebnisse, die ihn nicht einknicken ließen. Bis jetzt. Auch am Abend hatten sich Seunghyun und Jiyong noch verbarrikadiert. Seungri saß in sich zusammengesunken auf der großen, schwarzen Couch im Wohnraum und vernichtete im Alleingang eine Packung Chips, die er aus Yongbaes Einkaufstüten entwendet hatte. Neben ihm saß Daesung, der ihn mit neidischen und zugleich bettelnden Blicken bedachte. Umso mehr freute er sich, als Taeyang aus der Küche eine Tafel Schokoalde mitbrachte, die er ihm zusteckte. „Das könnt ihr im Moment gut gebrauchen, hm?“ Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Lächelnd ließ er sich neben den beiden nieder und schaltete den Fernseher ein. Er hatte das Gerät wieder eingesteckt, nachdem feststand, dass Jiyong sich wohl erst einmal nicht mehr im Wohnzimmer blicken lassen würde. Er hatte eine DVD aus ihrer großen gemeinschaftlichen Sammlung eingelegt und hoffte, so die Stimmung etwas aufbessern zu können. Nach einer guten Stunde stellte sich heraus, dass sein Plan tatsächlich funktionierte...auf die ein oder andere Weise zumindest. Die jungen Männer zogen keine Trauermienen mehr. Stattdessen erklang neben ihm leises Schnarchen. Daesung und Seungri hatten ihr Knabberzeug restlos vernichtet. Der Jüngste hatte seinem Freund noch den letzten Riegel Schokolade streitig machen wollen, doch der war schneller gewesen. Nun saßen beide aneinander gelehnt und friedlich schlafend auf der Couch, während man sich auf dem Bildschirm noch immer wilde Schusswechsel lieferte. Es war schon nach Mitternacht, als Yongbae den Fernseher schließlich ausschaltete. Er war müde und fühlte sich ausgelaugt vom Tag. Auch er hatte keine endlosen Kraftreserven, das musste er sich, Wohl oder Übel, eingestehen. Behutsam legte er eine der Decken, die immer ordentlich zusammengelegt auf der Couch lagen, über Daesung und Seungri und ließ sie schlafen. Auf dem Weg in sein Zimmer hielt er an Jiyongs und Seunghyuns Zimmertür an. Er drückte leise die Türklinke hinunter, um vor dem Schlafengehen noch einen letzten Blick auf seinen Bandleader zu werfen – nur, um sicher zu gehen. Er war sich nicht sicher, wie weit der Bandleader gehen würde. Im Moment traute er ihm alles zu. Die Tür war zu seiner Überraschung tatsächlich offen und als er sie langsam ein Stück weit aufschob, entdeckte er Seunghyun, der mit einer großen Tasche vor seinem Schrank stand und sämtliche Anziehsachen ausräumte. Yongbae unterdrückte einen Seufzer. Wenigstens würden sie nicht wieder anfangen zu streiten, wenn Seunghyun ein anderes Zimmer bezog. Sicher würde er mit Daesung tauschen wollen. Jiyong bemerkte von alldem, was um ihn herum geschah, nichts. Er hatte sich unter seiner Decke zusammengerollt wie ein kleines Kind und schlief tief und fest. Auch Seunghyun hatte Yongbae noch nicht registriert. Vielleicht war das auch besser so, er wollte sich in ihre Angelegenheiten nicht einmischen, verstand er doch sowieso nicht, was da überhaupt zwischen ihnen vor sich ging. Leise schloss er die Tür wieder und schlurfte den Flur entlang, zurück zu seiner Zimmertür. Morgen würde die Welt sicher schon anders aussehen... Seunghyun stand im dunklen Zimmer und sah auf die Tasche hinab, die fast sein ganzes Hab und Gut beherbergte. Den Reißverschluss hatte er gerade so verschließen können. Ein letztes Mal ging er hinüber zu dem Bett, in dem sein Freund schlief, in dem sie in den letzten Monaten so oft zusammen gelegen hatten. Er spürte einen Kloß im Hals, als er an die vergangene Zeit dachte. Er würde damit abschließen, er musste es. Den ganzen Nachmittag hatte er gegrübelt und keine andere Lösung für sich und seine Freunde gefunden. Hier konnte er nicht bleiben. Er würde gehen. Wohin, das würde er niemandem sagen. Nur so konnte auch Jiyong über das Geschehene hinweg kommen, dessen war er sich sicher. Ein allerletztes Mal strich er mit der Hand durch das seidige Haar des zierlichen jungen Mannes, drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Jiyong murrte kurz im Schlaf, atmete dann jedoch ruhig weiter. Sehr gut. Seunghyun schob den Zettel, den er zuvor in seine Hemdtasche gesteckt hatte, unter das Kopfkissen und warf sich die schwere Tasche über die Schulter, um auf leisen Sohlen das Zimmer zu verlassen. Er hatte alles vorbereitet, hatte alles geplant an diesem einsamen Nachmittag. In der Wohnung war alles ruhig. Vor der Wohnungstür schlüpfte er in seine Schuhe und zog eine graue Jacke über, die er wahllos von einem der Garderobenhaken gezogen hatte. Sie saß ein bisschen merkwürdig, doch das kümmerte ihn nicht. Bevor er die Wohnung verließ, blickte er sich noch einmal um. Für einige Minuten stand er schweigend und allein im Dunkeln da und erinnerte sich mit Freude an die Jahre, die er hier mit den anderen verbracht hatte. Es war eine schöne Zeit gewesen, die schönste seines Lebens. Doch nun musste er das alles hinter sich lassen, zu seinem eigenen Schutz und auch zum Wohl der anderen. Schließlich gelang es ihm, sich loszureißen, und er schloss ein letztes Mal leise die Tür hinter sich, bevor er das Haus verließ. Kapitel 3: Der Abschied ----------------------- Als Daesung am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fühlte er sich wie gerädert. Er brauchte einige Sekunden, bis er wusste, wo er war. Er saß noch immer auf der Couch. Wow. War er wirklich so erschöpft gewesen, dass er die ganze Nacht im Sitzen verbracht hatte? Neben ihm hatte sich Seungri zusammengekuschelt, dessen Kopf inzwischen nicht mehr wie gestern Abend an seiner Schulter, sondern auf seinen Schoß gebettet lag. Er wuschelte dem Jüngeren liebevoll durchs Haar. "Aufstehen, Seungri!", sprach er ihm ins Ohr. Seungri murrte leise und schlug nach einem Moment die Augen auf. Als er registrierte, wo und in welcher Position er sich befand, fuhr er erschrocken hoch und wäre dabei fast mit Daesung zusammengestoßen, der sich über ihn gebeugt hatte. Dieser wich zum Glück noch rechtzeitig zurück. "Dae, wie lange lag ich denn da schon so? Es ist ja schon hell draußen! Wieso hast du mich nicht geweckt??", sprudelte es aus ihm heraus und mit jedem Wort vertiefte sich der Rotton auf seinen Wangen. Daesung schob ein wenig beleidigt die Lippen vor. "Weißt du, ich bin nicht giftig. Außerdem habe ich selbst bis gerade eben geschlafen, also hab dich nicht so!", entgegnete er schnippisch. "Mein Zimmer ist ja leider fremdbesetzt." Er stand auf und legte die Decke, die ihn und Seungri gewärmt hatte, wieder ordentlich zusammen, bevor er sich in Richtung Bad zurückzog. "Ich geh erstmal duschen", murmelte er zur Erklärung. Seungri sah ihm, immer noch mit roten Wangen, nach. Schließlich schüttelte er den Kopf, wie, um unerwünschte Gedanken zu vertreiben, und erhob sich ebenfalls von der Couch. Er streckte sich ausgiebig und hörte es in seinen Gelenken knacken. Verdammt, wie konnte er nur die ganze Nacht in dieser unmöglichen Position verbracht haben? Sein Nacken und sein Rücken schmerzten, wie sonst nur nach stundenlangem Training. Er brauchte jetzt definitiv einen Kaffee, soviel stand fest. Einen Augenblick lang blieb er unschlüssig im Raum stehen und überlegte, dann machte er sich auf den Weg, um an Yongbaes Tür zu klopfen. Es dauerte eine Weile, bis ein verschlafener Yongbae die Tür öffnete und ihn aus halb geschlossenen Augen anblinzelte. "Hmm?", murmelte er nur und Seungri musste unweigerlich an diese furchtbaren Zombieschinken aus früheren Jahrzehnten denken, die sich die Gruppe eine Zeit lang jeden Abend zu Gemüte geführt hatte. Damals hatten sie wirklich viel Spaß zusammen gehabt. "Kaffee?" Seungri fasste sich kurz. Es sah nicht danach aus, als könnten Yongbaes Gehirnzellen schon mehr verarbeiten. Der Ältere nickte. "Komme gleich... Nur anziehen...", murmelte er. Also gut. Drei Tassen für Yongbae. Im Flur hörte er die Dusche rauschen. Daesung würde er jetzt mit Sicherheit nicht fragen gehen, auch wenn selten einer der jungen Männer zum Duschen oder Baden die Tür verriegelte - mit Ausnahme von Seunghyun. Sie hatten mittlerweile schon angefangen, scherzhaft zu rätseln, was er so Geheimnisvolles dort drinnen treiben mochte. Wollten sie es wirklich wissen? Nein. Machte es riesigen Spaß, den Ältesten damit aufzuziehen? Oh ja. Er ging hinüber zu Daesungs Zimmer und klopfte an die Tür, klopfte erneut. Es kam keine Antwort. Der Jüngste legte ein Ohr an die Tür und lauschte angestrengt, doch er konnte nichts hören. Vielleicht schlief Seunghyun noch. Und vielleicht war das auch erst einmal gut so. Wenn er daran dachte, wie Seunghyun am letzten Morgen mit diabolischem Blitzen in den Augen die Tageszeitungen und Klatschblätter zerlegt hatte, war es ihm nur Recht, dass dieser das Frühstück verschlief. Ein kalter Schauer lief ihm bei der Erinnerung über den Rücken und er ging eiligen Schrittes zur Küche, um dort den Kaffee aufzusetzen. Als Yongbae und Daesung beinahe zeitgleich in der kleinen Küche auftauchten, standen ihre Kaffeetassen bereits bis zum Rand gefüllt an ihren angestammten Plätzen. Daesung ging an den Kühlschrank, um Marmelade und Nougatcreme herauszunehmen und auf dem Tisch zu platzieren, und half dann Seungri mit dem restlichen Geschirr. Yongbae beobachtete die beiden einen Moment lang ruhig, dann fiel sein Blick auf den einen Platz, der nach der Erfahrung der letzten Tage eigentlich nicht leer sein sollte. Seunghyun war sonst immer pünktlich zum Frühstück wach gewesen. Meistens war es sogar er gewesen, der bereits Kaffee eingeschenkt und Brötchen oder Crossaints aufgebacken und verteilt hatte, wenn die anderen eintrafen. Yongbae wusste, wie viel Wert der Rapper auf diese gemeinsamen Rituale legte. "Das sind doch die einzigen ruhigen Minuten, die uns noch zusammen bleiben", hatte er ihm einmal gesagt. Doch heute war sein Platz leer. "Wo ist Seunghyun?", hakte Yongbae nach und Seungri sah ihn mit schuldbewusster Miene an. "Ich...ich hab ihn schlafen lassen, weißt du? Er...er sah doch gestern so fertig aus!", versuchte er sich unter Yongbaes strengem Blick zu rechtfertigen. Dieser verdrehte nur die Augen und machte auf dem Absatz kehrt. "Schon gut. Ich geh ihn selbst wecken, du Angsthase." Als er die Küche wieder verließ, hörte er hinter sich Seungri und Daesung aufatmen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Seunghyun war zwar ab und an mal ein bisschen rau und distanziert, aber sie wussten doch eigentlich alle, dass hinter dieser harten Schale ein Kern aus Zuckerwatte steckte, oder nicht? Er konnte sich nicht erklären, wieso die Jüngeren nach all den gemeinsamen Jahren von Zeit zu Zeit immer noch eine solche Scheu vor dem Gruppenältesten hatten. Nun ja, wahrscheinlich wusste der einfach, wie man sich den nötigen Respekt verschaffte. Yongbae sollte ihn, wenn all dies durchgestanden war, vielleicht einmal danach fragen. Als er schließlich vor Daesungs Zimmertür stand, hinter der der Rapper sich gestern verschanzt hatte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er erinnerte sich plötzlich wieder ganz genau an die Szene, die er letzte Nacht heimlich beobachtet hatte. An die riesige Tasche und an diesen merkwürdigen Ausdruck auf Seunghyuns Gesicht. Das alles hatte ihn vor dem Einschlafen noch lange beschäftigt. Er nahm sich vor, den Älteren zur Rede zu stellen, sobald er ihn irgendwie aus seinem scheinbaren Koma geholt hatte. Er klopfte einige Male energisch an die Tür, doch wie schon Daesung vor ihm, hatte auch er keinen Erfolg. Nach einigem Zögern fasste er sich ein Herz und drückte die Klinke hinunter. Die Tür schwang problemlos auf, doch was er sah – oder besser, was er nicht sah – verschlug ihm für eine Sekunde den Atem. Daesungs Zimmer war leer. Zu diesem Zeitpunkt saß Seunghyun bereits in einem bescheidenen Hotelzimmer auf seinem Bett. Das Zimmer maß nicht einmal fünfzehn Quadratmeter, der Kleiderschrank, das Bett und ein kleiner Tisch mit Stuhl waren auf engstem Raum zusammengepfercht. Es roch muffig und alt und er wollte nicht wissen, was für Flecken das waren, die er heute morgen, als er duschen wollte, im Bad vorgefunden hatte. Doch so spät in der Nacht hatte er nichts Besseres gefunden. Und wenn er ehrlich war, so war es ihm auch vollkommen egal gewesen, in was für einer Absteige er landen würde. Er wollte nur weg von...dort. Sein Magen knurrte, aber zum Essen blieb ihm heute keine Zeit. Er musste noch einige Dinge regeln, bevor er sich endlich entspannen konnte. Seine Tasche stand griffbereit neben der Zimmertür. Er setzte die Sonnenbrille auf und zog sich die Kapuze der beinahe knielangen, schwarzen Sweatjacke, die er vorhin heraus gekramt hatte, über den Kopf. Dann griff er die Tasche und ließ den unansehnlichen Raum hinter sich. Das würde hoffentlich kein Dauerzustand werden. Ihm war jetzt schon übel von all diesen Gerüchen. Unten ließ er den Zimmerschlüssel auf den schäbigen, abgewetzten Holztresen fallen, hinter dem eine dickliche, alte Dame stand und ihn freundlich anlächelte. "Vielen Dank für Ihren Besuch, Mr. Choi! Kommen Sie bald wieder!", rief sie ihm hinterher, als er ohne anzuhalten in Richtung Tür weiterging. Kurz bevor er das Gebäude verließ, drehte er sich noch einmal um und ein bitteres Grinsen erschien auf seinen Lippen, das die alte Frau fast zurückschrecken ließ. "Sicher doch", murmelte er. Die Tür knarrte und quietschte, als sie hinter ihm wieder ins Schloss fiel. "Jiyong? Aufwachen! Jiyoooong!" Der junge Sänger stöhnte und öffnete die Augen. Das erste, was er sah, war die grün gestrichene Wand, an der sein Bett stand. Er wälzte sich mühsam herum, um nachzusehen, wer es gewagt hatte, ihn aus seinem Schlaf zu reißen. Vor ihm stand Yongbae, die Hände in die Seiten gestemmt, und blickte ihn schweigend an. "Hör mal, Jiyong", setzte er an und änderte seine Position kaum merklich, als er registrierte, dass der Bandleader an ihm vorbeizusehen versuchte. "Jiyong, würdest du mir bitte erst einmal zuhören? Ich muss...-" Weiter kam er nicht. Jiyong hatte sofort gemerkt, dass etwas nicht zu stimmen schien, und war soweit im Bett nach oben gerutscht, dass er an seinem Bandkollegen vorbei schauen konnte. Und dann sah er Seunghyuns weit geöffneten, ausgeräumten Schrank. Einen Moment lang starrte er das Möbelstück nur ungläubig an und Yongbae konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Er seufzte. "Jiyong, weißt du, wohin Seunghyun gegangen sein könnte?" Nun endlich schien er begriffen zu haben, was Sache war, denn Jiyong fuhr so hastig aus dem Bett hoch, dass sein Kreislauf ihn direkt auf den Teppichboden beförderte. "Wo...wo ist er?", stammelte er und versuchte ein wenig unkoordiniert, sich wieder aufzurichten. Yongbae ging neben ihm in die Hocke und musterte ihn ernst. "Jiyong, hör mir zu! Hat er irgendetwas zu dir gesagt? Hat er gesagt, warum er all seine Sachen zusammengepackt hat? Wollte er vielleicht zu seiner Familie? Du hast ihn doch als Letzter gesehen, oder nicht?" Der Bandleader saß wie ein Häufchen Elend vor dem Bett, seine Hände zitterten unkontrolliert, bis er sie in sein Shirt krallte. "Ist er weg?", hauchte er kaum hörbar. Yongbae zuckte hilflos mit den Schultern. "Hier ist er jedenfalls nicht mehr, GD. Ich – ich wollte gestern Nacht nochmal nach dir sehen und – naja, da habe ich beobachtet, wie er seinen Schrank ausgeräumt hat. Ich dachte, er wollte vielleicht nur in ein anderes Zimmer wechseln, aber jetzt... Ach verdammt, ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll!" Er fuhr sich ratlos mit einer Hand durch das schwarze Haar und richtete sich wieder auf. Der Junge zu seinen Füßen zitterte inzwischen wie Espenlaub, während er wie gebannt den leeren Kleiderschrank betrachtete. Plötzlich schien es, als hätte jemand einen Schalter in ihm umgelegt, und Yongbae konnte kaum noch rechtzeitig reagieren. Ein stechender Schmerz fuhr durch Jiyongs Hände, als er sie in die Glasscheiben des modernen und sicher nicht ganz billigen Schrankes des Rappers schlug. Glas splitterte und warmes Blut quoll aus zahlreichen kleinen Schnitten hervor, doch das kümmerte den jungen Mann in seiner Wut nicht. Das Einzige, was wirklich zählte, hatte sich augenscheinlich in einer Nacht- und Nebel-Aktion aus dem Staub gemacht und ihn und die anderen zurückgelassen. Er hörte lautes Geschrei um ihn herum, vier starke Arme schlossen sich um seinen Körper und zerrten ihn mit Gewalt weg von den Trümmern. Er schlug um sich, wollte sich befreien, doch zwei weitere Hände packten die seinen und hielten sie fest. Diesmal war es kein starker Griff, trotzdem zuckte er mit einem gequälten Stöhnen zurück. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er den Kampf um seine Freiheit endlich aufgab und wieder klar zu sehen begann. Er hing mehr in Daesungs und Yongbaes Armen, als dass er selbst stand. Vor sich sah er Seungris besorgtes Gesicht. Die Augen des Jüngeren waren vor Schreck geweitet, doch dieses Mal blieb er äußerlich ruhig. Er schien zu wissen, dass er sich eine Panik nicht erlauben konnte. Stattdessen streichelten seine Daumen zaghaft über die wenigen heilen Stellen, die auf Jiyongs Handrücken verblieben waren. Jiyongs Herz pochte noch immer so schnell, dass er es in seinen Ohren rauschen hörte. Doch Seungris verängstigter Blick holte ihn allmählich wieder auf den Boden zurück. "Lass ihn runter", erklang Yongbaes Stimme dicht hinter ihm und man ließ ihn vorsichtig auf den Boden sinken, wo er benommen sitzen blieb. Daesung war bereits losgelaufen, um den Erste-Hilfe-Koffer aus dem Bad zu holen, als Yongbae sich vor seinem Bandleader auf den Boden kniete. In seinem Gesicht schienen Besorgnis und Wut einen Kleinkrieg auszufechten, als er leise fluchend nach Jiyongs Händen griff. "Zeig her!" Was auch immer in den Bandleader gefahren war, es gefiel Yongbae überhaupt nicht. Inzwischen kniete auch Daesung neben ihm und entpackte Kompressen und Verbandspäckchen. Seungri hatte sich mit einem Fegeblech und Handfeger daran gemacht, das Chaos aus Glas- und Holzsplittern vom Zimmerboden zu beseitigen. Die beiden Älteren hörten ihn hinter sich leise schluchzen, doch darum konnten sie sich nun nicht kümmern. Auch über Jiyongs Gesicht rannen wieder Tränen und seine Züge waren zu einer Grimasse des Schmerzes verzerrt, währed er Daesung und Yongbae dabei zusah, wie sie seine Hände versorgten. Im Raum herrschte ein betretenes Schweigen. "Es ist meine Schuld!", brach es schließlich aus dem Bandleader hervor. Daesung und Yongbae hielten kurz in ihrer Arbeit inne und musterten ihn. "Was redest du da, Jiyong? Er wird doch nicht nur abgehauen sein, weil du mal einen über den Durst getrunken hast. Ich meine, die Folgen sind für uns alle nicht gerade schön, aber..." "Du verstehst das nicht!", fuhr Jiyong ihn an. "Ich habe ihn nach Strich und Faden betrogen! Ich habe ihn verletzt und jetzt ist er gegangen! Es ist alles meine Schuld!!" Seungri hatte sich zögerlich zu ihm umgedreht. Die drei Sänger blickten ihren Leader eine Zeit lang schweigend an, bis plötzlich beim Ersten der Groschen fiel. Yongbaes Kinnlade fiel förmlich herunter, während er Jiyong anstarrte. Plötzlich ergab so vieles, was ihm in den letzten Monaten merkwürdig vorgekommen war, einen Sinn. "Du... ich meine – ihr...ihr seid...", stammelte er vor sich hin. Es wurde selten jemand Zeuge eines Ereignisses, das Yongbae aus der Ruhe bringen konnte, doch nun war es soweit. Auch Daesung und Seungri begriffen anhand seiner Reaktion die Lage. Sie liefen rot an und erwischten sich dabei, wie sie sich gegenseitig einen verlegenen Blick zuwarfen. Seungri stand eilig auf, um die Scherben in den Müll zu entsorgen. "Ich...ich bin gleich wieder da... oder so...", murmelte er im Weggehen vor sich hin. Jiyong sah ihm traurig nach. Er hätte wissen sollen, dass sie so reagieren würden. Hatte Seunghyun es ihm nicht tausend Mal gesagt? Aber er hatte ja nicht auf ihn hören wollen. Er hatte lieber die Augen vor der Wahrheit verschlossen, anstatt sich mit ihr zu arrangieren, wie sein Freund es getan hatte. Nun bereute er all die Streitigkeiten, die zwischen ihnen stattgefunden hatten, weil er sich benommen hatte wie ein kleines Kind. Seungri würde nicht wieder zu ihm zurückkehren, dessen war er sich sicher. Und auch Yongbae und Daesung würden ihn verlassen. Es würde nur eine Sache von Sekunden sein, bis sie den ersten Schock überwunden hatten. Und dann würde er allein sein – verlassen von nahezu allem, was ihm einmal etwas bedeutet hatte. Keine Musik mehr, keine Konzerte und vor allem – keine Freunde mehr. Er schluchzte und schlug die Hände vor's Gesicht, schüttelte heftig den Kopf, bis er zu schmerzen begann. Er hatte es versaut – und zwar auf ganzer Länge. Er würde an seiner Einsamkeit zu Grunde gehen, wie ein reudiger, ausgesetzter Hund. Er wollte sich zur Seite auf den Boden fallen lassen, hinein in die Scherben seines scheinbar zerstörten Lebens, und einfach liegen bleiben. Die anderen hatten inzwischen sicher schon die Flucht ergriffen. Doch gerade als er im Begriff war zu fallen, schlossen sich zwei Arme um seine Schultern und hielten ihn fest. Am Flughafen war die verdammte Hölle los. Wie kamen nur so viele Menschen auf die Idee, dass die unbedingt um sieben Uhr morgens in ein Flugzeug steigen mussten? Gerade, wenn er kam? Als Seunghyun endlich durch alle Kontrollen hindurch war und hinter den Menschenmassen her zum Flieger ging, beschlich ihn ein flaues Gefühl im Magen. Einen Moment lang begann er an dem zu zweifeln, was er hier tat... Was tat er denn hier überhaupt? Er machte sich feige aus dem Staub, während die anderen hierbleiben und die Karre aus dem Dreck ziehen mussten, die er hinein gefahren hatte. Wobei – nein, nicht er. Es war Jiyong gewesen, richtig? Es hätte alles so perfekt laufen können, wenn dieser Idiot sich nicht immer quer gestellt hätte! Die neuerliche Wut, die in ihm aufkeimte, verlieh ihm die nötige Kraft, um in den Flieger zu steigen. Economy Class. Naja. Von seinen letzten Flügen war er anderes gewöhnt, aber hier war nunmal gerade noch ein Platz frei. Die Stadt, in die er fliegen würde, hatte ihn schon immer magisch angezogen. Wenn es seine Gruppe einmal dorthin verschlagen hatte, hatten sie ihn hinterher förmlich wieder in den Flieger zurück nach Korea zerren müssen. Vielleicht war es lächerlich, aber er kam sich in dieser Weltmetropole jedes Mal vor wie ein kleines Kind, das in der Vorweihnachtszeit ein riesiges Kaufhaus betritt und die riesigen Teddys und elektrischen Eisenbahnen bestaunt, die überall drapiert worden sind. Naja, zwischen einem Kaufhaus und einem guten Nachtclub bestand ja auch kaum ein Unterschied...oder doch? Er lächelte zufrieden vor sich hin, als der Flieger startete. Bald würde er dort sein. Er erinnerte sich an die ausgelassenen Nächte in heißen, überfüllten Clubs. An den Geschmack des Alkohols auf Jiyongs Lippen, wenn sie sich in einer unbehelligten Ecke des VIP-Bereiches aneinander drückten. Nach dem fünften hochprozentigen Drink liebte er das Gefühl, auf der Tanzfläche mit all den anderen Menschen zu einem einzigen bewegten Wesen zu verschmelzen. Vor diesem besagten Drink musste man ihn mit zwei Mann auf die Tanzfläche zerren, um dann dabei zusehen zu können, wie er mit lustloser Schlechtwettermiene von einem Fuß auf den anderen wankte und dies trotzig als "individuellen Ausdruckstanz" bezeichnete. Gott, wie hatte Jiyong das gehasst. Aber wenigstens hatte er ihn nach einer solchen Show trinken lassen, soviel er wollte, ohne wie eine besorgte Mutter hinter jedem Glas her zu sein, was er anrühren wollte. Er würde in den kommenden Monaten einige Zeit in den Clubs verbringen und alles ertränken, was ihn auch nur im Entferntesten an sein Zuhause erinnerte. So war zumindest der Plan. Daesung schrubbte nun schon seit Stunden auf dem Teppich in Jiyongs und Seunghyuns Zimmer herum, doch die Blutflecken wollten einfach nicht verschwinden. Er stöhnte frustiert. "Wir müssen den Teppich neu verlegen lassen, Hyung!", maulte er Yongbae schon seit geraumer Zeit die Ohren voll. Dieser zog gerade Jiyongs Bett ab – wie auch immer der Leader es geschafft hatte, er hatte ganze Arbeit geleistet und während seines kleinen..."Anfalls" seine Körperflüssigkeit durchs halbe Zimmer verteilt. Ihr Arzt war schon vorbei gekommen und hatte sich Jiyongs Wunden angesehen. Begeistert hatte er nicht ausgesehen, er hatte einige Schnitte nähen müssen. Nun saß Jiyong auf der Couch im Wohnzimmer und sah mit Seungri gezwungenermaßen eine DVD nach der anderen an. So schnell würden sie ihn sicher nicht wieder aus den Augen lassen. Als Yongbae das Kopfkissen hoch hob, entdeckte er den zusammengefalteten Zettel. Es war unverkennbar ein Bogen dieses furchtbaren vergoldeten Briefpapiers, das Seunghyun in letzter Zeit so gern verwendet hatte. Auf dem Zettel stand in gehetzter Schrift: "Für meinen Liebsten". Wie schwulstig und untypisch für ihn. Okay, Yongbae konnte sich mittlerweile denken, dass damit wohl nicht er gemeint war. Erst zögerte er einen Moment, wollte erst selbst lesen, was in dem Brief stand. Wer wusste schon, was Seunghyun in seiner Wut geschrieben hatte? Jiyong würde jetzt wohl keinen weiteren Schlag ins Gesicht verkraften. Aber Yongbae schätzte die Privatsphäre seiner Kollegen, wusste er doch selbst, wie wichtig sie in diesem Beruf war. "Ich komme gleich wieder", meinte er zu Daesung und ging hinüber ins Wohnzimmer, um Jiyong von hinten das gefaltete Papier vor die Nase zu halten. "Hab ich unter deinem Kopfkissen gefunden", flüsterte er ihm ins Ohr. "Erkennst du das Papier, Jiyong?" Der Angesprochene riss ihm, ohne ein Wort zu sagen, das Papier aus der Hand und verkrümelte sich damit in die Küche wie ein Hund, der soeben einen riesigen Knochen ergattert hat. Ob ihm sein Knochen nun bekommen würde oder nicht – Yongbae hatte das getan, was er für richtig hielt, der Rest lag ja wohl wahrlich nicht in seiner Macht. In der Küche ließ sich Jiyong auf einen der Stühle sinken. Der Brief wog schwer in seiner Hand und er legte ihn auf dem Holztisch ab. Einige Minuten lang saß er nur da und betrachtete ihn ruhig, strich mit den teilweise verbundenen Fingern über das deutlich strukturierte, schwere Papier. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er es schließlich auseinander faltete. Sofort erkannte er Seunghyuns Schrift und die Tinte seines Lieblingsfüllers. Jiyong hatte ihn ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt. Einen edlen Schwarzen, zusammen mit eben jenem Papier, was nun vor ihm lag. Es freute ihn innerlich, dass er diese Geschenke in den letzten Tagen und Wochen noch nicht in den Müll gepfeffert hatte. Dann konzentrierte sich der junge Mann ganz auf die Zeilen, die man ihm hinterlassen hatte: "Jiyong, ich habe in meinem Leben schon viele verrückte Dinge miterlebt und getrieben. Einige Dinge bereue ich zutiefst. Du gehörst nicht dazu. Ich dachte, in dir hätte ich meine große Liebe gefunden. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als du mich nun schon vor mehr als sechs Monaten gefragt hast, ob ich mit dir zusammen sein möchte. Weißt du noch? Ich habe zuerst nicht einmal verstanden, was du überhaupt von mir wolltest... Wir waren doch schon viele Jahre "zusammen" gewesen, dachte ich. Aber du hast mich damals eines Besseren belehrt. Auch, wenn ich bei unserem ersten Kuss zugegebenermaßen wohl nicht mehr ganz nüchtern war... Was ich aber eigentlich damit sagen möchte: Ich liebe dich – und das werde ich niemals bereuen. Ich werde aber ebenso wenig bereuen, dass ich dich in dieser Nacht verlasse. Denn du hast mich verletzt, wie kein anderer Mensch zuvor ... und das weißt du auch, nicht wahr? Ich lasse mich nicht hintergehen. Weder von dir, noch von irgendeinem anderen Menschen. Wohin ich gegangen bin, werde ich weder dir, noch den anderen sagen. Ich will nicht, dass ihr versucht, mich zu finden. Ich brauche eine ganze Weile für mich allein, um zu verarbeiten, was geschehen ist. Es ist das Beste für mich. Und für euch alle. Vertrau mir ein letztes Mal, wenn du das kannst, Jiyong. Denn ich versichere dir hiermit, dass alles besser werden wird, sobald du über mich hinweg bist. Ach ja! Und ich versichere dir auch, dass du eine solche Dummheit, wie vor einigen Tagen, nie wieder begehen wirst. So viel Vernunft traue ich dir durchaus zu. Ich hoffe, dass das Leben es mit euch allen auch weiterhin gut meinen wird. Seunghyun." Jiyong las die Nachricht noch einige Male durch, bevor er sie wieder zusammenfaltete. Auf eine absurde Art und Weise beruhigte ihn diese Nachricht, die Tatsache, dass Seunghyun nicht ganz sang- und klanglos verschwunden war. Aber sollte es denn wirklich so enden? Er konnte nicht glauben, dass er den Menschen, der ihm am meisten bedeutete, nie wieder sehen sollte. Wenn es letztendlich darauf hinauslaufen würde, müsste er sich vermutlich irgendwie damit abfinden. Auch, wenn es ihm verdammt schwer fallen würde. Doch er war fest entschlossen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um das wiederzufinden, was er verloren hatte. Als seine drei Bandkollegen zögernd die Küche betraten, sah er auf. "Er ist wohl wirklich fortgegangen", erklärte er mit merkwürdiger Ruhe das, was im Grunde allen schon seit dem Morgen klar gewesen war. Doch nun, mit der Aussprache, war es amtlich geworden: Big Bang hatte seinen besten Rapper eingebüßt. Kapitel 4: Big Apple -------------------- Als Seunghyun nach stundenlangem Flug aus dem Fenster sah, erblickte er unter sich die Lichter jener Stadt, nach der ein Teil von ihm sich seit seinem ersten Besuch hier immer gesehnt hatte. Eine unglaublich intensive Vorfreude ergriff ihn und ließ es in seinem Bauch kribbeln, vertrieb die Müdigkeit aus seinen Gliedern. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich wieder richtig lebendig. Er hatte bereits von Seoul aus ein Hotelzimmer für die ersten Nächte gebucht. Es war nicht leicht gewesen, so kurzfristig ein Zimmer zu finden, und er hatte einen stattlichen Preis zahlen müssen, doch das war es ihm wert. Hier könnte er vielleicht vergessen, was vorgefallen war, und sich eine neue Existenz aufbauen – ganz unabhängig von Big Bang und YG Entertainment. Eine gute Stunde später trat Seunghyun, mit seiner Tasche über der Schulter und einem Regenschirm in der Hand, aus dem Flughafengebäude hinaus auf die Straße. Es hatte angefangen zu regnen. Den Schirm hatte der Rapper in einem der unzähligen Läden in der Flughafenhalle erstanden, nachdem er einen Blick durch die Glasfront nach draußen geworfen hatte. Nun stand er auf dem verregneten Gehsteig und winkte eines der Taxis zu sich, die am Flughafen warteten. Um ihn herum herrschte trotz später Stunde noch reges Treiben. Doch das war auch einer der Gründe, warum er diese Weltmetropole so sehr liebte. Schick gekleidete, junge Pärchen gingen an ihm vorbei, gefolgt von hochbetagten Damen und gehetzten Geschäftsmännern. Hier, in diesen Straßen, mischten sich verschiedene Herkünfte und verschiedene Lebenswege zu einem einzigen, pulsierenden Strom von Menschen. Eines der Taxis hielt vor ihm an. Er öffnete die Tür und wuchtete sich und seine Tasche auf den abgewetzten Lederrücksitz. Der korpulente, südländisch wirkende Mann am Steuer drehte sich zu ihm um. „Wohin soll's gehen?“, fragte er gut gelaunt. Seunghyun zog den Zettel mit der Adresse des Hotels aus seiner Manteltasche und reichte ihn herüber. Der Fahrer überflog die Adresse und seine Augen weiteten sich kurz, als er den Namen darauf las. Er hatte nicht oft einen Fahrgast, der in eines der besten Hotels der Stadt gefahren werden wollte, und hoffte bereits auf ein stattliches Trinkgeld. „Okay, mir soll es recht sein“, murmelte er nur und setzte seinen Wagen in Bewegung. Während der Fahrt bemerkte Seunghyun, wie er durch den Rückspiegel immer wieder mit neugierigen Blicken bedacht wurde, doch er ging nicht weiter darauf ein – bis der Fahrer zum obligatorischen Smalltalk ansetzte. „Zum ersten Mal hier?“, wollte er wissen. Seunghyun sah aus dem Fenster auf die beleuchteten Straßen. „Nein“, antwortete er in leicht gebrochenem Englisch. „Ich war schon öfter hier.“ „Woher kommen Sie? Ihr Englisch ist nicht schlecht, Mann.“ „Ist das von Bedeutung? Jetzt bin ich hier und das ist das Einzige, was mich im Moment interessiert...“, knurrte der Rapper. Es war ihm mehr als unlieb, hier irgendjemandem mehr von sich zu verraten, als nötig. Jedenfalls vorerst. Der Taxifahrer verdrehte kaum merklich die Augen. Noch so ein eingebildeter Schnösel, er hatte es doch gleich gewusst. „Nein, Mann, ist nicht so wichtig“, entgegnete er. „Sie sehen nun mal einfach nicht aus wie ein gewöhnlicher Kerl, da bin ich neugierig geworden.“ Als der Fahrer in den Rückspiegel blickte, sah er seinen Fahrgast kurz grinsen. Fast schon unheimlich, wenn man dank der Sonnenbrille die Augen nicht im Blick hatte. Schließlich war er froh, als er den merkwürdigen jungen Mann vor dem feinen Hotel absetzen konnte. Er bekam, wie erwartet, ein sattes Trinkgeld und bedankte sich überschwänglich. Die nächste durchzechte Nacht wäre damit schon mal sichergestellt. „Schönen Abend noch!“, rief er hinter dem Kerl her, der nun in Richtung Hoteleingang stiefelte. Er drehte sich nicht einmal mehr zu ihm um. Eingebildeter Schnösel, er hatte es ja gesagt... Die Schiebetür öffnete sich automatisch und Seunghyun trat durch sie hindurch in die hell erleuchtete Lobby des Hotels. An den grauen Wänden wanden sich aus großen Töpfen Kletterpflanzen empor. Von der hohen Decke hin ein großer Kristallglaskronleuchter hinab, dessen Licht sich auf dem polierten, schwarzen Marmorboden spiegelte. Hinter dem Rezeptionstresen saß ein junges, blondes Ding. Die Haare reichten ihr gerade bis über die Ohren, das Gesicht war eindeutig einmal zu viel geschminkt. Ihren schlanken Körper hatte sie in ein enges, schwarzes Kostüm gezwängt. Wie geschmacklos für ein angeblich so hochklassiges Hotel, schoss es Seunghyun durch den Kopf, als er auf sie zuging und vor dem Tresen stehen blieb. Die junge Dame strahlte ihn an. „Guten Abend, Sir! Haben sie reserviert?“ Er nickte. „Choi Seunghyun“ Ihre dünnen Finger huschten über die Tastatur, dann strahlte sie wieder. „Also gut, Mr. Seunghyun...-“ „Choi“, unterbrach er sie. Ihr Lächeln erstarb und sie sah ihn verständnislos an. Er verdrehte die Augen. Warum hatte er nicht daran gedacht? „Choi ist der Nachname. Tut mir Leid, hab's wohl aus Gewohnheit... falsch angegeben am Telefon.“ Sie lächelte wieder. „Entschuldigen Sie, Mr. Choi“, flötete sie und nahm eine Chipkarte aus einer Schublade hinter sich, um sie über den Tresen zu schieben. „Sie haben Zimmer 412. Der Lift befindet sich dort hinten, gleich neben der Treppe. Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck?“ „Danke, ich komme klar“, murmelte er und nahm den Schlüssel an sich, bevor er die Lobby durchquerte und den Aufzugknopf drückte. Die Empfangsdame sah ihm verträumt nach, doch das bemerkte er nicht. Auf der Etagenanzeige erschien die „11“. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Aufzug im Erdgeschoss angekommen war und seine Türen geräuschlos öffnete. Im Fahrstuhl drückte Seunghyun die „4“ und wartete ab. Als die Türen sich wieder aufschoben, erstreckte sich vor ihm ein langer, breiter Korridor, passend zur Lobby mit schwarzem Teppich ausgelegt. Er schlenderte an den Türen vorbei. 401...402...403... Fast am Ende des Ganges lag sein Zimmer. Er zog die Karte durch den Scanner und öffnete die helle Holztür. Auch hier waren die Wände mit grauen Tapeten versehen und der Boden war dunkel gehalten. An der Fensterfront stand ein großzügig geschnittenes Bett mit dunkelblauer Bettwäsche. Er legte seine Tasche neben dem großen, hellen Holzschrank ab und ging in das wirklich erstklassig ausgestattete Marmorbad. Es war bereits vorgeheizt worden und er zog sich aus, um unter die ebenerdige Dusche zu steigen. Als das heiße Wasser auf seinen Körper traf und an ihm hinab rann, vergaß er die Strapazen der letzten Zeit und das schlechte Wetter, das ihn hier empfangen hatte. Die warmen Wasserstrahlen hatten etwas Beruhigendes und ihr Rauschen schien ihm süße Versprechen ins Ohr zu raunen. Ein warmes Kribbeln durchfuhr seinen Körper, als Jiyong wieder in seinen Gedanken auftauchte. Ihm hätte diese Dusche sicherlich gefallen und Seunghyun hätte sie nicht allein genießen müssen. Das hübsche Gesicht des Jüngeren war so furchtbar präsent vor seinem inneren Auge, dass es ihn schmerzte. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie es den anderen seit seinem Abschied ergehen mochte. Er wusste, wie zerbrechlich Jiyong sein konnte. Doch war er nicht selbst Schuld an dem, was passiert war? Hatte er es nicht verdient, allein gelassen zu werden? Seunghyun nickte still und stellte das Wasser ab, bevor er eines der flauschigen Hotelhandtücher von der Wandhalterung angelte, um seinen Körper zu trocknen. Die getragenen Sachen stopfte er zurück in die Tasche und zog dafür eine Jogginghose und ein Shirt für die Nacht heraus. Sein Blick fiel auf die Fenster. Er bemerkte erst jetzt, dass dort eine Tür auf einen kleinen Balkon hinausführte. Seunghyun zog sich seinen Mantel über und griff noch einmal in die Reisetasche, um die Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug herauszuziehen. Dann zog er die Tür auf und trat hinaus auf den Balkon. Der Regen hatte nachgelassen, doch unter ihm auf den nassen Straßen spiegelten sich noch immer die Lichter. Von hier aus hatte er einen guten Blick über die Stadt, die sich fast bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Er steckte sich eine Zigarette an und ließ den Rest zusammen mit dem Feuerzeug wieder in der Manteltasche verschwinden. Während er genüsslich an der Zigarette zog und den Rauch in die kühle Nachtluft hinaus blies, ließ er den Blick schweifen. Der „Big Apple“ lag ihm zu Füßen. Endlich war er angekommen. „Was tust du da?“ Yongbae lehnte in der Zimmertür und beobachtete Jiyong, der wie ein Besessener Fotos und jegliche Andenken an Seunghyun in einen großen Umzugskarton stopfte. Er hatte sogar das Bett des Rappers abgezogen und die Bettwäsche dazu geschmissen. „Er ist weg, das habe ich dir doch gesagt!“, murrte der Leader vor sich hin. „Aha.“ Yongbae hob die Augenbrauen. „Und was hast du mit dem ganzen Kram vor?“ „Spende ich“, schnauzte Jiyong schnippisch zurück. Himmel, der Bandleader war einfacher gewesen, als er deprimiert in seinem Kämmerchen gehockt hatte. Seit dem Fund von Seunghyuns Brief war er wie ausgewechselt – aggressiv und unausstehlich. Yongbae glaubte gern, dass Fotos von seinem Leader und Seunghyun sich in dieser Zeit gut verkaufen würden. Trotzdem würde er seinen Kollegen fesseln müssen, wenn dieser versuchte, mit dem Beweismaterial das Haus zu verlassen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Hör mal, Jiyong, es ist jetzt eine Woche vergangen, in der wir nichts getan haben. Wir müssen irgendetwas unternehmen. Als ich mein Handy eingeschaltet habe, hatte ich zwanzig Nachrichten von Präsident Yang auf der Mailbox. Die letzten beinhalteten fast schon Morddrohungen, wenn wir ihn nicht zurückrufen sollten.“ Jiyong stoppte kurz in seiner Arbeit. Er hatte ein weiteres Foto in der Hand, das er nun nachdenklich betrachtete. „Ruf ihn an“, sagte er schließlich. „Sag ihm, Seunghyun ist gegangen. Er wird wissen, was zu tun ist.“ Seufzend nickte Yongbae und verließ das Zimmer in Richtung Wohnzimmer, wo Daesung und Seungri TV schauten. Irgendeine dieser fürchterlichen Seifenopern. Wie kamen sie nur auf so einen Mist? Er ging zum Fernseher und drückte den Aus-Knopf. „Heey!“, protestierten die Jüngeren wie aus einem Munde. „Was soll denn das, Yongbae?“ „Regt euch ab. Wir müssen telefonieren. Präsident Yang wartet auf einen Anruf.“ Seungri sah ihn entsetzt an und Daesung sprang bereits vom Sofa hoch, um einen Fluchtversuch zu starten. Doch Yongbae war schneller und packte unsanft seinen Oberarm. „Hinsetzen, Dae“, verlangte er nachdrücklich. „Ich werde ihn nicht allein anrufen. Bei einem so wichtigen Gespräch sollten wir alle dabei sein, findest du nicht auch?“ Daesung stöhnte und ließ sich wieder auf die Couch fallen. „Warum Jiyong nicht?“, wollte er wissen. Yongbae nahm dicht neben ihm Platz und suchte die Nummer ihres Chefs aus der Kontaktliste heraus. „Weil ich dann nicht für eure Sicherheit garantieren kann“, erklärte er nebenbei trocken und schaltete den Lautsprecher des Handys an, bevor er es vor ihnen auf den Glastisch legte. Einige Signaltöne verstrichen und in dem Raum herrschte angespannte Stille, während die drei Sänger beinahe schon ängstlich das Handy betrachteten. Schließlich klickte es in der Leitung und die aufgebrachte Stimme des Präsidenten erklang. „Yongbae?“ „Ja“, entgegnete dieser bemüht ruhig. „Daesung und Seungri hören mit. Es tut mir Leid, dass niemand von uns reagiert hat, aber...“ Man ließ ihn nicht ausreden. „Was zur Hölle ist bei euch los?!“, fuhr Yang dazwischen. „Mir flattern seit Tagen laufend Pressemeldungen über angebliche Affären ins Büro, ich schwimme in ihnen wie in meinem verdammten Geld! Und von euch kam nicht einmal ein Lebenszeichen!“ Den jungen Männern stellten sich die Nackenhaare auf. Sie hatten ihren Chef schon einige Male wütend erlebt, doch so schlimm wie jetzt war es nie gewesen. „Es – es tut mir Leid. Seunghyun ist verschwunden...“, stammelte Yongbae. Einen Moment herrschte Stille. „Bitte WAS?!“ Es war verwunderlich, dass das Handy nicht vom Tisch flog, und Seungri presste erschrocken die Hände auf die Ohren. Yongbae griff über Daesung hinweg und legte seine Hand beruhigend auf den Oberschenkel des Jüngsten und antwortete ruhig. „Er ist gegangen. Wir wissen nicht, wohin – und ob er wiederkommen wird. Ich glaube es allerdings nicht. Die Affäre hat wirklich stattgefunden, wenn man Jiyong Glauben schenken darf. Er ist völlig aufgewühlt. Das sind wir alle. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Sagen Sie es uns, bitte.“ Wieder herrschte Stille. Dieses Mal schien sie sich in die Unendlichkeit zu ziehen. Am anderen Ende der Leitung hörte man den Präsidenten von YG Entertainment schwer atmen. „Sir?“, hakte Yongbae nach einer Weile nach. „Ja“, kam die Antwort, glücklicherweise wieder in dem gewohnten, nüchternen Tonfall. „Hört mir gut zu. Es wird morgen eine Pressekonferenz geben. Hier, in der Vorhalle von YG Entertainment. Seid um zehn Uhr hier, keine Minute später. Ihr werdet erklären, dass die Gerüchte nicht wahr sind, egal ob es nun stimmt oder nicht. Nehmt Jiyong auf jeden Fall mit. Ich reiße ihm den Kopf ab, wenn er es vergeigt. Erklärt, dass Seunghyun die Band verlassen hat, um seine Karriere als Schauspieler weiter zu verfolgen. Dass Big Bang vorübergehend aus vier Mitgliedern besteht, ihr aber nach einem neuen Rapper suchen werdet, der zu euch passt. Hast du das alles verstanden, Yongbae?“ Der Angesprochene nickte, bis ihm klar wurde, dass Yang ihn ja nicht sehen konnte. „Ja“, sagte er schnell. „Ich – wir werden Sie nicht enttäuschen, Sir.“ Der Tonfall des Präsidenten wurde weicher, fast schon väterlich. „Gut, Yongbae. Ich verlasse mich auf euch. Wenn ihr das tut, was ich euch sage, werden wir es gemeinsam schaffen. Ich sehe euch morgen um zehn.“ Bevor einer der Drei etwas erwidern konnte, klickte es erneut und die Verbindung war getrennt. Man hatte sie mit dieser Herausforderung allein gelassen. Yongbae lehnte sich auf der Couch zurück und atmete tief durch. „Wie sollen wir Jiyong dazu bringen, da mitzuziehen?“, meldete sich Seungri schüchtern zu Wort. „Ich meine – er wird niemals zugeben, dass Seunghyun weg ist. Geschweige denn, dass er zulassen wird, dass ein neuer Rapper Big Bang beitritt...“ Daesung nickte nur wortlos. Ihm graute schon jetzt vor dem morgigen Tag. Yongbae sah die beiden an und lächelte schwach. „Ich fürchte, irgendwie müssen wir es ihm gleich möglichst schonend beibringen. Wir können ihn wohl kaum fesseln und knebeln, um ihn so mitzuschleifen. Wir machen das alle zusammen. Ich werde niemanden allein lassen.“ Jiyong saß auf dem abgezogenen Bett seines Freundes und betrachtete den vollgepackten Karton zu seinen Füßen. Er quoll mittlerweile beinahe über. Wie merkwürdig, dass die Erinnerungen von über sechs Jahren sich auf so kleinem Raum zusammenpferchen ließen. Fotos von ihnen allen als Trainees, Fotos von der ersten Aftershow-Party, von Geburtstagen und Ausflügen. Auf all diesen Fotos war Seunghyun. Er hatte sich im Laufe der Jahre still und heimlich in Jiyongs Leben geschlichen und war nun nicht mehr hinaus zu denken. Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken und er sah auf zur Tür, die in diesem Moment langsam geöffnet wurde. Yongbae, Daesung und Seungri traten nacheinander in den Raum. Auf ihren Gesichtern lag ein merkwürdiger Ausdruck, den er nicht zu deuten wusste. Doch was auch immer er bedeuten mochte – er gefiel ihm gar nicht. „Dürfen wir uns zu dir setzen?“, fragte Daesung und Jiyong nickte. „Ich kann euch wohl kaum davon abhalten, hm?“, antwortete er und zuckte mit den Schultern. Yongbae war der Erste, der sich links von ihm niederließ. Daesung nahm rechts von ihm Platz und Seungri schob sich den Schreibtischstuhl ans Bett heran. „Was ist los? Habt ihr Präsident Yang erreicht?“, fragte Jiyong. Er war sich gar nicht so sicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte, doch er wusste, dass er keine Wahl hatte. Seine Freunde erklärten ihm, was Präsident Yang ihnen zu sagen gehabt hatte. Mit jedem gehörten Wort wich die Farbe weiter aus seinem Gesicht. Als Yongbae mit seiner Erklärung geendet hatte und alle ihn hoffnungsvoll ansahen, wusste er nicht recht, was er tun sollte. Das, was Yang verlangte, war in seinen Augen völlig unmöglich. „Lasst mich allein...“, murmelte er schließlich. Daesung wollte protestieren, doch Yongbae brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und bedeutete ihm und Seungri, mit ihm den Raum zu verlassen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Jiyong... Bitte überleg' es dir gut“, sagte er nur. Jiyong nickte nur. „Ich brauche eine Weile...“ Yongbae stieß hörbar den Atem aus, erwiderte jedoch nichts, bevor er die Tür hinter sich schloss und den Bandleader seinen Gedanken überließ. Jiyong stand an diesem Abend noch lang am Fenster und schaute dem Regen zu, der an der Scheibe hinab lief und im Licht der Deckenlampe funkelte. Er legte die Stirn gegen das kühle Glas und schloss die Augen. Ohne Seunghyun kam er sich furchtbar einsam vor. Niemand der anderen hatte ihn je so verstanden, wie Seunghyun es getan hatte. Mit ihm hatte er alle wichtigen Anliegen besprochen, egal, um was es ging. Ihm hatte er als Einzigem seine Liebe zum gleichen Geschlecht anvertraut und Seunghyun hatte ihn angenommen, wie er war. Keine dummen Fragen, kein betroffenes Schweigen. „Okay“, hatte er nur gesagt. „Wer ist der Glückliche?“ Damals war es noch ein Anderer gewesen und Jiyong hatte sich fürchterlich unbehaglich gefühlt, als er mit Seunghyun über ihn sprach. Er hatte sonst niemandem so viel preisgegeben. Seunghyun hatte ihm bei allen seinen Problemen zugehört und dann versucht, sinnvollen Rat zu geben. Dafür war Jiyong ihm immer dankbar gewesen. Nun war sein Freund gegangen und hatte ihn mit all seinen Problemen im Stich gelassen. Er musste wieder lernen, die Sachen allein anzugehen, musste allein für seine Band stark sein und das tun, was richtig war. Doch was war das Richtige? Sollte er mit dieser Pressemitteilung das Schicksal der Band endgültig besiegeln? Big Bang würde es nicht mehr geben, wenn ein anderer in ihre kleine Welt eindrang. Aber würde das wirklich noch etwas ändern? Jiyong beobachtete die Straße vor dem Haus. Sie war menschenleer, bei diesem Wetter wagte sich niemand vor die Tür. Er musste an Seunghyun denken. Er war mitten in der Nacht gegangen. Hatte er überhaupt irgendwo unterkommen können? Jiyong hoffte inständig, dass es ihm gut ging. Seunghyun war nicht an sein Handy gegangen, egal wie oft Jiyong es versucht hatte. Es machte ihn schlichtweg wahnsinnig, so im Ungewissen gelassen zu werden. Noch viel wahnsinniger machte es ihn, diese furchtbaren Schuldgefühle mit sich herum zu schleppen. Sie lasteten auf ihm, als wögen sie Tonnen. Als Jiyong wieder auf seinen Digitalwecker sah, war es bereits nach Mitternacht. Er hatte seine Entscheidung endlich getroffen. Auf leisen Sohlen verließ er das Zimmer und schlich über den Flur zu Yongbaes Zimmertür. Als er sie leise öffnete, lag wie erwartet bereits alles im Dunkeln. Einen Moment lang überlegte er, ob es nicht doch besser wäre, wieder zurück zu gehen und den Sänger schlafen zu lassen. Doch er wollte mit Yongbae sprechen, bevor er seine Meinung wieder ändern würde. Also schlich er zum Bett und ging daneben in die Hocke. „Yongbae?“ Er schüttelte seinen Kollegen zögerlich an der Schulter. Lediglich ein leises Murren war die Antwort. Noch könnte der Bandleader wieder umkehren. Doch er rüttelte heftiger an der Schulter und wich erschrocken nach hinten zurück, als ihm ein Arm entgegen geflogen kam. Unsanft landete er auf dem Hintern und sah zu Yongbae hinüber, der sich nun im Bett herum wälzte und ihn müde anblinzelte. „Jiyong?“, nuschelte er irritiert. „Was zur Hölle soll denn das? Weißt du, wie spät es ist?“ Jiyong verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab' mich entschieden und dachte, das wolltest du vielleicht wissen“, entgegnete er. Yongbae stöhnte und zog die Decke wieder hoch bis zum Kinn. „Sprich und verschwinde“, brummte der Ältere von beiden genervt. Jiyong rückte näher ans Bett und blickte den anderen Sänger ernst an. „Ich mache es. Aber glaubt nicht, dass das bedeutet, ich hätte mich mit Seunghyuns Verschwinden abgefunden. Ich werde ihn nicht aufgeben und ich erwarte von euch, dass ihr das auch nicht tut.“ Als Yongbae seinem Leader im Halbdunkel in die braunen Augen sah, wusste er, dass er keine andere Wahl hatte, als zuzustimmen. Jetzt zu erklären, dass Daesung und Seungri vermutlich bereits aufgegeben hatten, hatte keinen Sinn. Entweder würde Jiyong außer sich vor Wut sein, oder er würde wieder in seinem Zimmer verschwinden und dort bleiben – vermutlich für eine sehr lange Zeit. Also nickte Yongbae nur und murmelte ein halbherziges „Gute Nacht“, bevor er sich demonstrativ wieder zur Wand drehte und den Bewegungen des Bandleaders lauschte, bis dieser die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte. Als er, so unsanft aus seinen Träumen gerissen, nun wieder allein im Dunkeln lag, begannen die Sorgen wieder an ihm zu fressen. Er wusste nicht, was am nächsten Tag auf der Konferenz geschehen würde, sah sich schon mit Jiyong ringen, der sich weigerte, aus dem Auto zu steigen. Hoffentlich würde dieser verdammte Idiot von einem Rapper wiederkommen. Er hätte ihm nie zugetraut, dass er sie alle einmal im Stich lassen würde. Doch man lernt ja scheinbar immer wieder dazu. Am nächsten Morgen waren Big Bang's übrig gebliebene Mitglieder allesamt schnell auf den Beinen. Sogar Jiyong, den man sonst förmlich mit Gewalt aus dem Bett zerren musste, saß mit den anderen um acht Uhr fertig angezogen am Frühstückstisch. Er zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und untersuchte skeptisch die Schale mit Müsli, die vor ihm auf dem Tisch stand. „Wer hat das gekauft?“, fragte er schließlich und sah in die Runde. Yongbae verdrehte die Augen. „Ich“, antwortete er trocken. „Du brauchst dich gar nicht zu beschweren, Jiyong. Ich bin hier der Einzige, der dieses Haus in letzter Zeit zum Einkaufen verlässt. Also gibt es das, was ich mag. Punkt. Wenn ihr was anderes wollt, dann geht selbst los.“ Der Bandleader sparte sich den bissigen Kommentar, der auf seiner Zunge brannte, und versuchte brav, das Müsli zu essen, ohne bei jedem Löffel das Gesicht zu verziehen. Daesung und Seungri hatten sich mit Joghurt und Toast beholfen, um dem gruseligen Trockenobst zu entgegen, das da in Jiyongs Schüssel zwischen den Haferflocken schwamm. Nur Jiyong war zu langsam gewesen, sodass Yongbae ihm einfach eine Schale fertig gemacht hatte. Nun ja – Pech gehabt. Nach dem Frühstück ließ man das Geschirr erst einmal stehen. Die vier jungen Männer hatten sich während des Essens lange darüber beraten, was man wie sagen sollte. Dabei hatte es einige Auseinandersetzungen zwischen Jiyong und den anderen gegeben. Letztendlich hatte man sich aber einigen können. Trotzdem hatten alle, als sie in ihre Jacken schlüpften, ein schlechtes Gefühl. Daesung und Seungri hibbelten herum, wie zwei kleine Kinder. Sogar der sonst so ruhige Yongbae nestelte nervös am Gürtel seines Wollmantels herum, als sie das Haus verließen und in seinen Mercedes stiegen. Allein Jiyong war die ganze Fahrt über schweigsam und sah aus dem Fenster hinaus. An diesem Tag würde er Big Bang den Gnadenstoß verpassen müssen. Und auch, wenn er es sich nicht eingestehen wollte – er hoffte, dass Seunghyun die Pressemitteilung verfolgen würde, wo auch immer er nun war. Vielleicht würde ihm das die Augen öffnen und er würde zurück kommen. Vielleicht würde er ihm sogar das verzeihen, was er ihm angetan hatte.... Das Rasseln des Tiefgaragentores weckte den jungen Mann aus seinen Gedanken. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie das schwere Tor den Boden erreichte und den Blick auf die Welt dort draußen komplett verwehrte. Von draußen waren gedämpft die aufgeregten Stimmen dutzender Pressevertreter zu hören, die noch vor dem Gebäude darauf warteten, eingelassen zu werden. Ein flaues Gefühl breitete sich in Jiyongs Bauch aus. Nun gab es wohl kein Zurück mehr für ihn... Kapitel 5: Alex --------------- Regen. Immer noch. Seunghyun seufzte. So hatte er sich seinen Neuanfang nicht vorgestellt. Als er aus dem Aufzug in die Lobby trat, saß eine andere Rezeptionistin hinter dem Tresen. Diese hier sah definitiv schon eher nach fünf Sternen aus. Sie trug ein schlichtes, dunkles Kostüm mit weißer Bluse darunter und dezentes Make-up. Das kupferfarbene, zurückgesteckte Haar und die eckige, schwarze Brille verliehen ihr ein fast schon strenges Aussehen. „Guten Morgen“, sprach Seunghyun sie an. Die junge Dame nickte nur höflich. „Was kann ich für Sie tun, Sir?“ Er lehnte sich an den Tresen und blickte sie an. Zugegeben, die Frau gefiel ihm recht gut. Und vielleicht tat der ein oder andere Flirt ihm ja sogar gut? „Rufen Sie mir bitte ein Taxi, ja?“, bat er und setzte sein süßestes Lächeln auf, während er ihr tief in die Augen blickte. Die Rezeptionistin musterte ihn mit kühler Distanz. „Gern. Bitte nehmen Sie dort hinten in der Sitzecke Platz, bis das Taxi vorfährt.“ Okay. Scheinbar war die gute Frau hier immun gegen den Charme, den man ihm in seiner Heimat zuschrieb. „Danke.“ Er zog sich geschlagen zurück in eine der Sitzecken, die unter den großen Kletterpflanzen standen. Was für ein Start in den Tag. Es konnte nur besser werden. Oder? Während er auf sein Taxi wartete, blätterte er diverse Zeitschriften durch, die auf den kleinen Tischen neben den Sitzmöbeln lagen. Die beinahe schon wissenschaftlichen Artikel in irgendwelchen Fachzeitschriften ließen seinen Kopf rauchen. Wer zum Geier las denn freiwillig so einen Stuss? Erleichtert schmiss er die Medizinzeitschrift zurück auf den Tisch, als die eiskalte Lady vom Tresen hinüber rief: „Sir! Ihr Wagen ist da, er wartet vor dem Hotel auf Sie!“ Und ebenso kühl und mechanisch fügte sie hinzu: „Einen schönen Tag noch, Sir.“ Seunghyun stand vom Sessel auf und hob kurz die Hand in ihre Richtung. „Ebenso“, entgegnete er und verließ die Lobby. Vor dem Eingang stand ein großes Taxi, ganz anders als das, was er gestern Nacht am Flughafen aufgegriffen hatte. Er ließ sich auf die weichen, vollkommen neuwertig wirkenden Sitze der Rückbank sinken. Der Fahrer, der ihn durch den Rückspiegel freundlich ansah, trug einen schwarzen Anzug anstelle eines verschwitzten, abgetragenen Hemdes. Was hatte er auch anderes von einem erstklassigen Hotel erwarten sollen? „Wohin darf ich Sie fahren, Sir?“, erkundigte der Fahrer sich. „Nun, ja...“, antwortete der Rapper nachdenklich. „Kennen Sie zufällig ein gutes Maklerbüro?“ Der Grauhaarige am Steuer zog die Augenbrauen hoch. „Nein, Sir, ich fürchte, damit kann ich nicht dienen. Ich könnte Sie in die Stadt fahren, vielleicht werden Sie dort selbst fündig.“ Seunghyun seufzte. Das könnte heiter werden. „Okay. Fahren Sie mich einfach dorthin, wo Sie denken, dass ich das finde, was ich suche.“ So eine Ansage bekam der Fahrer wohl nicht jeden Tag und er schien nicht im Geringsten glücklich zu sein mit dem, was er tat, als er den Wagen in Gang setzte. Nach einer guten dreiviertel Stunde Fahrt in Richtung Zentrum hielt der Fahrer das Taxi am Straßenrand an und nannte mit höflicher Zurückhaltung den zu zahlenden Preis. Seunghyun legte zehn Dollar dazu und verabschiedete sich freundlich, bevor er die Autotür zuschlug. Es regnete noch immer und ein unangenehmer Herbstwind trieb die kalten Tropfen in sein Gesicht. Einen Moment lang blieb er stehen und wartete, bis das Taxi gefahren war. Dann sah er sich um. Neben den großen Flügeltüren der Gebäude hingen Schilder an den Hauswänden, die Anwaltskanzleien, Fotostudios und Arztpraxen auswiesen. Ja, vielleicht würde er hier irgendwo fündig werden. Seunghyun setzte sich in Bewegung und schlenderte den menschenleeren Bürgersteig hinab, um nacheinander die Schilder abzuklappern. Nach gut zweihundert Metern war er bereits komplett durchnässt und mehr als frustriert. So hatte er sich das bestimmt nicht gedacht. Vielleicht hatte er die Schwierigkeiten, die ein Neuanfang mit sich bringen würde, unterschätzt. Ihm fiel eine kleine Grünfläche auf, die ihn an diesem grauen Tag förmlich anstrahlte. Der Rasen war bereits zum Teil von bunten Blättern übersät Der junge Mann ließ sich auf einer der nassen Bänke nieder, die auf der Anlage verteilt standen, und zog seine Zigarettenschachtel und das Feuerzeug aus der Manteltasche. Einen kurzen Moment später stiegen bereits die ersten Rauchfahnen in die nasskalte Luft empor und Seunghyun lehnte sich seufzend zurück und überschlug die Beine. Was hatte er sich bloß bei dieser dämlichen Aktion gedacht? Er hatte in Seoul ausreichend Won in Dollar getauscht, ein Hotel und den Hinflug gebucht – und dabei ganz vergessen, dass er auf Dauer ja eine Wohnung brauchte. „Verdammter Mist...“, murmelte er in seiner Muttersprache vor sich hin. „Was zum Teufel mach ich denn jetzt...“ Doch es war niemand da, der ihm hätte antworten können. In Seoul war es fünf Minuten vor zehn. Yongbae stand mit seinen Bandkollegen hinter der großen Trennwand, die man in der Lobby von YG Entertainment aufgestellt hatte. Er beobachtete seine Freunde aufmerksam, jederzeit dazu bereit, Jiyong wieder einzufangen. Der Leader sah aus, als würde er jede Sekunde die Flucht ergreifen wollen. Noch nie hatte Yongbae gesehen, dass ein Pressetermin den Jüngeren aus der Ruhe gebracht hatte. Doch bekanntlich gab es immer ein erstes Mal. Jiyongs Gesichtsfarbe wechselte zwischen einem leuchtenden Rot und einem ungesunden Weiß, seine Hände zitterten merklich und sein Blick schweifte rastlos durch den Raum. „Reiß dich zusammen“, flüsterte Daesung ihm gerade mahnend zu. Vor der Trennwand stand noch Präsident Yang und begrüßte die Pressevertreter mit beinahe schon heuchlerisch guter Laune und kündigte groß und breit Big Bang an. „Hier sind sie!“, verkündete er schließlich. „Kommt her, Jungs!“ Jiyong schluckte trocken, als sie aufgerufen wurden. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Er spürte, wie jemand nach seiner Hand griff, und sah auf. Seungri erwiderte seinen Blick schüchtern und zog ihn dann mit sich und den anderen zum Ende der Trennwand. Kurz bevor sie vor die Augen der Presse traten, ließ er Jiyongs Hand los und ging vor ihm die Stufen hinauf auf das Podest, wo hinter einem langen Tisch vier Stühle für sie bereit standen. Yongbae winkte Seungri mit einer unauffälligen Geste an das linke Ende des Tisches und setzte sich neben ihn. Jiyong wurde mehr oder weniger zu seinem Platz zwischen Yongbae und Daesung geschoben und ließ sich ungewöhnlich plump auf den gepolsterten Sitz fallen. Er verbarg die zitternden Hände unter der weißen Tischdecke und sah zögerlich auf und in die kleine Menschenmenge vor ihm. Dutzende Kameras und Mikrofone waren in seine Richtung ausgerichtet und schienen ihm so bedrohlich wie noch nie. Die Journalisten rissen ihre Arme hoch, begierig darauf, endlich ihre erste Frage stellen zu können. Yongbae zeigte stumm auf den Ersten. Der etwas ältere Mann lehnte sich auf seinem Stuhl vor und starrte Jiyong direkt und unverhohlen an. „G-Dragon, du siehst müde aus!“, bemerkte er und ein zustimmendes Raunen durchfuhr die Menge. „Was kannst du uns zu den Gerüchten um die Club-Affäre sagen? Ist es wirklich wahr, dass du mit einem fremden Mann – zusammen warst?“ Jiyong erwiderte den gierigen Blick seines Gegenübers und spürte, wie eine einzelne Schweißperle seine linke Schläfe hinab rann. „Alles, was ich dazu sagen kann...“, setzte er an und stockte mitten im Satz. Sie hatten alles besprochen, er hatte sich sogar einen Spickzettel mit dem geschrieben, was er sagen sollte – sagen durfte. Er steckte im Ärmel seines Hemdes. Doch all das war in diesem Moment wie weggeblasen und hilflos murmelte er: „Ja.“ Das Murmeln um ihn herum schwoll an, einzelne Stimmen hoben zu laut dazwischen gerufenen Fragen an. Yongbae schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und stöhnte gequält. Hätten Blicke töten können, so würde Jiyong nun vermutlich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Er musste sich und die anderen schützen. Ihm musste etwas einfallen – und zwar ganz schnell... „Ich... Der Mann wollte ein Autogramm und wir sind ins Gespräch gekommen. Wir haben zusammen ein paar Bier getrunken. Alles Weitere hat er erfunden, es ist nichts weiter passiert“, stammelte er. Die Journalisten schienen von dieser Erklärung mehr als nur enttäuscht zu sein. Ein weiterer Mann, diesmal ungefähr in Jiyongs Alter, meldete sich. Jiyong nickte ihm zu. Als die Worte des Mannes an sein Ohr drangen, begannen seine Lippen zu beben und er biss viel zu fest darauf. Auf seiner Zunge schmeckte er das Blut. Man hatte seinen wundesten Punkt zielgenau getroffen. „Wo ist Top? Konnte er heute nicht kommen? Ist er verhindert? Geht es ihm gut?“ Daesung hörte selbst über das Gerede der Presseleute hinweg Jiyongs zittrigen Atem. Seine Hand wanderte unter die Tischdecke und suchte nach der des anderen. Auch in Yongbaes Gesicht stand die Anspannung nun deutlich geschrieben. „Sie haben den Punkt getroffen, wegen dem wir heute wohl eigentlich hier sitzen“, setzte Daesung schließlich an und schluckte nervös. „Top ist... Wir wissen nicht, wo er ist. Er hat Big Bang vor ein paar Tagen verlassen. Wir sind nun nur noch zu viert, fürchte ich“, erklärte er. Dann setzte er ein gezwungenes Grinsen auf und blickte in eine der Kameras. „Aber wenn dort draußen jemand denkt, er hätte das Zeug zu einem erstklassigen Rapper, dann soll er sich bei YG Entertainment melden! Zusammen mit unserem verehrten Präsidenten Yang werden wir ein neues fünftes Mitglied für unsere Band suchen. Big Bang wird auf jeden Fall weiterhin bestehen, ob mit oder ohne Top!“ Daesung zuckte zusammen, als bei seinen Worten Jiyongs Hand sich schmerzhaft fest um seine eigene krallte. Der Bandleader rang einen Moment sichtlich um seine Fassung, bevor sein Blick wieder ruhiger wurde und er Daesungs Hand losließ. Durch die Menge vor ihnen ging wieder ein aufgeregtes Gemurmel. Schließlich betrat Präsident Yang erneut das Podest. „Meine verehrten Damen und Herren!“, versuchte er sich mit lauter Stimme und ausladenden Gesten Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Hiermit ist die Pressekonferenz beendet. Wir haben das Wichtigste geklärt, keine weiteren Fragen mehr!“ Er wandte sich seinen Schützlingen zu und bedeutete ihnen mit einem Wink, das Podest vor ihm zu verlassen. Die jungen Männer standen mit weichen Knien von ihren Plätzen auf und trotteten hinter die Trennwand. Die Erleichterung war ihnen deutlich anzusehen, als der Präsident sie lobte und ihnen mitteilte, dass sie von nun an ihr Training weiterführen würden, wie bisher. Auch, wenn ein Teil von ihnen fehlte, es würde weitergehen. Und diese Erkenntnis spendete den meisten von ihnen in diesem Moment Trost. Seunghyun war bis zum Abend nicht ins Hotel zurückgekehrt. Er hatte sich von einem weiteren Taxi zu einer von unzähligen Bars bringen lassen. Nun saß er schon seit gut drei Stunden auf einem abgenutzten Barhocker am Tresen und beobachtete die Menschen um sich herum, die, in laute und zugegebenermaßen nicht mehr ganz nüchtern klingende Gespräche vertieft, an den Tischen saßen oder sich auf der Tanzfläche austobten. Er wusste nicht, wie viele Gläser er von diesem giftgrünen Zeug, das vor ihm stand, schon getrunken hatte, aber seine Sicht der Dinge und der mitleidige Blick des Barkeepers sprachen Bände. Was auch immer sich in diesem Glas befand – es musste von Göttern erdacht worden sein. „Kumpel, hast du nicht langsam genug?“, hörte er die Stimme des Barkeepers, der sich nun ihm gegenüber über seinen Tresen lehnte. In diesem Moment blitzte ein Gedanke in Seunghyuns Kopf auf, der ihn selbst erschreckte: Er fand diesen fremden, jungen Mann attraktiv. „Ich glaube nicht, dass ich dir noch was verkaufen kann, Mann.“ Seunghyun knurrte missmutig und nuschelte einige Sätze in seiner Muttersprache, die sein Gegenüber nur die Stirn runzeln ließen. „Ich versteh dich so nicht, Kumpel, aber du solltest wirklich gehen, bevor du noch Probleme mit der Security bekommst.“ Security – das Wort verstand Seunghyun sogar im mehr als nur angeheiterten Zustand. Das waren die netten Menschen, vor denen Jiyong ihn schon so einige Male hatte retten müssen. Widerwillig rutschte er vom Hocker und hangelte sich an den Menschen entlang zum Ausgang. Er erntete einige Seitenhiebe und verärgerte Kommentare, als er sich an den verschwitzten Shirts festklammerte, doch das kümmerte ihn nicht. Es fiel ihm schwer genug, sich auf den Beinen zu halten. Nicht einmal, als ihm vor der Bar die kühle Luft entgegen schlug, konnte er einen einzigen klaren Gedanken fassen. Wie um alles in der Welt sollte er so zurück ins Hotel kommen? Würden die ihn so überhaupt reinlassen? Er lehnte sich an die mit Graffiti besprühte Wand. Es regnete schon wieder und sein Hemd war schon jetzt halb durchgeweicht. Die Lichter der Reklameschilder und benachbarten Clubs, die um ihn herum wild flackerten, nahmen ihm den letzten Rest an Orientierungsvermögen und Seunghyun ließ sich an der Hauswand hinab auf den nassen Boden sinken. Er schreckte zusammen, als eine zierliche Hand ihn mit erstaunlich festem Griff am Arm packte. Als er aufsah, blickte er in ein Paar blaue Augen, wie er sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Sie leuchteten förmlich im Licht der Neonreklamen und blickten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Sorge an. „Hallo“, sagte die junge Frau langsam und beugte sich weiter über ihn. „Ist das nicht ein bisschen zu kalt hier?“ Er antwortete lallend, doch sie musterte ihn nur weiter fragend. Verdammt, wo waren plötzlich seine Englischkenntnisse hin? Er unternahm einen zweiten Versuch, brachte nach ein paar Sekunden erbärmlichen Gestammels nur ein einfaches „Ja“ heraus. Ein kleines Lächeln umspielte die Lippen der Frau, als sie ihn weiter nachdenklich betrachtete, und plötzlich schien ihr eine Idee zu kommen. „Hast du deine Adresse irgendwo aufgeschrieben? Das haben doch fast alle Touristen hier...“, murmelte sie vor sich hin. Sie streckte die Hand aus und – Moment mal, was hatte sie denn jetzt vor? Da, wo er herkam, betatsche man einen armen, wehrlosen Mann nicht einfach auf offener Straße! Ihre Hand wanderte an seinem Hemd entlang und dann zu seiner Hose. Ein unangenehmes Schaudern durchlief ihn und er rückte dichter an die Wand hinter ihm. Doch dann zog sie einen Zettel aus seiner linken Hosentasche. Der Zettel, den er am Vortag auch schon dem Taxifahrer am Flughafen in die Hand gedrückt hatte. Die junge Frau umfasste mit beiden Händen seinen rechten Unterarm und er ließ sich von ihr aufhelfen. Ihr Körper schmiegte sich eng an seine Seite, als sie ihn mühsam zu stützen versuchte. Wer auch immer sie war und was auch immer sie vorhatte, alles war besser, als hier im Regen sitzen zu bleiben. Als Seunghyun am folgenden Nachmittag die Augen aufschlug, empfing ihn der Preis der letzten Nacht. Er wusste nicht, wo er war, wusste nicht, wie er hier her gekommen war. Doch eines wusste er ganz genau – er hatte es maßlos übertrieben. Sein Kopf hämmerte und sein Magen revoltierte gegen zu viel Alkohol. Mit unkoordinierten Bewegungen hievte er seinen Körper aus dem großen Bett und wankte ins Bad. So elend wie an diesem Tag hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Als er eine Viertelstunde später zurück ins Zimmer schlurfte, fiel ihm der rote Zettel auf, der auf seinem Nachtschrank lag. Er gehörte zu seinem Notizblock, auf dem er sich für gewöhnlich die wichtigsten Termine für die Band und sich selbst notiert hatte. Doch was sollte er sich in der letzten Nacht notiert haben? Er hätte ja nicht einmal seinen eigenen Namen schreiben können... Als er näher kam, erkannte er, dass die Notiz nicht von ihm sein konnte. Der Text auf dem Zettel war auf Englisch verfasst – auf gutem Englisch, soweit er das beurteilen konnte. Und die geschwungene Schrift glich keinesfalls der einer hoffnungslosen Schnapsdrossel. Er ließ sich auf die Bettkante sinken und drehte den Zettel so, dass er ihn lesen konnte. „Hallo, schöner Mann! Ich hoffe, du wachst heute in dem richtigen Hotelzimmer auf. Das ist zumindest das Hotel, dessen Adresse auf deinem kleinen Zettel stand, und die Dame an der Rezeption schien dich auch wiedererkannt zu haben... Jedenfalls hat sie mir eine Karte für dieses Zimmer gegeben. Ich hoffe, ich muss dich nicht noch einmal nach Hause schleppen. Wenn du Interesse an einer Aspirin oder einem Kaffee hast, ruf mich an!“ Es folgte eine Handynummer. Kein Name, kein weiterer Anhaltspunkt auf die Identität des Verfassers. Das Einzige, was vor seinem inneren Auge erschien, waren diese unglaublichen, blauen Augen. Er rieb sich mit den Fingerspitzen über die pochenden Schläfen. Aspirin klang gut... Und tiefer, als bis in die Pfütze von gestern Nacht, konnte er gegenüber dieser Frau wohl eh nicht mehr sinken. Als er zu seinem Handy griff, schlug sein Herz schneller. Er wählte langsam die Nummer, die auf dem Zettel vermerkt war, und hielt sich das Handy ans Ohr. Einige Freizeichentöne erklangen, bevor es leise klickte und sich eine fröhliche, weibliche Stimme meldete. „Hallo?“ Er zögerte einige Sekunden, bevor er seinen Mut und den restlichen Stolz zusammenkratzte und mit heiserer Stimme antwortete. „Hallo. Hier ist der Kerl von letzter Nacht... Du hast was von 'Aspirin' geschrieben und...“ Ein helles Lachen erklang. „Ich bring dir eine Packung mit, wenn ich dich in einer Stunde abholen komme!“, versprach sie. „Zieh dir was Ordentliches an, damit ich mich mit dir blicken lassen kann, dann können wir auch gern einen Kaffee zusammen trinken.“ Er wollte etwas erwidern, doch da hatte sie schon aufgelegt. Verwundert starrte er sein Handy an. Normalerweise war doch er es, der sich ein derartiges Verhalten erlauben konnte, ohne die Konsequenzen scheuen zu müssen. Dass nun jemand den Spieß umzudrehen wagte, amüsierte ihn beinahe schon ein bisschen. Als es eine Dreiviertelstunde später an seiner Zimmertür klopfte, stand Seunghyun gerade vor dem Spiegel und versuchte, sein völlig verkatertes Aussehen irgendwie mit einer Menge Haarspray und einem smarten, dunkelgrünen Hemd zu überspielen. Es klopfte wieder, diesmal energischer. „Ist ja gut!“, brüllte er aus dem Bad. „Ich komme ja gleich!“ Schnell warf er noch einen letzten Kontrollblick in den Spiegel – wenigstens die Frisur saß – und ging dann zur Tür. Als er öffnete, stand eine junge Frau, vielleicht ein paar Jahre jünger als er, vor ihm. Zugegeben – er hatte keinerlei Erinnerungen an ihr Aussehen gehabt. Nur diese wachen, blauen Augen, die ihn nun anlachten, erkannte er sofort wieder. Die junge Frau hatte die langen, dunkelrot gefärbten Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zurück gebunden. Die weite, graue Bluse war in der Taille mit einem dünnen, geflochtenen Gürtel zusammengeschnürt, die engen, dunklen Leggins betonten ihre schlanken Beine. Seunghyun schluckte trocken. Er war selten sprachlos, doch nun stand er da wie ein Vollidiot, nicht einmal in der Lage, seinen Gast hinein zu bitten. Er grub in seinem lückenhaften Gedächtnis verzweifelt nach einem Namen, doch fand keinen. Als sein Gegenüber fragend die Augenbrauen hochzog, räusperte er sich schließlich und beschränkte sich auf ein „Hi!“, bevor er zurücktrat, um ihr Eintritt zu gewähren. Sie drängte sich an ihm vorbei ins Zimmer und sah sich um. „Wow“, bemerkte sie ehrlich erstaunt. „Was ist?“, wollte er wissen. Sie wandte sich ihm wieder zu und grinste. „Hätte nicht gedacht, dass jemand, der sich hemmungslos in irgendwelchen Kellerbars besäuft, in so einem hammermäßigen Hotel wohnt.“ Er zuckte mit den Schultern. Wo sie Recht hatte... „Was ist mit der Aspirin?“, lenkte er das Gespräch um. Sie grinste breit und zog einen Tablettenblister aus ihrer Handtasche. „Hier!“ Sie warf ihm das Ding zu und er fing es, mehr schlecht als recht, mit beiden Händen auf. „Wo willst du hingehen?“, erkundigte sie sich, während sie langsam das Zimmer abschritt. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Wer weiß, ob hinterher noch alle seine Sachen an ihrem Platz sein würden... „Café“, stellte er fest. Sie hob eine Augenbraue, nickte dann aber. „Meinetwegen. Du bezahlst das Taxi.“ Hätte er sich ja denken können... Er griff noch einmal in die Tasche seines Mantels, als er ihn überwarf, um sicher zu gehen, dass er auch Geld dabei hatte. Als er der jungen Frau über den edlen Hotelflur folgte, verspürte er zum ersten Mal seit Monaten so etwas wie die Aufregung vor einer Verabredung. Unglaublich, wie schnell Jiyong und er sich in der Alltagsfalle wiedergefunden hatten. So sehr sie sich auch geliebt hatten, der vollgestopfte Terminkalender hatte sie so schnell in die Realität zurückgeholt, dass Seunghyun nicht einmal bemerkt hatte, wie er auf Wolke 7 gelandet war. Traurig, dass ihm das gerade jetzt durch den Kopf ging, wo er in einem schicken, kleinen Café einer attraktiven Amerikanerin gegenüber saß, bei der scheinbar die ein oder andere Sicherung locker war. „Hey! Hörst du mir überhaupt zu?“, beschwerte sie sich gerade. Er sah vom Fenster zu ihr und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Du redest zu schnell“, erklärte er. Sie schob beleidigt die Lippen vor. „Und du mit einem zu starken Akzent! Woher kommst du überhaupt?“ Seunghyuns Gesichtszüge verhärteten sich augenblicklich. Bis jetzt hatte er es genossen, dass sie nichts voneinander wussten. Das Mädchen hatte ihn behandelt wie – einen Menschen. Sie wählte ihre Worte in seiner Gegenwart nicht so vorsichtig aus, wie die Mädchen in seinem Land es zu tun gepflegt hatten, gab sich nicht so zurückhaltend und niedlich. Das gefiel ihm. „Du zuerst“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie stützte ihr Kinn auf die Hände und blinzelte mit diesen wahnsinnigen Augen. „Nenn' mich einfach Alex. Mehr musst du nicht wissen – erst mal. Jetzt du.“ Er gab sich seufzend geschlagen und hoffte inständig, dass sie nicht auf die beknackte Idee kam, heute Abend in ihrem stillen Kämmerlein seinen Namen durch die Suchmaschine zu jagen. „Seunghyun...Choi“, entgegnete er widerwillig. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, seinen Vornamen zuerst zu nennen. Sie klimperte wieder mit den Augen. „S- Se...was?“, stammelte sie. Er überlegte einen Moment und grinste dann höflich. Wenn sie ihn googeln würde, würde sie es sowieso herausfinden. Also, was sollte es? „'Top' ist auch okay!“, erklärte er. Ihre Reaktion fiel – anders aus, als erwartet. Sie verdrehte die Augen und wandte den Blick genervt von ihm ab und aus dem Fenster. „Dein Ego ist ja mehr als nur überdimensional.“ Er kniff die Augen zusammen und nippte an seinem Cappuccino. „Mag sein“, nuschelte er über den Tassenrand hinweg, ohne das offensichtliche Missverständnis aufzuklären. Wo sie Recht hatte... Am Abend nach der Pressekonferenz war es wieder still geworden unter den Bandmitgliedern. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachhängen oder sie irgendwie verdrängen zu wollen. Daesung stand in der Küche und wusch das Geschirr vom Morgen ab. Der Jüngste stand neben ihm, das Geschirrtuch in der Hand, und trocknete Teller, Tassen und Schüsseln, um sie dann in die Schränke zu räumen. Die beiden Männer wirkten wie Maschinen, die stur ihren eintönigen Bewegungen folgten, keine Regung in Mimik oder Gestik, kein gesprochenes Wort. Jiyong, der auf der Rückfahrt zum Apartment krampfhaft versucht hatte, gute Laune zu zeigen, hockte auf der Couch vor dem Fernseher und schaufelte eine Tüte Chips und Süßkram nach der anderen in sich hinein. Über den Bildschirm flackerte eine DVD mit den Musikvideos aus ihren Anfangszeiten. Damals hatten sie noch Spaß zusammen gehabt – es war nie so sehr Arbeit gewesen, wie in der letzten Zeit. Es schmerzte ihn, sie in den alten Videos so fröhlich zu sehen. Nichts davon war gespielt, es war ihnen gut ergangen damals. Wie konnte es passiert sein, dass im Laufe der Zeit der Spaß und die ehrliche Freude an der Sache gänzlich kühler Berechnung gewichen waren? Hatte er im Laufe der Zeit die anderen so sehr aus den Augen verloren, dass er es nicht gemerkt hatte, bevor es zu spät gewesen war? Er rieb sich über die Augen und griff ein letztes Mal an diesem Tag zu seinem Handy, immer noch eine leise Hoffnung hegend. Die Worte auf dem Display sprangen ihm entgegen, als wollten sie ihn verhöhnen: „Keine neuen Nachrichten.“ Als das Taxi am späten Abend in der heruntergekommenen Gegend hielt, die Alex ihr Zuhause nannte, versuchte Seunghyun, sich seine Gedanken nicht ansehen zu lassen. Er hatte gewusst, dass seine neue Bekanntschaft nicht gerade lebte, wie die Made im Speck, aber das hier war doch schlimmer, als er erwartet hatte. Die Gebäude waren mit vulgären Graffiti besprüht, die Straßen und Bürgersteige waren verdreckt, die Fensterscheiben waren teilweise mit roter Farbe übermalt. In den Nebenstraßen sah er dunkle Gestalten, die sie zu beobachten schienen. Alex griff nach ihrer Handtasche und wollte aussteigen, doch Seunghyun hielt ihr Handgelenk fest. Sie drehte sich irritiert zu ihm um. „Was ist?“, wollte sie wissen. Er zögerte einen Moment, überlegte, wie er sich ausdrücken sollte, ohne sie zu verletzen. „Ich – soll ich dich nicht bis zur Tür bringen?“, fragte er schließlich nur. Sie zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen... Aber glaub nicht, dass ich nicht selbst auf mich aufpassen könnte!“ Als hätte sie seine Gedanken gelesen. Er verkniff sich ein Grinsen und rutschte auf der Rückbank herüber, um hinter der jungen Frau auszusteigen, nachdem er dem Fahrer bedeutet hatte, zu warten. Zugegeben, ihm war nicht ganz wohl dabei. Sonst hatte er immer mindestens einen Mann von der Security um sich gehabt und nun spielte er selbst Bodyguard. Er meinte, zahlreiche Blicke auf ihnen zu spüren, und beschleunigte seine Schritte, um nah hinter Alex zu bleiben. Schon nach einem Tag schien er so etwas wie einen Beschützerinstinkt für sie entwickelt zu haben – oder vielleicht fehlte ihm auch einfach ein gewisser junger Mann, an dem er ihn sonst hatte ausleben können. Schnell schüttelte er den Kopf. Gar nicht erst dran denken! Alex blieb gut hundert Meter weiter vor einem der Apartmentgebäude stehen und drehte sich zu ihm um. „Also“, setzte sie an. „Danke fürs herbringen – Top.“ Die Art, wie sie den Namen aussprach, wirkte beinahe schon belustigt. Was war so witzig, verdammt? Anderswo bekamen die Mädchen weiche Knie, wenn man seinen Namen nur erwähnte! Alex war anders. Sie sah in ihm das, was er letztendlich war: Ein junger Mann, völlig verloren und unbeholfen in einem fremden Land, dessen größte Sorge war, ob er wieder zu seinem Luxushotel zurückfinden würde. Sie hatte Recht – wenn man es so sah, war es wirklich fast schon lächerlich... Sie klopfte ihm gegen die Brusttasche seines Mantels. „Den Notizzettel wieder dabei?“ Er grinste schief. „Ja. Aber den brauche ich hoffentlich bald nicht mehr.“ Ein Moment verlegenen Schweigens trat zwischen die beiden jungen Menschen. Nicht allzu weit entfernt dröhnte ein Martinshorn. Dann nahm er all seinen Mut zusammen, um die Frage zu stellen, die ihn seit einigen Stunden bewegte: „Alex... Ich werde dich doch wiedersehen – oder?“ Ihre blauen Augen blickten ihn an – fast auf Augenhöhe mit ihm. Dann umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen. „Ruf mich an.“ Als Alex die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, empfing sie die gewohnte Stille. Sie zog ihre Schuhe aus und hängte Jacke und Tasche an die Garderobe, bevor sie in ihre warmen Hausschuhe schlüpfte und ins Wohnzimmer schlurfte. Auf dem Couchtisch stand eine Tüte vom Chinesen, daneben lag ein Zettel: „Bin schon auf Arbeit, habe dir Essen geholt.“ Sie ließ sich erschöpft aufs Sofa sinken. Sie hatte nicht damit gerechnet, tatsächlich von Top zu hören. Er hatte ihr im Café seinen richtigen Namen auf eine Serviette gekritzelt, „zum Üben“. Sie zog das Papiertuch aus der Hosentasche und faltete es auseinander. Seine ganze Art, sein Auftreten und sein Benehmen, waren so eigenartig und fremd für sie und gerade das machte die ganze Sache so interessant. Er hatte ihr nicht verraten wollen, was er beruflich machte und woher das ganze Geld für dieses Fünf-Sterne-Hotel kam. Es fiel ihr schwer, nicht darüber nachzudenken, und als sie eine halbe Stunde später mit einem Karton chinesischer Bratnudeln vor ihrem PC saß, plagte sie fast schon das schlechte Gewissen. Sie rief den Internetbrowser auf und tippte seinen Namen in die Suchmaschine ein. „Seunghyun Choi“ Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis die Maschine die Ergebnisse ausspuckte. Bilder von einem Mann, den sie kaum wiedererkannte – geschminkt und irre in Szene gesetzt blickte er mit einem verschmitzten Lächeln in die Kamera. Das war ganz sicher nicht der betrunkene Kerl, den sie gestern Nacht aus der Pfütze gehievt hatte. Unter den Links waren etliche, die zu Steckbriefen und Fanseiten führten. Sie klickte den dritten in der Liste an und begann zu lesen. Das bewegte Leben eines jungen Mannes, zusammengefasst in wenigen Zeilen, geschmückt mit intimsten Details, woher auch immer die Autoren das alles zu wissen glaubten... Offengelegt für die gesamte Menschheit. Ihre Augen wurden größer. Sie schob sich eine weitere Gabel voll Nudeln in den Mund und begann langsam, aber sicher zu verstehen. Kapitel 6: Home, Sweet Home --------------------------- Montag. Montag war ein schlechter Tag. Grundsätzlich. Schon fast einen Monat war Seunghyun spurlos verschwunden, nicht einmal ein Lebenszeichen hatte er ihnen zukommen lassen. Jiyong hing lustlos auf einem der vier Drehstühle, die hinter einem langen Tisch im Tanzstudio Nr. 4 des YG-Gebäudes aufgereiht standen. Auf den Stühlen neben ihm saßen Yongbae, Daesung und Seungri. Es war der erste Tag der Woche, in der die Castings für einen neuen Rapper stattfinden sollten. Sie hatten schon drei oder vier Kandidaten gesehen – Jiyong hatte nicht mitgezählt. Wenn er überhaupt einmal hingesehen hatte. Doch nicht nur er schien wenig begeistert zu sein, auch die jungen Männer neben ihm hatten unauffällig die Handys aus den Hosentaschen gekramt. Seungri und Daesung schienen miteinander zu texten, auf Yongbaes Gerät lief eine aufgemotzte Tetrisversion. Wieder schwang die Glastür auf und ein recht jung aussehender Typ trat mit einem dermaßen riesigen Selbstbewusstsein vor die Truppe, dass es beinahe schon lächerlich wirkte. Yongbae pausierte unter dem Tisch sein Spiel und musterte den Jungen. Der Auftritt schien dem Ältesten jetzt schon gegen den Strich zu gehen. „Name, Alter?“, fragte er knapp angebunden. Die Antwort kam prompt, aber Jiyong hörte nicht hin. Auf seinem Handy tippte er die dreißigste SMS an Seunghyun innerhalb einer Woche. Wie konnte der verdammte Idiot nur all die Nachrichten ignorieren? So wie Jiyong ihn kannte, hätte er spätestens nach der zehnten an die Decke gehen und ihn wutentbrannt anrufen müssen. Doch die Taktik ging nicht auf – nicht dieses Mal. Er musste sich zusammenreißen, um das teure Gerät nicht aus Frust auf den Boden zu schleudern. Stattdessen steckte er es zurück in die Tasche seiner Hose. Inzwischen war der Kandidat enttäuscht wieder abgezogen. Jiyong sah die anderen an und gähnte demonstrativ. „Noch jemand einen Kaffee?“, fragte er, als er aufstand und in Richtung Tür schlurfte. Ein zustimmendes Murmeln kam von seinen Kollegen, das er mal großzügig als „Ja“ deutete. Auf den Fluren von YG Entertainment war es gewohnt still. Die meisten arbeiteten in ihren Studios oder Büros und kamen selten mal heraus, um sich Kaffee oder einen Snack zu besorgen. Er bog ab in den schwarz gehaltenen Lounge-Bereich, in dem einer der vielen Kaffeeautomaten seinen Platz hatte. Jiyong zog die Chipkarte durch, die jedes Mitglied des Labels für die Automaten im Gebäude besaß, und drückte den Knopf für schwarzen Kaffee. Während die erste Tasse sich langsam mit der dampfenden, dunklen Flüssigkeit füllte, hörte er hinter sich die Tür zur Lounge aufgehen. Er drehte sich um, um zu sehen wer sich da zu ihm gesellte und begann zu lächeln. „Hey..“, grüßte Bom ihn verlegen. Er sah, wie sie eine Locke ihres langen, rot gefärbten Haares um den Zeigefinger wickelte. War sie nervös? Er nahm die erste Tasse aus dem Automaten und stellte sie auf einen der kleinen Tische neben dem Automaten ab, bevor er den nächsten Kaffee orderte. Bom stellte sich hinter den Sänger und trippelte von einem High-Heel auf den anderen. Er drehte sich wieder zu ihr um und grinste. „Tut mir Leid, ist 'ne Sammelbestellung. Ich fürchte, du musst dich noch gedulden, Bom.“ Sie lächelte wieder. „Macht nichts, GD. Ich...-“ Sie stockte. Er sah sie fragend an. „Ja?“ Doch die hübsche Frau schüttelte nur den Kopf. „Schon gut. Ach, weißt du was, ich – ich werde einfach...zu dem Automaten da drüben gehen.“ Er folgte dem Zeig ihres Fingers in Richtung des zweiten Kaffeeautomaten an der gegenüber liegenden Wand und zog die Augenbrauen hoch. Irgendetwas sagte ihm, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Oder spielte ihm seine Wahrnehmung nun schon Streiche? Bom stand vor dem anderen Automaten und schien nicht einmal zu wissen, was sie gerade noch trinken wollte. Ein Piepen zeigte an, dass der nächste Kaffee fertig war. Als Jiyong sich wieder auf den Rückweg zum Studio machte, balancierte er die vier dampfenden Pappbecher auf einem der eindeutig viel zu kleinen Plastiktabletts vor sich her, die neben jedem Automaten zu finden waren. Sie alle konnten den Kaffee sicherlich gut gebrauchen. Es kam ihm vor als hätte er seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen und die Ringe unter seinen Augen waren kaum noch mit Make-up zu verdecken. Er trabte an den Studiotüren vorbei. Eins, zwei, drei... Die Bildschirme an den Wänden spuckten ihm unzählige, knallige Bilder der Musiker von YG entgegen, ein tonloses Musikvideo jagte das andere. Sonst hatten es ihn immer in Hochstimmung versetzt, seine Erfolge an sich vorbeiziehen zu sehen. Doch als er an diesem Tag vor der Glastür zum Studio Nr. 4 zum Stehen kam und gerade im Begriff war sie zu öffnen, schlug seine Stimmung plötzlich um. Das, was er dort sah, verschlug ihm den Atem und ließ sein Herz so schnell schlagen, dass er fürchtete, es könnte jeden Moment aussetzen. Er blieb wie angewurzelt vor der Tür stehen, war nicht in der Lage sie zu öffnen. Niemals hätte er mit so etwas gerechnet und nun traf es ihn wie ein Schlag direkt vor den Kopf. Es gab ein Klatschen und er spürte, wie der heiße Kaffee auf seiner Hose und dem Pullover landete, als das Tablett aus seinen Händen zu Boden glitt. Ein erstickter Aufschrei kam über seine Lippen. Die vier Augenpaare im Raum richteten ihren Blick neugierig auf ihn. Er taumelte rückwärts, machte dann auf dem Absatz kehrt und hastete schnellen Schrittes den Flur entlang, zurück in Richtung Lounge. Das Brennen des heißen Getränkes auf seiner Haut war nebensächlich geworden. Er wollte nur weg. Weg von dort. Und vor allem: Weg von ihm. Hinter sich vernahm er schwere Schritte, die langsam aber sicher näher kamen. Jiyong realisierte, dass es keinen Sinn haben würde wegzulaufen. Er würde ihn kriegen, ob jetzt oder später. Irgendwann, irgendwo würde er unachtsam werden und dann würde er ihn einholen und überwältigen, ihn zugrunde richten. Er wurde langsamer. Eine große Hand legte sich unsanft auf seine Schulter und hinderte ihn daran, weiter zu gehen. Einen irrwitzigen Moment lang glaubte er Seunghyun zu sehen, sobald er sich umdrehen würde. Seunghyun wie er, verärgert über das merkwürdige Verhalten seines Partners, tadelnd auf ihn hinunter sah, ihn am Arm packte und zurück zu den anderen zog. Doch die Stimme, die nun erklang, hatte sich ihm auf andere Weise ins Gedächtnis eingebrannt. „Warum so eilig, GD?“, fragte Chunghee spöttisch. Jiyong fuhr herum, schüttelte in der Bewegung die fremde Hand ab. „Was willst du hier?“ Eine unbändige Wut keimte in ihm auf, als er in das Gesicht des Menschen blickte, der sein Leben und das der anderen beinahe komplett zerstört hatte. Warum war er wiedergekommen? Hatte er nicht schon genug angerichtet? Der Mann grinste verschlagen. „Freust du dich nicht mich wiederzusehen? Wir hatten doch so viel... Spaß.“ Die Art, wie er dieses letzte Wort betonte, jagte Jiyong einen kalten Schauer über den Rücken. Er wich zurück, um Abstand zwischen sich und diesen Abschaum von einem Mann zu bringen. Doch Chunghee schnellte mit einer überraschenden Geschwindigkeit vor und kaum zwei Sekunden später fand sich Jiyong mit dem Rücken gegen die Wand gepresst wieder. Chunghees Atem schlug ihm entgegen, als jener sich zu ihm herunter beugte. Er stank nach Alkohol. Wie war dieser Kerl überhaupt in das Gebäude gekommen? Hatte YG Entertainment jeglichen Anstand verloren? „Willst du Geld?“, fragte der Jüngere leise und sah sich hektisch auf dem kleinen Nebenkorridor um, in dem sie gelandet waren. Doch gerade heute erschien das komplette Gebäude wie ausgestorben. Er hörte Chunghee lachen. „Nein, kein Geld...“, erwiderte er und in seinem Tonfall schwang eine unterschwellige Drohung mit. Sein Gesicht war so nah, dass sich ihre Nasen fast berührten. Jiyong kämpfte verzweifelt gegen das Schwindelgefühl an, das ihn ergreifen wollte. Chunghee presste ihn fester gegen die Wand. „Ich will dich, GD“, raunte er. „Komm' jeden Freitag in unseren Club und ich werde meinen Mund halten.“ Das dreckige Grinsen verschwamm vor Jiyongs Augen zu einer bösen Fratze. „Lass die anderen in Ruhe“, forderte er mit zittriger Stimme. „Lass sie in Frieden und ich mache alles, was du von mir willst.“ Chunghees Grinsen erlosch. „Einverstanden. Aber solltest du am Freitag nicht auftauchen – war es das. Ich finde einen Weg, um dich kaputt zu machen. Dich und deine kleinen Freunde.“ Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Chunghee ließ von seinem Opfer ab und sah es eindringlich an. „Freitag. Club. Und kein Wort zu irgendjemandem“, erklärte er noch einmal mit Nachdruck, dann wandte er sich ab und lief den Korridor entlang, weg von den Schritten, die immer näher kamen, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand wie ein böses Phantom. Jiyong hatte noch immer den Gestank von Chunghees Atem in der Nase. Seine Welt, die er gerade mühsam wieder hatte zusammenflicken wollen, zerbrach neuerlich, begann sich vor seinen Augen zu drehen, immer schneller, bis er kraftlos an der Wand hinunter zu Boden sank. Er wollte weinen, wollte sich auf dem Boden zusammenrollen wie ein kleines Kind und einfach liegen bleiben. Doch er musste stark sein. Gerade schien alles wieder besser zu laufen. Er durfte das nicht wieder zerstören. Die Schritte auf dem Hauptflur waren fast bei ihm und als Seungri an ihm vorbei lief, hatte Jiyong sich gerade wieder mühsam aufgerappelt und lehnte an der Korridorwand. Der Jüngste schien ihn zuerst gar nicht gesehen zu haben, doch dann kam er plötzlich wieder zurück und schielte zögerlich um die Ecke. Als hätte er Angst vor dem, was er sehen könnte, schoss es dem Bandleader durch den Kopf. „Hyung, was ist los?“, fragte der Jüngere vorsichtig und kam auf ihn zu. „Wir haben dich gesucht!“ Jiyong zögerte einen Moment lang. Er suchte nach einer Erklärung für seine plötzliche Flucht, in der der Namen „Chunghee“ nicht vorkam – was sich als schwerer entpuppte als er vermutet hatte. Schließlich erklärte er stockend: „Ich – mir... Mir ist der Kaffee runtergefallen. Ich schätze, ich habe mich verbrannt. Wollte gerade zum Bad, um mit Wasser zu kühlen.Tut mir Leid...“ Gut. Das war nichtmal gelogen. Seine Oberschenkel schmerzten tatsächlich höllisch. Seungri musterte ihn mitleidig, packte ihn dann am Arm. „Du musst dich nicht entschuldigen, Hyung. Yongbae und Daesung haken gerade noch den letzten Kandidaten für heute ab.“ Jiyong stolperte hinter dem Jüngsten her. Zuerst wagte er es nicht, ihn auf Chunghee anzusprechen, aber er musste wissen ob die anderen ihn hatten zuordnen können. Ob sie Verdacht geschöpft hatten, wer der Fremde war. „Was war mit dem, der dran war, als ich wiederkam?“, fragte der Leader bemüht ruhig und beiläufig. Seungri blickte sich nicht um während er sprach. Er hatte seine Schritte inzwischen so sehr beschleunigt, dass er seinen Freund regelrecht hinter sich herschleifte. „Du meinst... wie hieß er denn gleich... Changbae! Der wird es sicherlich nicht werden. Hast du ihn dir nicht genauer angesehen? Der war doch mindestens vierzig...“ Jiyong grinste bitter. Und ob er sich den Kerl angesehen hatte. Er hatte genug Gelegenheit dazu gehabt – auch wenn er sich an die eine im Club nicht mehr so genau erinnerte. Changbae hatte er sich also genannt. Wenigstens hatte er die anderen in Frieden gelassen. Er würde das schon regeln – Freitag, im Club, allein. In New York war es zehn Uhr morgens, als Alex mit klopfendem Herzen vor der Hoteltür stand, durch die sie inzwischen schon so oft gegangen war. Mittlerweile warfen ihr nicht einmal mehr die Rezeptionistinnen misstrauische Blicke zu, wenn sie durch die pompöse Lobby schritt. Trotzdem war sie jedes Mal aufgeregt wie ein kleines Kind, wenn Seunghyun die Tür öffnete. Sie hatte ihn noch nicht auf das angesprochen, was sie im Internet gefunden hatte. Es war sicherlich besser, keine schlafenden Hunde zu wecken. Energisch klopfte sie an die dunkle Holztür und wartete. Nur ein paar Sekunden später öffnete Seunghyun ihr die Tür und lächelte als er zur Seite trat, um sie vorbei zu lassen. „Morgen“, grüßte er und erklärte dann: „Ich hab' uns Frühstück bestellt. Ich hoffe, ich habe das Richtige geordert.“ Sie blickte auf den kleinen Tisch mit den zwei Stühlen, der nahe bei der Fensterfront stand. Neben einem Strauß Blumen reihten sich dicht aneinander gedrängt Teller und Schalen mit Rührei, Obst, Brot und Joghurt, sowie eine Kanne Kaffee. Sie verschwieg, dass sie gerade mit ihrem Freund im Coffee Shop gefrühstückt hatte, und setzte sich an den Tisch. Den Umschlag, den sie seit heute früh mit sich herumschleppte, legte sie im Vorbeigehen auf dem Nachtschrank neben dem Bett ab. Seunghyun beäugte ihn neugierig, sagte aber vorerst nichts. Er schenkte ihnen beiden Kaffee ein und nahm dann selbst Platz, um sich Rührei und Speck auf den Teller zu schaufeln. Alex beobachtete ihn amüsiert. Als er ihren Blick bemerkte, hielt er inne und überließ ihr widerwillig den Rest aus der Schale. „Tut mir Leid, ich steh' auf euer Frühstück“, erklärte er mit reumütigem Blick. Dann nickte er mit dem Kinn in Richtung des Umschlags. „Was ist das?“ Alex lächelte. „Überraschung. Den darfst du dir nachher im Taxi ansehen.“ Seunghyun runzelte die Stirn, fragte aber nicht weiter nach. Sie würde schon ihre Gründe haben. Eine gute halbe Stunde später stieg Seunghyun hinter Alex in das Taxi ein, das gerade vor dem Hotel gehalten hatte, und ließ sich neben ihr auf die Rückbank fallen. Alex nannte dem Fahrer eine ihm unbekannte Adresse und lehnte sich dann zurück. „Jetzt gib den Umschlag her, ich will wissen was Sache ist!“, knurrte er und schnappte ihr das Objekt der Begierde forsch aus den Händen. Er konnte Überraschungen nicht ausstehen. Überraschungen hatte man nicht unter Kontrolle – sie überraschten einen. Als er den Umschlag öffnete, spürte er Alex' gespannten Blick auf sich. Er schüttelte den Inhalt auf seinen Schoß. Zum Vorschein kam – eine Visitenkarte? Eine winzige Visitenkarte in einem DinA4 Umschlag? Wirklich? „Willst du mich verarschen?“, murmelte er, ohne seine Freundin anzusehen. Er wusste trotzdem, wie sehr er sie mit seiner Frage getroffen haben musste, er kannte sie inzwischen gut genug. „Schau sie dir wenigstens erstmal an, du... Ach, vergiss es! Gib sie wieder her, ich will zurück nach Hause!“ Sie griff nach der Karte, doch er war schneller und hielt sie von ihr weg, sodass sie fast auf seinen Schoß krabbelte, um sie wiederzuerlangen. Seunghyun sah den mahnenden Blick des Fahrers im Rückspiegel und schob Alex mit sanfter Bestimmtheit von sich herunter, bevor er schnell einen Blick auf die Karte warf. „DNS Immobilien“, stand dort in schlichter, blauer Schrift. Darunter eine Adresse und die weiteren Kontaktdaten. Seunghyun blickte Alex irritiert an, die schmollend von ihm weggerückt war und ihm finstere Blicke zuwarf. „Das ist eines der besten Maklerbüros von New York City, du Ignorant! Ich wollte doch nur, dass du nicht ewig in diesem Hotel hausen musst!“ Dem Rapper fiel die Kinnlade herunter und einen Augenblick lang war er tatsächlich sprachlos. Der Taxifahrer hatte während der Fahrt ihre Auseinandersetzung mitverfolgt und sah sie nun, da er an einer roten Ampel stand, durch den Rückspiegel fragend an. „Was ist denn nun?“, wollte er wissen. „Ist die Adresse noch aktuell?“ Bevor Alex den Mund aufmachen konnte, erwiderte Seunghyun hastig: „Ja, fahren Sie uns hin!“ Die restliche Fahrt verlief schweigend. Seunghyun war noch immer fremd im Big Apple, doch seine Orientierung, die er auf den Ausflügen mit Alex gewonnen hatte, reichte aus, um sagen zu können, dass sie sich keinesfalls dem Finanzdistrikt näherten, in dem das Maklerbüro laut Visitenkarte lag. Noch eine Überraschung. Toll. Aber der junge Mann hatte dazugelernt. Er hielt den Mund, bis das Taxi vor einem modernen Hochhaus hielt, das nur aus Stahl und Glas zu bestehen schien. Alex bedeutete ihm auszusteigen und er trat aus dem Taxi hinaus auf den breiten Gehweg. Vor dem Gebäudeeingang stand ein junger Mann, nicht viel älter als Seunghyun selbst. Er trug einen smarten, schwarzen Blazer, darunter ein helles Shirt, und eine dunkle Jeans mit schwarzen Lederschuhen. Als er Seunghyun und Alex aussteigen sah, kam er breit grinsend auf sie zugelaufen, die Hand bereits im Gehen zum Gruß ausgestreckt. Ein wenig überrumpelt schüttelte Seunghyun sie. So langsam dämmerte ihm, was das hier sollte. Das war nicht das Büro des Maklers – sie standen vor der Immobilie, die Alex für ihn ausgewählt haben musste.“Mr. Choi, nicht wahr?“, begann der junge Makler zu reden. „Jonathan Bermond mein Name, DNS Immobilien. Ihre Freundin hat einen wirklich exzellenten Geschmack bewiesen, das Objekt wird Ihnen sicher zusagen, Mr. Choi!“ Seunghyun blieb stumm. Er fühlte sich ein wenig hilflos, schwafelte der Kerl vor ihm doch so schnell, dass er gerade einmal die Hälfte verstand. Alex lächelte ermutigend und griff nach Seunghyuns Hand, um mit ihm dem Makler zu folgen, der bereits auf das Gebäude zuhielt. Ihre Berührung war so beiläufig und trotzdem jagte sie Seunghyun einen Schauer über den Rücken. In der Eingangshalle war alles minimalistisch gehalten, fast schon steril. Nur einige Grünpflanzen und kleine, weiße Polstersitzecken verteilten sich auf dem weißen Marmorboden. Am Ende der Halle befand sich der Aufzug. In der Kabine drückte Jonathan die „13“ und gab mit flinken Fingern einen Code in die Tastatur ein, dann setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Seunghyun spürte Alex' Blicke auf sich, während sich die Fahrstuhltüren einen Moment später wieder öffneten. Er wusste nicht wie jemand wie Alex an so eine Immobilie geraten sein konnte, doch was sich da vor ihm auftat war unglaublich. Sie traten hinaus in einen großen, lichtdurchfluteten Raum. Die Außenwände waren komplett verglast und gaben den Blick auf New Yorks atemberaubende Skyline frei, die er so sehr liebte. „Das, Mr. Choi, ist eines der exklusivsten Penthouses aus meinem Fundus. Drei Etagen, 641 Quadratmeter Wohnfläche, 246 Quadratmeter Dachterasse. Es gibt 15 Räume, davon drei Schlafzimmer, fünf Bäder, zwei...“ „Wie viel?“, unterbrach Seunghyun ihn. Der Makler stutzte. „35 Millionen US-Dollar, Mr. Choi.“ Seunghyun schluckte trocken und sah zweifelnd zu Alex hinüber. Die junge Frau sah ihn aus großen Augen an. „Ist das zu viel?“, fragte sie unsicher. Der Rapper ging in Gedanken seine Kontostände durch, während er dem Makler durch diverse großzügige und helle Räume folgte. Er würde sich dringend einen Job suchen müssen, wenn er dieses Monster kaufen wollte. Zwar hatte er das Geld für den Kauf, doch er wollte nicht wissen wie hoch die Nebenkosten sein würden. Trotzdem nickte er nach einer Weile zustimmend und streckte dem Makler widerstrebend die Hand entgegen. An diese Sitte würde er sich nie gewöhnen... „Ich nehme es, Jonathan.“ Fünf Tage später trat Seunghyun zum ersten Mal in das Penthouse, das er nun sein Eigen nennen durfte. Er hatte urprünglich nicht vorgehabt so viel Geld in seinen Neuanfang zu investieren, hatte er doch ein normales Leben beginnen wollen, weit ab von dem Trubel seiner ehemaligen Prominenz. Doch das Penthouse hatte ihn fasziniert. Er schien einfach nicht von seinem Streben nach Luxus ablassen zu können. Eine letzte Verbindung zu dem Leben, von dem er einmal ein Teil gewesen war, das ihn in seiner Persönlichkeit so stark geprägt hatte. Als er nun in dem großen Ankleidezimmer der Mastersuite im fünfzehnten Stock stand und die wenigen Kleider in die riesigen, schwarz lackierten Schränke verteilte, überkam ihn seit langem wieder die Sehnsucht. Heimlich schlich sie sich in seine Gedanken ein und lenkte sie über den Ozean, hin zu seinen Liebsten. Ja, er liebte sie immer noch. Seine Familie, seine Freunde – und ihn. Nur deswegen hatte er ihn verlassen. Wie viel Leben könnte in dieser Wohnung sein, wenn er nur hier wäre. So schien sie ihm leer und einsam. Unter seinen Klamotten kam ein kleines Gerät zum Vorschein, das er beinahe vergessen hatte – sein altes Smartphone. Er hatte es in all der Zeit nicht übers Herz gebracht, das Ding wegzuschmeißen – obwohl er sich hier in New York ein neues zugelegt hatte. Es schien ihn zu rufen, dort aus den Tiefen seiner Tasche heraus, forderte seine Aufmerksamkeit. Er hob es mit zitternden Fingern hoch und drückte den roten Hörer. Einige Sekunden dauerte es, bis der Startbildschirm erschien. Seunghyun schluckte trocken, als er die Meldung sah: „97 neue Nachrichten.“ Das durfte doch nicht wahr sein. Er öffnete die Liste der Textnachrichten, die beinahe den Speicherplatz sprengten. Die älteste Nachricht war vom Tag nach seiner Abreise – das Datum hatte sich unwiderruflich in sein Gedächtnis eingeprägt. Die neueste Nachricht war vom letzten Freitag. Und alle trugen sie denselben Absender: „GD“. Seunghyun ging hinüber zu dem übergroßen Bett, um sich darauf fallen zu lassen. Fast versank er in der weichen Matratze. Er schaltete die Nachttischlampe ein und öffnete die älteste Nachricht. „Seunghyun, wo bist du? Es tut mir Leid, wirklich.“ Wahllos begann er weitere Nachrichten zu öffnen, überflog sie, las einzelne genauer. „Bitte komm zurück! Bitte! Ich will nicht mehr, es tut mir Leid! Ich bin nichts mehr ohne dich! Bitte!!!“ „Du verdammter, egoistischer Bastard! Ich hasse dich! HASSE dich!!“ „Wir alle brauchen dich, Hyung. Es ist so anders, seit du weg bist. Wir vermissen dich noch immer so sehr...“ „Bitte sag doch, wo du bist. Niemand wird zu dir kommen, das verspreche ich. Nur gib mir ein Zeichen, dass es dir gut geht.“ Tränen stiegen in die Augen des sonst so unnahbaren jungen Mannes, doch eine einzige Nachricht musste er noch lesen – diejenige, die ihn vor nur wenigen Tagen erreicht hatte. Er öffnete sie. Nur zwei Worte standen dort, doch sie schienen ihm förmlich entgegen zu springen: „HILF MIR.“ Was hatte das zu bedeuten? Angst stieg in Seunghyun auf. Angst um den Menschen, den er so kaltschnäuzig zurückgelassen hatte. Ein Mensch, der ohne ihn so schwach schien, so wehrlos. Nie hatte er gewollt, dass Jiyong sich wegen ihm etwas antat. Er musste das Smartphone vor sich aufs Bettdeck legen, seine Hände bebten wie Espenlaub. Draußen vor der Glasfront seines Schlafzimmers wurde es allmählich dunkel und die Lichter der Stadt gingen nach und nach an. Doch heute hatte er keine Augen für dieses Bild, was er sonst so abgöttisch liebte. Er wusste nicht wie spät es in seinem Heimatland gerade war. Vielleicht schliefen sie dort gerade oder arbeiteten an einem neuen Song – dem ersten ohne ihn? Aber Zeit spielte keine Rolle. Nicht jetzt. Nicht für ihn. Nur ein einziger Anruf und er würde sich zufrieden geben. Er würde sich nur kurz vergewissern, dass alles in Ordnung war dort drüben – und dann würde er sie endgültig in Frieden lassen. Seunghyun wählte Jiyongs Handynummer aus seinen Kontakten aus und stellte das Gerät auf „Lautsprecher“. Einige quälende Sekungen vergingen. Niemand hob ab. Enttäuscht wollte Seunghyun auflegen, als es plötzlich in der Leitung knackte und eine Stimme erklang. Eine unbändige Freude überkam ihn – bis er merkte, dass das nicht die Stimme war, die er zu hören erwartet hatte. Es war nicht die helle, weiche Stimme seines ehemaligen Leaders. Diese war unangenehm – tief und so rau wie Schmirgelpapier. „Seunghyun...“, knurrte sie und als er bestätigte: „Bist du nicht der kleine Freund von G-Dragon? Der sich aus dem Staub gemacht hat? Lass dir eins gesagt sein: Wage es nicht, noch einmal mit ihm in Kontakt zu treten. Du brauchst dir gar keine Mühe zu machen. Er gehört jetzt mir.“ Seunghyun wollte protestieren, wollte fragen, wer der Mann war und wie zum Teufel er an Jiyongs Handy gekommen war. Doch seine Lippen schienen wie gelähmt und bevor er auch nur einen einzigen Laut herausbrachte, wurde die Verbindung unterbrochen. Klick. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)