Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 76: Verlies ------------------- Kapitel 76 Verlies Jeder mit ein paar der Leuchtblumen bewaffnet machten sich die Drachenreiter auf den Weg. Dhaôma ließ seine Samen bilden, bis sie da waren. Tatsächlich waren sie nicht die ersten, die sich auf dem Platz einfanden, aber diesmal war die Stimmung anders. Sie warteten. Geduldig und mit einer gewissen Spannung. Die Magier, vornehmlich Frauen und Jugendliche saßen in kleinen Grüppchen zusammen und erhoben sich, als die Drachenreiter landeten. Bisher waren es vielleicht fünfhundert. Die Telepathie war wieder unterbrochen, also rief Dhaôma leise die Heiler zu sich und jene, die dazu geeignet waren, jemanden zu führen. Er hatte sich etwas überlegt, was den Schaden gering halten sollte. Ein paar Minuten später waren ein paar Menschen um sie drei versammelt. Nur zwei weitere Heiler waren dazugekommen. Es war genauso, wie er es sich gedacht hatte. Die eitle Oberschicht hatte kaum Teilnehmer. „Ich möchte, dass ihr Gruppen bildet.“, leitete Dhaôma ein. „Immer zehn Leute zusammen. Jeder passt auf jeden auf, neun folgen einem zehnten, dieser kennt den Plan. Ich möchte nicht, dass jemand stirbt, also bitte seid friedlich, so gut es nur geht.“ Beinahe jeder nickte fest. Sie hatten verstanden, worauf es dem Drachenreitermagier ankam, nachdem sie die Macht der Wut vom Nachmittag gesehen hatten. Keiner wollte das noch einmal erleben. „Es besteht die Gefahr, dass die Halblinge sich umbringen werden, wenn wir sie in die Ecke drängen, also geht behutsam vor und verhindert das. Sie sind Experten mit Giften, also schärft euren Leuten ein, dass sie darauf achten sollen, nicht gestochen oder geschnitten zu werden. Sie sollen auch auf Fallen aufpassen. Wir wissen nicht, wie es dort drin aussieht.“ Dem konnte Mimoun nichts mehr hinzufügen. Wehmütig und zugleich unsicher glitt sein Blick über die dunklen Mauern, die sich drohend in die Nacht erhoben. Seine Unsicherheit wuchs. Zu gern würde er sofort in die Kellergewölbe stürzen. Er wollte sich Gewissheit verschaffen über die dort unten gefangenen Geflügelten, wollte ihnen die Gewissheit geben, endlich in Sicherheit und wieder frei zu sein. Aber er konnte dort nicht allein hinunter. Mimoun wusste nicht, in welchem Zustand sie sich befanden und ob sie Magier in ihrer Gegenwart überhaupt zulassen würden. Schweren Herzens entschloss er sich zu warten, bis die Friedensprozession hier eintraf. Nun galt es erst einmal den Zirkel zu überzeugen. Da fiel ihm etwas ein. „Wie machen wir das? Wir können sie nicht einsperren, ohne uns auf ihr Niveau herab zu lassen. Jeden in seinem Raum unter Bewachung zu stellen, erfordert eine große Anzahl Menschen. Und ob man sie in größeren Gruppen zusammentun sollte, ist auch wieder fraglich.“ „Vielleicht schicken wir sie am besten erstmal schlafen.“, schlug eine ältere Frau vor. „Und wie?“, fragte eine andere gereizt. „Singen wir ihnen Schlaflieder?“ „Ähm…“, stotterte die erste und errötete. Dhaôma rettete sie aus ihrer Hilflosigkeit. „Ich kenne eine Pflanze, die ein Schlafgift abgibt. Wenn in jeder Gruppe ein Pflanzenmagier mitgeht, dann kann er diese Pflanze kultivieren, während ein Windmagier dafür sorgt, dass die Gruppe selbst davon nichts abbekommt.“ „Windmagier können sie auch erstmal gegen die Wand drücken, damit wir sie entwaffnen können, nicht wahr?“, fragte ein Junge schüchtern. Und ein Alter mit schlohweißem Haar schüttelte die Faust und schwor, dass er sie eigenhändig bewachen würde. So viele quasselten durcheinander, es gab so viele Vorschläge, dass Dhaôma letztendlich alle zum Schweigen brachte, indem er selbst einen kurzen Windstoß losließ. „Jede Gruppe entscheidet selbst.“, beschloss er. „Ihr könnt es schaffen. Es ist nicht so schwer. Und jetzt solltet ihr gut gemischte Teams zusammenstellen. Nehmt Menschen, die ihr schon kennt, welche, denen ihr vertraut, das macht es euch einfacher später.“ Sie schwärmten aus und erschöpft lehnte sich Dhaôma gegen Lulanivilay. Er würde ihn zurücklassen müssen. In dem Schloss war er zu eingeengt, um sicher zu sein. „Das wird ganz schön anstrengend.“, murmelte er. Ein Zupfen an seinem Ärmel ließ ihn hinuntersehen. Da stand ein Kind. Vielleicht neun Jahre alt und auf seinen Wangen hoben sich ganz deutlich die Linien der Heiler ab. „Mutter hat verboten, dass ich komme, aber ich will helfen.“, sagte es, die schwarzen Augen groß und flehend. „Sie will nicht, dass ich Normale heile, aber…“ Es verstummte, sah betreten zu Boden und scharrte mit dem Fuß. „Ich möchte Normale heilen. Am liebsten möchte ich Barran heilen, aber Mutter verbietet es immer.“ Ihr Blick fixierte ihn. „Wenn ihr gewinnt, darf ich dann Barran heilen?“ Mitleidig sah Dhaôma das Kind an. Es stand vor dem gleichen Problem wie einst er selbst. Ausgegrenzt durch ein übertriebenes Klassendenken suchte es sich seinen eigenen Weg hinaus. „Wer ist Barran?“ Es wurde flammendrot. „Ein… Hanebito. Sie haben ihn ins Schloss gebracht, aber da war er schrecklich verletzt.“ Plötzlich wurden seine Augen entschlossen. „Aber er hat mich beschützt, als alle angegriffen haben, also will ich ihm helfen.“ Mimoun ließ sich in die Hocke sinken, um mit dem Kind auf einer Augenhöhe zu sein. „Ich würde mich freuen, wenn du ihm helfen würdest und er sich sicher auch. Aber erst einmal müssen wir ihn finden. Und bevor wir uns auf die Suche nach ihm machen können, müssen wir dafür sorgen, dass ihm keinerlei Gefahr mehr droht. Also hab bitte noch ein klein wenig Geduld.“ Vorsichtig hob er die Hand und strich ihr vorsichtig über das Haar. „Morgen, wenn alles vorbei ist, machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach ihm, einverstanden?“ Unsicher, aber auch erleichtert und schüchtern zugleich nickte das Kind und nach einem zuversichtlichen Lächeln erhob sich der Geflügelte wieder und sah in die Runde. Noch immer kamen vereinzelte Magier herbei. Diese wurden dann immer gleich mit integriert und über die Vorgehensweise aufgeklärt. „Gut. Ich würde sagen, wir warten noch maximal zehn Minuten auf Nachzügler und legen dann los. Es dürfte nicht unbemerkt geblieben sein, dass sich hier wieder so viele Menschen versammelt haben.“ Hibbelige Unruhe erfasste den Drachenreiter mit einem Mal und er schlang Dhaôma aus einem Reflex heraus die Arme um den Hals. „Nur noch wenige Stunden und es ist vollbracht. Dann sind wir wieder frei hinzugehen, wohin wir wollen.“ Mit einem frechen Grinsen löste er sich und zeigte seine vor Aufregung zitternden Hände. „Fast geschafft.“ „Ja.“, lächelte Dhaôma und strich ihm durch das Haar. Lulanivilays Kopf ruckte herum. „Es riecht nach Spatz und Sturm und Weißwasser. Es kommen noch andere.“ Dhaômas Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Sie wussten genau, was wir vorhaben.“, kicherte er. „Und sie kommen helfen. Glück für uns.“ Spatz und Weißwasser waren ihm mittlerweile vertraute Begriffe in Bezug auf ihm bekannte Personen, aber… „Schön, dass wir Unterstützung kriegen, aber wer bitte ist Sturm?“ Moment. Hatte er Weißwasser gesagt? Mimoun griff sich an den Kopf. „Dieses Mädchen. Sie ist genau wie Aylen. Rennt immer an die vorderste Front. Ich fürchte, ich muss sie irgendwann mal heftig übers Knie legen.“, fluchte er ungehemmt. „Lavendel ist dabei.“, stimmte ihm Lulanivilay zu, während der braunhaarige Magier sich von seinem Geliebten löste und einen Ring aus Leuchteblumen wachsen ließ, groß genug, um von oben gesehen zu werden, aber nicht hell genug, um die im Schloss zu warnen, falls es dazu nicht schon zu spät war. „Sie ist bei Beschützer.“ „Das heißt, wir kriegen wirklich starke Gesellschaft.“, fasste Xaira zusammen. Die Nachricht, dass einige aus dem Friedensmarsch sich ihnen anschließen würden, sorgte für eine positive Grundstimmung. Insgeheim waren die Magier unsicher gewesen, weil sie nicht für einen eventuellen Kampf ausgebildet waren, aber nun waren da Menschen, die kämpfen konnten, wenn sie wollten. Was waren sie überrascht, als auch Juuro und Volta ankamen, zusammen mit einigen anderen Magiern, jeweils getragen von zwei Hanebito. Insgesamt belief sich die Anzahl angekommener Menschen auf fünfzig. Asam landete grinsend neben Mimoun und Dhaôma. „Ich wusste, ihr macht wieder Unsinn. Gut, dass wir gekommen sind.“ „Danke dafür.“, antwortete Dhaôma. „Wir machen keinen Unsinn, wir erfüllen die uns übergetragene Aufgabe.“, korrigierte Mimoun gelassen und schlug dem anderen freundschaftlich auf die Schulter. „Es ist schön, euch hier zu haben, dann ist es hier nicht so einseitig Magier belastet, aber bitte verratet mir doch mal, warum ihr Keithlyn mitgebracht habt? Ja gut, hier sind ebenfalls Heranwachsende und Kinder…“ Er nickte zu der kleinen Heilerin, die sich an Dhaômas Hemd klammerte und zu allen empor starrte. „…aber davon konntet ihr nicht ausgehen.“ Asam nahm das gelassen. „Hast du schon mal versucht, sie an etwas zu hindern oder es ihr zu verbieten?“ Der Angesprochene öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn wieder und winkte mit einem ergebenen Seufzen ab. Schon klar. Wenn man sie nicht offiziell mitnahm, würde sie halt heimlich nachkommen. Machte er sich lieber ein Bild davon, wer nun alles hier war und wie man sie am besten verteilte. Mit Asam, Kaley und Genahn war eigentlich die komplette Führungsriege des Friedensmarsches hier versammelt. Die anderen beiden Halblinge als Kenner des Schlosses waren gute Unterstützung. Schlussendlich noch einige starke und geschickte Kämpfer. Für den hoffentlich nicht eintretenden Ernstfall eine gute Entscheidung. „Wir sind bereit.“, meldeten sich die Führer kurz darauf zurück. Die Ankömmlinge wurden neugierig gemustert. Viele zeigten trotz allem ein Gesicht der Unsicherheit. Hanebito waren einfach zu sehr als die Bösen verschrien bei ihnen. „Gut. Machen wir uns auf den Weg.“, stimmte Genahn fröhlich zu. „Je eher wir fertig sind, desto eher können wir eine Runde schlafen, nicht wahr?“ Dhaôma lachte und vertraute das Kind Lulanivilay an. Schreckstarr starrte es in die goldenen Augen, während sich die Menschen in Bewegung setzten. Mit einer winzigen Berührung öffnete Dhaôma das Tor erneut, das sie von innen wieder verschlossen hatten. Es zerfiel zu Staub. Die Halle dahinter war geräumig und düster. Die vielen Schritte hallten an den Wänden wider und echoten dumpf aus dem hinteren Teil. Es war unmöglich auszumachen, wie groß es hier war. „Hier lang.“, knurrte Juuro und schritt voran nach links. Xaira erhob ihre Stimme. „Drei Türen führen von dieser Halle ab. Teilt euch auf. Juuro, Volta und ich werden euch führen.“ Sie wandte sich an Dhaôma. „Ich schließe mich denen an, die durch die Mitteltür gehen. Folgt ihr Juuro. Er führt euch hinunter in die Gewölbe.“ Und mit scharfer Stimme fauchte sie Keithlyn an: „Und du bleibst bei Dhaôma, verstanden?“ Erschrocken zuckte sie zusammen und nickte. Eine kleine, kühle Hand schob sich in Dhaôma, der sie weich drückte. „Ich falle ihnen nicht zur Last. Ich weiß, dass das hier wichtig ist.“ Mimoun schmunzelte verhalten. Wie schön, dass dieses Kind plötzlich so wunderbar zahm war. Mit einem aufmunternden Lächeln strich er ihr durch die weißen Haare. „Dann wollen wir mal.“ Mit einem versichernden Blick verabschiedete er sich von Asam und Kaley, die sich Volta anschlossen, während Genahn sich an Xaira hielt. Das Baby auf dessen Arm schnupperte neugierig. Die Nase schien gar nicht zur Ruhe kommen zu wollen. „Gib mir ja vernünftig auf den Krümel Acht.“, mahnte er noch und folgte Juuro, der bereits durch die Tür, die hinunter in die Gewölbe führen würde, getreten war. Mimouns Blick glitt über die kalten Mauern. Auch wenn es noch immer geräumig war, er fühlte sich beengt. Warum fühlte er sich hier so viel unwohler als in den Gebäuden auf Jashar? Vielleicht, weil hier all das Leid des Krieges seinen Anfang nahm? Weil sich die Pein seiner Opfer in dem jahrhunderte alten Gemäuer gespeichert hatte, so dass man meinte, das Wehklagen der Verstorbenen heute noch hören zu können? Ein kurzer Schauer überflog seinen Rücken und er schloss dichter zu Dhaôma und Keithlyn auf. Versichernd strichen seine Finger über die kühlen Schuppen, die sich um seinen Hals geschlungen hatten. Mit einem Kopfschütteln gab ihm Tyiasur zu verstehen, dass er noch immer nicht durch die Blockade kam. Kurz glitt sein Blick über den bunt zusammen gewürfelten Haufen, der sich ihnen angeschlossen hatte. Auf nicht wenigen Gesichtern war Anspannung und Unsicherheit, beinahe Furcht zu erkennen. Die Entschlossenheit war bei allen da, doch es ließ sich leicht ausmachen, wer ein Krieger war und wer nicht. Ergeben seufzte Mimoun und schritt weiter aus. Vor allem Menschen, die noch nie in solchen Situationen waren, neigten trotz aller guten Absichten zu Kurzschlussreaktionen. Die leuchtenden Glockenblumen gaben den Gängen ein kaltes Gefühl, obwohl sie reich ausgestattet waren mit Bildern und Schmuck. Noch immer herrschte Stille, die aufgeregt flüsternden Stimmen der Menschen konnten sie kaum vertreiben, ihre Schritte wurden von den dicken Teppichen geschluckt. Alles wirkte alt, aber trotzdem sauber. Nach schier endloser Zeit kamen sie wieder an Türen vorbei. Juuro machte eine auf und enthüllte einen kleinen Schlafraum, aus dem ihnen angstvolle Gesichter entgegensahen. Es waren zwei Frauen. Magierinnen. „Was tut ihr hier?“, fragten sie angespannt. „Hanebito? Was…?“ „Wir suchen die Halblinge.“ Sofort änderte sich die Haltung. „Ihr sucht die Halblinge? Wir wissen, wo sie sich zu dieser Stunde aufhalten. Aber keiner darf sie stören.“ Die jüngere der beiden stand zitternd aus ihrem Bett auf. Ihr Gesicht war schmal und grau. „Seid ihr gekommen, um uns zu befreien?“ „Ihr seid hier gefangen?“ „Wir haben keinen Ort, zu dem wir gehen können.“ Dhaôma nickte. „Ihr habt eure Magie verloren.“, stellte er fest. Nach einem Schreckmoment nickte sie schließlich und ließ den Kopf hängen. „Kommt mit uns. Ihr müsst nicht hier bleiben. Wir wollen die Missstände aufklären. Es ist nicht länger wichtig, ob ihr zaubern könnt oder nicht. Und nebenbei gesagt: Es kann wiederkommen. Eure Krankheit hängt vor allem von euch ab, ob ihr es schafft, euch wieder zu beruhigen.“ Mimoun zog sich unauffällig ein Stück zurück und zog auch Keithlyn ein Stück mit sich. Dies hier ließ er besser Magier klären. Er konnte nicht sagen, was man diesen Frauen bereits angetan hatte oder wie lange sie schon hier gefangen waren, ohne etwas von der Außenwelt zu erfahren. Er wollte sie nicht durch seine Nähe mehr als nötig verunsichern. Der junge Drachenreiter wandte sich Juuro zu. „Befinden sich die Räume für die Geflügelten auch in dieser Etage?“ Der Halbling brummte etwas, das man als Nein interpretieren konnte. Diese Vermutung wurde durch das zeitgleiche, kaum wahrnehmbare Kopfschütteln bestärkt. Missmutig verzog Mimoun das Gesicht, nickte aber verstehend. Ließ sich nicht ändern. Er wandte sich seinen Begleitern zu. Vornehmlich den magisch Begabten, die sich neugierig vor der Türöffnung stapelten, um in den Raum hineinzulinsen. Mit einem leichten Klatschen der Hände brachte er ihre Aufmerksamkeit auf sich und deutete lächelnd den Gang hinunter. „Ich vermute mal, dass diese beiden jungen Damen nicht die Einzigen sind, die unserer Hilfe bedürfen.“ Mit einem demonstrativen, wenngleich auch unnötigen Schritt zur Seite machte er die Marschrichtung deutlich. „Leise und vorsichtig. Und keine Alleingänge.“, mahnte er und trat nun doch an Dhaômas Seite. „Kommst du hier zurecht?“, wollte er von diesem wissen, nachdem er mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung die Frauen begrüßt hatte. „Keine Angst. Ich bleibe in Rufweite.“ „Ich werde nicht hier bleiben.“ Seine Augenbrauen zogen sich dichter zusammen. „Wenn alle zusammen sind, werde ich erklären, aber nicht jedem einzeln. Dazu ist mir die Zeit gerade zu kostbar.“ Während Mimoun sich mit Juuro unterhalten hatte, hatte er es den beiden Mädchen erklärt. Sie sollten ihre Freundinnen und Kolleginnen zusammentrommeln und dann in der Eingangshalle warten, oder sich draußen Lulanivilays Schutz unterstellen, wenn sie sich in dem Gebäude nicht sicher genug fühlten. Die beiden Frauen wirkten entschlossen. „Dann kommt.“ Sanft ergriff er Dhaômas Hand und hielt kurz nach Keithlyn Ausschau, die noch immer ernst in dessen Nähe stand. Ihr Blick glitt über die Wände, so als suchte sie etwas. „Alles okay?“, wollte er von dem Mädchen wissen. Ein wenig abwesend nickte sie. „Hier wurde ich geboren.“, murmelte sie fast unhörbar. Natürlich. Für sie musste es ein ganz anderes Gefühl sein, hierher zu kommen, an den Ort ihrer Geburt, den sie dennoch nie kennen gelernt hatte. Fröstelnd fuhr sie sich mit den Händen über die Oberarme. „Ich bin froh, dass ich nicht hier habe aufwachsen müssen.“ Sie wandte sich ab und folgte Juuro den Gang hinunter. „Korkkan ist mein Vater und wird es immer bleiben.“, sinnierte sie weiter. „Warum also bekomme ich gerade jetzt, gerade hier das Bedürfnis, wissen zu wollen, wer meine richtigen Eltern waren?“ Dhaôma strich ihr über das weiße Haar. „Du musst dich nicht dafür schämen, das wissen zu wollen. Ist es nicht natürlich, sich darüber Gedanken zu machen?“ lächelte er weich. „Vielleicht gibt es Aufzeichnungen darüber, wer von wem geboren wurde.“, schlug er noch vor. „Nein.“, antwortete Juuro. „Die Gefangen haben kein Recht auf Namen. Sie können es nicht aufzeichnen, wer welches Kind mit wem gezeugt hat. Früher war das mal so, aber nicht mehr. Es gab keine Regeln, was wie vererbt wurde, also hat man es sein lassen.“ Dhaôma kroch bei den kalten Worten ein Schauer über den Rücken und er griff Mimouns Hand fester. Diese Gedanken, die die Halblinge vertraten, konnte er einfach nicht verstehen. Es entzog sich völlig seiner Vorstellungskraft, dass jemand so berechnend sein könnte. Tröstend drückte er Keithlyns Schulter. Hinter einer unscheinbaren Tür führte eine halsbrecherisch gewundene Treppe nach unten. Juuro ging ohne zu zögern hinunter. „Hier kommen die Katakomben.“, sagte er rau. „Es ist eine letzte Ruhestätte für die Gefangenen, wenn sie ihren Geist aufgegeben haben. Sie nennen es Abfallhalde.“ Es war, als wäre Mimoun gegen eine Wand gelaufen, so abrupt blieb er mitten im Schritt stehen. In ihm kochte Wut hoch und es fiel ihm schwer, sich soweit zu beherrschen, dass er nicht mit voller Kraft seine Hände zu Fäusten ballte. Er hätte damit Dhaôma verletzte. Um dieses Gefühl zu kanalisieren, rammte er seine Faust gegen die Wand neben sich. „Abfallhalde.“, dehnte er das Wort mit einem dunklen Knurren. „Es sind denkende und fühlende Menschen. Wie können sie…“ Juuro war einige Stufen unter ihnen stehen geblieben und sah nun zu ihnen empor. Sein ernster Blick hatte Mimoun verstummen lassen. „Das sind sie nicht. Nicht für sie. Sie sind nicht mehr als Vieh, das man sich zu einem bestimmten Zweck hält, nützlich, solange sie die ihnen zugedachte Aufgabe verrichten.“ Die noch immer an der Wand befindliche Faust knirschte bedrohlich, als der Druck erhöht wurde. Für Dhaôma war es ebenso schlimm wie damals, als ihm Thenra das erste Mal von den Halblingen erzählt hatte. Sein Magen wurde zu einem kleinen Klumpen und ließ eine kleine Zweifelblase platzen: Wollte er diese Menschen wirklich vor einem schmerzvollen Tode bewahren? Das empörte Stimmengewirr hinter ihm zeigte ihm, dass es nicht nur ihm so ging. Diese Menschen waren wirklich wütend. Es würde nicht einfach sein, sie daran zu hindern, friedlich zu bleiben. Plötzlich machte er sich nicht mehr um die Gefangen Sorgen, sondern um die Halblinge. Es waren doch sicher nicht alle so, oder? „Sie sind so erzogen worden. Macht euch nicht zu viele Hoffnungen.“ „Aber ihr habt erkannt, dass es falsch ist. Warum solltet ihr die einzigen sein?“, fragte Dhaôma Juuro, was diesen zu einem finsteren Gesicht verleitete. „Weil wir in ihren Augen zu schwach waren, zu weichherzig.“ Seine Fäuste waren geballt wie Mimouns und er zeigte eine so hasserfüllte Maske, dass Dhaôma Mitleid empfand. „Ich würde es menschlich nennen.“, sagte er weich. Für Juuro konnte er seinen Hass auf diese Menschen beiseite schieben. Damit sein Freund nicht darunter leiden musste. „Lasst uns das hier schnell durchqueren. Es riecht schrecklich und es schlägt allen aufs Gemüt.“ Nur widerwillig setzte sich Mimoun wieder in Bewegung. Kaum tat er den ersten Schritt, schoben sich auch die anderen wieder vorwärts. Keithlyn eilte die paar Schritte vor, bis sie mit Juuro auf einer Höhe war und schlang ihren Arm um seinen Rücken. Kurz musterte er das Kind an seiner Seite und legte ihr schließlich eine Hand auf die Schulter. Man konnte sehen, wie in diesem Moment die Anspannung von ihm abfiel. Es war für niemanden einfach, hierher zu kommen. Sie sollte sich besser beeilen. Auch Mimoun entspannte sich und öffnete seine Fäuste wieder. Nachdenklich runzelte er die Stirn und betrachtete seine Fingerknöchel. „Au.“, kommentierte er trocken die sich langsam abzeichnende Rötung der Haut. „Selbst Schuld.“ Der Braunhaarige schickte ihm einen zweifelnden Blick, während er seine Magie initiierte. „Bevor du nein sagst, ich will.“ „Ja, ich weiß. Und nein, hatte ich nicht vor.“, erwiderte Mimoun und reichte bereitwillig seine Hand hinüber. „Sonst hätte ich es nicht erwähnt.“ Das meinte er völlig ernst. Nach dem eben Gehörten brauchte er etwas Sanftes und Wärmendes. Auch wenn er wusste, was ihn hier erwarten würde, war es doch ein Schock. „Und besser harter Stein als weicher Hals.“ Seine Hände glitten über die geprellten Knochen und ordneten die zerstörten Gewebe neu, während sie weiter vorangingen. Es lenkte alle ab von den grausigen Bildern in den Alkoven rechts und links des Weges, denn mit Mimouns Heilung sandte Dhaôma Wohlbefinden an die anderen Magier. Nie zuvor hatte er das getan, weil es eine immense Menge an seiner Kraft forderte, aber er spürte, dass es heute ging. Sie kamen ans Ende des Ganges und an eine hölzerne, zweiflügelige Tür. „Jetzt wird es richtig eklig.“, prophezeite Juuro und schob sie auf. Eklig war noch untertrieben. Aus der undurchdringlichen Finsternis schlug ihnen der Gestank von Blut, Schweiß und Exkrementen entgegen, von Schmerz, Krankheit und Tod. Und noch nach etwas anderen, was der Geflügelte aber nicht definieren konnte. Mimoun schlug sich die Hand vor den Mund. Andere hatten nicht so eine gute Selbstbeherrschung. Die deutlichen Würgegeräusche ließen auch seine Kontrolle schwinden. Tyiasur verzog sich mit einem leidenden Jaulen unter das Hemd seines Reiters. Aber angesehen davon war es still. Aus dem größenmäßig nicht auszumachenden Raum war kein Geräusch zu vernehmen. Erst jetzt mit ihnen schien sich hier Leben herunter geschlichen zu haben. Im Licht der Leuchtblumen ließ sich unscharf Juuro ausmachen, der einige Schritte in die Finsternis gegangen war und dem Klacken nach zu urteilen mit Feuersteinen hantierte. „Es gibt viele Methoden, sie unter Kontrolle zu halten.“, begann der Halbling seine Ausführungen, nachdem der Funke eine Fackel in Brand gesetzt hatte. „Indem man ihnen alles nimmt. Licht, Wind, Würde, Freiheit, alles.“ In dem flackernden und Unheil verkündenden Licht schälte sich eine massive Tür aus der Finsternis unweit von ihm. Daneben befanden sich an der Wand ein metallischer Ring und ein langer Haken. „Durch Folter und Schmerz. Oder durch Drogen. Nicht jeder spricht auf alles an. Aber am Ende sind sie alle gleich.“ Mit diesen Worten löste er den Riegel und öffnete die Tür. Auch Dhaôma hatte im ersten Moment das unheimlich starke Bedürfnis, sich zu übergeben. Die Luft war so eklig, dass er sich kaum vorstellen konnte, wie man hier unten überhaupt leben konnte, geschweige denn, ein Kind zur Welt bringen sollte! Auf Juuros Worte reagierte er mit der einzigen logischen Konsequenz: Er schickte einen starken Wind durch die Gänge und ließ mehr Blüten erblühen. Licht, Wind. Freiheit käme als nächstes, ihre Würde mussten sie selbst wieder finden, sobald sie die Kraft dazu hatten. Das bläuliche Licht beschien einen breiten Gang, der von glänzenden Metallstangen gesäumt wurde. Auf dem Boden schwammen Pfützen und schimmerten schwach, sein Wind kräuselte die Oberflächen, auch wenn er den Geruch nicht nennenswert verbesserte. Hinter ihm ging einer der Magier schwach in die Knie und Keithlyn schluchzte hemmungslos auf. Sie versteckte ihr Gesicht an Mimouns Flügelansatz, nachdem Juuro sie verlassen hatte. Ihr Körper zitterte vor Angst. Dhaôma schritt voran. Sein Blick durchdrang die Finsternis hinter den Gitterstäben und sah schemenhafte Gestalten, die sich teils geblendet die Augen abschirmten, teils teilnahmslos liegen blieben. Waren die schon tot oder standen sie nur kurz davor zu sterben? Kaltes Eis in seiner Brust und seinem Bauch ließen ihn rational bleiben. Er durfte sich nicht gehen lassen. Er musste stark sein. Er war endlich hier und diese Menschen brauchten dringend Hilfe! Erneut wirkte er die Magie, die Wohlbefinden förderte, in seine Umgebung, so gut und so viel er konnte. Starr vor Entsetzen stand Mimoun noch immer vor der offenen Tür. Er spürte Keithlyn und das Bedürfnis, sie beschützend in den Arm zu nehmen, und doch konnte er nur auf das Häufchen Elend starren, das sich ihm nun offenbart hatte. In der hintersten Ecke zusammengerollt, mit einem eisernen Halsband an einer Kette an die Wand gefesselt. Nackt, abgemagert und bewegungslos. Lederne Schwingen, bei denen nicht ein einziger Knochen nicht mehrfach gebrochen zu sein schien. Die Krallen herausgerissen. Der Körper übersät mit Striemen und nässenden Wunden. Mimoun spürte das von Dhaôma ausgesandte Wohlbefinden und doch fühlte er sich mit einem Male so schwach, dass er sich an der Tür festkrallen musste, um nicht zu stürzen. Wie hatte er hoffen können, dass Jayan noch lebte, hier war? Wie hatte er sich wünschen können, ihn hier zu finden? Unter diesen Bedingungen? Gab etwas Grausameres, das man jemanden wünschen konnte? Ein paar Meter weiter vorn blieb Dhaôma stehen. Ihm war keiner gefolgt. Seine Befreiungshelfer waren allesamt damit beschäftigt, sich selbst unter Kontrolle zu halten. Selbst Mimoun. Nur Juuro stand mit einer maskenhaften Fratze und erhobener Fackel zwischen ihm und den anderen. „Wo sind die Schlüssel?“, fragte er, nachdem er probehalber an einer der Gittertüren gezogen hatte. „Hängen an den Wänden daneben, gerade so außerhalb der Reichweite.“ Dhaôma ließ seinen Blick schweifen, fand ihn und entrigelte die Tür. Was sollte er tun? „Wie viele sind hier unten?“ Hatte Thenra nicht was von einhundert Hanebito und doppelt so vielen Jagmarr erzählt? Konnte das wirklich stimmen? Wie sollten sie eine so gigantische Anzahl auf einmal hier herausholen, wenn sie nicht in der Lage waren, selbst zu laufen? Wütend auf sich selbst biss er sich auf die Lippe. Sie waren ohne Vorbereitung oder Plan hier herunter gekommen. Wie dumm. Eine schwache Antwort aus der Zelle nebenan ließ ihn aufmerken. „Zu viele. Paqu ist vorhin gestorben.“ Juuro leuchtete in die Zelle hinein. Das Licht schien den Hanebito darin nicht zu beeinträchtigen. War er blind? Das Eis griff auf Dhaômas Organe über, trieb ihm die Tränen in die Augen und ließ seine Hände zittern, als er sah, wieso. Man hatte ihm beide Augen entfernt. So viele Verletzungen am Körper. Wie viele hatte er erst an der Seele? Der verzweifelte Wunsch zu helfen ließ seine Selbstkontrolle brechen. Alles, was er an Magie aufweisen konnte, ließ er in seine Heilkraft fließen, um diesen armen Menschen Linderung zu verschaffen. „Fremder, du bist warm.“, erklang wieder die Stimme des Hanebito und Dhaôma wischte sich über die Augen. Ihm wurde von Juuro die Hand auf die Schulter gelegt. Er wollte ihm sicher irgendwas mitteilen, aber in diesem Moment war es Dhaôma nicht möglich, ihn zu verstehen. Er bekam auch nicht mit, dass die Magier sich an den Kopf griffen und stöhnend oder wimmernd zu Boden gingen, dass Juuro sich auf ihn stützte, um stehen zu bleiben. Zuerst mussten die Schmerzen gehen, dann konnte man sich darum kümmern, sie allesamt hier herauszuholen. Nun verließ ihn seine Kraft, sich auch an der Tür festzuhalten. Keithlyn versuchte mit einem erschrockenen Aufschrei, ihn zu stützen und aufzufangen, konnte aber nicht verhindern, dass sie gemeinsam zu Boden gingen. Um sich herum, sah sie noch mehr am Boden knien oder liegen. Auch ein paar der Geflügelten waren betroffen. Fahrig griff sich Mimoun an den Kopf. Was war los? Machte ihm der penetrante Geruch zu schaffen? Oder das, was sich ihm hier bot? Nein. Das konnte es eigentlich nicht sein. Er hielt sich nicht für so schwach und weich, dass er deswegen zusammenbrechen musste. Und es wäre auch keine Erklärung für das fiese Ziehen, das sich hinter seiner Stirn breit machte. Tyiasur wand sich unter seinem Hemd. Mühsam schob das kleine Schuppentier seinen Kopf aus dem Ausschnitt und sah mit leidvollen Augen zu Dhaôma. Keithlyn sah es, folgte dem Blick und sah zu dem Magier hinüber. Juuro ging es ebenfalls nicht gut, wie seine verkrampfte Haltung verriet. Sie hatte es auch den Erzählungen gehört. Dass so etwas während ihrer Verwandlung vorgekommen war. „Dhaôma, was tust du?“, zerriss ihr panischer Schrei die nur von leisem Stöhnen durchbrochene Stille. „Helfen.“, war die unwirsche Antwort. Der junge Mann bekam die Situation um sich herum gar nicht mehr mit. Im nächsten Moment donnerte es und die Mauern des Schlosses erbebten. Kurz darauf ein zweites und dann ein drittes Mal. Dann gab die Decke nach und Steinblöcke vermischt mit Putz und Sand polterten herunter. Helles Tageslicht erhellte die Katakomben und Lulanivilay streckte seinen Kopf durch das Loch. „Freiheit. Lass das. Das tut niemandem gut.“ Von den Füßen geholt blinzelte der Braunhaarige zu seinem Freund auf. „Was soll das heißen?“ „Dass du die Seen aller um dich herum leerst, wenn du das machst. Sie vertragen das nicht.“ Das geschuppte Tier wand sich durch das Loch, erweiterte es hier und da mit seinen Klauen. „Warum seid ihr nicht mehr im Schloss?“ Die Anwesenheit und Erklärung seines Drachens halfen Dhaôma dabei, seine Selbstkontrolle wiederzuerlangen. Was sollte das heißen, er leerte die Seen anderer? Aber im Grunde konnte es doch nur heißen, dass daher sein schier unerschöpflicher Vorrat an Magie kam, nicht wahr? Seit wann war er dazu in der Lage? Endlich war der Drache durch und glitt geschmeidig neben seinen Reiter. „Hier riecht es.“, murrte er. „Sie sind alle krank.“, erklärte Dhaôma zerknirscht. „Ich wollte nur helfen.“ „Das wissen wir.“, mischte sich Mimoun matt ein. Die Kopfschmerzen waren weg, aber er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, so als wäre er den ganzen Tag durchgeflogen. „Niemand macht dir einen Vorwurf daraus. Schließlich sind wir zum Helfen hier.“ Schwerfällig wälzte sich der Geflügelte herum und stemmte sich mit Keithlyns Hilfe in die Höhe. Einige andere zogen es vor, noch ein wenig liegen zu bleiben. Wechselten sie am besten das Thema, bevor es wirklich unangenehm werden konnte. „Moment. Was soll das heißen, wir sind nicht mehr im Schloss? Wie riesig ist das Gebäude? Wieso kann ich dich wieder hören? Und wo ist die kleine Heilerin, auf die du aufpassen solltest?“ „Ula hatte eine Skizze angefertigt. Du müsstest die Ausmaße also kennen, wenn du dich informiert hast.“, fiel Tyiasur seinem Reiter in den Rücken und ließ dessen Frage damit eigentlich unbeantwortet. „Und man hat die Telepatin gefunden.“ „Okay.“, gab sich Mimoun geschlagen. „Und wer passt nun auf die Kleine auf?“ „Einer mit braunen Haaren.“ Lulanivilay stampfte auf Dhaôma zu und schob seine Nase unter dessen Hand. Lapidar ließ er folgen: „Du kannst sie heilen, wenn sie draußen sind. Da hast du Zugriff auf mehr Seen, so dass sie es nicht so schnell bemerken.“ Aber das war nicht das Problem, das Dhaôma beschäftigte. Wenn er wirklich seine Kraft von jenen nahm, die um ihn herum waren, war das schrecklich. Es würde erklären, warum er seit einiger Zeit nach Kontrollverlusten keine Müdigkeit mehr empfand. Es würde auch erklären, warum er sich so schnell regenerierte, warum er all diese mächtigen Angriffe geführt hatte, ohne danach ohnmächtig zu werden. Aber das war Raub. Und schädlich für die Menschen um ihn herum. Er hatte gedacht, dass Lulanivilay stärker geworden wäre, und sich deshalb nicht zurückgehalten, aber durfte er dann überhaupt noch in der Gegenwart der Zauberer seine Magie nutzen? „Draußen sind noch mehr Menschen. Sie wollen auch helfen, kamen aber zu spät. Sie können die Kranken tragen.“ Abwesend stimmte der braunhaarige junge Mann seinem Drachen zu, kratzte mit den Nägeln über dessen schuppige Nase. Mit seinen Gedanken war er ganz weit weg. „Das kann uns ja nun zum Vorteil werden.“, murmelte Mimoun und sah zu dem Loch hinauf. „Tyiasur. Sag den Helfern da oben, sie sollen hierher kommen. Sie sollen dort die Kranken in Empfang nehmen und ein wenig abseits versorgen. Die Geflügelten bringen die Befreiten durch das Loch nach oben. Mach es bitte noch ein wenig weiter, Vilay. Die Magier teilen sich in zwei Gruppen. Pro Gruppe schließt sich ein Geflügelter an. Jede Gruppe nimmt sich eine Seite vor. Je nach Gefangenem wird ein Magier oder ein Geflügelter den Erstkontakt aufnehmen und beruhigen. Ein oder zwei Magier bringen ihn dann hierher und den Rest hab ich schon erklärt.“ Tyiasur zeigte mit einem Kopfnicken an, dass er verstanden und den Auftrag bereits ausgeführt hatte. Suchend glitt Mimouns Blick über die Versammelten. Nun mit einem sinnvollen Plan versehen, wirkten sie wieder entschlossener, aber genauso wirkten sie erschöpft und unsicher, wenn ihr Blick in Dhaômas Richtung glitt. Mimoun wiederholte seine Anweisungen nicht. Die Menschen um ihn herum mussten sich erst einmal wieder sammeln und sich dann eigenständig sortieren. Das würde noch einen Moment dauern. Stattdessen ergriff er Keithlyns Hand und ging mit ihr zu Dhaôma. Sanft strich er seinem Magier über die Wange und überzeugte sich mit einem schnellen Blick von Juuros Wohlbefinden. Das Mädchen hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt und redete leise und mit besorgtem Blick auf ihn ein. „Dhaôma? Kannst du den Helfern ein wenig ihrer Kraft zurückgeben und dafür nur deine oder Vilays Kraftreserven verwenden oder kannst du das nicht mehr auseinander halten?“ Die tröstenden Worte kamen ihm ein wenig ungelegen, während er versuchte, seine Gedanken zu sortieren, aber sie hatten unbestreitbar Recht. Es musste etwas getan werden. Er konnte dieses Problem später noch lösen. „Ich kann niemandem Magie zur Verfügung stellen. Ich wüsste nicht, wie das geht. Ich kann ihre Erschöpfung mindern, aber was, wenn ich dabei wieder ihren Vorrat aufbrauche? Mimoun, ich habe bisher nicht einmal bemerkt, dass ich nicht meine Kraft verbrauche.“ Er seufzte, erhob sich und bedankte sich leise bei seinen beiden Freunden. „Es tut mir Leid.“ „Schon gut. Wir schaffen es auch so, hörst du? Jetzt brauchen wir vor allem positives Denken.“ Um das bei Dhaôma in Gang zu setzen, versuchte er es mit einem leichten Kuss und einem zuversichtlichen Lächeln. „Na komm.“ Mimoun ergriff die Hand seines Magiers und zog ihn zu der Tür des Erblindeten. „Fangen wir an. Keithlyn. Bleib bitte bei Juuro. Ich weiß nicht, ob und wie sie reagieren werden, wenn sie ihn sehen.“ Er nahm den Schlüssel in die Hand und hielt ihn nach einem abschätzigen Wiegen Dhaôma entgegen. „Zweifel nicht an dir. Dir verdanken sie ihre Freiheit. Dir verdanken wir Frieden.“ Es provozierte ein leises Lachen bei dem Braunhaarigen. Mimoun war wirklich gut darin, ihn aufzumuntern. Jedes Mal gelang ihm das. „Uns.“, korrigierte er liebevoll. „Machen wir uns an die Arbeit.“ Mit dem Schlüssel ging er an den Käfigen vorbei und öffnete jeden einzelnen. Es würde schneller gehen, wenn man nicht erst darauf warten musste, dass die einzelnen Türen geöffnet wurden. Dann half er zwei Magiern, die einen bewusstlosen, verkrüppelten Geflügelten hinaustrugen, diesen auf Lulanivilays Rücken zu verfrachten, damit dieser ihn hinaufbringen konnte, bevor er sich Juuro zur Seite nahm, dessen Anwesenheit tatsächlich einen schlechten Einfluss auf die wachen Kandidaten in den Zellen hatte. „Was ist hinter der Tür da vorne? Sie geht nicht auf.“, zeigte er auf das Ende des Ganges. Die Tür war bunt bemalt und ziemlich groß. Sie wirkte, als wäre sie absichtlich auffällig gestaltet. „Das ist das Paradies.“, stand Juuro Antwort und kratzte sich hinter dem linken Ohr, als wäre es ihm Unangenehm, darüber zu reden. „Wenn du dich hier gut führst, dann darfst du dort hinüber. Es geht dir vergleichsweise gut. Du musst nicht hungern oder dursten, dir wird nicht mehr wehgetan. Dafür ist es ab dort deine Pflicht, für Nachkommen zu sorgen. Kannst du es nicht, sprich, bist du impotent oder es gibt nur Fehlgeburten oder schlimmer verkrüppelte Babys als normal, wirst du ausgemustert, dann bringen sie dich weg. Entweder zurück oder weiter, wo sie dich töten. Wenn du dich schlecht benimmst, kommst du ebenfalls wieder auf die Straße der Fügung.“ Sein Gesicht zeigte Wut und Hass und Schmerz. „Damit die Schwangeren die Babys nicht gleich abtreiben. Damit die Männer auch mit den Frauen schlafen. Alles, damit es ihnen nie wieder so schlecht geht wie bei ihrer Ankunft hier.“ Beklommen nickte Dhaôma, bevor er sich wortlos abwandte. Ihm war schlecht und seine Hände zitterten. Gerade jetzt brauchte er alle Selbstbeherrschung, um nicht zu weinen und die Kontrolle über seine Magie zu verlieren. Die hier inhaftierten Menschen taten ihm schrecklich Leid, während ihre Peiniger einen bitteren Hass in ihm auslösten, der den Wunsch nach einer friedlichen Lösung zu ersticken drohte. Jemand rief nach ihm. Einer der Hanebito lag im Sterben und er sollte helfen. Vielleicht war es das, was ihn daran hinderte, wahnsinnig zu werden, denn hier konnte er sich auf etwas konzentrieren, das er kannte, das er konnte, bei dem er seine kleine, heile Welt wieder ein bisschen aufbauen konnte. Mit dem Verletzten ließ er sich aus dem Verlies heben, bevor er begann, ihn zu heilen. Hier oben waren so viele Menschen, dass es ihnen kaum auffallen würde, wenn er ein wenig von ihrer Kraft nahm. Dennoch hielt er sich mit der Heilung so stark zurück, dass er kaum etwas bewirkte. Wenn er ihn wirklich retten wollte, müsste er diese Hemmungen beiseite schieben. Aber durfte er das denn? In seinem Kopf legte sich ein Schalter um. Hier ging es um Leben und Tod. Was machte es da schon, wenn einige Magier ein bisschen müde wurden? Vorsichtig gab er der Magie mehr Spielraum, behielt dabei die Menschen um sich herum im Auge, um rechtzeitig abbrechen zu können. Es fühlte sich genauso normal an, wie zuvor auch. Nach einem kurzen Blick zu dem Loch, durch das Dhaôma gerade verschwunden war, wandte er sich wieder der Zellenreihe vor sich zu. Mit jeder Zelle, die geöffnet wurde, mit jeder gebrochenen Gestalt, die befreit wurde, kochte die Wut in Mimoun höher. Es war bestialisch, was man den Menschen hier angetan hatte. Immer neue Verletzungsarten kamen ans Tageslicht. Es fiel dem Geflügelten immer schwerer, sein zuversichtliches Lächeln aufrecht zu erhalten und beruhigende Worte zu sprechen. Er fühlte den Schmerz hier unten fast wie seinen eigenen. Um kurz durchatmen zu können, übernahm er einen der Transporte nach oben. Der Blick des Befreiten glitt über den von funkelnden Sternen übersäten nachtschwarzen Himmel, der am Horizont die ersten Anzeichen der Morgendämmerung erahnen ließen. Ein winziges Lächeln schlich sich auf die eingefallenen Züge und schwach schob sich eine Hand dem Firmament entgegen. „Ja.“, flüsterte Mimoun. „Wir bringen dich nach Hause.“ Vorsichtig ließ er den völlig entkräfteten Mann in hilfsbereit ausgestreckte Hände gleiten. Der junge Drachenreiter wandte sich ab, um den anderen zu helfen, als ihn die Hand auf seinem Arm zurückhielt. Der Blick, dem er begegnete als er aufsah, war voller tiefer Dankbarkeit. Als den anderen die Kräfte verließen und die Hand abglitt, griff Mimoun zu und drückte sie. Es mussten keine Worte gesprochen werden. Mit einem Lächeln verabschiedete sich Mimoun und überzeugte sich mit einem kurzen Blick, dass der Weg nach unten frei war. Dann sprang er hinunter, nur um sofort mit dem Würgereiz konfrontiert zu werden. Das gab es doch nicht. Da war nun ein riesiges Loch in der Decke zur Belüftung, aber das Gemäuer schien diese Ausdünstungen schneller abzugeben, als dass sie nach oben entweichen konnten. Seine Achtung vor jedem, der dies hier überlebte, wuchs im gleichen Maße wie sein Hass auf den Zirkel. Laute Stimmen ließen ihn aufblicken. Die beiden wartenden Magier vor einer Tür wichen einige Schritte zurück und ihre abwehrende Haltung ließ nichts Gutes erahnen. „Mich bekommt ihr nicht! Mich nicht!“ Die Stimme, die aus der Tür drang, klang schrill und hysterisch. Mimoun stürmte los und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Geflügelte, der zur Beruhigung vorgeschickt worden war, unter den wütenden Attacken einer dürren Gestalt zu Boden ging. Die Beteuerungen, nur helfen zu wollen, stießen offenkundig auf taube Ohren. Ebenso schienen die Verteidigungsversuche keinen Erfolg gegenüber dem Rasenden zu haben. Die Magier rührten sich nicht. Sie wirkten unschlüssig, ob sie ihre Magie einsetzen durften oder nicht. Also sprang Mimoun hinzu und ergriff den Ausgemergelten von hinten, zog ihn von seinem Opfer runter. Kurz sah der Drachenreiter den Wahnsinn in den Augen seines Gegners flackern, als sich der Gefangene wie ein Aal wand und seine Zähne tief in Mimouns Schulter grub. Mit einem halblauten Schmerzensschrei lockerte sich dessen Griff und sein Kontrahent ging nun mit allen Vieren auf ihn los, die Zähne noch immer in der Schulter vergraben. Zu Mimouns Glück waren auch ihm die Krallen gezogen worden. Plötzlich erstarrte er zur Bewegungslosigkeit. Tyiasur schob seinen Kopf aus dem Hemdausschnitt und fixierte den Tobsüchtigen, der ihn genauso unverwandt anstarrte. Langsam lösten sich endlich die Zähne, zog sich die Gestalt ein wenig zurück und sank zusammen. Hemmungslos wurde er von Schluchzern geschüttelt. „Was…“, fragte Mimoun verständnislos und sah auf das Häufchen Elend. Tyiasur zog sich wieder unter das Hemd zurück, aber Mimoun konnte spüren, wie heftig das kleine Schuppentier atmete. Was auch immer er gerade getan hatte, es hatte ihn stark angestrengt und mitgenommen. „Bring ihn raus.“, kam es leise und kraftlos von dem Drachen. Vorsichtig näherte sich der Drachenreiter dem Gefangenen und ließ sich in die Hocke sinken. Als der sich nicht rührte, schob Mimoun vorsichtig seine Hände unter den Körper und wunderte sich, wie viel Kraft doch in diesem ausgemergelten leichten Körper war. Es war wohl die Verzweiflung gewesen, die ihm diese Kraft gegeben hatte, doch nun wehrte er sich nicht mehr. Auch nicht als Mimoun sich erhob und ihn hinaustrug. Vorher drehte er sich zu dem noch immer am Boden hockenden Helfer um. „Bist du verletzt?“, wollte er von ihm wissen und bekam ein „Nur mein Stolz.“ als Antwort. Mimoun grinste, als der Geflügelte seine Hände schüttelte und etwas abflog, was sich nicht genau definieren ließ und was man auch nicht so genau definieren wollte. Draußen reagierte das Bündel in seinen Armen wie der Erste, den er nach draußen gebracht hatte. Sein Blick glitt zu den Sternen und die Tränen kullerten unaufhörlich. Ein Blick, der noch nicht völlig vom Wahnsinn befreit, der aber vorerst in den Hintergrund gedrängt worden war. Mimoun setzte ihn inmitten der anderen Befreiten ab, rief die Helfer zu äußerster Vorsicht auf und ging zu Dhaôma hinüber. Umständlich zog er den Wasserdrachen unter seinem Hemd hervor und überzeugte sich von seinem Zustand. Er schien einfach nur völlig erschöpft zu sein und war kurz vorm Einschlafen. „Ruh dich aus.“, wies er seinen kleinen Freund an. Sie waren schon viel zu lange wach. Nicht nur die Drachen, sie alle hier. Aber es würde noch dauern, bis sie sich Ruhe gönnen konnten. „Wie geht es dir?“, wollte er von Dhaôma wissen, nachdem das Schuppentier wieder sicher verstaut war. „Ich bin unverletzt.“, war die umständliche Antwort, die seinen seelischen Zustand außen vor ließ. „Und egal wie schlimm es ist, magischen Raub zu praktizieren, ich werde damit weiter machen, bis ich hier nicht mehr gebraucht werde.“ Seine Augen glommen dunkel, bevor er Mimouns blutende Wunde schloss. „Hol dir hier nichts. Ich möchte gar nicht wissen, welche Krankheiten ein solcher Lebensstil mit sich bringt.“ Um ihn herum sirrte das Leben. Im Schein von Leuchtblumen und Fackeln arbeiteten inzwischen zweihundert Magier, um Verletzungen zu kurieren, Essen und Wasser zu verteilen und Angst zu beruhigen. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Dienstmädchen aus dem Schloss gekommen und halfen nun auch. Einige waren direkt von Verwandten in die Arme geschlossen worden. Lange getrennte Familien fanden einander und sorgten für kurze Eruptionen purer Freude in all dem Leid. Kurz bevor Mimoun wieder fliegen wollte, zog Lulanivilay ihre Aufmerksamkeit auf sich, als er einmal kräftig mit den Flügeln schlug. „Pfeil ist gefunden.“, teilte er ihnen mit. „Er kann die Jagmarr nicht leiden. Passt gut auf.“ Bis das Verstehen des unvertrauten Namens in Dhaômas Bewusstsein sickerte, verging ein Moment, aber dann krallte sich seine Hand vor überschäumender Freude in Mimouns Arm. Sein Herz hüpfte ihm bis in den Hals und stahl ihm jegliche Worte. Angst stritt mit der beinahe schon erstickten Hoffnung. Sollte Jayan wirklich noch am Leben sein? Vielleicht sollte er langsam mal anfangen, die alte Sprache zu lernen. Dann würde er geistig nicht immer abgehängt werden, wenn Lulanivilay sprach. Verständnislos irrte Mimouns Blick zwischen dem großen Drachen, seinem Magier und dessen erstaunlich festen Griff hin und her. Wer war Pfeil? Es musste ein Freund sein, sonst würde Dhaôma nicht so emotional reagieren. Und wenn er Magier nicht leiden konnte, blieb nur ein Geflügelter. Aber so viele blieben doch nicht zur Auswahl. Es musste jemand sein, der als verschollen galt. Einer von der Trainingsinsel? Sein Magier hängte sein Herz sehr schnell an liebe Personen, auch wenn er sie noch nicht so lange kannte. Oder etwa…? „Jayan?“, hauchte er leise und sah Dhaôma voller vorsichtiger Hoffnung an. „Sagte ich doch: Pfeil.“, murrte Lulanivilay, während Dhaôma nur nicken konnte. Im nächsten Moment wurde es unruhig, als zwei Geflügelte mit vereinten Kräften einen sich wehrenden Mann heraus trugen. Beinahe machte der Mann einen Abgang, als er sich aus den Armen des einen herauswand. „Geh hin. Du bist sein Schwager. Familie. Dir wird er am ehesten vertrauen, nicht wahr?“ Leicht klopfte er seinem Schatz auf den Hintern. „Und wenn du genügend Überzeugungs-arbeit geleistet hast, kannst du mich rufen, ja?“ Diesen Schubs hatte Mimoun gebraucht. Seine Beine weigerten sich im ersten Moment ihm zu gehorchen. Da war einerseits eine ungeahnte Hochstimmung in ihm. Jayan lebte. Silia würde ihren Gefährten wieder in die Arme schließen können. Andererseits lähmte ihn das abgrundtiefe Entsetzen, wenn er an die Verletzungen und die seelischen Qualen dachte, die jeder der Eingeschlossenen davongetragen hatte. „Asam dürfte sich freuen, kommen sie doch beide aus demselben Dorf.“, murmelte er und setzte sich zögerlich in Bewegung, so als könne er es immer noch nicht glauben. Mitleidig ließ er seinen Blick über den geschundenen Körper gleiten. Jeder noch so winzige Kratzer erzählte eine eigene Geschichte aus Blut und Schmerz. „Jayan.“, sagte der Drachenreiter sanft. Der Kopf des Angesprochenen ruckte herum und musterte den Sprecher mit gehetztem Blick. Nur langsam drang das Erkennen durch und im gleichen Maße erlahmten die verzweifelten Verteidigungsversuche. „Ich übernehme ab hier.“, bot Mimoun den beiden Helfern an und berührte zaghaft Jayans Arm, der im ersten Moment zurückzuckte. Geduldig wartete der Drachenreiter, bis sich sein Schwager dazu durchringen konnte, die Berührung von sich aus zuzulassen. Schwer stützte sich Jayan auf Mimouns Schulter. Er musste mit seinen Kräften wirklich am Ende sein und das gab dem Drachenreiter einen grausamen Stich. Wenn sie nicht so lange gebraucht hätten, wäre ihm und anderen dieses Schicksal erspart geblieben. „Du hast lange gebraucht.“ Die Stimme war rau und leise, kaum mehr als ein Flüstern. „Es tut mir Leid.“ Ein Seufzen war die Antwort. „Ich bringe dich zu Dhaôma, damit er sich um deine Wunden kümmert. Und dann bringen wir dich zu Silia. Du kannst wieder nach Hause. Nun wird alles wieder besser.“, fuhr Mimoun beruhigend fort. Jayan schloss die Augen und ließ sich widerstandslos fortführen. Dhaôma hatte seinen Patienten weiterbehandelt, bis dieser sich genügend bewegen konnte, um zu essen. Um sich abzulenken und kurz zu verschnaufen, beobachtete er ihn, wie er sich heißhungrig auf Brot und Käse stürzte. Wenn er es recht bedachte, war er nervös. Jayan war ein freundlicher junger Mann gewesen, der ihm häufig für die Sache mit Seren gedankt hatte, aber er hatte mit Silia zusammen gewohnt. Ob er sich deren Hass auf Magier angeeignet hatte? Ob er wusste, dass er einen Sohn hatte? Als er schlurfende Schritte hinter sich hörte, sah er zurück, erhob sich, denn sein Freund kam mit dem Verletzten näher. Jayan sah richtig fertig aus. Die hellbraunen Haare waren strähnig und fehlten hier und da, überall Schrammen und Blutergüsse, die einst so strahlend grünen Augen sahen müde und gebrochen aus. Am schlimmsten hatten sie allerdings seine Flügel zugerichtet. Er hatte so viele Hanebito gesehen und immer hatten sie die Flügel bis aufs Letzte zerstört, als wären sie neidisch auf ihre Fähigkeit zu fliegen, frei zu sein. Als wüssten sie, dass es einem Hanebito alles bedeutete, auf dem Wind zu reiten. Das letzte Stück kam er ihnen entgegen. „Es freut mich, dass du am Leben bist, Jayan.“, begrüßte er ihn freundlich. „Setz dich hin, dann helfe ich dir.“ Durch den engen Körperkontakt spürte Mimoun das Zusammenzucken und den Ansatz zum Widerstand. Dann erst schien sich Jayan wieder bewusst zu werden, wer Dhaôma und zu was er in der Lage war. Vorsichtig ließ der Drachenreiter den Verletzten ins Gras gleiten und half ihm, sich bequem hinzulegen. Mit einem Wink bat er eine umhereilende Magierin um etwas Wasser, das ihm beinahe sofort gebracht wurde. Wieder nahm Jayans Blick diesen gehetzten Ausdruck an, als sie sich näherte, und der erst verschwand, als sie sich wieder entfernte. „Wie kann man das hier Leben nennen?“, murmelte der Verletzte kraftlos, bevor er zuließ, dass Mimoun ihn stützte und beim Trinken half. „Indem man sich vorstellt, dass du tatsächlich gestorben wärst.“, antwortete Dhaôma ruhig. „Eine Situation, in der man seine Existenz noch hat, gibt, egal wie schlimm und erniedrigend sie ist, die Möglichkeit, etwas zu hoffen, zu verbessern und zu erreichen. Wärst du tatsächlich gestorben, würdest du Silia und Naruby niemals wieder sehen und das Kind müsste ohne dich aufwachsen. Ich beginne.“ Die Angst vor Berührungen in Betracht ziehend, ließ sich Dhaôma Zeit damit, seine Hand auf Jayans Brust zu legen, damit dieser sich an den Gedanken gewöhnen konnte. Innerlich waren die Schäden nicht ganz so gravierend wie bei seinem vorherigen Patienten. Die Organe waren größtenteils noch in Ordnung und auch die Knochenbrüche waren minimal. Es dauerte länger, weil er davon absah, ihn an jeder zerstörten Stelle zu berühren, aber nach und nach heilte er alle Schmerz verursachenden Verletzungen. Alle anderen würden warten müssen, bis mehr Zeit und mehr Magie zur Verfügung stand. „Naruby.“ Ein einziges Wort nur. Ein Name. Und doch anscheinend das mit der größten Wirkung. „Ja. Du hast einen Sohn.“, bestätigte Mimoun mit einem Lächeln und sah sich nun mit den grünen Augen konfrontiert. Sein Lächeln wurde breiter, als er begann von Silia und ihrem Nachwuchs zu berichten, dass der Knirps ihn nicht leiden konnte, dass sie bei Jadya eingezogen waren, um nicht allein zu sein. Während Dhaôma seinen Heilungsprozess fortsetzte, weitete Mimoun seine Berichte auf das ganze Dorf aus, auf alles, was in der Zeit seit seiner eigenen Rückkehr vorgefallen war. Nur den großen Streit ließ er weg. Und da Tyiasur schlief, beschrieb er alles so bildhaft wie möglich, damit Jayan es sich auch vorstellen konnte. „Ich will nach Hause.“ Jayans Stimme klang nun nicht nur aufgrund der überstandenen Strapazen so brüchig, sondern auch als Zeuge der Tränen, die unaufhaltsam flossen. Langsam schob sich eine zittrige Hand nach oben und legte sich auf Dhaômas, drückte kurz zu. „Wir bringen dich heim, sobald es möglich ist.“, versprach der Braunhaarige und lächelte. Man konnte direkt sehen, wie der Wille zu leben zurückgekehrt war. Da hatte die kleine Giftspritze endlich mal was Gutes bewirkt. „Bis dahin musst du dich bemühen, gesund zu werden, damit du auch etwas davon hast, zuhause zu sein.“ Er hatte seine Magie auch hier in die Flügel fließen lassen, um zu sehen, wie weit sie zu retten waren. Fazit war, dass es eine ungeheure Kraft benötigen würde, aber er konnte ihn wieder fliegen lassen, wenn er genügend Zeit dazu hatte. „Drachenreiter!“, rief jemand aus der Menge. „Wo sind die Drachenreiter?“ Die Stimme klang gehetzt und außer Atem. Im nächsten Moment stolperte ihnen ein Magiermädchen entgegen. Er hatte sie schon gesehen. Sie war eine der Anführerinnen gewesen, die sich bemüht hatte, eine Methode für das gewaltlose Ausschalten der Halblinge zu finden. Jetzt sah sie schrecklich durcheinander und schmutzig aus. „Es ist was gehörig schief gelaufen! Ein paar der Magier sind durchgedreht. Sie töten jeden, der im Schloss lebt! Bitte, ihr müsst sie aufhalten! Genahn ist machtlos! Sein Wind kommt nicht gegen sie an!“ ----------------------- ^^° schwere Atmosphäre.... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)