Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 17: Trautes Heim ------------------------ Kapitel 17 Trautes Heim Als sie knapp drei Stunden später ihre Heimatinsel erreicht hatten, fühlte sich Mimoun wieder erschöpft und ausgelaugt und es war stockdunkel. Dennoch war fast das ganze Dorf zusammengekommen, um den lange abwesend gewesenen Wanderer zu begrüßen und ebenfalls neugierige Blicke auf den Magier zu erhaschen. „Hey. Aufwachen.“, sagte der junge Geflügelte und versuchte, seine Finger durch die Decke zu pieken. „Du bist schwer.“ Schlaftrunken öffnete Dhaôma die Augen und ließ sich dann absetzen. Eigentlich hatte er an diesem Tag ziemlich viel geschlafen, aber dennoch fühlte er sich noch immer müde. Das änderte sich schlagartig, als er erkannte, wo er war und dass schon wieder so viele Hanebito um sie herum versammelt waren. Hörte das mit denen denn nie auf? Stumm straffte er sich und sah sich um. Das vereinzelt wachsende, karge Leuchtmoos spendete ein wenig Licht, gerade genug, um etwas zu erkennen. Viele neugierige, verschattete Gesichter, viele davon freundlich und erfreut. Das galt sicherlich Mimoun. Sie befanden sich auf einer der kleineren Inseln, die sich aber gut zum Bewohnen eignete. Auf der Insel verteilt standen zwölf aus Steinquadern erbaute Hütten unterschiedlichster Größe und Höhe, die von etwa fünfzig Geflügelten bewohnt wurden, welche alle versammelt um sie standen. Die Lederplanen, die im Winter den zentralen Platz vor dem Wind geschützt hatten, waren mittlerweile wieder verschwunden und irgendwo sicher verstaut. An dem von ihnen am weitesten entfernten Punkt dieser Insel standen einige krüppelige Obstbäume, schon vor Jahren vertrocknet. Was von oberhalb der Insel nicht zu erkennen war, war der seitlich an der Insel befindliche Eingang zu dem unterirdischen Labyrinth, das sowohl die kleine Bibliothek dieser Insel als auch die Vorratskammern für den Winter beherbergte. Ein älterer Geflügelter trat einen Schritt aus der Menge auf Dhaôma zu. „Willkommen in unserem Dorf, Magier.“, begrüßte er ihn förmlich. Dies erwiderte Angesprochener nur mit einem höflichen Lächeln. „Oldon ist unser Dorfvorsteher. Den Rest stell ich dir morgen vor.“, erklärte Mimoun kurz seinem Freund, bevor er sich wieder an die Versammelten wandte. „Entschuldigt bitte. Ihr könnt Dhaôma morgen kennen lernen. Wir würden uns gerne ein wenig erholen.“ Bereitwillig wurde ihnen der Weg zu Mimouns Heim frei gemacht. Doch zerstreuen wollten sie sich nicht und blickten den beiden tuschelnd nach, als sie in einer der kleineren Hütten verschwanden. Als die zwei Freunde eintraten, waren die Frauen gerade am umräumen. Wortlos hatten sie akzeptiert, dass der Magier ab nun bei ihnen wohnen würde. Darum verlegten sie Silias Schlafplatz in den Raum der Mutter, damit die beiden Jungen einen separaten Rückzugsraum hatten, und richteten dort ein zweites Lager ein. In diesen geleitete Mimoun seinen Freund, bevor er sich den Frauen zuwandte. Von ihnen ließ er sich aus der Rüstung helfen. Er fühlte sich zu zerschlagen, um dies allein zu bewerkstelligen. „Ihr seid die Besten.“, dankte er ihnen und drückte sie fest an sich. Er fühlte sich wohl, wieder zu Hause zu sein, doch tief in ihm brannte das Mitgefühl für Dhaôma und dessen Situation. „Ruht euch aus.“, verlangte seine Mutter. Mimoun nahm sich ein wenig Essen aus dem hauseigenen winzigen Vorratsraum und verschwand nach einem erneuten, dankbaren Nicken in dem kleinen Raum, den er von nun an mit Dhaôma zusammen bewohnen würde. Er reichte seinem Freund kleine getrocknete Früchte, ein wenig Fleisch und den Wasserkrug. Wortlos und dankbar nahm dieser alles entgegen. Als erstes stillte er seinen Durst. Einen ganzen Tag ohne einen Tropfen Wasser hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Danach aß er, was sein Magen fassen konnte. Noch immer wortlos rollte er sich schließlich unter seiner Decke ein und schloss die Augen. Eigentlich hatte er gedacht, niemals schlafen zu können, doch als ihn ein Gedanke streifte, musste er lächeln. „Jetzt konnte ich dich doch noch besuchen kommen.“, murmelte er, bevor er einschlief. „So kann man das natürlich auch sehen.“, lachte der junge Geflügelte leise. Auch er hatte sein Mahl beendet und rollte sich auf seinem Lager zusammen. Doch obwohl er gern geschlafen hätte, blieb er noch eine ganze Zeit wach und betrachtete den Magier im Halbdunkel des Raumes. Dass dieser nun hier war, war allein Mimouns Schuld. Nur aufgrund des Briefes war es ihnen möglich gewesen, sie aufzutreiben. Nur weil er das Bedürfnis gehabt hatte, seiner Familie Gewissheit über sein Schicksal zu verschaffen, hatte er Dhaôma ans Messer geliefert. Niemand konnte nun sagen, was geschehen würde. Niemand konnte sagen, ob die Geflügelten ihn je freiwillig ziehen lassen würden. „Vergib mir.“ Leise verklangen die geflüsterten Worte in dem stillen Raum. Dann wurde auch Mimoun vom Schlaf übermannt. Dhaôma war am nächsten Morgen schon früh wach. Er musste auf das Stille Örtchen, doch er hatte gar keine Ahnung, wo das war. Noch bevor er die Augen ganz geöffnet hatte, wusste er, wo er war. Unter Hanebito. Und wer wusste schon, wie die reagierten, wenn er alleine umherstromerte. Vorsichtig und leise setzte er sich auf und lauschte in die Dunkelheit hinein. Es war alles ruhig. Keiner regte sich. Offenbar war er der erste, der wach war. Wenn er Glück hatte, würde er niemandem begegnen und wieder zurück sein, bevor jemand wach wurde. Lautlos erhob er sich und schlich aus dem Haus. Was er sah, als er hinauskam, ließ ihn sein Vorhaben vergessen. Niemals hatte er einen solchen Sonnenaufgang gesehen. Die Farben waren reiner und klarer als selbst auf dem Gipfel des Wolfsberges! Sie strahlten in einer unbeschreiblichen Harmonie und ließen sein Herz hüpfen vor Freude. Erst als ein Frösteln seinen Rücken und die Haut an seinen Armen hinab rann, erinnerte er sich wieder, dass er sich eigentlich nur kurz erleichtern wollte. Reichlich verloren sah er sich um. Und rannte schließlich über den ganzen Platz zu den Obstbäumen hin. Dort, verdeckt von den knorrigen Stämmen, erledigte er sein Geschäft, bevor er sie ansah. So trockene Bäume waren wirklich selten. Es war zu schade um sie. Sachte strich er über die bröckelige Rinde. „Du würdest Kirschen tragen, nicht wahr?“, fragte er leise. „Ist es hier oben schon warm genug, damit deine Blüten es überleben?“, sprach er weiter und lächelte. „Ich werde Mimoun fragen und dich dann wecken, ja? Er freut sich vielleicht, wenn du wieder blühst.“ Genauso schnell huschte er zurück zu der kleinen Hütte und hinein. Kurz lauschte er, doch es war noch immer alles still. Und so kroch er wieder unter seine Decke und wartete darauf, dass die Bewohner erwachen würden, damit er fragen konnte, was er durfte und was nicht. Heimlichkeiten waren nicht unbedingt sein Ding. Schon kurz nach Sonnenaufgang erwachten die beiden Frauen des Haushalts und verließen die Hütte. Als sie einige Zeit später zurückkamen, bereitete Silia das Frühstück vor, während die Mutter einen vorsichtigen Blick in den Raum mit den beiden Jungen warf. Der Magier war bereits wach und starrte an die Decke, stellte sie erstaunt fest. Dabei hatte sie damit gerechnet, dass sie aufgrund der gestrigen Ereignisse noch länger schlafen würden. „Guten Morgen.“, begrüßte sie ihn höflich. „Möchtest du etwas essen?“ Ihr Blick wanderte über ihren Sohn, der noch friedlich zu schlummern schien, und er wurde sanft und liebevoll. Dhaôma hatte fast schon erwartet, dass sie kommen würde. Vor Neugier oder Sorge oder sonst etwas. Aber dass sie ihn ansprach, erschreckte ihn. Vorsichtig setzte er sich auf und blickte sie misstrauisch mit seinen braunen Augen an. Sie sah nicht böse oder genervt aus. Ob er es wagen konnte, das Angebot anzunehmen? „Wenn es Euch keine Umstände macht…“, wagte er es schließlich und sah sich dann nervös um. Er sollte aufstehen, um Mimoun nicht zu wecken, aber ob er das durfte? „Du bist unser Gast. Es macht uns keine Umstände.“, erklärte sie leise. Ihr war der Blick des Magiers nicht entgangen. Auch seine Nervosität war offensichtlich. Dieser Magier würde sich hier so schnell nicht wohl fühlen können. Langsam ging sie um Dhaôma herum und kniete sich neben ihren Sohn. Sanft strich sie ihm über die Stirn. „Steh auf, großer Beschützer. An die Arbeit.“, verlangte sie mit leisem Lachen. Missmutig brummend reagierte dieser auf die Störung. Die Augen weiterhin geschlossen haltend wischte er die Finger beiseite. Doch erneut wurde er angestupst. „Ja.“, murrte er verschlafen und stemmte sich in die Höhe. Müde rieb er sich die Augen und gähnte herzhaft. „Es gibt gleich Frühstück, macht euch fertig.“, wies die Frau an und erhob sich, verließ den Raum wieder. Mimoun nickte verstehend und kaum war seine Mutter wieder weg, ließ er sich wieder nach vorne kippen. Er hatte sich gestern einfach zu sehr verausgabt. Er wollte eigentlich nur schlafen. Kichernd sah Dhaôma ihm dabei zu. Die Frau war aber auch gemein, ihn einfach zu wecken. Das hatte Mimoun nicht verdient. Aber er konnte kaum etwas dagegen sagen, wenn die Mutter es anordnete, nicht wahr? Schnell kroch er neben ihn und beugte sich zu ihm hinunter. „Was meint sie mit ‚macht euch fertig’?“, flüsterte er leise. „Blase entleeren, waschen, notfalls umziehen.“, wurden die Anweisungen in die weiche Unterlage genuschelt. „Vor allem aber wach sein.“ Noch immer rührte sich der Geflügelte nicht. Dass ihn nun der Nächste unverschämt von der Seite anquatschte, erschwerte sein erneutes Einschlafen gewaltig. Er ließ seinen Kopf zur Seite kippen und blinzelte müde zu seinem Freund hinauf. Dieser schien ja schon wieder sehr munter zu sein. Na wenigstens einer von ihnen hatte dieses Glück. Erneut stemmte er sich in die Höhe und strebte nach draußen, achtete nur am Rande darauf, ob der Magier ihm folgte. Er führte ihn außerhalb des Dorfes an einen Platz, einer kleinen Senke, wo man sich ungestört erleichtern konnte. Träge schlurfte er als nächstes zum Rand der Insel und deutete auf eine dicht unter ihnen Schwebende. „Neben den Höhlen befinden sich zwei Seen. Dort kann man bei Bedarf baden. Da sie keinen Fischbestand beherbergen, sind sie für nichts anderes geeignet. Verzeih. Ich bring dich später hin und dann überlegen wir uns einen Weg, wie du ohne Hilfe dorthin gelangen kannst.“ Mimoun gähnte herzhaft, bevor er sich schlurfend wieder auf den Rückweg machte. Seine Kleider sahen gut aus, befand er, ohne sie sich angesehen zu haben, und setzte sich in den mit Pelzen ausgelegten Vorraum. Noch einmal gähnte er. Dhaôma war ihm gefolgt, wie ein Kalb seiner Mutter in neues Gebiet folgt. Eingeschüchtert, dicht an ihn gedrängt, sich umsehend. Mimoun schien es nicht zu stören, wenn ihn die anderen ansahen. Vielleicht war er auch noch nicht wach genug. Zurück in dem kleinen Haus fühlte er sich fast schon wieder besser, bis er sah, dass das Mädchen, Silia, auch dort saß. Kaum merklich zögernd beschloss er, einen Bogen um sie zu schlagen, der auffälliger war, als er beabsichtigte, bevor er sich halb hinter Mimoun setzte. Die Decke, die er wieder mitgenommen hatte, zog er dichter um sich, denn trotz Steinwände und Lederverdeck war es in der Hütte nicht wirklich warm. „Ich beiße schon nicht.“, kommentierte das Mädchen diese Aktion pikiert. Als wenn es für sie einfacher war, dass sie nun mit einem Magier unter einem Dach leben musste. Mimoun selbst war zu müde gewesen, um auf die Aktionen und Reaktionen seines Freundes zu achten und besah sich die Szene nun ein wenig irritiert. Doch er konnte nichts tun. Wie er bereits einmal festgestellt hatte, musste jeder für sich diese Grenze aus Furcht und Hass überwinden, die die zwei Völker trennte. Schläfrig rieb er sich über die Augen. Um seine Schwester von Dhaôma abzulenken, nahm er den Anhänger ab und reichte ihn ihr zurück. Ihr Gesicht strahlte glücklich, als sie den Stein endlich wieder in den Händen hielt, doch ihr Blick wurde misstrauisch. „Das ist aber nicht das Band, das den Stein früher gehalten hat.“, stellte sie mit unheilschwangerer Stimme fest und fixierte ihren Bruder. „Ist zerstört worden, als er meinen Flügel geheilt hat.“, meinte Mimoun mit einer trägen Handbewegung auf Dhaôma. Silias Kopf ruckte zu dem Magier herum. Und schlagartig war der junge Geflügelte wach. Ups. Das hätte er jetzt vielleicht nicht sagen sollen. Beschwichtigend hob er die Hände. „Es ging nicht anders. Sei nicht böse. Der Stein ist ja nicht verloren gegangen.“ Unter ihrem Blick zuckte der Braunhaarige zurück. Er selbst wusste nichts davon, dass irgendein Band von dem Stein zerstört worden war. Dementsprechend verzweifelt war er. Hätte er es gesehen, hätte er sich entschuldigen können, aber bis gerade eben hatte er keine Ahnung gehabt, dass er irgendwas damit getan haben könnte! Verunsichert suchte er stummen Rat bei Mimoun. Mimoun wandte sich zu seinem Freund um. „Stimmt ja. Das hatte ich gar nicht erwähnt. Als ich damals wieder aufwachte, waren die künstliche Flughaut, meine Kleider und halt das Lederband zerfallen. Alles was aus Leder war. Warum meine Rüstung intakt blieb, weiß ich nicht, aber ich bin froh darüber.“ Er wandte sich wieder seiner Schwester zu, um sie weiter zu beschwichtigen, doch nun betrat schlussendlich auch seine Mutter den Raum und mahnte mit wortlosen Blicken ohne Streit zu frühstücken. Ohne Widerworte beugte sich der junge Geflügelte ihrem Wort, aber die Blicke, die er seiner Schwester zuwarf, baten deutlich um Nachsicht und Gnade. Also hatte er auch die Zerstörung tierischer Materialien gelernt? Fröstelnd zog Dhaôma die Decke enger um sich. Ihm war plötzlich kälter. Wenn seine Leute davon erfuhren, stand außer Frage, dass er mit sofortiger Wirkung an die Front geschickt wurde! Eine bessere Technik, um zu töten, gab es nicht. Mit einem dankbaren Nicken nahm er das Essen an, bevor er wieder zu Boden sah. Diesen Schreck musste er erst einmal verdauen. Und dann hatte er noch Mimouns Kleider zerstört! „Es tut mir Leid.“, sagte er leise. „War doch nicht mit Absicht.“, beschwichtige Mimoun. Da hatte er ja was angerichtet. Bevor er das nächste Mal im Halbschlaf das Wort ergriff, sollte er seinen Kopf einmal lange unter Wasser halten, um vielleicht vorher klar zu werden. Silia hielt den Stein mit einer Hand umklammert und durchbohrte ihren Bruder mit missgelaunten Blicken. Er würde bluten müssen, um diesen Frevel zu bereinigen. Als sie ihr Mahl beendet hatten, half Silia ihrer Mutter beim Aufräumen und Mimoun wandte sich Dhaôma zu. „Kommst du mit raus? Soll ich dir das Dorf vorstellen?“ Dhaôma nickte. Alles war besser, als bei dem Mädchen zu bleiben. Sie war ihm entschieden zu unberechenbar. „Mimoun, wann blühen die Bäume normalerweise?“, fragte er, als sie gerade das Haus verließen. „Ist ihre Zeit schon gekommen?“ Mimoun blieb stehen und sah den Magier fragend an, bevor er auf die Bäume blickte. „Sie blühen schon lange nicht mehr.“ Erst dann ging ihm auf, wem er das gerade gesagt hatte. Dem Magier dürfte das durchaus aufgefallen sein. Und noch etwas ging ihm auf. „Du würdest sie wieder blühen lassen?“, fragte er hoffnungsvoll. „Ich wollte. Aber dazu muss ich wissen, ob sie das auch überleben.“, nickte der Braunhaarige. „Es sind so schöne Bäume. Es wäre schade, wenn sie im nächsten Winter zu Feuerholz würden.“ „Ja. Sie müssten jetzt anfangen zu treiben.“, antwortete Mimoun erfreut. Es wäre so schön, alte Erinnerungen aufzufrischen. Dann schnippte er mit den Fingern, als wäre ihm etwas eingefallen. „Feuerholz.“, platzte es aus ihm heraus. „Und wärmere Sachen. Vor allem intakte.“ Sie näherten sich zwar nun immer mehr dem Sommer, doch bei den Magiern wusste man nie. Und er brauchte Feuer, da er sich nicht so gern von Rohkost ernährte. Irgendwie musste er es schaffen, jede Menge Holz dafür aufzutreiben, ohne seinen Freund zu lange allein zu lassen und sein Dorf unnötig zu belasten. Amüsiert legte Dhaôma den Kopf schief. Irgendwie kam er sich vor, als wären ihre Rollen vertauscht worden. Hatte er bei ihrem Kennen lernen alles für Mimoun getan, dann war es jetzt genau umgekehrt. „Ist mein Pelz denn nicht endlich trocken?“, fragte er. „Der würde schon reichen, denke ich.“ Sehnsüchtig ging sein Blick zu den Bäumen. Wenn das Jahr schon so weit fortgeschritten war, dass sie treiben würden, dann konnte er sie auch gleich blühen lassen. Es würde eine wundervolle Harmonie mit dem Sonnenaufgang vom Morgen ergeben. „Ich weiß nicht.“, gestand Mimoun. Gestern waren sie einfach nur umgekippt und hatten geschlafen. Er hatte sich nicht darum gekümmert, dass der Pelz vernünftig trocknen konnte. Genauso wenig konnte er bestimmen, ob die Frauen, die ja ihre Habseligkeiten getragen und verstaut hatten, sich darum gekümmert hatten. „Es tut gut dich zu sehen.“ Mimoun drehte sich zu der Stimme um, die hinter ihm erklungen war. Dort standen acht vornehmlich ältere Männer des Dorfes mit Bögen bewaffnet. Sie würden sich gleich auf die Jagd machen, das sah der junge Geflügelte. „Ich freue mich, wieder hier zu sein.“, erwiderte Mimoun, trat auf die Gruppe zu und begrüßte jeden Einzelnen erfreut. „Verzeih.“, wandte sich der Sprecher von eben an den Magier mit einem höflichen Nicken. „Aber wir brauchen ihn. Zwei unserer Jäger sind verhindert und uns fehlt tatkräftige Unterstützung.“ Mimoun trat einen Schritt zurück und sah unglücklich zwischen den beiden Parteien hin und her. Einerseits war es schon ewig her, dass er sich an einer großen Jagd beteiligt hatte, andererseits wollte er Dhaôma vor allem in seiner Anfangszeit hier nicht allein lassen. „Das ist in Ordnung.“ Es beruhigte ihn, dass er hier nicht die gleiche Missachtung erfuhr wie beim Hohen Rat. „Ich wollte sowieso zu den Bäumen.“ Dhaôma deutete auf die Gerippe, die traurig im Wind standen. „Und Mimoun ist gut im Jagen.“ Prüfend musterte er seinen Freund. Es schien ihn wirklich nicht zu stören. Also nickte er zum Zeichen seines Einverständnisses. „Ich komme sofort.“, wandte er sich an die Jäger. An Dhaôma gewandt, sagte er: „Ich erkundige mich schnell wegen dem Pelz. Und ich komm so schnell es geht zurück.“ Schnell schlüpfte er wieder in seine Hütte und kramte Pfeil und Bogen hervor. Suchend glitt sein Blick durch den Raum und entdeckte den Pelz knapp unter der Decke. Prüfend fuhren seine Finger über das Material. So gut wie trocken. Es waren nur noch wenige Stellen feucht. Kurz teilte er dem Magier den Aufbewahrungsort des Pelzes und seinen Zustand mit und verließ dann mit den Jägern zusammen die Insel. Es war ein berauschendes Gefühl gemeinsam mit seinen Freunden durch die Luft zu gleiten, sich von dem Wind tragen zu lassen und als tödlicher Schrecken von oben auf ihre Beute herabzustoßen. Ein Pfeil nach dem anderen traf sicher sein Ziel und es dauerte nicht lange, bis sie genug Beute für das gesamte Dorf hatten. Während sich die anderen Jäger hektisch daran machten, alles Unverwertbare der Tiere zu entfernen, um die Last zu verringern, entschuldigte sich Mimoun kurz, um noch etwas für den Magier zu tun. Eine halbe Stunde später kehrte er mit einem kleinen Bündel Holz im Arm zurück. Mehr ließ sich auf die Schnelle in der Ebene nicht auftreiben. Schnell half er seinen Freunden bei der Erledigung der letzten Handgriffe und schnürte alles in den Fellen zusammen. Gemeinsam begaben sie sich auf den Rückweg. Das Fleisch, die Felle, Knochen und Hörner, die komplette Beute wurden den bereits wartenden Frauen übergeben, die sich sofort an ihre Arbeit machten. Mimoun ließ das Holz neben den Eingang seines Heims fallen und begab sich zu den Bäumen. Dhaôma winkte, bis sie nur noch kleine Punkte waren. Hinter ihm standen zwei Kinder. Das eine bohrte in der Nase, das andere gaffte einfach so. Sie schienen wenig Angst vor ihm zu haben. Mit einem freundlichen Lächeln nickte er ihnen zu, dann wandte er sich ab. Zu gerne hätte er mit ihnen gespielt. Kinder waren auf eine erfrischende Weise unverfälschter als Erwachsene. Aber es hätte als Bedrohung aufgefasst werden können, also ließ er es bleiben. Er wollte keinen Ärger haben. Die Bäume waren im Sonnenlicht in einem noch schlechteren Zustand als bei Morgendämmerung. Der erste war so verfallen, dass für ihn kaum noch Hoffnung bestand und Dhaôma beschloss, diesen entweder als letzten oder gar nicht zu behandeln. Die beiden dahinter schienen erst vor kurzem ganz gestorben zu sein. Ihr Stamm klang noch nicht hohl und sie waren vergleichsweise jung. Es war ein schönes Gefühl, helfen zu können. Sanft strich er über den Stamm nahe der Wurzel, kitzelte sie mit seiner Magie und spürte, wie die durstigen Wurzeln Wasser aufsogen, das in den Tiefen schlummerte. Sanft gab er mehr Energie, zog das Wasser auch in die Äste hinauf. Selbst die Farbe des Stammes änderte sich, als einer der Äste einfach abbrach. Er war zu kaputt, um noch gerettet zu werde. Dafür sah man den anderen an, dass sie widerstandsfähiger wurden, je länger er sie bearbeitete. Knospen sprossen an den Zweigen, solche, die sich jetzt schon öffneten und schneeweiße Blüten hervorbrachten, und solche, die noch warten würden, bis ihre Zeit gekommen war. Die Sonne war schon ein gutes Stück fortgeschritten, als Dhaôma beschloss, dass es genug war. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Wenn die Hanebito sich diesmal besser um sie kümmerten, würden sie sicherlich noch lange leben. „Willkommen zurück.“, sagte er freundlich, bevor er sich abwandte, um den nächsten Baum ebenfalls zu wecken. Als Mimoun zurückkehrte, hatte er drei dieser Bäume ins Leben zurückgerufen und mehr Zuschauer als die zwei Kinder, die noch immer mit offenem Mund staunten. Das Geschnatter der Frauen und Männer, die die Jagdbeute beurteilten, drang bis zu ihm und er wusste, dass Mimoun gleich kommen würde. Er wollte sein Gesicht sehen. Kritisch sah er noch einmal hinauf in die weiße Blütenpracht. Ob er mal wieder übertrieben hatte? Dieser ahnte, was diese kleine Ansammlung von Zuschauern bedeutete. Dhaôma hatte sich ausgetobt. Doch er war selbst neugierig auf das Ergebnis und so schritt er schneller aus, schob sich an den Dorfmitgliedern vorbei und erstarrte. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass die Bäume weiß geblüht hatten. Und so war leises Erstaunen die erste flüchtige Reaktion. Dann hellte sich sein Gesicht zu unbändiger Freude auf. „Dhaôma. Du bist großartig!“ Der junge Geflügelte strich um die drei Bäume herum, berührte jeden von ihnen am Stamm und streichelte die kleinen Blüten. „Danke.“, flüsterte er ergriffen. Erinnerungen durchfluteten ihn. Bilder, wie er mit seiner Schwester um die lebendigen Bäume herum Fangen gespielt hatte oder erneut Bilder der Ernte. Zufrieden ließ Dhaôma ihn. Er konnte sich vorstellen, dass ihm das viel bedeutete. Immerhin war es wirklich hübsch. Und sie würden etwas ernten. Das war sicher viel wert. „Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn man ihre Erde erneuern würde.“, sagte er nebenbei, als Mimoun einmal an ihm vorbeilief. Ein erschrockener Schrei ließ ihn herumfahren. Eine junge Frau fing gerade das kleine Kind ein, das vorhin in der Nase gebohrt hatte, weil es zu ihnen hatte laufen wollen. Dhaôma überging dieses Verhalten, als wäre nichts gewesen, aber innerlich tat es weh. Vielleicht war er ein Magier, wie er gerade sehr eindrucksvoll bewiesen hatte, aber das bedeutete nicht, dass er gefährlich war. Auch Mimoun war aufgrund des Schreis herumgefahren. Auf seiner Stirn wurden Zornesfalten sichtbar, doch er sagte nichts. Das Misstrauen mussten sie selbst bereinigen. Er würde es vielleicht nur verschlimmern, sollte er sich mehr als ohnehin schon auf die Seite des Magiers stellen. Mimouns Mutter trat nun ebenfalls aus der sich noch immer stetig vergrößernden Menge heraus. Wer keine Arbeit mehr hatte, strömte zusammen, um diesem Schauspiel beizuwohnen. Sie trat an einen der Bäume heran und sah mit feuchten Augen in die Krone. Ein leises Lächeln zierte ihre Lippen. Auch der junge Geflügelte lächelte wieder, als er das sah und drehte sich zu seinem Freund um. „Wie fühlst du dich? War das zu viel?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich habe viel Übung. Du erinnerst dich an die Wiese?“ Und nach einem kurzen Blick zu Mimouns Mutter fügte er leise, so dass nur sein Freund es hören konnte, hinzu: „Ich mache die anderen auch noch lebendig. Morgen.“ Und innerlich hoffte er, dass er dann alleine war und keine lästigen Zuschauer gafften. Die Kinder konnten ruhig. Die kleinen Flügel waren wirklich putzig. Natürlich erinnerte er sich an die Wiese. Wie sollte er auch nicht, war sie doch der erste Hinweis auf den Verbleib des Magiers gewesen. Dennoch machte er sich Sorgen, dass der seelische Druck sich auf den Körper seines Freundes auswirken konnte. Das wollte er um jeden Preis verhindern. „Ich hab ein wenig Holz mit hochgebracht.“, begann er und bückte sich nach dem abgebrochenen Ast. Sehr schön. Ein Stück mehr, das sich vielleicht verwenden ließ. „Du kannst dir also nachher dein Essen braten, wenn du magst.“ Er führte ihn fort von der Menge, die nun, da der Magier nicht mehr da war, die Bäume aus der Nähe bestaunten und berührten. Er führte ihn an den Rand der Insel an die Stelle, an der sich an der Seitenwand der Eingang zum unterirdischen Labyrinth befand. Er deutete nach unten. „Dort befinden sich die Vorratsräume und unsere Büchersammlung. Wenn du magst, bring ich dich da hin. Dann bist du fürs Erste ungestört. Oder ich bring dich zu den Seen.“ Beides war für Dhaôma eigentlich egal. Er fühlte sich überfordert mit allem. Und wenn er bedachte, dass er in einer Höhle eingeschlossen war oder wahlweise Mimoun an selbige fesselte, graute es ihn. Er ließ sich zu den Seen bringen. Sie waren kalt und algenreich. Wenn man es richtig anstellte, dann könnte man dort auch Fische ansiedeln. Tief genug waren sie, dass sie im Winter nicht ganz zufroren. Obwohl das bei der Höhe schlecht zu sagen war. Nachdenklich blickte er auf seine Füße, die im kalten Wasser standen. „Mimoun, wir haben Teiche, die nur im Sommer Wasser führen. Wir ziehen dort Fische auf und holen sie im Herbst raus, bevor die Teiche austrocknen oder zufrieren. Kann man das hier nicht auch machen?“ Ratlos zuckte dieser mit den Schultern. „Wir haben es nie ausprobiert oder sind auf so eine Idee gekommen. Wir lassen der Natur ihren Lauf und bedienen uns an dem, was sie uns schenkt.“ Innerlich fühlte sich der Geflügelte immer elender. Was sollte er tun, um seinem Freund hier die Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten? Dieser wirkte immer unglücklicher, was Mimoun nachvollziehen konnte. Doch die Situation ließ sich nun nicht mehr ändern. Sie mussten einfach das Beste daraus machen. Sein Blick glitt zum Dorf hinauf und er überlegte, wie es sich bewerkstelligen ließ, dass Dhaôma nicht ständig auf seine Hilfe angewiesen war und sich so weit wie möglich frei bewegen konnte. „Bald laichen die Karpfen und Salme. Wenn die anderen damit einverstanden sind, dann bring einfach ein paar von den Glasfischen mit hoch und setze sie hier aus. Sie würden auch die Algen ein wenig unter Kontrolle halten.“ Wobei ihm etwas einfiel. „Darf ich denn Algen mit hochnehmen?“, wollte er wissen. „Fühl dich ganz wie Zuhause.“, stieß Mimoun hervor, nachdem er durch einen Lachanfall auf die Knie gezwungen wurde. Da machte er sich Sorgen um den Kerl und dieser gestaltete bereits die komplette Welt der Geflügelten nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen um. „Ich meine, mach es dir gemütlich.“, korrigierte er sich als ihm wieder einfiel, dass sich dieser Junge in seinem eigenen Zuhause nicht so ganz wohl gefühlt haben dürfte. Und was die Sache mit den Fischen betraf, würde er mit dem Dorf reden und ihnen Dhaômas Idee präsentieren. Sofort warf Dhaôma seine Decke an Land und watete dann durch das Wasser, um Algen einzusammeln. „Ihr braucht die nicht zum Essen oder so?“, fragte er noch, während er schon überlegte, wie man sie am besten transportieren konnte, ohne selbst am Ende nach dem Zeug zu riechen. Die Antwort war ganz einfach: Netz draus flechten – was er auch kurzerhand tat. Am Ende war es ein ganzer Berg und trotzdem war der See noch immer gut gefüllt. Sehr gut, das zu wissen. „Kannst du das hochbringen?“ Natürlich konnte er das. Dieses bisschen Grünzeug stellte keine Herausforderung dar. Nur… „Was willst du eigentlich mit dem Zeug?“, fragte Mimoun und griff bereits danach. „Pflanzen wachsen besser, wenn man ihnen frische Erde gibt.“, erklärte Dhaôma bereitwillig. „Ich werde nicht ewig hier bleiben, also brauchen eure Bäume bessere Bedingungen, damit sie nicht wieder sterben.“ „Aber das…?“, begann er und beäugte sich kritisch die Algen. Dann fiel ihm wieder ein, was mit dem Harz passiert war, das ihm den Mund verklebt hatte und das Dhaôma hatte altern lassen. Wenn Pflanzen verrotteten, wurden sie zu Erde. „Ach so. Verstanden. Warte kurz, ich bin gleich zurück.“ Kräftig stieß er sich ab und trug die Algen zu den Bäumen, um die noch immer einige Geflügelte versammelt waren und ihn und seine Last erstaunt ansahen. Mimoun grinste nur belustigt und kehrte zurück, um auch Dhaôma zu holen. Vorsichtig stellte er ihn neben dem Algenhaufen ab. Die Dorfmitglieder waren sofort wieder ein Stück zurückgewichen. Dhaôma hatte beschlossen, sie zu ignorieren. Es war nicht wichtig. Er war auch früher immer alleine gewesen und hier hatte er sogar noch Mimoun. Geschäftig begann er die Algen um die Bäume zu verteilen, machte aus ihnen einen dichten Teppich glitschigen Grüns, das er schließlich mit beiden Händen berührte. Wie in einer Welle verdorrten die Algen, wurden erst braun, dann zerfielen sie und hinterließen eine unberührte braune Fläche frischer Erde. Beim nächsten Regen würden die Nährstoffe in den Boden gewaschen und die Bäume hätten etwas davon. Danach wusste er nicht mehr, was er noch tun sollte. Mimoun schien auch nicht so recht zu wissen, was als nächstes kam. Nachdenklich verzog Dhaôma den Mund. „Was macht ihr hier überhaupt den ganzen Tag?“, wollte er wissen. Viele waren damit beschäftigt, die Beute zu zerlegen, aber ansonsten konnte er nirgendwo offensichtliche Aktivitäten feststellen. „Wir sind nur eine kleine Insel. Viel können wir nicht zusammentragen, was Früchte betrifft. Unsere Bäume haben uns schon vor langer Zeit im Stich gelassen und brachten sowieso nicht genug Ertrag. Darum sind wir hier eher auf die Jagd spezialisiert. Wir erjagen das Wild, sammeln die Felle und das Fleisch. Was wir nicht benötigen, tauschen wir in anderen Dörfern gegen Früchte ein. Die überzähligen Felle, die wir selbst nicht verarbeiten können, tauschen wir in den entsprechenden Dörfern gegen gefertigtes Leder. Dieses verarbeiten wir dann je nach Bedarf weiter. Kleider, Häuser. Je nachdem, was benötigt wird und welche Qualität das Leder hat. Darüber hinaus müssen die Häuser regelmäßig Instand gesetzt werden, damit das Leder nicht brüchig und unbrauchbar wird. Wir finden immer eine kleine Beschäftigung.“, schloss er lächelnd. „Aber genauso häufig lassen wir uns auch einfach nur ohne besonderes Ziel vom Wind tragen.“ Das bedeutete im Großen und Ganzen, dass Dhaôma nicht viel helfen konnte. Natürlich konnte er seine Magie einsetzen, damit die anderen etwas zu essen hatten, aber das dauerte nicht lange. Seufzend ließ er sich auf den Boden fallen, legte sich rücklings in ein paar dürre Grashalme und schloss die Augen. „Das ist ein schönes Leben.“, meinte er irgendwann. „Hart, aber schön.“ „Ja.“, stimmte Mimoun zu. „Ich würde es gegen nichts eintauschen wollen.“ Er überdachte diese Worte und schränkte sie doch noch ein: „Fast nichts.“ So sehr er sein Leben hier liebte, so sehr wünschte er sich auch, wieder mit Dhaôma auf der unteren Ebene zu sein und sich weiter auf die Suche nach Drachen machen zu können. Das würde ihr beider Leben um Vieles vereinfachen. Mimoun setzte sich neben seinen Freund und beschirmte seine Augen, um nach dem Stand der Sonne zu schauen. Diese hatte ihren Höchststand fast erreicht. Wäre er allein würde er sich nun dem Wind anvertrauen oder mit einigen Freunden durch die Luft toben. Zu lange hatte er darauf verzichten müssen. Doch er konnte Dhaôma nicht allein lassen. Also machte er sich an die geistige Bewältigung der Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Wie sollte der Magier ohne fremde Hilfe auf die untere Insel gelangen oder in die Höhlen? Ihm fiel das Netz wieder ein, das aus den Algen geflochten worden war. „Wie stabil sind die Algen, wenn sie getrocknet sind? Könnten sie dein Gewicht tragen?“, fragte er in die Stille, die sich um sie gelegt hatte. „Nein.“, antwortete Dhaôma einsilbig. Die Sonne auf der Haut hatte ihn träge gemacht und da er viel Magie gewirkt hatte, tat sie ihr Übriges, ihn müde zu machen. Außerdem tat es gut, einmal komplett warm zu werden. Wenn er hier im Gras lag, konnte der Wind ihn nicht erreichen, aber die Sonne heizte ihn auf. Da er Angst davor hatte, Silia allein zu begegnen, war er nicht in die Hütte gegangen, um seinen Pelz zu holen. Dementsprechend hatte er die meiste Zeit des Tages mit oder ohne Decke gearbeitet. Mimoun erkannte mittlerweile die Anzeichen bei seinem Freund und es störte ihn auch nicht, wenn dieser sich ausruhte. Dennoch war es vielleicht nicht unbedingt der geeignetste Platz zum Schlafen. Sanft legte er seine Hand auf dessen Schulter. „Möchtest du dich nicht lieber rein legen?“ „Ist das notwendig?“, brummte der Junge schläfrig. Der Geflügelte lachte leise. „Wenn es dir nicht zu kalt ist, kannst du natürlich auch hier schlafen.“ Mimoun streckte sich. Er hatte das dringende Bedürfnis sich zu bewegen. „Soll ich bleiben und auf dich Acht geben?“ „Nicht nötig. Sie trauen sich eh nicht her.“, meinte der Junge und wedelte mit der Hand. Es sollte heißen, dass Mimoun machen sollte, wozu er Lust hatte. „Es ist mir egal, was sie treiben. Es ist mir wichtig, dass es dir gut geht.“, antwortete Mimoun leise und erhob sich dann. Es sah nicht so aus, als würde er hier noch gebraucht werden. Er bekam sogar noch mit, dass der Hanebito sich verabschiedete, bevor er einschlief. Die Leute aus dem Dorf sahen, wie Mimoun verschwand, und jeder wusste, dass der Magier jetzt allein war. Nur wusste keiner, wo er war. Man konnte ihn nicht auf den ersten Blick bei den Bäumen sehen und nachsehen wollten sie nicht. Vielleicht lag der Feind auf der Lauer und wartete nur auf ein Opfer. Man mied also den Ort, an dem die Bäume ihre weiße Pracht zeigten, und widmete sich den alltäglichen Aufgaben oder der Entspannung. Weniger berechnend war eines der Fanras. Das weiche, dichte Fell wurde vom Wind gezaust, als es, angelockt von dem unbekannten Duft, den Bäumen zustrebte. Frische Erde und Blumen hatte es hier noch nie gegeben. Und der Geruch eines Fremden war auch nicht alltäglich. Das Tierchen landete dicht neben Dhaôma und beschnupperte ihn. Und es befand, dass es schön war an diesem Ort. Es war warm, die Sonne schien, es roch gut und die Stimmung war harmonisch. Perfekte Voraussetzungen für ein Nachmittagsschläfchen. Nach einem kräftigen Räkeln rollte es sich in Dhaômas Kniekehlen zusammen, die Nase versteckte es unter dem langen Schweif. Die Kinder hatten das beobachtet. Auch wenn ihre Eltern sagten, dass dieser Junge gefährlich war, sie konnten das nicht glauben. Im Gegenteil. Das war doch spannend! Ein Fremder! Jemand, der keine Flügel hatte! Wo gab’s denn so was, wenn nicht in den Schauergeschichten der Erwachsenen? Und dann machte dieser jemand auch noch, dass Bäume blühten, obwohl sie es nie getan hatten. Oder er ließ Pflanzen zu Erde werden. Vielleicht konnte man noch mehr Außergewöhnliches sehen, wenn man ihn beobachtete. Dass das Fanra sich neben dem Magier zusammengerollt hatte, ohne dass dieser sich bewegt hatte, konnte eigentlich nur heißen, dass er schlief. Das kannten sie von ihren Eltern. Wenn die schliefen, konnte man sich frei bewegen. Vielleicht konnten sie sich den Magier jetzt mal aus der Nähe ansehen! Ein Junge, etwa sieben Jahre alt, machte den Anfang. Mutig schritt er vor, versuchte dem raschelnden Gras auszuweichen und machte Fußspuren in der frischen Erde deswegen. Er achtete auch darauf, dass seine Flügel keinen Schatten auf den Schlafenden warfen. Als er nahe genug dran war, beugte er sich über den Braunhaarigen. Er kicherte. „Vielleicht ist das ein Mädchen!“, zischte er und winkte seine Freundin herbei. Diese, ungläubig, weil alle immer von einem Mann sprachen, folgte ihm. „Tatsächlich.“, sagte sie. „Aber Mädchen kämpfen doch nicht, oder?“ Der Junge schüttelte den Kopf. Dann streckte er zaghaft die Hand aus und berührte das braune Haar, das wie ein wirrer Fächer um den Kopf verteilt war. „Es ist ganz weich.“, flüsterte er. „Die Kleider auch.“ Sie hatte es ausprobiert und ihr hatte das Gefühl gefallen, die Seide zwischen den Fingern zu spüren. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. „Du, wenn es ein Mädchen ist, ist es dann Mimouns Mädchen?“ „Vielleicht.“, nickte der Junge. „Und wenn es ein Mädchen ist, dann greift sie uns doch bestimmt auch nicht an.“ „Mama sagt, dass sie gefährlich ist.“ „Sie kann Blumen wachsen lassen. Das ist nicht sehr schlimm.“ Wieder nickte er. Inzwischen war noch ein drittes Kind angekommen. „Was wollt ihr machen, wenn er aufwacht?“ Angst schwang in der Stimme mit. „Dann laufen wir schnell weg.“ „Ich glaube nicht, dass sie böse ist.“ „Das ist ein Mädchen?“ „Ja.“ Das Kind nickte. „Und siehst du, Kalil schläft bei ihr.“ Sie zeigte auf das Fanra. Das überzeugte ihn. „Vielleicht kann sie auch unseren Garten wachsen lassen, dann hätten wir mehr von den roten Beeren.“, überlegte er. Der erste Junge, Haru, ließ sich ins Gras sinken und betrachtete versonnen das kleine Tierchen. Diese Faulheit war ansteckend. Und er hatte heute noch keinen Mittagsschlaf gemacht. Stattdessen war er aus dem Haus ausgebüchst, um den Magier zu beobachten. „Glaubt ihr, sie würde mit uns spielen?“ „Vorhin hat sie gelächelt.“ „Und ist gegangen.“ „Vielleicht hat sie Angst vor uns.“, schlug ein Kind vor, das gerade angekommen war. Längst waren die Stimmen kein Flüstern mehr. Dennoch schlief Dhaôma tief. „Dann würde sie nicht schlafen, ohne dass Mimoun bei ihr ist.“ Das kannte er. Wenn er Angst hatte, dann schlief er bei seinen Eltern. Das Mädchen mit den roten Locken setzte sich neben ihn und streichelte erneut über den Stoff an Dhaômas Arm. Murrend zog er den Arm beiseite und versteckte ihn unter der Brust. Entsetzt über diese Bewegung spritzten die Kinder auseinander, aber als Dhaôma sonst nichts tat, kamen sie wieder zurück. „Ich glaube, Mama übertreibt.“, sagte der erste Junge wieder. Er setzte sich wieder neben den Magier und meinte: „Ich warte einfach, bis sie aufwacht, dann frage ich sie, ob sie mit mir spielt.“ Die anderen waren von diesem mutigen Plan tief beeindruckt und nach einiger Zeit schlossen sie sich ihm alle an. Es war wie eine Mutprobe. Eine sehr langwierige Mutprobe und es dauerte nicht lange, bis sie in der Nachmittagssonne dösig wurden. Weil kein Wind sie erreichte, wurde es auch noch warm. Und schließlich forderte die Sonne von ihnen den gleichen Tribut wie von Dhaôma. Sie schliefen ein. Mit schnellen Flügelschlägen gewann Mimoun ein wenig an Höhe und stürzte sich an der Flanke der Insel hinab, spürte den Wind, der an ihm zerrte. Bereitwillig vertraute er sich ihm an und zog mehrere Spiralen, die ihn wieder in die Höhe trugen. Immer wieder, wenn sich eine Möglichkeit offenbarte, warf er einen sichernden Blick auf den Magier. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten auf sich zuschießen und warf sich herum. Dieser spielerische Angriff ging weit ins Leere und Mimoun sah sich nach dem Täter um. Samos. Ein noch junger Bursche von fünfzehn Jahren, mit wachen braunen Augen und braunem Haar, wollte seine Kräfte anscheinend gegen einen erprobten Krieger testen. Nur zu gern nahm Mimoun die Herausforderung an. Sein eigener Angriff war wohl gezielt und beide stürzten ineinander verkrallt mehrere Meter in die Tiefe. Jeder versuchte den anderen in den Schwitzkasten zu kriegen oder sonst wie die Oberhand zu gewinnen. Als dies nicht möglich war und der Erdboden mit immer höherer Geschwindigkeit näher kam, trennten sie sich und schossen wieder in die Höhe. Mimoun gelang es, Vorsprung zu seinem jugendlichen Gegner zu gewinnen, und schob sich so vor ihn, dass Samos in die Sonne schauen musste. Geblendet wandte er seinen Blick ab. Diese Chance nutzte Mimoun und ließ sich wieder herabfallen. Nun hinter ihm packte er seine Handgelenke und bog sie auf den Rücken, fixierte sie mit nur einer Hand, während er die andere flach auf die Stelle zwischen den Flügeln drückte. Seine eigenen Flügelschläge passte er denen seines Gegners an. Die Berührung am Rücken war eine stumme Geste, die völlige Überlegenheit demonstrierte. Eine falsche Bewegung und die Nägel seiner Finger würden die Flughäute verletzen. „Ich gebe auf. Ich gebe auf.“, keuchte der Junge und Mimoun ließ lachend wieder los. „Du musst noch viel lernen, Junge.“ Dieser nickte nur und gemeinsam suchten sie sich eine Insel, auf der sie sich richtig austoben konnten. Er ließ dem Knaben keine Chance. Immer wieder zwang er ihn in die Verteidigung oder gleich ganz zu Boden. Als sie dieses Training beendeten, fühlte sich Mimoun auf angenehme Art ermattet. Die Sonne war schon ein ganzes Stück weiter gezogen und der junge Geflügelte entschied sich, zu Dhaôma zurückzukehren. Nur am Rande nahm er sich vor, nichts von seinem kleinen Kämpfchen zu verraten. Sein Freund hieß es sicher nicht gut, wollte er doch zwischen allem und jeden Frieden stiften. Mit einem dankbaren Nicken verabschiedete er sich von dem Burschen und strebte der Stelle zu, an der er den Magier zurückgelassen hatte. Erleichterung und Glück durchfluteten ihn, als er die Szene beobachtete. Das Tierchen an seinen Freund gekuschelt, die Kinder drum herum verstreut, ebenfalls schlafend. Suchend sah er sich um. Den Eltern schien das Verschwinden ihrer Sprösslinge noch nicht aufgefallen zu sein. Auf Zehenspitzen schlich er zu Dhaôma und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. „Sei leise. Nicht bewegen.“, flüsterte er ihm ins Ohr. Brummend hatte Dhaôma dem Störenfried ausweichen wollen, doch als er erkannte, dass es Mimoun war, der ihn warnte, hielt er still und spannte sich. Vorsichtig öffnete er die Augen, kneistete die Augen vor der Sonne zusammen und sah sich um. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Staunend setzte er sich auf, wobei er das Plüschvieh weckte, das ihm gähnend entgegenblinzelte. Kinder? Wie niedlich! Fragend blickte er den Hanebito an und deutete auf die Kleinen. „Ich bin unschuldig.“ Abwehrend hob er die Hände, seine Stimme noch immer ein Flüstern. „Sieht so aus, als hättest du neue Freunde.“ Mimoun streckte sich aus und machte es sich neben dem Magier bequem. Ja, ein Weilchen in der Sonne zu dösen, war eine wundervolle Idee. „Mag sein, dass du oben beginnen musst, um den Krieg zu beenden. Aber so wie es aussieht, musst du ganz unten anfangen, um den Hass zu beenden.“ Wohlig streckte er sich und gähnte herzhaft. Er war heute Morgen so ungünstig früh wach geworden und das kleine Kämpfchen hatte ihn erschöpft. Und die Sonne war angenehm und der Duft der Blüten hing hier überall in der Luft. So ließ es sich leben, dachte er noch, bevor er wegdämmerte. Zustimmend nickte Dhaôma, bevor er die Knie an den Leib zog und zuerst seinen Freund, dann die Kinder betrachtete. Wann waren die gekommen? Und warum hatten sie sich zu ihm gelegt, um zu schlafen? Das war doch nicht normal. Aber niedlich waren sie. Diese winzigen Flügelchen! Wie wohl Mimoun ausgesehen haben mochte, als er noch so klein war? Hatte der Schwarzhaarige auch solche Stummelflügelchen gehabt? Er fröstelte, da er in sitzender Position wieder dem Wind ausgesetzt war, und legte sich wieder hin. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt sah er zum strahlendblauen Himmel hinauf und lächelte zufrieden. Die Kinder waren süß. Nicht so voller Vorurteile wie ihre Eltern. Aber er wollte sich gar nicht vorstellen, was es für ein Geschrei geben würde, wenn die anderen das hier sahen. Etwas trampelte auf ihm herum. Als er schwach den Kopf hob, um zu sehen, was es war, spiegelten kohlschwarze Augen ohne weiß seinen Blick. Das flauschige Tierchen mit dem dichten Pelz hatte wohl beschlossen, dass jetzt, wo er auf dem Rücken lag, sein Schoß einen besseren Schlafplatz abgab. „Meinetwegen.“, erlaubte ihm Dhaôma den Wunsch, bevor er den Kopf wieder sinken ließ und die Augen schloss. Wenn er ehrlich darüber nachdachte, war er nicht mehr müde, aber um des lieben Friedens Willen blieb er liegen. Es war Balsam, einmal nicht mit Hass betrachtet zu werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)