Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 14: Boot ---------------- Kapitel 14 Boot Am nächsten Morgen war Dhaôma schon bei Sonnenaufgang wieder auf den Beinen. Voller Tatendrang schnitt er das Fleisch in Streifen und hängte es zum Trocknen über einen geschälten Zweig, während er abseits aller Verschmutzung sauberen Schnee suchte. Einen großen Teil nutzte er, um sich zu waschen. Blut, Erde und Staub klebten ihm zu sehr. Selbst die Haare behandelte er mit einer Pflanze, die er als Seifenkraut bezeichnete. Frisch und mit einer sauberen Portion Schnee kehrte er zurück, stillte seinen Durst damit und legte den Rest für Mimoun in Leder gewickelt neben den Felsen. Seine Decke war immer noch nass, aber das würde sich spätestens in zwei Tagen sicher gegeben haben. Als der Hanebito wach wurde, grinste er ihn an. „Ich hab ein Schneefeld gefunden.“, teilte er ihm mit. „Heute reise ich per Schlitten, wenn ich den Pelz der Gämse da haben kann.“ Ihm war das gleich und er zeigte es durch ein Schulterzucken an. „Ich brauch es nicht. Aber mach es besser nicht kaputt. Vielleicht brauchst du es später noch. Als Teil eines neuen Umhangs.“, schlug er vor. Gähnend streckte er sich. Es erfreute ihn zu sehen, dass es Dhaôma wieder gut ging. Dieser war wieder weit vor ihm wach gewesen und werkelte schon in der Gegend herum. Der Geflügelte nahm sich einen der zum Trocknen aufgehängten Fleischstreifen und kaute darauf herum, während er begann, seine Sachen zusammenzupacken. Das Hemd, das in der vorherigen Nacht als Kopfkissen für den Magier gedient hatte, wurde kurz ausgeschüttelt und abgeklopft. Schnell schlüpfte er hinein, bevor er sich daran machte, seine Rüstung wieder anzulegen. Dabei fiel ihm auch das Lederbündel auf. Als er den angeschmolzenen Schnee darin entdeckte, stillte er dankbar seinen Durst. Sein Blick suchte den des Magiers. „Machen wir uns auf den Weg?“ Es war nicht weit zu dem Schneefeld, von dem Dhaôma gesprochen hatte. Und dann ging es rasant talabwärts. Die flauschige Seite nach oben setzte sich der Braunhaarige auf den Pelz und dank der kalten Nacht war der harschige Schnee glatt und eisig. Die ersten paar Meter hinterließ Dhaôma eine blutig rosige Spur, als die letzten Fleischreste abgerieben wurden, doch das bemerkte der Junge nicht. Johlend vor Freude rauschte er talwärts, seine Beine lenkten nicht besonders viel dagegen, so dass er eine gehörige Geschwindigkeit aufnahm. Mit Faszination beobachtete Mimoun die kindliche Begeisterung des Magiers, als dieser auf dem Fell talwärts schlitterte. Immer schneller und schneller wurde er und der Geflügelte musste sich ranhalten, die restlichen Habseligkeiten zu schultern und dem Davonflitzenden zu folgen. Hoch stieg er in die Luft, um durch einen Sturzflug Geschwindigkeit aufzunehmen und neben dem Magier dicht über dem Boden zu gleiten. Er streckte eine Hand aus und pflügte durch den Schnee. Staub und kleine Eiskristalle wirbelten auf und zogen eine deutlich sichtbare Spur hinter ihm. Mit wenigen Flügelschlägen beschleunigte Mimoun noch mehr und kreuzte vor dem Magier dessen Bahn, überschüttete diesen dadurch mit Schnee, bevor sein Tempo wieder drosselte und auf dessen Höhe weiterflog. Dhaôma quietschte laut auf, als ihm der Schnee in den Ausschnitt und ins Gesicht geriet und er war versucht, auszuweichen, doch rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass dieses Verhalten katastrophale Auswirkungen haben konnte. So ertrug er es stoisch. Er konnte sich später rächen. Eine ganze Zeit dauerte die Talfahrt und der Junge war dankbar, dass es der Nordhang war, der noch dazu von anderen hohen Bäumen eingefasst war, so dass der Schnee lange liegen blieb. Dann, urplötzlich endete das Schneefeld. Und dieses Ende kam so plötzlich, dass Dhaôma sich einfach nur noch zur Seite fallen ließ, um rechtzeitig abzubremsen. Nur einen Meter vor dem Wald kam er zum Stehen und begann nach einem kurzen Schreckmoment zu lachen. „So ein Mist!“ Sich aufrappelnd und allen Schnee von sich schüttelnd kam er auf die Füße. „Wieder laufen!“ Aber immerhin war er gut einen halben Tagesmarsch gerodelt. Ein guter Erfolg, fand er. Mimoun sah den Wald schon früher kommen und bremste immer weiter ab, bis er sich einfach auf alle Viere fallen lassen konnte und noch wenige Meter im Schnee vorwärts schlitterte. Wieder zog er tiefe Furchen und wirbelte Schnee auf. Als Resultat sah er danach aus wie gepudert. Wie ein Hund begann er sich zu schütteln und schnaubte. Ein wenig Schneestaub war ihm in die Nase geraten. Wie genau abgepasst, landete er bei seiner Aktion direkt neben dem Magier. Und so drangen auch die enttäuschten, völlig unmotivierten Worte an sein Ohr und er ließ es sich nicht nehmen, noch einmal im selben Tonfall in dieselbe Kerbe zu hauen. „So ein Mist. Wieder Wald.“ „Wald ist doch nett.“, warf Dhaôma ein. „Obwohl ich dir zustimmen muss. Diese Art Wald ist in der Tat ein wenig langweilig.“ Immer die gleichen, hohen Nadelbäume. Auch wenn der Geruch klasse war, ihm missfiel die Eintönigkeit. „Aber da wir im Grundtonus einig sind, sollten wir uns einfach beeilen, um da wieder herauszukommen.“ Das Fell zusammenrollend nahm er eine Hand voll Schnee auf und warf ihn auf Mimoun. Mimoun sah die Bewegung, sah etwas auf sich zu fliegen und versuchte auszuweichen, doch war die Entfernung zu kurz und seine Reaktion kam zu spät. Der Schnee traf ihn noch an der Schulter und bestäubte eine Gesichtshälfte. „Hey.“, protestierte der Geflügelte und wischte ihn weg. „Das ist nicht fair. Hinterhältige Angriffe zählen nicht. Stell dich lieber offen zum Kampf.“ Und schon klaubte er selbst eine Handvoll Schnee auf, wog ihn in der Hand. „Das war lediglich die Retourkutsche für vorhin.“, gab der Braunhaarige zurück und hob eine Augenbraue. „Was hast du damit vor?“, zeigte er auf Mimouns Hand. Mimoun blickte Stirn runzelnd auf den Schnee in seiner Hand. Ja, er hatte ihn vorhin eingepudert. Er erinnerte sich noch gut an dieses lustige Quietschen, das der Magier dabei von sich gegeben hatte. Und er hatte das Recht, sich dafür zu rächen, was er ja damit auch getan hatte. „Womit?“ Schnell warf er den Schnee über die Schulter. Sie sollten aufhören, sich wie kleine Kinder zu benehmen, und die Durchquerung des Waldes in Angriff nehmen. Noch einmal schüttelte er sich, um sich von lästigen Schneeresten zu befreien, und trat dann zwischen die ersten Bäume, die Flügel eng an seinen Körper gezogen. Wie er Wälder hasste. Dhaôma kicherte und folgte. Im Wald war es still und das gedämpfte Licht wirkte leicht unheimlich, aber gleichzeitig war es auch beruhigend. „Du könntest fliegen, wenn dir der Wald so sehr widerstrebt.“, schlug der Junge vor. Seine Augen glitzerten mit dem Schnee um die Wette. Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Ist schon okay.“, wiegelte er ab. „Schließlich muss ich hier ja nicht meinen Lebensabend verbringen.“ Stunde um Stunde führte ihr Weg sie durch den Wald, immer auf der Suche nach dem Bach, dem zu folgen sie sich vor ein paar Tagen auf dem Gipfel des höchsten Berges entschieden hatten. Ein paar Mal stieg der Geflügelte auf einen Baum, um danach Ausschau zu halten und insgeheim ein wenig Freiheit abseits der bedrückenden Enge zu schnuppern. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihn schließlich fanden. Dieser hatte auf seinem Weg wohl einige Biegungen gemacht und sich einen anderen Weg als erwartet gesucht. An seinem Ufer legten sie eine Rast ein. Nachdem Mimoun seinen Durst gestillt hatte, streckte er erleichtert seufzend seine Beine aus. Nun, da sie den Bach gefunden hatten, würden sie ihm wie geplant folgen können. Hier standen die Bäume nicht mehr ganz so dicht beieinander und würden ihm das Vorankommen nicht mehr ganz so schwer machen. Sie übernachteten in einer Felsspalte, kurz nachdem der Bach über eine kleine Klippe gesprudelt war. Ein kleines Feuer trocknete die Gischt von ihren Kleidern und Dhaôma konnte seine Decke endlich zu Ende trocknen. Er funktionierte sie am nächsten Morgen auch gleich zu einem Umhang um, damit er dem aufkommenden kalten Wind besser trotzen konnte. Der Fluss wurde breiter, je weiter sie ihm folgten. Immer wieder vereinigten sich kleine Bäche mit ihm und trugen so zu seinem steigenden Volumen bei. Und je weiter sie nach Norden und damit zu den tiefer gelegenen Bergen kamen, desto schneller wurde es Frühling. Wie im Zeitraffer wurde es wärmer und das Grün hielt mit Macht Einzug. Schon nach einer Woche Wanderung fanden die beiden kaum noch einen Baum, der nicht schon winzige Blättchen trieb. Zwar war es nachts immer noch empfindlich kalt, aber tagsüber war die zum Umhang umfunktionierte Decke nur noch lästig. Dhaôma freute sich über den Frühling mehr als über das Vorankommen. Immer wieder musste er sich sagen, dass er jetzt besser weitergehen sollte, damit er nicht in diesem Wald blieb, denn sie hatten die Nadelwaldgrenze hinter sich gelassen. So viel Neues gab es zu entdecken. Pflanzen, die ihm unbekannt waren oder anderen ähnelten, aber besser rochen oder schmeckten. Oder andere, die ganz fürchterlich schmeckten, obwohl sie denen, die er gerne aß, so ähnelten. Fast vier Wochen später standen sie auf dem letzten Hügel hinter dem Gebirge und sahen in die Ferne, wo der Fluss sich, inzwischen träge und groß, dahinschlängelte. Seit der Quelle waren unzählige Bäche und Flüsse zu ihm gestoßen und hatten den Geflügelten davon überzeugt, dass es der richtige war. So groß, wie er geworden war, musste er einfach die Schlucht bilden, die die beiden für die Schlucht des Todes hielten. Es fragte sich nur, wie lange sie noch brauchen würden, bis sie dort ankamen. „Wir sollten uns wirklich ein Boot bauen.“, meinte Dhaôma nachdenklich und kaute auf einem Gänseblümchen herum. „Es sieht nicht so aus, als ob der Fluss irgendwelche gefährlichen Abgänge hätte, also sollte es die sicherste und schnellste Fortbewegung sein.“ Wieder schweiften seine Augen durch das weite Flusstal, welches zu beiden Seiten üppige, wiesenreiche Vegetation bereithielt. Hier und da mal ein Baum, oder ein kleiner Auwald, aber ansonsten viel Wiese und dementsprechend weidende Herden von Hirschen oder Muffelwild oder Wisenten. „Was sagst du dazu?“ In den letzten Wochen hatte der Junge gelernt, sich mehr auf Mimoun zu verlassen. Er fragte ihn öfter nach seiner Meinung und hatte verstanden, dass er sich auf ihn auch verlassen konnte, dass er Hilfe, die angeboten wurde, annehmen konnte, ohne ihn damit zu verärgern. Mimoun stand mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen neben dem Magier und ließ sich den Wind um die Nase wehen. „Ich brauch keins. Aber es wäre praktisch. Du würdest nicht mehr so schleichen und ich weniger tragen.“, grinste er. Langsam öffnete er die Augen und ließ seinen Blick schweifen. Über die Wiesen und Weiten, die sich unter ihnen erstreckten und zu den Inseln hoch. Von hier aus konnte man wieder vereinzelt welche erkennen. Einerseits vermittelten sie dem Geflügelten ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat. Doch andererseits bedeuteten sie Gefahr. Freies Land war Jagdrevier der Geflügelten. Und dieses Land wollten sie nun durchqueren. Die Gefahr, dass man sie und vor allem den Magier entdeckte, war groß. Und sie stieg, je länger sie für die Durchquerung brauchten. Ein weiterer Punkt, der für ein Boot sprach. „Hast du schon einmal eins gebaut?“ „Nee.“ Der Braunhaarige grinste verlegen und kicherte. „Kann aber nicht so schwer sein. Unten ein Kiel, oben stabile Wände, damit das Wasser nicht eindringen kann, irgendwo Paddel, damit ich steuern kann.“ Er zuckte mit den Achseln. „Sollte doch zu machen sein, nicht wahr?“ Immerhin konnte er Holz formen. „Bist du sicher, dass du da nicht auch drin sitzen willst? Es ist toll, sich einfach nur treiben zu lassen. Sehr entspannend.“ Dann bemerkte er den Blick hinauf und seine Stimme wurde mitfühlend. „Hast du Heimweh?“ Sein erster Reflex wäre ein amüsiertes Schnauben gewesen, doch er konnte sich noch knapp davon abhalten. Stattdessen wurde sein Blick leicht abwesend und es dauerte eine Weile, bis er antwortete. „Ja. Das auch. Ein wenig.“ Entschlossen wandte er sich vom Anblick der Inseln ab, fixierte den Magier ernst. „Es ist eher so, dass sie für mich Heimat und für dich den Tod bedeuten. Wir sollten uns nicht zu lange auf der Ebene aufhalten.“ Dann wurde sein Blick weicher. „Und ich weiß, wie toll es ist, sich einfach treiben zu lassen. Nur nutze ich dafür ein anderes Element.“ Weit streckte er die Flügel aus, spürte, wie der Wind an der Flughaut zerrte. Fast verspürte er das Verlangen, dem Ruf zu folgen, sich einfach von der Luft tragen zu lassen. Ja, das konnte er verstehen. Und die Sache mit dem Tod… „Mimoun, du musst dir keine Sorgen machen. Ich lasse mich nicht fangen. Aber wenn du so besorgt bist, wirst du wohl mitfahren müssen.“ Zufrieden nickte er. „Dann sitze ich unter der Decke, während da Hanebito fliegen, und du musst steuern, damit sie nicht misstrauisch werden.“ Mimoun lachte herzhaft und faltete die Flügel wieder ein. „Und du glaubst allen Ernstes, dass ein Geflügelter, ein Wesen der Lüfte, der ein Boot steuert, nicht für Misstrauen sorgt? Welchen Grund hätte ich für eine solche Aktion?“ „Ai. Spaß?“ Dhaôma kam sich ein wenig dumm vor. „Tut ihr niemals Dinge, weil sie Spaß machen?“ Und weil er schon wusste, dass es das nicht war, fragte er vorsichtig: „Und wenn ich dem Boot Blätter wachsen lasse? Dann ist es ein treibender Baum.“ „Natürlich. Aber warum sollte ich mich freiwillig dem Wasser aussetzen?“ Über die Sache mit den Blättern konnte man reden. Das war keine schlechte Idee. „Aber nicht übertreiben. Dort unten wachsen kaum Bäume. Wie sollte ein in voller Pracht stehender Baum über so eine weite Strecke unbeschadet eine Flussfahrt überstehen? Aber darüber können wir noch diskutieren, wenn es soweit ist.“ Dhaôma lächelte still. In den letzten Wochen hatte er schon begriffen, dass die Geflügelten zuweilen etwas kritisch neuen Dingen gegenüberstanden. Sie flogen gut und gerne, aber sie konnten Wasser nicht ausstehen, was sie davon abhielt, schwimmen zu lernen oder eben Boot zu fahren. „In Ordnung.“ Der Junge setzte sich wieder in Bewegung. „Aber du darfst dir nicht von deinesgleichen vorschreiben lassen, was du zu mögen hast. Immerhin bist du mein Freund und hast dich damit schon weit über sie gestellt, was das freie Denken betrifft.“ „Und du willst uns Frieden bringen?“, fragte Mimoun scharf und bebte vor Zorn. „Indem du meinesgleichen abwertest? Ja, ich bin dein Freund. Aber ich bin vor allem immer noch ein Geflügelter.“ „Nein.“ Die Wut in der Stimme ließ ihn ernst werden. „Ich werte nicht die Geflügelten ab. Ich werte alle ab, die nur nach dem leben, was vorgeschrieben ist. In erster Linie sind das meine Mutter und mein Bruder. Aber wenn du es so willst: ja, auch deine Leute sind mir entschieden zu engstirnig.“ „Wie soll man nach etwas leben, was man nie kennen gelernt hat?“, fragte Mimoun jetzt ruhiger. Dass der Magier seine eigene Familie in dieser Angelegenheit noch vor den Geflügelten genannt hatte, hatte seinen Zorn weitestgehend verrauchen lassen. „Ich hatte das Glück, dass du mich zu einem friedlichen Zusammenleben mit einem Magier gezwungen hattest. Und das zweifelhafte Glück, dass ich mir durch meinen zerstörten Flügel die Freiheit nehmen konnte, nach den Antworten auf meine Fragen zu suchen. Doch wie sollen die anderen das können? Wie sollen sie versuchen in Frieden zu leben, wenn es bedeutet, sich dem Feind zu unterwerfen und von ihm ausgelöscht zu werden? Wir wollen leben, Dhaôma. Verstehst du das nicht?“ Doch, natürlich verstand er das. Aber das hatten sie schon bis zum Erbrechen durchdiskutiert. Viel wichtiger war der eine Satz, den Mimoun gerade mehr nebenbei gesagt hatte. „Was meinst du damit, du konntest dir dank deines Flügels die Freiheit nehmen, nach Antworten zu suchen?“ Dhaôma blieb stehen und sah ihn an. „Meinst du, weil wir geredet haben?“ „Ich habe noch nicht auf alle Fragen eine Antwort.“, erwiderte er leise und wich einen halben Schritt zurück, bevor er sich umwandte und seinen Weg fortsetzte. „Komm. Wir haben noch einiges vor uns.“ Der braunhaarige Magier blickte ihm hinterher. Sollte das etwa heißen, dass sie bloß Zeit brauchten, um sich zu informieren? Dass sie bloß in Ruhe darüber nachdenken mussten, um zu begreifen, was sie sich da antaten, wenn sie kämpften? Sollte das bedeuten, dass auch seine Leute eigentlich nur eine gewisse Zeitspanne benötigte, um sich Gedanken machen zu können? Fieberhaft begann Dhaôma auf seinen Fingerknöcheln zu kauen. Wenn er das bewerkstelligen könnte, beiden Seiten eine Ruhepause zu erzwingen, dann hätten sie doch die Zeit. Und wenn er ihnen einen leisen Tipp geben könnte, worüber sie nachdenken mussten, dann… Das Problem lag also dabei, wie er diese Zeit erkämpfen konnte. Reichte die kalte Jahreszeit? Oder wäre es besser, das in der Sommerhitze zu starten? Und wie brachte er sie dazu, nachzudenken? Ohne sein Zutun setzte er sich in Bewegung und folgte dem Schwarzhaarigen, noch immer tief in Gedanken versunken. Auch Mimoun versank in Gedanken und achtete nur noch am Rande auf den Weg. Er kam sich ein wenig schäbig vor, dass er sich über die Worte des Magiers aufgeregt hatte, obwohl Dhaôma das Recht zustand, seine eigene Meinung kund zu tun. Oder lag es daran, dass dieser in gewissem Sinne Recht hatte? Die Geflügelten hielten stur an ihrer Lebensweise fest, da sie für sich beschlossen hatten, dass es die beste Möglichkeit war, zu überleben. Doch sie hatten sich frei für diesen Weg entschieden. Niemand hatte sie dazu gezwungen. Der Geflügelte verschränkte die Arme und sein Blick wurde düster. Doch. Die Magier hatten sie in diese Situation gezwungen. Weil diese seinem Volk keinen Frieden gönnten, sie in diesen Krieg gerissen hatten. Kurz huschte sein Blick zu Dhaôma zurück. Auch das stimmte nicht, rief er sich zur Ordnung. Der Magier hatte es ihm begreiflich gemacht. Keiner wusste wer und aus welchem Grund dieser Krieg ausgelöst wurde. So sehr er sich auch gegen den Gedanken sträubte, dieser Krieg hätte auch genauso gut von seinem Volk ausgelöst worden sein können. Entschlossen blickte er nach vorn. Das war eine der Hauptfragen, die er sich entschlossen hatte zu klären. Sie erreichten den Fluss viel zu bald. Dhaôma hatte noch immer keine wirkliche Antwort auf seine Fragen gefunden, denn egal, was er früher versucht hatte, seine Familie hatte ihm niemals zugehört. Um das zu schaffen, musste er sie irgendwie provozieren und darin war er nicht besonders gut. Seufzend konzentrierte er sich auf das Nahe liegende. Ein Boot. Und dazu suchte er sich einen Baum. „Ich werde hier einige Zeit brauchen.“ Ja, er wusste nicht einmal, ob er es an einem Tag schaffte. „Möchtest du jagen gehen?“ Denn auch wenn er den Finger nicht auf den Grund legen konnte, schien Mimoun sich abgekapselt zu haben, als bräuchte er einige Zeit für sich. Abwesend nickte der Geflügelte und wandte sich ab. Mit einem Sprung katapultierte er sich in die Luft und jagte über die letzten paar Baumwipfel davon. Noch immer war er innerlich aufgewühlt. Solange er keine zufrieden stellende Antwort auf diese Frage gefunden hatte und mit der Nase voran immer wieder aufs Neue auf dieses Thema gestoßen wurde, würde er keine Ruhe finden. Doch das ließ sich nicht auf einer einsamen Reise durch die Welt klären. Er musste dafür Fragen stellen, Bibliotheken durchforsten und das nicht nur auf der Seite der Geflügelten. Dadurch würde er sicher wieder nur einen einseitigen Blick auf die Geschehnisse erhalten. Doch Dhaôma war kein gewöhnlicher Magier. Er konnte ihm keine befriedigende Antwort geben. Entschieden unterband er weitere Gedanken in diese Richtung und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Er nutzte eine kleine Lichtung, um sicher zwischen den Bäumen zu landen und begann durch den Wald zu streunen, folgte Spuren, übte sich in Geduld. In der Zwischenzeit formte Dhaôma einen der kleinen Bäume am Ufer um. Unter seinen geübten Fingern schien das Holz zu schmelzen und passte sich dann seiner Vorstellung getreu der neuen Form an. Es forderte Unmengen an Geduld und fast genauso viele Pausen und war Kräfte zehrend ohne Ende. Bei seiner Höhle hatte er dafür Wochen gehabt, hier wollte er so schnell wie möglich fertig werden. Und er konnte sich ja dann im Boot ausruhen, während es dahin trieb. Am Ende des Tages war das Boot zwar noch nicht fertig, aber es hatte in etwa die richtige Form und Tiefe. Die Wände mussten noch dünner werden, weil es sonst zu schwer war, aber daraus konnte er die Äste und Blätter zur Tarnung wachsen lassen, wenn er wieder genug Kraft hatte. Da es Fleisch geben würde, suchte Dhaôma Feuerholz und Zunder und wartete dann auf seinen Freund, während er in der Frühlingssonne döste. Mimouns Suche führte bald zu einem Erfolg. Er fand ein Tier, doch keines, das er zu jagen bevorzugte. Ein kleines braunes Fellknäuel tapste in seine Richtung und wurde von einer zweiten Plüschkugel umgeschubst, die urplötzlich aus dem Gebüsch schoss. Sich balgend rollten die beiden Bärenkinder über den Waldboden und der Geflügelte entschloss sich, sich auf einen Baum zurückzuziehen, bevor das Muttertier auftauchte. Diese ließ auch nicht lange auf sich warten. Schnuppernd reckte sich ihre Nase in seine Richtung und er entschied sich, noch einige Äste nach oben zu klettern, als sich das Tier zu seiner vollen Größe aufrichtete. Es vergingen noch einige Augenblicke, bis sich die Mutter umwandte und die beiden Jungen fortführte. Auch als sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren, wartete er geduldig ab. Nicht dass sie sich doch durch seine Anwesenheit provoziert fühlte. Sein Weg führte ihn in die entgegengesetzte Richtung und es verging noch über eine Stunde, bevor er auf jagdbares Wild stieß. Er wählte sich einen Hirsch aus, um nicht einem Jungtier die Mutter zu nehmen. Mit diesem kehrte er zu Dhaôma zurück. „Wir sollten aufpassen. Hier treibt sich eine Bärenfamilie herum.“, warnte er seinen Freund vor dieser potenziellen Gefahr. Neugierig ließ er seinen Blick über die Arbeit des Magiers schweifen. Dem Blick folgten Finger, die über das Holz strichen. „Bären sind ungünstig.“ Dhaôma runzelte die Stirn. Es bedeutete, dass sie mehr Feuerholz brauchten, denn Feuer würde auch eine Bärenmutter davon abhalten, zu ihnen zu kommen. Vorausgesetzt, es roch nicht zu deutlich nach Futter. „Was machen wir mit deiner Beute? Hängen wir sie in einen Baum?“ „Das wird das Beste sein.“, nickte der Geflügelte. „Und wir übernachten wohl heute auch ein wenig höher.“ Er wandte sich ab und begann das Wild ganz dicht am Fluss auszunehmen. So wurde das meiste Blut von der Strömung fort gewaschen. Das war natürlich auch eine Idee. Einfach auf einem Baum schlafen. Von denen es an diesem Ort definitiv zu wenig gab. Der Wald, in dem Mimoun gejagt hatte, war doch ein gutes Stück entfernt wieder den Hügel hinauf. „Ich gehe noch mal Feuerholz suchen.“, teilte der Junge mit und verschwand in dem Birkenhain. Am nächsten Tag konnten sie gegen Mittag aufbrechen. Dhaômas Boot hatte ihn den gesamten Vormittag gekostet, aber danach war es leicht und seetüchtig. Er hatte sogar genügend Platz eingeplant, dass Mimoun auch hineinpasste, falls er doch noch wollte, auch wenn es dann sehr eng wurde. Tragen konnte es sie. Die Blätter würde er in den nächsten Tagen anfügen, wenn er wieder konnte. All ihre Habseligkeiten verstaute er gleichmäßig vor und hinter sich, dann stieß er sich ab und versuchte in die Mitte des Flusses zu kommen. Ewigkeiten hatte er nicht mehr auf dem Wasser verbracht und es dauerte eine ganze Zeit, bis er den Bogen wieder raus hatte, aber schließlich klappte es. Das Boot richtete sich in Fahrtrichtung aus und er begann zu strahlen, als er spürte, wie die Strömung daran zerrte. „Das ist toll!“, rief er und stuckte die Paddel erneut ins Wasser. Kritisch betrachtete Mimoun diesen Start vom sicheren Ufer aus. Es sah anfangs ein wenig ungelenk aus, was der Magier da trieb, doch ihm schien es großen Spaß zu machen, wie sein strahlendes Gesicht bewies. Der Geflügelte ließ seinen Blick wie schon so häufig, seit er sich hier unten aufhielt, hoch zu den Inseln schweifen und so vergingen noch einige Augenblicke, bevor er sich in die Luft erhob und dem Boot zu folgen begann. Es einzuholen war nicht sonderlich schwierig. In diesem langsamen Tempo zu fliegen, ohne den Halt in der Luft zu verlieren, war schon schwieriger. „Rutsch mal ein Stück.“, sagte er schließlich und landete federleicht auf dem Rand zu beiden Seiten dicht hinter Dhaôma. Dieses Tempo zu fliegen würde mehr Aufwand kosten, als das Boot ihnen ersparen würde. Der Braunhaarige grinste und rutschte soweit es ging nach vorne. Seinen Rucksack nahm er sogar auf den Schoß. „Du wirst sehen, das macht Spaß.“ Zuversichtlich hielt er beide Paddel ins Wasser, um das doch recht wackelige Boot zu stabilisieren. Ein missmutiges Schnauben war alles, was der Geflügelte darauf erwiderte. Dieser schwankende Untergrund wirkte nicht sonderlich Vertrauen erweckend auf ihn. Und es war eng. Kein Platz, an dem er bequem mit seinen Schwingen sitzen konnte. Umständlich, langsam und vorsichtig nahm er alles, was hinter ihm war, zwischen seine Beine und setzte sich ans hintere Ende. Die Knie angewinkelt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, konnte er seine Flügel auf dem Rand des Bootes ablegen, ohne dass sie Dhaôma bei seiner Tätigkeit beeinträchtigen konnten. Und so was sollte Spaß machen? Er bezweifelte es gerade stark. Dhaôma wartete geduldig, bis der Schwarzhaarige saß, bevor er mit den Paddeln ein wenig Fahrt aufnahm. Sie kamen gut voran, wie die vorbei treibenden Ufer ihm mitteilten. Eine Herde Wisente starrte sie hohläugig an, während sie im Wasser standen und tranken, ein Otter schimpfte sie aus und tauchte und sprang eine Weile neben ihnen her. Das schönste war aber die Sonne, die ihnen auf die Haut schien und sie wärmte. Einmal musste Dhaôma einigen Felsen ausweichen, um nicht mit ihnen zu kollidieren, aber dank der Stromschnellen wurden sie noch um einiges schneller. Mimoun musste sich stark zusammenreißen, sich bei dem ganzen Geschaukel nicht einfach wieder in die Luft zu erheben. Doch zu starten würde bedeuten, noch mehr Unruhe in das Boot zu bringen. Krampfhaft klammerte er sich an den Rand des Bootes. Das war definitiv nichts für ihn. Es hatte zwar seine guten Seiten. Sie brauchten nicht laufen, nicht ihr Gepäck tragen und kamen trotzdem vorwärts, doch es war eng und es schaukelte bedrohlich bei unachtsamen Bewegungen. Kaum waren sie aus den Stromschnellen raus, erhob er sich langsam. „Ich fliege wieder ein wenig.“, kündigte er an und räumte schon mal die Sachen im hinteren Bereich des Bootes wieder um. Dann stellte er sich wieder auf den Rand des Bootes und wartete, dass der Magier bereit war. Dieser paddelte in ruhigere Strömungen, bevor er ein Zeichen gab. Es schaukelte gewaltig, als Mimoun sich abstieß und zum ersten Mal bekam Dhaôma einen Eindruck davon, wie viel Kraft benötigt wurde, um die Schwerkraft zu überwinden. Verzweifelt kämpfte er um Gleichgewicht und war glücklich, als das Boot wieder gerade lag und nicht voll mit Wasser gelaufen war. „Nächstes Mal suchen wir vorher einen Ort, an dem ich mich festhalten kann.“ Aufatmend ließ er sich zurücksinken. Zumindest diesmal war alles gut gegangen. „Verzeih.“, rief Mimoun von oben. Er hatte gesehen, welche Auswirkungen sein Abflug gehabt hatte. Es war zwar zu erwarten gewesen, doch hatte er gehofft, dass die Folgen nicht ganz so heftig werden würden. Der Geflügelte würde es sich beim nächsten Mal zweimal überlegen, bevor er einen Start vom Boot aus tätigte. Er hatte gewusst, dass dieses Ding instabil war. Zumindest erfüllte es seinen Zweck. Durch ein Handzeichen zeigte er an, dass er voraus fliegen würde. Er besah sich den weiteren Flussverlauf, achtete auf weitere offensichtliche Felsen und zu erkennende seichte Gebiete. Sein Flug führte ihn in höhere Regionen und sein Blickfeld wurde größer. Wo befanden sich genügend Bäume als Deckung dicht am Ufer? Wo wären gute Rastplätze? Wurden sie von einer der Inseln aus bemerkt? Als er zurückkehrte, flog er mehrere Schleifen über Dhaôma, um nicht wieder in ein zu langsames Tempo fallen zu müssen. Knapp teilte er ihm seine Beobachtungen und Einschätzungen mit. Es half, um einen Rastplatz zu finden. Kurz vor Einbruch der Dämmerung steuerte der Junge in eine ruhige Bucht. Es platschte laut, als er mit steifen Beinen aus dem Boot wankte und es dann aus dem Wasser zog. Laut gähnend reckte er sich, versuchte eingeschlafene Glieder wieder wach zu bekommen. Eigentlich war er ausgeruht, hatte er doch außer ein paar Ruderschlägen zwischendurch wenig getan, aber trotzdem verlangte es ihn danach, sich schlafen zu legen. „Dir gefällt es nicht, dass ich auf dem Wasser bin, nicht wahr?“, sprach er seine Gedanken aus, als er in warmem Sand lag und den Himmel mit seinen unterschiedlichen Orangetönen betrachtete. Mimoun war so unruhig gewesen und immer wieder hatte er nach oben gesehen. „Es ist deine Entscheidung.“, wich der Geflügelte der Frage aus. Es hätte nichts geändert. In der freien Ebene wäre der Magier auch wie auf einem Präsentierteller gewesen. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass er dort seine Pflanzen bezaubern konnte. Was sollte er mit Wasser schon großartig ausrichten können? Während er Pflanzen rufen konnte, die ihm Schutz boten, so konnte sich Mimoun nicht vorstellen, dass mit Wasser ein wirkungsvoller Schutz aufgebaut werden konnte. Es reichte allemal zu Angriffszwecken. Und das würde er nie einsetzen. Zu sehr wünschte er sich Frieden. Ein Feuer zu entfachen, davon sah der Geflügelte ab. Es dürfte selbst für den Magier nicht mehr so kalt sein. Und der Schein würde in der Nacht Geflügelte aufmerksam machen, wenn auch nur einer zufällig nach unten schauen würde. Zwar würde niemand das Risiko eingehen, in der Nacht hier herunter zu kommen, doch am nächsten Morgen könnte es hier schon sehr früh von Seinesgleichen wimmeln. Diesen Rat gab er auch Dhaôma, als er sich Fleisch nahm und sich ein wenig abseits von dem Magier in das Gras legte. Unglücklich sah ihm dieser nach. Er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher, der sich überall verstecken musste. Natürlich verstand er, dass es gefährlich war, wenn die Hanebito ihn fanden, aber im Grunde genommen, war das feige. Er wollte Frieden schaffen, aber wie sollte er das erreichen, wenn er den anderen nicht zutraute, ihn am Leben zu lassen? Und Mimoun war auch seltsam. Es war fast, als wäre er wirklich nur gekommen, um ihn zu beschützen. Sein Beschützerinstinkt war so stark ausgebildet, dass er nicht einmal bemerkte, dass er sich selbst dadurch zurücknahm. Still fragte er sich, ob der Hanebito seine Freunde dort oben besuchen wollte und nur aus Rücksichtnahme bei ihm blieb. Das wollte er eigentlich nicht. Er wollte Mimoun nicht einengen. Und er wollte nicht eingeengt werden. Er wollte sich nicht verstecken müssen. Erinnerungen an die Begegnung mit Mimouns Familie stieg in ihm auf und er wusste, dass es besser so war, ganz egal was er sich wünschte. Dhaôma zog die Decke über den Kopf und rollte sich zusammen. Hoffentlich war er bald wieder frei. Mimoun riss einige Grashalme aus dem Boden und streuselte sie einzeln in den Wind. Träge wandte er seinen Kopf und ließ seine Gedanken mit ihnen davon treiben. Er wusste hinterher nicht zu sagen, worüber er sich Gedanken gemacht hatte, ob er überhaupt gedacht hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)