Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 9: Wiedersehen ---------------------- Kapitel 9 Wiedersehen Es war kalt gewesen, als er erwacht war, und Dhaôma hatte sich mit steifen Gliedern auf den Weg gemacht. Den Berg hinunter, aus der Ungemütlichkeit des Schattens heraus. Ohne irgendetwas zu sehen, war er gelaufen, bis er Sonne sehen konnte. Dann begann er zu rennen. Die Wiese, auf der er herauskam, war nur noch vereinzelt mit Schnee bedeckt, und auch hier fanden sich Anzeichen für den Frühling. Kleine rote Blüten sprenkelte das junge Grün und neugierig, wie es aussehen würde, war eine dieser roten Blüten ausgewachsen, als er ihr Kraft gab. Soviel er konnte, bis sie verblühte und Samen zu Boden fielen. Er hatte es übertrieben, stellte Dhaôma mit gerunzelter Nase fest. Aber das war nicht schlimm. Er würde die Samen einfach mitnehmen. Ihm hatte die Blüte gefallen. Und wenn sie hier wuchs, vielleicht konnte man sie auch auf den schwebenden Inseln anpflanzen, dort war es ja offensichtlich auch kalt. Dann machte er sich auf die Suche nach etwas zu essen. Ohne besonderen Erfolg. Wie ärgerlich. Diese Wiesen boten wirklich nichts für Wesen wie ihn, die kein Gras mochten. Also würde er jagen gehen, was ein Feuer bedeutete. Feuerholz gab es in den Nadelwäldern genug. Alles trocken und morsch. Und wenn er Vorräte hatte, konnte er schneller vorwärts kommen. Die Jagd war einfach. Während er noch Holz sammelte, zogen ein paar Hirsche über die Wiese. Er brauchte bloß werfen. Und traf auch. Dummerweise nicht wirklich glücklich. Das Tier gebärdete sich wie wild, während alle anderen flüchteten. Es verlor den Speer und hinkte davon. Das Beste, das Dhaôma hatte passieren können. Er nahm die Waffe auf und konnte diesmal sorgfältiger zielen. Diesmal traf er es im Hals. Und damit es sich nicht länger als nötig quälte, schnitt der Junge ihm die Kehle durch. Mit einigen Schwierigkeiten schleppte er seine Beute zu dem Holzhaufen, den er schon einmal entzündete, bevor er sich daran machte, den Bock auszuweiden. Von seinem momentanen Ausguck ließ sich keine lohnende Beute ausmachen. Und geduldig warten, wollte er auch nicht. Je länger er hier Zeit vertrödelte, desto mehr Vorsprung gewann vielleicht der Magier. Und in höheren Lagen fanden sich kaum noch Pflanzen, die der Magier erblühen lassen konnte. Gut. Er hatte seine Samen, aber Magie einzusetzen schien an den Kräften zu zerren. Der Geflügelte ließ seinen Blick über den Gipfel und den Horizont gleiten. Er sah sich einmal nach allen Seiten um. Die Inseln schwebten in weiter Ferne und dort war seine Familie. Hier umgab ihn nur dämliches Unkraut auf einem ebenso dämlichen Berg in tiefstem Winter, an dessen Flanke eine kleine Rauchsäule aufstieg. Mimoun rieb sich über die Augen. Doch, die Rauchsäule blieb. Hoffnung keimte in ihm auf. Wo Rauch war, war auch Feuer. Und für einen natürlichen Waldbrand war es definitiv die falsche Jahreszeit. Mit Schwung ließ er die Baumspitze sich noch ein wenig weiter nach unten biegen und nutzte die dadurch aufgebaute Spannung zum Start. Die Pause war noch nicht ausreichend gewesen und so reichten seine Kräfte nur bis zu der Wiese, an deren Rand das Feuer brannte. Mimoun konnte aus den Augenwinkeln eine Person ausmachen, die über irgendwas hockte, als er sich auch schon schneller als beabsichtigt dem Boden näherte. Zwar konnte er den Sturz mit den Füßen etwas abmildern, doch vom Schwung nach vorne getragen, musste er die Hände zum Abstützen mit nutzen. Fluchend rappelte er sich wieder auf und drehte sich zu der am Boden knienden Person um. Vor Schreck tat er einen Schritt nach hinten. Ungewaschen, mit zerrissenen Kleidern und in unterschiedliche Felle gehüllt, offenbarte sich unter all dem ansatzweise der gesuchte Magier. „Dhaôma?“, fragte er dennoch sicherheitshalber noch einmal nach. Der braunhaarige Junge starrte den Ankömmling erschrocken an, hatte schon wachsam das Messer zur Verteidigung gehoben, als er neben den Flügeln schwarze Haare und die bekannte Stimme wahrnahm. Das war doch… „Hanebito!“ Er strahlte. „Ai, Mimoun, nicht wahr?“, korrigierte er sich sofort. Was war das bloß mit diesem Geflügelten? War es sein Hobby, von irgendwo herunterzufallen? Oder wollte er einfach noch mal in das zweifelhafte Vergnügen kommen, von ihm behandelt zu werden? Erst danach fiel ihm die Ungereimtheit auf. War der Flügel nicht kaputt gewesen? „Haben sie dich etwa heilen können?“, fragte er aufgeregt. Dieser war beruhigt, als er beide ihm mittlerweile vertrauen Namen hörte. Er setzte sich im Schneidersitz auf die andere Seite des Feuers und atmete erst einmal tief durch. Er spürte, wie ihn die Erschöpfung zu überwältigen versuchte. Traurig sah er in die tanzenden Flammen. Der Geflügelte streckte den linken Flügel weit aus, um Dhaôma eine bessere Sicht zu gewähren. „Nein. Wie bereits erwähnt, kann das niemand. Aber eine Freundin kam auf eine brillante Idee. Sie haben eine zusätzliche Lederschicht daran genäht. Das unterschiedliche Gewicht zehrt gewaltig an den Kräften, darum auch der Absturz. Aber ich wollt nicht schon wieder die Spur zu dir verlieren.“ Neugierig lehnte sich Dhaôma vor, doch als seine Hände sich auf dem Bock abstützten, schüttelte er den Kopf. Zuerst um wichtige Dinge kümmern, den Flügel würde er danach ansehen. Mit geübter Hand fuhr er fort, die Haut vom Fleisch zu trennen. „Du hast also nach mir gesucht?“ Das war der Grundkonsens, den er aus den Informationen filterte. „Hast du auch das Karge Land durchquert? Ist das in der Kalten Jahreszeit denn leichter als im Sterbenden Sommer?“ Vielleicht ergab sich aus der Antwort für ihn ja eine Möglichkeit, die Wüste noch einmal zu durchqueren, ohne dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen. „Natürlich. Das ist der schnellste Weg in die Wolfsberge. Aber es ist egal in welcher Jahreszeit wir reisen. Fliegen ist schneller als Laufen. Und wenn ich von Insel zu Insel fliege, gibt es immer wieder Familien, die mich für die Nacht aufnehmen würden. Wir haben uns bei so was nicht so.“ Er klappte den Flügel wieder an, da es so bequemer war zu sitzen. Aufmerksam beobachtete er den Magier bei seiner Arbeit. Dieser schien dazugelernt zu haben. Wo er noch vor dem Winter nur Pflanzen sprießen ließ und sich von ihnen ernährte, schien er nun auch mehr auf Fleisch umgestiegen zu sein. Und das nicht gerade erfolglos, wenn er sich so die ganzen Felle betrachtete. „Beneidenswert.“ Dhaôma meinte das ernst. Wenn er sich überlegte, dass bei ihm Zuhause ein riesiger Aufstand gemacht wurde, wenn sich ein Gast ankündigte, wollte er gar nicht wissen, wie es war, wenn einer unangekündigt kam. Endlich hatte er es geschafft. Das Fell fiel mit der haarigen Seiten zuerst auf den Boden. „Irgendwelche Wünsche?“, fragte er und zeigte auf das Tier. Mimoun wurde aus seiner Betrachtung des Magiers gerissen. Er versuchte sich auszumalen, wie Dhaôma die letzten Wochen allein in den Bergen verbracht hatte. „Klar. Roh.“, grinste er schelmisch. Natürlich wusste Mimoun, worauf die Frage wirklich abzielte. Der braunhaarige Junge schenkte ihm einen nachdenklichen Blick. „Schon klar.“, erwiderte er schließlich, dann grinste er. „Viel oder wenig Blut?“ „Je mehr desto besser.“, gab Mimoun zurück und lehnte sich erwartungsvoll die Hände reibend ein wenig vor. Doch schnell setzte er sich wieder zurück. „Aber ich verzichte auf die Delikatesse. Dabei versaut man sich so schnell die Rüstung. Und Blut geht so schwer wieder ab.“ Die Stirn runzelnd sah Dhaôma auf das Tier hinunter. Was bitte war hier die Delikatesse? Und wollte er jetzt das Herz oder eher nicht? Leicht verzweifelt sah er wieder auf und rettete sich in ein schüchternes Lächeln, bevor er den Brustkorb eröffnete. Sofort kollabierte die Lunge und zog sich ein Stück zurück. Dennoch musste er sie herausholen, um an das Herz zu kommen. Mit sicheren Schnitten trennte er es heraus. „Wenn du vorsichtig bist, geht nichts daneben.“, erklärte er und brachte es zu Mimoun. Die Unsicherheit des anderen war deutlich zu sehen und Mimoun wollte schon etwas sagen, doch Dhaôma kam ihm mit der Ausweidung des Kadavers zuvor. Fasziniert beobachtete der Geflügelte die scheinbar zur Routine gewordenen Handgriffe, die sichere Handhabung der kurzen Klinge. Als der Magier ihm das Herz reichte, wusste er nicht recht, was er tun sollte. „Ich kenne dich, weiß in etwa, wie du handelst. Und ich weiß, du kennst mein Volk nicht, deshalb lass dir einen kleinen Tipp geben: Das Herz gebührt dem Jäger.“ Er verneigte sich ein wenig. „Doch wenn du darauf verzichten möchtest, danke ich dir für dieses Geschenk.“ Schon wieder irritiert überließ er seinem Hanebito den Lebensmuskel, bevor er zurückkehrte. Warum musste der Jäger das Herz essen? Es mochte ja sein, dass es wenig Fett enthielt, aber das machte es nicht zu etwas, das er persönlich begehrte. Das viele Blut darin schreckte ihn ab. Es gab bessere Teile. Die Leber beispielsweise. Doch bei diesem Tier musste er sie wegwerfen. Sie sah nicht besonders appetitlich aus. Er war unvorsichtig gewesen und die Galle war darüber gelaufen, noch dazu hatte sie viele weiße Punkte. Also spießte er sich ein Stück der Lendenmuskulatur auf einen Stock und hielt ihn über das Feuer. Nachdem er alle größeren Blutgefäße geöffnet hatte, würde das Tier in den nächsten Stunden genügend ausbluten, dass er das Fleisch mitnehmen konnte. Aber etwas beschäftigte ihn dennoch. „Hanebito, wie hast du mich gefunden?“ Und kaum hatte er zu Ende gesprochen, runzelte er die Stirn. Warum nannte er ihn immer noch Hanebito? Er kannte doch jetzt seinen richtigen Namen. „Mimoun.“, murmelte er wie zu sich selbst. „Du kannst mich auch weiterhin Hanebito nennen, wenn du möchtest, auch wenn ich nicht weiß, was es bedeutet. Es hat einen guten Klang.“ Er hatte sich ein wenig weggedreht und wie zufällig einen Flügel aufgefächert. Mimoun erinnerte sich noch an die Sache mit den Fischen. Auch da hatte der Magier nicht sonderlich begeistert ausgesehen und so wollte er ihm den Anblick, der ihn ja abzustoßen schien, ersparen. Nun sah er den Magier wieder an, das Blut, das ihm vom Kinn tropfte, schnell mit der Hand wegwischend. Er grinste. „Es ist schon ein wenig auffällig, wenn nur ein begrenzter Teil der Natur vor seiner Zeit erwacht.“, erklärte er. „Nur in diesem dämlichen Nadelwald war es unmöglich, derartige Bäume auszumachen. Ich war richtig erleichtert, den Rauch zu sehen. Auch wenn es sonst wer hätte sein können.“ Dhaôma sah ihn an, bevor er sich wieder seinem Stock zuwandte. So war das also. Daran hatte er nicht gedacht. Andererseits wusste doch eigentlich niemand, dass er diese Kraft wirklich besaß oder dass er sie einsetzen würde. Und wenn man nicht von oben auf den Wald sah, dann ergab das sicher auch keine Spur. Aber eigentlich war das nicht die Antwort gewesen, die er haben wollte. Vielleicht musste er die Frage noch ein wenig umformulieren. „Und warum hast du mich gesucht?“, brachte er schließlich hervor. Warum auch immer, ihm war die Frage peinlich. Immerhin hatte er gedacht, dass Mimoun froh war, von ihm wegzukommen. So hatte es zumindest gewirkt. Und er hatte ihn nicht angreifen oder verraten wollen. Warum also war er gekommen? Hochkonzentriert aß Mimoun weiter. Diese Frage wurde vorhin schon gestellt und er war sehr erleichtert, dass sie sich so einfach hatte übergehen lassen. Was sollte er auch antworten? Dass er sich für Dhaôma verantwortlich fühlte? Dass er sich immer Sorgen um ihn gemacht hatte? Das konnte er zwar seiner Mutter so offenbaren, doch nicht dem Magier. „Nur so ein Gefühl.“, wich er aus. Dann fiel ihm wieder etwas ein. Hektisch stopfte er sich den letzten Bissen in den Mund, leckte sich die Finger halbwegs sauber, bevor er sich Schnee zusammenklaubte und ihn zwischen den Fingern zerrieb. Schnell wischte er sich die Hände an der Hose trocken. „Hab doch noch was für dich.“, nuschelte er und robbte die wenigen Schritte zu Dhaôma auf den Knien, während seine Finger in dem Beutel an seiner Seite wühlten. Triumphierend zog er das kleine Notizbuch und die zusammengefaltete Karte hervor. Neugierig besah er sich das Buch, bevor er Mimoun kritisch musterte. Was für ein Gefühl hatte ihn bewogen, diesen ganzen Weg wegen eines kleinen Buches auf sich zu nehmen? Es würde ihn wirklich interessieren, aber offenbar konnte oder wollte er es ihm nicht sagen. „Was ist das?“ Seine Hände waren noch schlimmer mit Blut verschmiert als Mimouns, weshalb er nicht danach griff. Mimoun ließ sich neben den Magier wieder fallen und setzte sich in den Schneidersitz. Das Büchlein balancierte er auf den Fußknöcheln, damit es nicht mit der feuchten Erde in Berührung kam. Es sah schon jetzt abgenutzt und schwach aus. Niemand konnte sagen, welche Folge unsachgemäßer Umgang auf den Zustand des Buches haben konnte. Die Karte faltete er komplett auseinander und ließ sie auf seinen Knien ruhen, während seine Finger die einzelnen Landmarkierungen nachzogen. „Hier sind die Wolfsberge, wir müssten uns etwa hier befinden. Dort, das große Wasser. Und ich weiß nicht mehr, wie deine letzte Station lautete, aber es war irgendwas mit Schlucht. Diese könnte etwa deiner Information entsprechen.“ Er zog das Buch unter der Karte hervor. „Ich litt lange Zeit unter Unterbeschäftigung und hab in unserer Bibliothek gestöbert.“ Viel sagend grinste er und wedelte damit herum. „Rate.“ Nachdenklich überlegte der Braunhaarige. Worüber hatten sie geredet, als sie im Sommer miteinander gewandert waren? Den Krieg, Pflanzen, Ansichten. „Geschichte?“, fragte er und im gleichen Atemzug fügte er an: „Hast du noch Hunger? Es ist genug da und du bist gerade förmlich vor Schwäche vom Himmel gefallen.“ „Ja und falsch. Mit Geschichte hab ich mich auch auseinandergesetzt, aber in unserer nichts Brauchbares gefunden. Alles Berichte aus noch früheren Zeiten. Nichts was auch nur ansatzweise einen Hinweis liefern konnte.“ Noch immer wedelte er auffordernd mit dem Büchlein vor Dhaômas Nase. Also keine Geschichte. Versuchsweise knabberte er an dem heißen Fleisch. Es war noch nicht ganz durch, aber inzwischen gut. Seit dem Winter schätzte er halbgares Fleisch. Es war zarter und hatte mehr Flüssigkeit, was dem Körper gut tat. Aber was konnte es sonst sein? Er runzelte die Stirn und besah sich die Karte erneut. Erst da ging ihm ein Licht auf. Die Wolfsberge! „Geht es um Drachen?“, fragte er und in seiner Stimme schwang Hoffnung und Aufregung mit. Diese leuchtenden Augen sorgen dafür, dass Mimoun in schallendes Gelächter ausbrach. Er ließ das Buch leicht gegen Dhaômas Stirn fallen. „Natürlich. Ich tu mir doch nicht diese Strapazen wegen einer Kleinigkeit an.“ Er legte es wieder auf seine Füße und faltete die Karte zusammen. „Ich hab nicht viel davon gelesen. Ich kann dir also nicht versprechen, dass es dir hilft. Aber scheint so was Ähnliches wie ein Tatsachenbericht zu sein. Aber wie gesagt, ich weiß nicht, in wie weit sie der Wahrheit entsprechen.“ Beide Gegenstände verstaute er wieder in seiner Tasche und trennte sich ein Fleischstück aus der Brust des Hirsches. „Das ist toll! Dankeschön!“ Ungewollt bekam er Herzklopfen und beeilte sich mit dem Essen. Viel schaffte er nicht. Es war wie früher, wenn er am Tisch saß und endlich hinaus wollte, wenn der Hunger nicht mehr stark genug war, um ihn zu halten. Schnell steckte er noch ein paar Brocken Fleisch auf den Stock und lehnte ihn gegen die Hitze des Feuers, bevor er aufstand und zu einem Schneefeld ging. Eine kurze Berührung und eine tiefe Kuhle mit Wasser entstand, in der er seine Hände, Arme und die Fransen seiner Kaninchenpelztunika wusch. Dass das Wasser anschließend rosa war, störte ihn nicht, stattdessen kehrte er zurück. „Darf ich das Buch sehen?“ Fassungslos starrte Mimoun auf das Schauspiel. Seit wann konnte er das mit dem Wasser? Oder gehörte das zu dieser Pflanzensache dazu? Obwohl, der Schnee war geschmolzen. Er verfluchte sich innerlich, dass er keinen besseren Blick darauf gehabt hatte, da Dhaôma nun mit dem Rücken zu ihm stand. Das würde er wohl beobachten. Da er selbst noch Hunger hatte, zeigte der Geflügelte mit einer leichten Drehung der Hüfte an, dass der Magier sich bedienen konnte. Er selbst nahm sich derweil das nächste Stück und behielt von nun an Dhaôma im Blick. Er wollte jede Reaktion von ihm sehen. Momentan war es noch gespannte Vorfreude. Je nachdem, wie viele nützliche Informationen er daraus lesen konnte, konnte der Ausdruck auf seinem Gesicht dann unglücklich, enttäuscht oder begeistert sein. „Aber Vorsicht. Es scheint alt zu sein.“ Dhaômas Bewegungen wurden sofort behutsam. Alte Bücher kannte er. Niemals hatte er mehr damit machen dürfen, als sie bis zum Tisch tragen. Jetzt durfte er sogar darin lesen! Im Schneidersitz und mit dem Rücken zum Feuer, um Wärme abzubekommen, schlug er die erste Seite auf. Es war uralt, die Seiten bestanden noch aus Tierhaut. Fast wie seines. Die Tinte war noch ein wenig verblasster als in seinem Buch. Derjenige, der das Buch geschrieben hatte, nannte sich Jondalar. Nie hatte er von ihm gehört, aber das war nebensächlich. Es war ein Reisebericht. Auf den ersten Seiten beschrieb der Autor, dass er eine kleine Siedlung besucht hatte, in der Drachenreiter zusammenlebten. Oben auf einer der Inseln. Er hatte mit vielen gesprochen, hatte Informationen zusammengetragen und sich dann auf den Weg gemacht. Dorthin, wo die Drachen lebten. Wieder schlug er die Seite um. Man konnte kaum noch etwas erkennen. Da war ein großer Fleck, schwarz und von feinen Rissen durchzogen. „Blut…“, wisperte er und strich darüber. Diese Reise war wohl nicht so einfach gewesen, wie es bisher in den Schriften den Anschein hatte. Der Junge war so in die Lektüre vertieft, dass er seine Umgebung vollkommen ausgeblendet hatte. Mimoun beobachtete fasziniert, wie der Junge immer mehr in dem Buch versank. Mit Begeisterung sah er, wie Dhaôma jede noch so kleine Information in sich aufsog. „Darf ich mal?“, fragte der Geflügelte und griff vorsichtig von oben nach dem Buch. Zeige- und Mittelfinger ruhten auf den Innenseiten, die restlichen berührten den rissigen Einband. Mit leichtem Zupfen tat er seine Absichten kund. Es schreckte Dhaôma auf. Desorientiert blinzelte er, dann ließ er das Buch los. War ja nicht seins. So gerne hätte er weiter gelesen. Jetzt kamen doch erst die wirklich spannenden Teile, wie er die Drachen finden würde und wie er einen von ihnen auf seine Seite zog – oder auch nicht, das würde sich zeigen. „Du kannst ja gleich weiter lesen.“, lachte Mimoun. Das enttäuschte Gesicht war einfach nur goldig. Es war wirklich ein Glücksgriff, dass er dieses Buch gefunden hatte. „Aber erstens weiß ich nicht wie angebrannt dein Essen werden soll. Und zweitens sollten wir uns einen vernünftigen Unterschlupf suchen, bevor du unwiederbringlich in dem Buch verschollen bist.“ Ai, das leuchtete ein. Hastig drehte er sich um und sah nach seinem Mittag- und Abendessen. Schien soweit noch gut zu sein, ein bisschen brauner als gewohnt. Über sich selbst lachend schüttelte er den Kopf. Er hatte so lange nichts neues mehr gelesen, dass er das völlig vergessen hatte. „Ich habe noch keinen Unterschlupf auf meinem Weg gesehen. Wir müssen also weitergehen und woanders suchen.“ Er sammelte das Fleisch ein und schlug es in eine saubere Lederhaut, bevor er es im Rucksack verschwinden ließ. Dann sah er nachdenklich auf den Rest des Tieres hinunter, zuckte mit den Achseln und machte sich daran, alles zu zerlegen. Knochen, Sehnen und anderes Ungenießbares landeten bei der Leber, die guten Stücke auf dem Fell, das die Muskeln ja vorher schon geschützt hatte, welches er an seinen Speer knotete. Die wilden Tiere würden sich freuen, wenn sie diese leichte Beute fanden, auch wenn es nur Reste waren. „Sag mal, Hanebito, willst du wirklich mitkommen?“ Noch immer konnte er das nicht verstehen. Dieser starrte nachdenklich zu Boden. Der Magier schien allein ganz gut zurecht zu kommen. Es gab also keinen offensichtlichen Grund, warum er ihn begleiten sollte. Dass er eigentlich nur hier war, um die Einsamkeit des Magiers zu vertreiben, konnte er diesem ja schlecht auf die Nase binden. „Es verspricht ein Abenteuer zu werden. Wenn du also nichts gegen meine Gesellschaft hast, würde ich gern mitkommen.“ Offen sah er dem Magier ins Gesicht. Noch immer saß der Geflügelte an seinem Platz. Was hätte er auch tun sollen? Dhaôma schien seine Handgriffe schon völlig verinnerlicht zu haben. Da konnte er ja schlecht einfach dazwischen greifen. Also war es Abenteuerlust. Ja, das war ein vernünftiger Grund. Vielleicht wollte er ja auch einen Drachen zähmen, um endlich wieder ungehindert fliegen zu können. Auf Dhaômas Gesicht zeichnete sich ein weiches Lächeln ab. „Ich freu mich.“, sagte er leichthin. „Aber ich kann dir nicht versprechen, dass wir wirklich Drachen finden.“ Das beruhigte Mimouns aufgewühltes Inneres. Er hätte nicht sagen können, wie er reagiert hätte, wenn Dhaôma seine Begleitung ablehnen würde. Dieser schien sogar froh zu sein, dass Mimoun bei ihm bleiben wollte, wenn der Geflügelte das sanfte Lächeln richtig deutete. Was das Finden von Drachen betraf, erwähnte er besser nicht, dass er Dhaôma damals keine Chancen für seinen Traum eingeräumt hatte. Schließlich stützte sich alles, was er wusste, auf eine Legende. Auch jetzt glaubte er noch nicht vollständig an die Erfüllung des Traums. „Das macht nichts. Man sollte es zumindest versuchen.“ Zufrieden nickte Dhaôma. Dann war ja alles gesagt. Mit Schnee begann er das Feuer zu löschen, damit es nicht die hübsche Wiese abbrannte. Und irgendwo in dieses Zischen fragte er dann noch etwas, das ihn beschäftigte: „Aber deine Schwester und deine Mutter werden nicht sauer auf mich, weil ich ihren Sohn bei mir habe, oder?“ Es war leichtes Misstrauen, das bei der Erinnerung entstand. Die zwingenden Augen der Schwester, die Worte der Mutter, sie würde es ihm nicht übel nehmen, dass er ihren Sohn zurückgebracht hatte. Aber jetzt zog er ihn von ihr weg. „Ich will nicht, dass sie mich dafür hassen.“ Mimoun spielte lächelnd mit dem Anhänger. Wie sollte er jetzt verständlich machen, dass es ausgerechnet diese beiden waren, die ihn wieder hier herunter geschickt hatten? Dass sie es gewesen waren, die ihm seine Gedanken und Gefühle richtig bewusst werden ließen. „Mutter sagte, ich soll meinen Weg gehen. Und wenn der hier ist, akzeptiert sie es. Silia hat mir unter Androhung höchster Strafen gesagt, dass sie diesen Stein zurückhaben will. Ich habe also gar keine andere Wahl, als irgendwann gesund und munter zurückzukehren.“ Als ihm wieder etwas einfiel, lehnte er sich grinsend ein wenig vor. „Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass beide versichert haben, sie wüssten, dass ich bei dir sicher bin? Und dass das der einzige Grund ist, warum sie mich ohne Diskussion haben gehen lassen?“ Gut. Zumindest der letzte Teil stimmte so nicht ganz. Die beiden Frauen hatten ihn ja schon fast gedrängt, endlich abzuhauen. Soweit vertrauten sie ihm? Das brachte ihn doch in eine Zwickmühle! Dhaôma zog die Nase kraus. „Ich hoffe wirklich, dass ich ihr Vertrauen nicht enttäusche.“, gab er zu bedenken. Immerhin suchten sie nach Drachen. Und wenn Drachen fliegen konnten, dann brachte es dem Hanebito auch nichts, seine Prothese zu haben. „Aber ich gebe mir Mühe.“ Er schulterte seinen Rucksack und hob den Speer mit seiner Last an. „Na komm. Wenn ich mich sowieso gedulden muss, bis ich weiter lesen kann, können wir auch genauso gut ein Stückchen in Richtung des nächsten Berges gehen. Vielleicht erreichen wir sogar den Osthang, dann haben wir Sonnenaufgang zum Erwachen.“ Nickend erhob sich der Geflügelte. Die Ruhephase und das Essen hatten gut getan. Er fühlte sich wieder kräftiger, dennoch entschloss er sich, so wie früher neben dem Magier herzugehen. Es war ein beruhigendes Gefühl, ihn wieder an seiner Seite zu haben. „Wie ist es dir so ergangen im Winter? Ich meine, hattest du große Schwierigkeiten?“, fragte der Geflügelte, nachdem sie schon eine ganze Weile gewandert waren. „Am Anfang schon. Jetzt nicht mehr.“ Dhaôma passte sich wieder dem Hanebito an. Auch wenn dieser schneller lief als damals, er war immer noch nicht sehr geübt. „Ich hatte zu wenig Zeit, mich vorzubereiten, und ziemlich gefroren, bis ich gelernt habe zu jagen. Aber jetzt hab ich eine Höhle, in der ich im Winter leben kann, und neue Kleider.“ Stolz präsentierte er sie. „Ich kann mich sogar aus Lawinen befreien, wenn sie die Höhle verschütten.“ Der braunhaarige Magier grinste. „Es war gut, dass ich von zu Hause weggegangen bin, auch wenn ich Angst hatte, dass ich sterben müsste.“ Immerhin hatte er eine Menge dazugelernt. Er konnte Wasser schmelzen, jagen, mit seinem Holz haushalten, schneidern und hatte etliche neue Samen seiner Sammlung hinzufügen können. „Das tut mir Leid zu hören.“ Und er meinte es auch so. Wenn er daran dachte, dass er in seinem Heim mit gut gefüllten Vorratskammern und im Kreise seiner Familie und Freunde die kalte Zeit verbracht hatte, fühlte er sich schlecht. Zwar hatte Mimoun ab und zu an den Magier gedacht, aber er hatte ihm nicht wirklich beigestanden. „Aber jetzt bin ich ja da. Jetzt kann ich dir helfen, wenn du mich lässt.“ Dhaôma kicherte leise und strich sich ein paar braune Strähnen hinter das Ohr. Ein leichter Wind blies sie ihm sofort wieder ins Gesicht. „Du bist wirklich seltsam, Hanebito.“, kommentierte er sowohl die Mitleidsbekundung, die er nicht verstand, weil es in seinen Augen doch gut gewesen war, als auch die Tatsache, dass er helfen wollte. „Warum solltest du nicht tun können, was du möchtest?“ Seufzend griff sich Mimoun an den Kopf. Hatte dieser Junge wirklich alles vergessen, was im letzten Sommer vorgefallen war? „Ich spreche von Arbeitsteilung. Einer geht auf die Jagd, einer sucht derweil eine sichere Unterkunft. Zu tragendes Gewicht wird gleichmäßig auf uns beide verteilt, egal wem was gehört. Ich glaub nämlich nicht, dass dein ganzes Gehabe damals nur auf meine Verletzungen zurückzuführen war.“, brachte er es nun genauer auf den Punkt. „Und das seltsam gebe ich gern wieder zurück.“ Etwas erstaunt blickte der Magier seinen Weggefährten von der Seite an. Arbeitsteilung meinte er also mit helfen. Hatte er ihn nicht helfen lassen? Sie hatten doch zusammen Fische gefangen und Muscheln gesucht. Und den Kürbis hatte er auch ausnehmen dürfen. „Du willst tragen helfen?“, versicherte er sich nun vorsichtig. „Natürlich.“, gab Mimoun ohne zu Zögern zurück. „Ich finde es selbstverständlich, dass man sich gegenseitig unterstützt.“ Für ihn war es unbegreiflich, dass Dhaôma solche Schwierigkeiten damit hatte, sich auf andere zu verlassen. Mochte ja sein, dass er sich immer allein durchs Leben schlagen musste, aber er konnte es doch zumindest ausprobieren. Doch der Magier sträubte sich vehement selbst gegen Kleinigkeiten. Nachdenklich blieb Dhaôma stehen. „Ich hab nur das eine Fell, um Fleisch zu tragen.“, erklärte er mit gerunzelter Stirn. „Wir können es ja aufbewahren für den Fall, dass wir noch mal so große Beute machen.“ „Darum geht es doch gar nicht.“ Nun war Mimoun fast zum Heulen. Wie konnte man nur so begriffsstutzig sein? Wie einfach sollte er es denn noch erklären? Sollte er wieder in die Babysprache verfallen, falls es nur die Worte und nicht der Zusammenhang war, den der Magier nicht begriff? „Ich meine nur, der Weg wird nicht einfach. Es kann zu steileren Anstiegen kommen oder Felsüberwindungen oder einfach nur ’ne längere Strecke, die wir hinter uns gebracht haben. Was ich sagen will, ist, dass du mir das Bündel ruhig geben kannst, falls dir das Tragen zu viel wird. Dass du dich nicht scheuen sollst, mich auch um Hilfe zu bitten, wenn du sie brauchst. Ich bin hier, um dir bei der Erfüllung deines Traums zu helfen, nicht um ein weiteres sperriges Anhängsel zu sein.“ Ob er nun endlich begriffen hatte, worauf Mimoun hinaus wollte? Der Geflügelte hoffte es inständig. Noch genauer ging es wirklich nicht. Die kastanienbraunen Augen weiteten sich ein wenig. Hatte Mimoun nicht gesagt, dass er ein Abenteuer wollte? Und jetzt sagte er ihm, dass er gekommen war, um ihm seinen Traum zu erfüllen. War das sein Ernst? War er wirklich wegen ihm gekommen? „Okay.“, sagte er schließlich glücklich. Für ihn hörte es sich so an, als wären sie jetzt Freunde. Echte Freunde. Und Freunde nannte man beim Namen. „Mimoun.“, fügte er an und grinste von einem Ohr zum anderen. „Klingt gut für mich, Mimoun.“ Er schien es verstanden zu haben. Mimoun atmete erleichtert auf. Doch mehrfach seinen Namen und nicht jenen, den er von dem Magier bekommen hatte, zu hören, ließ ihn stutzig werden. Prüfend betrachtete er seinen Begleiter. Und das überglückliche Lächeln ließ ihn unsicher werden. „Was… klingt gut?“ Irgendwie wollte er die Antwort gar nicht wissen. „Mein Name oder mein Hilfsangebot?“ „Dass du jetzt mein Freund bist.“ Dhaôma setzte seinen Weg fort, noch immer strahlend. Plötzlich war der Tag wärmer, alles wirkte noch ein wenig strahlender, frischer. Mimoun stockte kurz in seinem Schritt. Nicht, dass diese Annahme falsch gewesen wäre, aber wie kam der Magier darauf? Wann hatte er so was behauptet? In Gedanken ging er noch einmal seine Worte durch, soweit er sich noch daran erinnern konnte, doch da war nichts, was in irgendeiner Weise darauf hindeutete. Oder doch? Besser, er fragte nicht nach. Es war auch egal. Dhaôma sah glücklich aus. Und das war die Hauptsache. Nun fühlte sich der Magier nicht mehr allein. Der restliche Abstieg verlief in einträchtigem Schweigen. Es war auch nicht wichtig, weitere Worte zu wechseln. Das Ziel war klar. Drachen finden. Und alles Wichtige war fürs Erste gesagt. Der Weg führte durch Nadelgehölze und Schnee den Hang weiter hinunter immer in Richtung des nächsten Berges. Mimoun hatte ganz vergessen, wie es war, mit den Flügeln durch einen Wald zu wandern. Gut. Die Bäume waren nicht ganz so hinterhältig wie die Laubbäume, an die er sich erinnerte. Doch es war noch immer nicht so einfach, wie sich vom Wind tragen zu lassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)