Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 5: Sorge ---------------- Kapitel 5 Sorge Kurze Zeit später fand Dhaôma einen Wildwechsel, der es dem Hanebito leichter machen würde, vorwärts zu kommen. Da auch die Tiere alle zum Wasser gezogen wurden, konnte er sich fast sicher sein, dadurch den Fluss zu erreichen. Inzwischen sehnte er das Ende des Tages herbei. Schlafen. Mehr wollte er nicht. Einfach nur schlafen. So lange wie möglich. Und danach würde er beginnen, die neue Kraft zu üben. Den Rest des Weges beschäftigte er sich mit dem Gefühl, das die neue Magie in ihm ausgelöst hatte, um hinter ihre Wirkung zu kommen und herauszufinden, wie er sie entfesseln konnte. Kurz bevor sie das Graszelt erreicht hatten, fand er den Schlüssel. Unter seiner Haut konnte er die Kraft spüren, wie sie hervordringen wollte, wie sie freizukommen versuchte. Unvermittelt blieb er stehen, schloss die Augen und unterdrückte sie mit aller Kraft. Er wollte nicht schon wieder ohnmächtig werden. Wie nicht anders zu erwarten, zehrte das ständige Ästen Ausweichen und durch Büsche Drängen an seinen Kräften. So war er sehr dankbar, als sie schließlich auf diesen Wildwechsel stießen. Er ließ die Schwierigkeiten zwar nicht vollständig verschwinden, doch machte er das Vorwärtskommen erträglicher. Und da er seine Aufmerksamkeit nicht mehr vollständig auf seinen Weg richten musste, begann er die Umgebung zu betrachten, den Geruch des Waldes in sich auf zu nehmen, den Geräuschen zu lauschen. So entging ihm der plötzliche Stopp des Magiers und er stieß gegen ihn. Es riss Dhaôma aus seiner Konzentration und ließ die Kontrolle brechen. Seine Arme begannen zu leuchten, nur die kleinen dreieckigen Linien auf seinen Fingern, aber er spürte sofort, dass es zu viel Kraft war, dass sie ungerichtet floss und viel zu schnell. Er ging in die Knie, presste die Hände auf den Boden, versuchte die Magie einzudämmen, doch alles, was er erreichte, war, dass sie sich in den Boden richtete. Verwelkte Gräser wurden wieder grün, graubraune Blütenblätter bunt und kräftig, eine zerbrochene Nuss ohne Inhalt trieb Wurzeln. Dann kippte er zur Seite. Das Leuchten erlosch. Die Reserven waren endgültig erschöpft. Durch den unerwarteten Zusammenprall erschrocken wich der Geflügelte einige Schritte zurück und setzte bereits zu einer Entschuldigung an, als er sah, wie Dhaôma in die Knie ging. Die Zeichen auf seinen Fingern leuchteten. Das hieß, dass er Magie einsetzte, soviel hatte Mimoun mittlerweile begriffen. Doch warum jetzt, warum hier? Hektisch sah er sich um, doch nichts deutete auf eine Bedrohung hin. Nicht wissend, was er sonst tun sollte, trat er wieder einen Schritt vor und streckte die Hand aus. Dabei sah er, wie unter den Händen des Magiers das tote Gras wieder zum Leben erweckt wurde. Was bezweckte Dhaôma damit? Mimoun verstand es nicht. Als dieser umkippte, sprang der Geflügelte sofort an seine Seite. Hektisch rüttelte er an der Schulter des Magiers. „Dhaôma? Komm schon. Wach auf. Was ist mit dir?“ Als keine Reaktion kam, setzte er sich neben ihn. Tief und kontrolliert atmete er ein und aus. Was sollte er jetzt tun? Erst musste er einen Ort finden, wo sie sicher vor Raubtieren waren. Doch er konnte den Magier in seinem Zustand hier nicht allein lassen. Nur, ob er imstande war, ihn ziellos durch die Gegend zu schleppen, wagte er zu bezweifeln. Sein Blick irrte den Wildwechsel entlang. Durch den Wald schleppen ohne Ziel wäre noch anstrengender. Vielleicht sollte er gucken, wohin dieser Weg führen würde? Es war zumindest die einfachste Möglichkeit, die es gab. Nein, korrigierte er sich. Es gab eine einfachere, stellte er mit einem Blick auf den Magier fest, doch diese kam für ihn nicht in Frage. Dafür verdankte er Dhaôma zuviel. Vorsichtig löste er den Rucksack von den Schultern des Magiers. Na toll. Und wie sollte er den Magier von hier wegbewegen? Wenn er noch zwei gesunde Arme hätte, wäre das nicht das Problem. Seine gesunde Hand glitt über die Schiene am Arm. Kurz überlegte er noch und löste dann den Verband, so dass die Stöcke, die seinen Arm in der richtigen Position halten sollten, ungehindert zu Boden fielen. Mit dem Stoffstreifen band er Dhaômas Handgelenke zusammen, trotz allem darauf bedacht, dass diesen nicht die Blutzufuhr abgeschnürt oder schmerzende Einschnitte zugefügt wurden. Sein rechter Arm war fast nutzlos. Er schaffte es kaum, den Knoten entsprechend festzuziehen. Und wirklich zufrieden war Mimoun auch nicht mit seinem Werk. Doch was blieb ihm anderes übrig? Hier konnten sie unmöglich bleiben. So völlig ohne Deckung und Nahrung und Wasser. Obwohl das Wasser nicht weit entfernt war. Er konnte das leise Rauschen bereits hören. Den Rucksack trug er vorne. Den Magier wuchtete er hoch, legte sich dessen gefesselte Hände um den Hals und sorgte dafür, dass dieser sicher zwischen den Flügeln hing. „Na gut. Dann los.“ Die Hände des Magiers festhaltend, damit sie ihm nicht die Luft abschnürten, erhob er sich, fluchte ein wenig aufgrund des großen Gewichts und der damit zu erwartenden Anstrengung, und schleppte sich Schritt für Schritt den Waldwechsel entlang, immer der Quelle des Geräuschs entgegen. Auch wenn der Weg durch die Last sich in die Länge zog, war es nicht einmal ansatzweise so weit, wie er es befürchtet hatte. Dass das Rauschen so leise gewesen war, lag wohl eher daran, dass es sich nur um ein langsam dahin fließendes Bächlein handelte. Keuchend blieb Mimoun stehen und sah sich suchend um. Und nun? Wohin sollte er sich nun wenden? Sein Blick fiel auf ein Holzgestell ein gutes Stück stromabwärts. Durch das ganze Gras, das es überwucherte, war es kaum noch als solches zu erkennen. Das war sicher Dhaômas Ziel gewesen. Mit zittrigen Beinen taumelte er, das Gestell immer fest im Blick, darauf zu. Jeder Schritt fiel ihm schwerer als der davor. Doch er dachte einfach nicht an die Schritte, die noch vor ihm lagen, sondern erfreute sich an denen, die er bereits geschafft hatte. Seine Erleichterung wuchs noch, als er seinen Ballast endlich ablegen konnte. Vorsichtig bettete er den bewusstlosen Magier auf der Erde, legte ihm seine Tasche daneben und befreite dessen Hände. Zu gern hätte sich der Geflügelte nun ebenfalls eine Ruhepause gegönnt. Seine Sicht begann sich vor Erschöpfung zu trüben, doch solange der Magier so außer Gefecht gesetzt war, blieb ihm nichts anderes übrig, als wach zu bleiben. Träge und mit sich selbst kämpfend nahm er den Wasserschlauch. Das restliche Wasser ließ er über die zweckentfremdeten Verbände laufen und legte die durchnässten Stoffstreifen auf Dhaômas Stirn. Er konnte nicht sagen, ob der Junge Fieber bekommen würde, doch er wollte besser vorsorgen. Anschließend erhob sich Mimoun taumelnd und füllte den Wasserschlauch neu. Auch diesen legte er leicht erreichbar neben den Magier. Erst danach gestattete er sich ebenfalls zu trinken. Dafür tauchte er seinen Kopf auch ganz unter Wasser, um wieder halbwegs klar denken zu können. Was fehlte noch? Nahrung. Das brachte nichts. Er kannte sich hier nicht ausreichend aus, um entsprechende Früchte und Kräuter zu suchen. Und Fischen war zu anstrengend in seiner momentanen Verfassung. Blieb nur noch Verteidigung. Der Geflügelte suchte sich zwei unterschiedlich lange Stöcke. Den einen, lang und gerade, spitzte er an und legte ihn griffbereit neben sich, als er sich an den Eingang des Unterstandes setzte. Der zweite, nicht ganz so lang, etwas dicker und nicht ansatzweise gerade, spitzte er ebenfalls an. Doch hier ging er sorgfältiger ans Werk. Es war wichtig, dass es wirklich gut wurde. Diesen buddelte er dicht vor sich in den Boden. Sollte er einnicken und nach vorne kippen, würde sich die Spitze in sein Gesicht bohren und ihn wieder wecken. Erschöpft stieß er die Luft aus und sein Blick wanderte über den Magier. Jetzt hieß es wohl warten. Als Dhaôma erwachte, war es still. Nicht ganz still, es waren eher die Geräusche der Nacht, die ihn weckten. Und das untrügliche Gefühl, nicht allein zu sein. Neben sich ertastete er den Wasserschlauch und trank, bis er sich nicht mehr ganz so durstig fühlte. Dann sah er sich um. Zu dunkel, um viel zu erkennen, aber die Gestalt am Eingang nahm er dennoch wahr. Einer der Flügel sperrte fast alles Licht von draußen aus. Er versuchte sich zu erheben und brauchte dazu zwei Anläufe, dann manövrierte er sich an dem Hanebito vorbei. Sein Körper war wie zerschlagen. Was war denn nur passiert? Dunkel erinnerte er sich daran, dass er versucht hatte, wilde Magie zu unterdrücken. Offenbar hatte er es nicht geschafft. Und genauso offensichtlich hatte Hanebito ihn hierher gebracht. Der arme musste völlig planlos gewesen sein. Jetzt schlief er. Halb im Sitzen. Das würde sicherlich nicht sehr erholsam sein. Leise verließ er das Zelt und schlug sich in die Büsche, um seine Notdurft zu verrichten. Anschließend wanderte er halb um das Zelt herum zu einem Baum. Die kurze Kletterpartie forderte fast seine ganze Kraft, so dass er sich oben in der riesigen Astgabel einrollte und sofort wieder schlief. Müde streckte sich der Geflügelte, als die ersten Sonnenstrahlen ihn weckten. Jeder Knochen und jeder Muskel im Leib schmerzten aufgrund der unglücklich gewählten Schlafposition. Erschrocken fuhr er hoch. Verdammt. Da war er doch tatsächlich eingeschlafen. Das Nachtlager des Magiers war verlassen. Hastig sprang er auf seine noch immer zittrigen Beine und ging einen Schritt in das Zelt hinein, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Der Magier war nicht mehr da. Verdammt, verdammt, verdammt. Er hatte doch wach bleiben wollen. Er hatte doch aufpassen wollen. Hektisch sah sich Mimoun vor dem Unterstand nach allen Seiten um, doch nirgends eine Spur. „Dhaôma?“, rief er laut in den erwachenden Wald hinein. Der Junge hörte das Rufen nur am Rande seines Bewusstseins, rollte sich enger zusammen und versteckte den Kopf zwischen den Armen. Er war noch müde. Viel zu müde, um aufzuwachen oder sich darüber Gedanken zu machen, wie man die Augen am besten zu öffnen hatte. Vergebens wartete Mimoun auf eine Antwort. Am Rande hatte er gehofft, dass der Junge nur kurz austreten war, doch warum antwortete er dann nicht? Sich selbst zur Ruhe zwingend ging er einige Schritte im Kreis und versuchte zu überlegen. Die Tasche und der Wasserschlauch waren noch da, das hatte er beim Blick in das Zelt gesehen. Also hatte der Magier ihn nicht absichtlich allein hier zurückgelassen. Es musste etwas vorgefallen sein. Doch nach dem, was gestern vorgefallen war, bezweifelte Mimoun, dass der andere die Kraft hatte, längere Strecken zu laufen, konnte also von allein nicht weit gekommen sein. „Dhaôma? Verdammt, antworte!“, rief er noch einmal, weil er absolut keine Ahnung hatte, was er sonst tun sollte. Spuren lesen? Ja klar. Weil er sich in einem Wald mit so was auch auskannte. Sicher. Auch diesmal kam keine Antwort. Der Geflügelte atmete tief ein, ballte die Hände zu Fäusten und ging fest entschlossen in den Wald. Doch so sehr er auch suchte. Nirgends auch nur eine Spur von dem Magier oder eines Kampfes. Es vergingen Stunden, bis er sich niedergeschlagen zurück zu dem Unterstand begab. Er ließ sich am Ufer nieder und starrte in das träge dahin fließende Wasser. Und was sollte er jetzt tun? Dhaôma erwachte, weil ihn etwas kitzelte. Namentlich war es ein Flughörnchen und es quietschte erschrocken auf, als er sich bewegte und direkt in seine schwarzen Knopfaugen blickte. Viel zu müde, um sich über die Störung zu beschweren, gähnte er und streckte sich. Und bemerkte dann, dass es schon längst heller Tag war. Ob die Mittagszeit schon vorbei war? Hatte er wirklich einen ganzen Tag durchgeschlafen? Neugierig sah er sich um und stellte fest, dass er auf einem bekannten Baum schlief. Vor langer Zeit hergerichtet. Er war beim Graszelt. Grinsend sprang er vom Baum herunter. Er fühlte sich großartig. Ausgeschlafen, ausgeruht und voller Energie. Das Rascheln der Blätter unter seinen Füßen machte ihn langsam munter, wenige Schritte später hatte er das Zelt erreicht. Es war verlassen. „Ui? Hanebito?“ Suchend sah er sich um, beschloss dann allerdings, sich erstmal zu waschen. So was schadete nie. Erst auf dem Sprung in eine natürliche kleine Ausbuchtung, sah er den Geflügelten aus dem Augenwinkel. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, im nächsten Moment landete er auch schon im brusttiefen Wasser. Prustend kam er wieder herauf und schüttelte sich. „Guten Morgen!“, rief er und winkte. Durch diesen Ruf aus seinen trüben Gedanken gerissen, sah Mimoun auf. Dort vor ihm plantschte der Magier. Fröhlich. Ausgelassen. Einerseits durchflutete ihn Erleichterung, da es ihm ja augenscheinlich gut ging. Andererseits kochte brennende Wut in ihm hoch. Mit einem Satz war er auf den Beinen. „Du verdammtes Arschloch. Was heißt hier guten Morgen?“, brüllte er ihn an. „Uh?“ Dhaôma legte den Kopf schief. Wasser tropfte aus seinen langen Haaren, rann über sein Gesicht und ließ seine Kleider am Körper kleben. „Hast du schlecht geschlafen, Hanebito?“, fragte er arglos. „Schlecht...?“ Jetzt explodierte Mimoun richtig. „Schlecht geschlafen? Sag mal, bist du nicht mehr ganz richtig im Kopf? Du brichst mitten auf dem Weg bewusstlos zusammen. Ich schleppe dich gefühlte Meilen durch die Pampa und diesen drecks-beschissenen Gemüsehaufen. Ich sorge dafür, dass du ein weiches Lager und Wasser in der Nähe hast. Mir ging’s echt beschissen und ich hab trotzdem versucht, wach zu bleiben, um dich im Notfall beschützen zu können. Du verschwindest ohne ein Wort oder einer Spur. Ich grabe den halben Gemüsehaufen um auf der Suche nach dir, rufe nach dir ohne Antwort und alles was ich zu hören kriege ist ein 'Guten Morgen. Hast du schlecht geschlafen'.“ Schwer atmend und vor Wut am ganzen Leib zitternd stand der Geflügelte am Ufer und versuchte den Magier in Grund und Boden zu starren. Dieser betrachtete den jungen Mann. Seine Augen waren schmal, sein Gesicht rot. Sah doch ganz gesund aus inzwischen. Außerdem gefiel es ihm, dass er sich offenbar Sorgen um ihn gemacht hatte. „Du hast mich getragen? Danke dafür.“, überging er all die anderen Vorwürfe und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. Es war kühl und prickelte an den Fingerspitzen. Auf seinem Gesicht erschien ein fast entrücktes Lächeln. Das war zuviel. Das... war... echt zuviel. Es schien den Magier nicht zu kümmern, was der Geflügelte auf sich genommen hatte. Es schien ihm egal zu sein. Ein Dank war wirklich das letzte, was er in diesem Moment hören wollte. „Du verdammtes, ignorantes Arschloch.“ Noch immer vor Wut bebend drehte sich Mimoun um und strebte in den Wald. In irgendeine Richtung. Einfach nur weg, damit er nicht irgendeine Dummheit machte, die er später vielleicht bereuen würde. Wirklich irritiert sah Dhaôma ihm nach und fragte sich, was er wohl diesmal wieder falsch gemacht hatte. Ob es etwas war, das er gesagt hatte? Oder war es eher etwas, das er unterlassen hatte? Er löste das Band, das seine Haare nach oben hielt und tauchte unter Wasser, wusch den Sand und den Schmutz aus den Haaren, die sich im Steinbruch dort verfangen hatten. Danach machte er sich auf die Suche nach etwas zu essen. Noch immer hatte er zu wenig Magie, um damit noch nicht reife Früchte reifen zu lassen, aber hier gab es genügend Essbares. Am besten waren die Süßwassermuscheln, die er aus dem Bach fischte. Mit seiner Beute kehrte er zum Zelt zurück und teilte sie in zwei Stapel. Und weil er nicht wusste, wann der Hanebito zurückkam, fing er einfach schon an. Dieser kehrte erst in den Abendstunden zu dem Unterschlupf zurück. Den ganzen Tag hatte er sich nur von einigen wenigen Früchten ernährt, die er durch Zufall gefunden hatte. Er war noch immer sauer, doch versuchte er, es sowohl aus seiner Mimik als auch Gestik zu verbannen. Ohne ein Wort an den Magier zu richten, begab Mimoun sich erst zum Bach, um etwas zu trinken. Auch darauf hatte er fast den ganzen Tag verzichtet. Erst durch Dhaômas Verschwinden, dann durch seinen eigenen Abgang. „Ah, du bist wieder da.“, begrüßte Dhaôma den Schwarzhaarigen. Nachdem der junge Mann nicht mehr zurückgekommen war, hatte er gelesen. Irgendwie war er sicher gewesen, dass er wiederkommen musste. Wenn nicht, hätte er ihn später gesucht. Und es war auch nicht so, als wäre dieser Kerl nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Ihm war nicht entgangen, dass er die Schiene entfernt hatte. Jetzt klappte er das Buch zu und blickte Mimoun aufmerksam entgegen. Der Geflügelte hörte zwar die Worte, doch er reagierte nicht darauf. Zuerst stillte er seinen Durst. Er wusste noch immer nicht, wie er dem Magier nun entgegentreten sollte. Einfach die Szene übergehen, die sich heute Mittag abgespielt hatte? Oder sich für die rüden Worte entschuldigen und sich erklären? Mimoun hatte den ganzen Nachmittag Zeit gehabt sich zu entscheiden, aber beide Möglichkeiten hatten Facetten, die ihm nicht behagten. Still begab er sich zum Unterschlupf und setzte sich Dhaôma gegenüber. Dieser beobachtete ihn. Seine Gedanken versuchten das Verhalten zu analysieren, aber alles, was ihm einfiel, war, dass der Hanebito sich dagegen wehrte, ihn zu mögen. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass er ihm hatte helfen müssen. Vielleicht machte er sich sogar Vorwürfe, dass er ihm geholfen hatte. Von Anfang an hatte es ihm ja nicht gefallen, dass er in seiner Nähe war. Und wenn er bedachte, was für ein Schreck es für ihn gewesen sein musste, plötzlich inmitten eines potentiell feindlichen Waldes ganz auf sich allein gestellt zu sein, dann verstand er auch die Überreaktion. Und wenn das so war, dann sollte er ihm diese Angst nehmen, nicht wahr? „Mach dir keine Sorgen.“, sagte er und lächelte ihn an. „Ich lass dich nicht alleine. Ich habe versprochen, dich nach Hause zu bringen, also werde ich das auch tun.“ Langsam erhob er sich. „Und da es dir offenbar besser geht, werde ich dir nicht mehr als nötig auf die Nerven gehen. Du musst nur noch zwei Tage durchhalten, vielleicht ein wenig länger.“ Damit machte er Anstalten zu gehen. „Darum ging es doch nicht.“, platzte Mimoun heraus. Enttäuschung wallte in ihm auf. Wieso konnte der Junge nicht verstehen, dass... Mimoun unterbrach seine Gedanken abrupt. Er biss sich auf die Lippen und barg das Gesicht in den Händen. Er hatte sowieso schon zu viel gesagt. Vorhin ebenso wie jetzt. Dhaôma verharrte im Schritt und runzelte die Stirn. „Worum geht es dann? Es muss doch einen Grund dafür geben, warum du so wütend warst.“ Mimoun lehnte sich zurück, versuchte sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen. „Warum ist es so schwer für dich zu verstehen, dass du anderen wichtig sein könntest und sie sich Sorgen um dich machen?“ Braune Augen weiteten sich in Erstaunen, bevor Dhaôma lächelte. „Mir ist aufgefallen, dass du dir Sorgen gemacht hast.“, erklärte er. „Aber als ich mich dafür bedankt habe, bist du nur noch wütender geworden, also dachte ich, ich hätte mich geirrt.“ Fassungslos starrte Mimoun den jungen Magier an. Das war doch sicher ein Witz. „Du... weißt aber schon, dass Leute, die sich Sorgen gemacht haben, gerne ein 'tut mir Leid, dass ich dir Sorgen bereitet habe' hören wollen, oder?“ Wieder erschienen die Furchen auf Dhaômas Stirn, als er versuchte, den Sinn hinter den Worten zu erlangen. War das so? Musste man sich dafür entschuldigen? Aber wenn es so einfach war… „Tut mir Leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe.“, wiederholte er Mimouns Wunschworte. Nun war Mimoun sprachlos. Dieses Kind schien die einfachsten Formen zwischenmenschlicher Beziehungen weder zu kennen noch zu verstehen. Er kratzte sich hilflos am Kopf. „Und normalerweise bereut man es wirklich. Schließlich sind die Personen, denen man Sorgen bereitet hat, Personen, die einen mögen, die man vielleicht selber mag und denen man eigentlich nicht wehtun wollte.“, versuchte er das Verhalten des Magiers noch ein wenig weiter zu korrigieren. Dhaôma legte den Kopf schief, dachte einen Moment nach und begann dann überglücklich zu lächeln. „Ich hab dich auch gern.“, gab er zur Antwort. „Auch wenn ich dich nicht verstehe.“ Mimoun gab auf. Dem Jungen war definitiv nicht mehr zu helfen. „Prima. Dann sind wir wenigstens schon zwei.“, kommentierte er stattdessen den letzten Satz. Dass er den Magier wohl zu mögen schien, schien diesen augenscheinlich glücklich zu machen. „Gut.“, stellte der Junge fest, dann setzte er seinen Weg fort. „Iss auf, dann schlaf. Wir gehen morgen weiter. Die Strecke wird länger als die gestern, weil wir sonst keinen Unterschlupf für dich haben. Aber immerhin erreichen wir dann die Ebene.“ Er winkte. „Gute Nacht.“ „Ja. Gute Nacht.“, gab der Geflügelte geschlagen zurück. Was hatte man diesem Kind nur angetan? War Dhaôma etwa all die Jahre komplett ohne soziale Beziehungen aufgewachsen? Der Magier konnte einem einfach nur Leid tun. Nachdem er den ersten Bissen in sich hinein geschoben hatte, spürte er erst wieder seinen quälenden Hunger und er verschob solche Gedanken auf den morgigen Tag. Morgen würde die Sache sicher schon anders aussehen. Auch wenn schon ein großes Wunder geschehen müsste, sollte Dhaôma tatsächlich innerhalb einer Nacht soziale Kompetenzen erwerben. Da der junge Magier bereits gegangen war, befreite sich der Geflügelte heute selbständig aus der Rüstung. Sein rechter Arm war noch immer nicht voll einsatzfähig. Zwar konnte er ihn bewegen, aber Kraftanstrengungen damit waren noch unmöglich. Er würde sich langsam wieder an seine alte Stärke herantasten müssen. Doch auch das war etwas, das er nicht mehr heute Abend regeln würde. Heute würde er einfach nur in einer bequemeren Position als in der letzten Nacht schlafen. Dhaôma saß wenig später auf seinem Baum und betrachtete einen einzelnen Stern, den er durch die Blätter sehen konnte, wenn gerade kein Windstoß sie bewegte. Was hatte den anderen nur so aufgeregt? Dass er sich nicht entschuldigt hatte, dass er ihm Sorgen bereitet hatte, schien ihm so auf die Leber geschlagen zu haben, dass er einen ganzen Tag das Trinken vergessen hatte. Dabei waren es nur ein paar Worte, nichts wirklich Weltbewegendes. Was hatte es damit auf sich? War ein Dankeschön nicht netter? War es nicht aussagekräftiger? Aber vielleicht war das auch bloß so eine Hanebito-Sache. Er würde sich das merken, falls er jemals wieder in die Verlegenheit geraten sollte, einem Hanebito Sorgen zu bereiten. Zufrieden mit dieser Erklärung rollte er sich zusammen und schlief recht schnell ein. Diesmal machte das Flughörnchen vom Morgen einen großen Bogen um ihn. Ich dreh die Zeit zurück Wir fangen ganz von vorne an Jeder Augenblick ist es wirklich wert Ich dreh die Zeit zurück Und ich glaub ganz fest daran Denn im Augenblick geht es uns nicht gut [Digimon – Ich dreh die Zeit zurück] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)