Der Junge hinter dem Lächeln von Mounira ================================================================================ Kapitel 7: ----------- VII. Als du Alfred zum siebten Mal siehst, sieht er außergewöhnlich glücklich aus. Glücklich und ausgelassen – nicht glücklich, aber krank wie im November, als er regelrecht in die Umarmung seines Vaters gekrochen ist. Mit Lippen wie Pauspapier und trübmüden Augen. Die Gestalt nur mehr ein Kleiderständer für teure Klamotten und die Hände derartig tief in die Ärmel zurückgezogen, als wollten sie mit nichts in der Welt je wieder in Berührung kommen. Ja, das war Babyface im November und dieser November ist nun eindeutig vorbei, ebenso wie Weihnachten und die Tage unmittelbar nach Neujahr. Der vorangeschrittene Jahresbeginn pustet Pulverschneeflöckchen über die Stadt, hält die Temperaturen konstant tief und lässt New Yorks Gebäude wie starrkantige Eiszapfen in den blassgrauen Himmel empor ragen. Das Ziel verfolgend, die Wolken so lange zu triezen bis sie grantig ihren letzten Schnee abwerfen und dann als leere Verlierer vom Himmelsschlachtfeld schreiten. Aber der Winter in New York hält nichts von Niederlagen und lädt deswegen alljährlich den Nor’easter zu sich ein. Unterstützende Gesellschaft ist eben stets willkommen. Alfred sitzt inmitten einer Gruppe gleichaltriger Jungs, die sich abwechselnd das Wort zuspielen und entreißen. Hände fliegen aufgeregt gestikulierend durch die Lüfte. Heitere Lachwogen zerplatzen wie Feuerwerkskörper am Firmament und setzen Akzente im Gelächter. Die Gruppe ist ein extrovertierter, mit Sporttaschen und Rucksäcken ausgestatteter Haufen, der Kraft aus seiner selbst produzierten Energie schöpft. Marcia vornweg, meldet sich ein schrilles Glöckchen über der Türe zu Wort, als ihr den im besten Stil der 50er eingerichteten Laden betretet. Du hast Alfred lange entdeckt, bevor er dich überhaupt gesehen hat, wofür es genau zwei Gründe gibt. Zum einen drängt das Gelächter seine Augenlider zusammen, zum anderen versperren ihm einige seiner Freunde die Sicht auf den Eingangsbereich. Über die altroten Ledergarnituren der Sitzecken hinweg, zwinkert Marilyn Monroe von der Wand, während James Dean auf einem XXL Print direkt daneben den Raum überblickt, als sei er der King höchstpersönlich. Im Hintergrund erläutert Elvis singend die Vorzügen von „A Little Less Conversation“, kriecht einem charmant durch die Gehörgänge und streift jeglichen Anstand so spielend leicht vom Gemüt als handele es sich um die feinen Träger eines Seidenkleids. Es dauert keine drei Sekunden bis Elvis’ unverwechselbare Stimme dir wie bleischwerer Cognac zu Kopf steigt und deine Stimmbänder zum Mitsummen verführt. Und dann passiert es: Alfreds und dein Blick kreuzen sich, verlieren sich und schieben sich wieder ineinander. Milde lächelnd grüßt du mit einem unauffälligen Nicken in seine Richtung. Deine Anwesenheit scheint ihm jedoch das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Seine Augen werden weit und wachsam, sein Unterkiefer schiebt sich nach vorn und sein bis eben noch penetrantes Lachen verliert an Spannkraft. Achtung übermannt seine Augenbrauen und glättet schließlich seine Grübchen. Lässt sein Lächeln wie einen direkten Verwandten des Elektrolächelns wirken, das du eigentlich nicht mehr zwischen euch anzutreffen gehofft hast. Es gilt auch weniger dir als vielmehr den anderen Jungs, die mit ihren breiten Schultern einen kantigen Kreis bilden. Zwischen einem Kapuzenshirt und einem Jackass Pulli hindurch erkennst du arges Bedenken in Alfreds Seele aufflackern: Sie wird doch wohl nichts sagen – oder? Den Blickkontakt abbrechend, ist dir sogleich klar, dass er Angst hat. Angst davor, dass du zu seiner Gruppe hinüber spazierst und seine Freunde dann wissen möchten, wer du bist und woher ihr zwei euch kennt. Das sind typische Fragen. Normale Fragen. Babyface möchte diese Frage aber nicht beantworten, deswegen die aufwallende Panik, die – abgesehen von dir – sonst niemandem auffällt. Alfreds Lächeln sitzt nach wie vor am rechten Fleck, scheinbar vollkommen unbeirrt; und als die nächste Lachwoge ausbricht, stimmt er mit ein, obwohl er in den vergangenen Sekunden nur am Rande etwas vom Tischgespräch mitbekommen hat. Es ist so einstudiert und es wirkt so echt, dass du spontan keine Meinung dazu hast. Dir fällt lediglich auf, dass du Babyface bis dato noch nie in Gesellschaft von Freunden getroffen hast. Selbstverständlich wirst du ihm eventuelle Unannehmlichkeiten ersparen. Es steht dir nicht zu, da rüber zu gehen und ihn zu „outen“. Genauso wenig wie es dir zusteht, deine Mom wegen ihm auszuhorchen. Sanftmütig weiterlächelnd, verlierst du keinen Ton, sondern trabst mit deiner Freundin zur Theke hinüber, wo ihr das Eissortiment prüfend unter die Lupe nehmt. Der Tisch mit den Jungs ist laut, aber nicht unangenehm laut. Das gebündelte Amüsement als akustische Untermalung, fühlst du dich recht gut, als du dein kleines Eis bestellst und dich wenig später mit Marcia für einen Platz beim Fenster entscheidest. Draußen ist weit und breit keine Weihnachtsdeko mehr anzutreffen. Dein Augenmerk gleitet zwischen dick eingepackten Passanten hinweg über die autoträchtige Straße und streift die Gebäudefront gegenüber, ehe es heimlich in den Ice Cream Parlor zurückkehrt und zur Seite abdriftet. Genau in Alfreds Richtung. What a babyface... umringt von zig anderen Babyfaces, von denen einige gar nicht mehr so Baby sind. Der Großteil der Gruppe hat sein Eis schon verschlungen. Die Löffel stehen entweder in den chicen Glasbechern oder liegen achtlos daneben. Auf der Tischplatte prangen zwei rote Soßenflecken und ein paar zerknüllte Servierten scheinen weitere Malheure zu verbergen. Ein fast leeres Glas Cola hat einen Ring aus Kondenswasser um sich gescharrt. Das Eisschälchen, das direkt vor Alfred steht, ist mit weißgelblichen Schlieren versehen. Dazwischen knallblaue Soßenreste, die sich in Form einer stattlichen Pfütze auf dem Schälchengrund sammeln. Vielleicht der Marshmallow Cup, überlegst du, während deine Optik sich Alfred vorknöpft, der den Anschein erweckt, als gebe es jemanden wie ihn grundsätzlich nicht alleine. Als sei Gesellschaft das Natürlichste auf der Welt für ihn. In der Brigade vergnügter Jungs stellt er von allen das schönste Lächeln zu Schau. Du hast es immer gewusst: sein Lächeln, das kann was! Es flitzt von einem Anwesenden zum nächsten und ernährt sich förmlich von der guten Laune. Keine Scheu und keine Hemmungen. Das da vorne ist so gar nicht der nervöse Junge, den du aus dem Wartezimmer kennst. Es ist auch nicht der Junge, mit dem du kürzlich eine Kurzstrecke gejoggt bist. Und doch, er ist es. Du solltest dich nicht so sehr wundern; immerhin hat doch jeder Mensch seine diversen Ichs. Eins für sich selbst, eins für die Familie, eins für die Schule, eins für den Sportverein, eins für die guten und eins für die weniger guten Freunde... Das Ich für einen selbst ist der wahre Kern – oder sollte er zumindest sein. Alle anderen Ichs sind mehr oder weniger gut durchdachte Abwandlungen, die idealerweise nur das zeigen, was man dem Empfänger zeigen möchte. Ein So möchte ich sein-Ich, kein So bin ich-Ich. Du wagst zu behaupten, je größer die Differenz zwischen möchten und sein, desto schwieriger das Management. Wäre es nicht schön und erholsam, wenn man einfach nur man selbst sein könnte, ohne etwas befürchten zu müssen...? Jemand wie Babyface macht gewiss einen weiten Spagat, doch du verheimlichst auch nicht gerade wenig. Deine Eltern haben keine Ahnung von deinen NC-17 Fanfics, deine Mom weiß nicht mal, dass du Babyface noch mal begegnet bist und Marcia weiß auch so vieles nicht von dir... Gibt es eigentlich überhaupt jemanden, der deinen wahren Kern kennt? Nein... Dein So bin ich-Ich hat mehr Zweifel als ein Mädchen deines Alters haben sollte und gelegentlich weniger Selbstbewusstsein als gesund für dich ist. Du bist unentschlossen und weil du nichts falsch machen willst, machst du häufig gar nichts. Du planst zu schreiben oder du schreibst und löschst; du sitzt in deinem kleinen selbstgezogenen Kreidekreis, in dem alles sicher ist, und spürst, wie dich die Anziehungskraft des Lebens dort hinaus zu zerren versucht. Aber was, wenn du’s versaust? Und was, wenn du es dann nicht mal schaffst, ein Elektrolächeln an den Tag zu legen? Gedankenverloren schiebst du dir einen Löffel Eiscreme in den Mund. Dein Geschmackssinn ergötzt sich an der himmlischen Kombination in deinem Eisbecher, bestehend aus Joghurtcreme, Früchten, Vanilleeis und Sahne. Aber deine Augen haben sich an Babyface und seinem Lachen festgeheftet. Automatisch schaufelt deine Hand Eis in deinen Mund, bis du plötzlich einen leeren Löffel an die Lippen hebst und irritiert wieder dorthin guckst, wo du deinen Eisbecher erwartest. Allerdings steht dieser jetzt in der Tischmitte und Marcias Hand mit den knallig lackierten Fingernägeln hat sich um das raffiniert gefertigte Glas geschlungen. „Welcher?“, will sie ganz unverblümt wissen, woraufhin du so dermaßen hart auf den leeren Löffel beißt, dass dir die Zähne wehtun. Marcias spitzbübischer Blick pendelt ungeniert zwischen dir und der Jungengruppe hin und her, bevor er sich auf dich konzentriert. „Keiner!“, würgst du nach zu langer Verzögerung endlich hinaus und grabschst dir deinen Eisbecher wieder. „Ach komm schon!“ Das Kichern deiner Freundin lässt dich glatt rot anlaufen. Einen dicken Löffel Eis aus deinem Becher stibitzend, linst sie erneut zu den Jungs hinüber. „Seit wann stehst du überhaupt auf Jüngere? Das-“ Sie hält abrupt inne und ihre schwarzen Augenbrauen machen einen absurden Satz in die Höhe. „Oh mein Gott! Der eine Blonde da! Haben wir den nich’ mal im Park gesehen?! Weißt schon, vor ’n paar Monaten. Ich könnt’ schwören, der ist damals an uns vorbei gelaufen! Aber da war er irgendwie noch fetter und-!“ „Ja verdammt, und jetzt guck da nich’ so auffällig hin!“ Sonst wird das hier nämlich echt peinlich! Noch peinlicher ist jedoch, dass du mittlerweile übers ganze Gesicht errötet bist und nicht mal das Eis dir dabei helfen kann, diese grundlos auf den Plan getretene Hitze zu verscheuchen. Echt toll! Babyface hat da drüben seinen Spaß und du kannst dich jetzt mit Marcias schlecht ausgebildetem Spürsinn rumschlagen. Dabei ist all das hier ein riesengroßes Missverständnis! Babyface ist viel zu Babyface, um auch nur für date-würdig erklärt zu werden! Blöderweise gehört Marcia zum weiten Teil der Bevölkerung, der Männer und Frauen prinzipiell nur in einer Partnerschaft, nicht aber in einer Freundschaft, wittert - und das ist lästig! Ein Blick oder ein Wort zu viel und schon heißt es, man würde mehr vom anderen Geschlecht wollen. Können Männer und Frauen denn keine stinknormalen Freundschaft miteinander führen? Daran scheiden sich bis heute die Geister. Du weißt nicht, wie vielen Debatten darüber du im Leben schon aktiv und passiv beigewohnt hast. Eigentlich tendierst du durchaus dazu, dass es klappen kann. In deiner Stufe und im Internet gibt es den ein oder anderen Kerl, mit dem du ohne jegliche Hintergedanken redest. Aber zugegeben: ihr seid keine dicken Freunde. Zerknittert schaust du dabei zu, wie Marcias Pupillen den Bodyscanner anwerfen und Babyface so gut wie möglich abchecken. Zugleich aktiviert sich in ihrem Hirn das zwar großflächige, aber leider wenig brauchbare Ergebnisse liefernde Verkupplungszentrum. „Och, wieso denn nich’?“ Ihren Löffel ableckend, vermisst sie Babyface nach allen Regeln der Kunst und schleudert dir anschließend ein Grinsen entgegen. „Ich find ihn ganz nice.“ „Ach! Auf ein mal...!“, mahnst du düster und rührst lieber manisch in deinem Eisbecher herum, als Marcias Ausführung über Babyfaces’ große Wandlung zu lauschen. „Was denn? Man wird seine Meinung doch wohl noch mal ändern dürfen! Hat sich doch schon ganz gut gemacht der Kleine. Okay, so ’n bisschen speckig isser schon noch; da muss echt noch was runter! Das Eis hätte er sich mal besser geklemmt. Aber hey, sein Lächeln ist Bombe! Und wie der beim Lachen immer die Nase kräuselt! Voll sweet! Sollen wir rübergehen?“ „Bist du bescheuert?! Ich will nix von dem!“ „Dacht ja nur...!“ Schulterzuckend stiehlt Marcia dir eine Erdbeere und redet, die Frucht in die eine Backentasche wandern lassend, weiter. „Ich hab nämlich so das Gefühl, der guckt auch ständig zu dir rüber. Hmmm...“ Die Erdbeere wird am Gaumen zerdrückt, gekaut und kaum ist sie hinab geschluckt, erwartet dich die nächste unheilvolle Frage. „Kennt ihr euch etwa?“ „Nein!“ Die Lüge kommt wie aus der Pistole geschossen. Du hast jetzt wirklich kein Bedürfnis danach, die Story von euren vielen verkrampften Begegnungen zum Besten zu geben. Offenbar war dein Nein auch abweisend genug, um nicht als Lüge entlarvt zu werden. Marcia hebt beschwichtigend die Hände und verliert ein „Is’ ja schon gut“, ehe sie wieder an ihrem eigenen Eis nascht. Auf den Lippen noch immer dieses verschwörerische Grinsen... Du möchtest unter den Tisch kriechen, eine Platte aus dem Boden heben und dich selbst beerdigen. Oder alternativ dazu Marcia damit erschlagen, weil du ihre offenkundige Begeisterung für Alfred total heuchlerisch findest. Eine Frau, die den Oberkörper von Jason Momoa verehrt als sei es das Schweißtuch von Oviedo, kann Jungen wie Alfred lediglich süß finden. Das kennst du doch von dir selbst am besten. Babyface ist süß. That’s it! Dass Marcia überhaupt auf die Idee kommt, Babyface könnte für dich interessant sein, ist jawohl unerhört! Du datest doch keine kleinen Jungs...! Dir bleibt wahrlich nur zu hoffen übrig, dass Babyface von all dem Heckmeck hier nichts mitbekommen hat. Es ist eine Sache, wenn ihr euch alleine trefft. Das hat was Neutrales und du weißt, du kannst ein paar Worte mit ihm wechseln, ohne dass irgendjemand ein Urteil darüber fällt oder komische Fragen stellt. Aber in Anwesenheit deiner und seiner Freunde? Das verträgt sich nicht. So wie sich auch deine Abnehmpläne nicht mit deiner Disziplin vereinbaren lassen. Allein die Tatsache, dass du in einem Ice Cream Parlor sitzt, spricht für sich. Aber verflucht, das mit dem Abnehmen hattest du dir irgendwie leichter vorgestellt! Du hast bisher ein Pfund verloren, dann wieder zugenommen, dann irgendwann wieder verloren und so geht es munter rauf und runter! Mittlerweile sind zwei Pfund weg (na ja, fast drei!) und du müsstest dringend mal wieder eine Runde joggen gehen. Babyface hat dir so gute Tipps gegeben und eigentlich wolltest du die Sache mit dem Joggen auch konsequent durchziehen, aber meistens kommt dir was dazwischen: die neue Folge von Doctor Who, eine Fanfiction mit mindestens 15 Kapiteln, akute Müdigkeit im Angesicht des morgen früh unerbittlich klingelnden Weckers, ein Plot, an dem du drei Seiten schreibst, bevor dir auffällt, dass dir kein passendes Ende einfällt, Lernen, noch mehr Lernen, Verzweiflung, noch mehr Verzweiflung, und schließlich so viel Verzweiflung, dass du deprimiert Stephen Colbert einschaltest! Damit endet die Liste leider noch nicht. It goes on and on and on… Heute war’s Marcias SMS-Regen, der dich verbal vom Schreibtischstuhl getreten hat; und jetzt sitzt du eben hier, anstatt vor deinen Büchern. Von denen hast du eh die Schnauze gestrichen voll! Gut, dass die Prüfungen bald auf dem Plan stehen. Schlecht, dass das zugleich bedeutet, dass auch dein Abschlussball näher rückt. Du hörst die Nähte deines Kleids schon reißen! Das imaginäre Geräusch trifft dich wie die Kugel eines Heckenschützen und lässt dich beinahe an dem frostigen Eisklumpen ersticken. Du spürst, wie dir die Kälte die Speiseröhre qualvoll langsam hinab holpert und nach einer halben Ewigkeit in deinem Magen bruchlandet. Wahrscheinlich glotzt Babyface nur aus einem Grund permanent her: Weil man dir den Misserfolg auf Anhieb ansieht und es ihn vollkommen fassungslos macht, dass du trotzdem noch dieses tierisch zuckerhaltige Eis in dich reinstopfst! Du musst dich echt ganz dringend am Riemen reißen! Auch ein kleiner Eisbecher hat eine große Menge Kalorien! Und nur weil du mit sämtlichen Apps nicht besonders gut zurecht kommst – denn die rechnen vorlieblich in fertig abgepackten Einheiten und werfen grundsätzlich mit horrend hohen Zahlen um sich –, rechtfertigt das deine Disziplinlosigkeit noch längst nicht! „Aber er gefällt dir!?“, schneidet sich Marcia ihren Weg in deinen Gedankennebel und lässt dich genervt mit den Augen rollen. Mitsamt einem Seufzen beschließt du, dass es an der Zeit ist, ein kleines bisschen gemein zu werden und den Spieß umzudrehen: „Sag mal, wie war das noch gleich mit dir und Matt? Du hast dem armen Kerl bei eurem Date am Samstag deine eiskalte Fanta über den Latz gekippt?“ „Oh, shut up! Matt ist Kanadier und kennt sich mit Kälte aus! Außerdem ist er wenigstens schon alt genug, um Auto fahren zu dürfen!” „Dafür ist Alfred auch alt genug!“ „Na sieh einer an! Jetzt hat der Kleine also einen Namen! Kennt ihr euch also doch!“ Du bist wirklich, wirklich dumm! Kapitulierend stellst du deinen Löffel in deinen Eisbecher und lehnst dich, die Lippen freudlos, zurück. „Sein Name is’ Babyface und wir kennen uns nur flüchtig, okay?!“ „Definiere nur flüchtig!“ „Paar mal kurz gequatscht.“ „Was man seiner allerbesten Freundin natürlich nicht erzählen muss...!“ „Sorry, es ging nich’...“ Mit einem weiteren Seufzen fährst du dir durchs Haar und beugst dich anschließend wieder vor. Die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, legst du jegliche Komik ab und machst deutlich, dass das kein Thema ist, worüber man mal so nebenbei plaudert. Denn mal ehrlich: was weißt du schon über Alfred? Dass er bereits 16 ist und wo er zur Schule geht, hat er dir beim Joggen verraten. Aber davon abgesehen? Wenig. Viel zu wenig. Ihr seid auch keine Freunde, nicht mal Bekannte. Ihr begegnet euch nur dann und wann, wenn das Schicksal mal wieder keine besseren Spielfiguren findet. Und ja, Babyface ist immer noch so süß wie zu der Zeit, als du ihn zum ersten Mal gesehen hast – aber eben nicht mehr nur süß. Damit möchtest du sagen, du magst ihn irgendwie – und dieses irgendwie lässt sich schwer in Worte fassen. Es hat jedoch zur Folge, dass es dir offen gestanden egal wäre, wenn er noch die gleiche Figur abgeben würde wie letzten Sommer. Sein Lächeln ist und bleibt toll und macht dich neugierig auf mehr, aber er lässt einen so ungern richtig hinschauen. Wäre er kein Patient deiner Mutter, hätten sich eure Wege sicherlich nie gekreuzt. Du wüsstest nicht, wo du einen Jungen wie Babyface kennen lernen solltest. Aber die Verbindung, die ihr zueinander habt, sorgt leider auch für Vorbehalte und ob ihr die je so recht überwindet? Höchstwahrscheinlich nicht... Allem Anschein nach ist der Groschen jetzt auch bei Marcia gefallen, denn dein Satz sowie deine Tonlage berichten von Diskretion und ihr zwei seid lang genug miteinander befreundet, damit sie eben diese Diskretion auf Anhieb erkennt. Ebenfalls einen Ellbogen auf den Tisch stützend, legt Marcia ihr Kinn auf die Handfläche und sieht glatt ein bisschen traurig aus in ihrer kessen Army-Shirtbluse. „I see. Schade drum... Oder hat er irgendwelche anger issues?! Dann ist’s vielleicht doch besser, wenn ihr-!“ „Marcia! Jetzt is’ mal gut, ja?! Ich weiß nicht, was er hat und das ist doch auch scheiß egal!“ Dein Zischen fegt über euer Eis hinweg und lässt deine Freundin schlagartig verstummen. „Sorry, war nicht so gemeint“, findet sie schließlich ihre Stimme wieder, macht „hmm“, isst zwei Löffel Eis und tippt dann mit dem Löffel gegen ihre Schneidezähne. Da ist noch was im Busch; du ahnst es und behältst selbstverständlich Recht wie dir die nächste Frage beweist. „Was ist eigentlich mit Greg?“ „Unser Chemiker Greg?“ Der nerdige Typ, der seine Pausen am liebsten im Chemieraum verbringt und vor hat, irgendwann mal etwas Bahnbrechendes zu erfinden? Zugegeben, der ist schwer in Ordnung, aber eben auch nicht mehr. Ihr zwei unterhaltet euch ab und zu in Chemie miteinander und er erklärt dir und Marcia immer ungefragt alles, was ihr in dem Fach nicht auf Anhieb versteht. Dann und wann schreibt ihr auch auf Facebook miteinander, aber da ist nichts weiter dabei. Er erkundigt sich nur, wie’s dir und Marcia so geht, weil er Marcia nicht anschreibt (denn die hat 400 Facebook-Freunde aufwärts und keine Zeit, um aktiv Onlinepräsenz zu zeigen). „Genau der!“ Der Löffel macht eine triumphierende Luftschlaufe. „Ich verwette meinen fetten Arsch darauf, dass er dich fragt, ob du mit ihm zum Abschlussball gehst!“ „Ich?!“ „Jap. Der steht total auf dich!“ „Als ob!“ Greg steht darauf, zur Musik von AC/DC Chemikalien zusammen zu brauen, um seinen persönlichen Highway to Hell zu kreieren! Überdies ist es ja auch nicht so, als müsstest du zwingend mit irgendwem zum Abschlussball gehen. Wer kein Date hat, tanzt eben mit allen anderen datelosen Gestalten im Wechsel und wird von all jenen, die so toll sind, dass sie ein Date an Land ziehen konnten, verspottet. Du weißt also schon, wie der Abend für dich ausgehen wird... Falls du es denn bis dahin überhaupt schaffst, in das Kleid zu passen. Andernfalls wirst du dich einfach weinend im Bett verkriechen und den Tag zum offiziellen Tag deines persönlichen Versagens erklären. Ein Date wäre also schon mal die halbe Miete, um den Abend zu retten und gegen Greg hast du an und für sich nichts. Seine verwaschenen Band T-Shirts haben zwar schon bessere Zeiten erlebt, aber er meistert es, jegliche Lebenslage mit Zitaten aus The Big Bang Theory, Homestuck und South Park zu verfeinern. Wenn du aber mit ihm zum Abschlussball gehst und er ernsthaft was von dir will, wird er sich tierische Hoffnungen machen. Das wäre auf lange Sicht also eher nicht so günstig... „Alternativ dazu..fragst du deinen Alfred.“ Marcias Zunge ist dir eine deutliche Spur zu frech. „Erwähn noch ein Mal seinen Namen und du bist tot! Außerdem isser nich’ mein Alfred! Er is’ Babyface!“ „Hab nichts gesagt!“ Aber das unverschämte Schmunzeln spricht für sich. Hattet ihr nicht gerade geklärt, warum es kein ‚Alfred & Du’ gibt? Oder warst du mal wieder in einer Parallelwelt unterwegs? Würde dich nicht wundern; du lebst von den 24 Stunden, die ein Tag hat, gefühlte 16 in deinen Tagträumen. Dass deine Lieblings-Fanfic nicht mehr existiert und ein würdiger Nachfolger weit und breit nicht in Sicht ist, macht die Realitätsflucht nur noch lukrativer. Beherzt widmet sich Marcia wieder ihrem Eis und verliert sich in einer Abhandlung über die letzte Folge von America’s Got Talent. Du hörst nur mit halbem Ohr zu, unterdessen du auf einem großen Stück Erdbeere herumkaust und die Gruppe am Ecktisch beschließt, aufzustehen. Lässig werfen die Jungs ihre Jacken über, schultern ihre Taschen und flanieren dann aus dem Ice Cream Parlor, wobei Alfred sich zurückfallen lässt. Von der Eingangstür aus wirft er einen schnellen Blick über die Schulter und lächelt teils dankbar, teils beruhigt. Für dich. Du lächelst verständnisvoll und zufrieden zurück. Weiß der Himmel, warum du Babyface schon wieder beobachtest... „...und er wird dich noch fragen. Vertrau mir!“ Marcias Worte rupfen an deiner Aufmerksamkeit und schubsen dich unsanft in die Realität zurück. „Äh, wer?“ „Na Greg natürlich! Oder mit wem willst du hingehen?“ Mit wem du hingehen willst? Zum Abschlussball? Da fällt dir so aus dem Stegreif nur ein Mann ein: dein Nachbar! Von dem hast du Marcia bislang allerdings kein Sterbenswörtchen erzählt, denn dann würde sie womöglich auf die Schnapsidee kommen, sich auf eurem Hausflur auf die Lauer zu legen. Die Frau ist verrückt! Häufig aber erstaunlich erfolgreich mit ihren eigenwilligen Strategien. Wenn du da an ihr Dauerdate namens Matt denkst, der das Kreuz eines Holzfällers hat und der lebende Beweis dafür ist, dass man im Wintersport ordentlich Bräune tankt. Wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die beiden ihren Facebookstatus auf „In einer Beziehung mit...“ ändern. Etwas, das du noch nie getan hast... „Fuck! Du hast gesagt, du hörst auf mit dem Mist!“ Marcia, du und alle anderen Menschen, die sich gerade im Ice Cream Parlor befinden, werden ob des Gebrülls zu Tisch 5 eingeladen. Er, vielleicht 20, sie, ca. 18. Er erbost hochgeschossen, ihren linken Unterarm schraubstockartig umschlungen. Sie aufjaulend und an dem fast bis zu ihrem Ellbogen hochgeschobenen cremefarbenen Pulli zerrend, um sich und ihre Würde zu retten. Er lässt sie gewähren und gibt nach. Die Sekunden vorab haben jedoch ausgereicht, damit man die vielen Linien sieht. Rot, hart und hässlich auf ihrer fahlen Haut. Nicht klaffend aufgequollen tief, nicht nach Nähten schreiend, aber doch einst Blut spuckend. „Du hast es mir versprochen! Du hast gesagt, das mit uns wär dir wichtiger!“ „Das-das ist es doch auch!“ Sie zittert sich in die Sitzecke und er schrumpft unter zorniger Verzweiflung zusammen. Schnauft, schüttelt den Kopf. Zu viele Kratzer, die er nicht ordnen kann in ihrem Leben. „Bitte, ich-es war doch nur das eine Mal...Bitte!“ Er hat keine Worte für ihr Flehen, so wie sie keine Worte für sich findet. Die Farbe von lichtwarmer Creme hat alles Unstrukturierte längst wieder übermalt. Ihr Ärmel ist unten und seine Fäuste beben, während er den Blickkontakt mit ihr bewusst meidet, aus der Sitzecke tritt und sich im Gehen den Wintermantel anzieht. „Warte! Warte doch..!“ Ihr Inneres wird lauter, ängstlicher, gehetzter, aber ihre Stimme erstickt an der Luft. Der Impuls, eine Hand nach ihm auszustrecken, schnellt durch ihre Schulter den Arm hinab und scheint aus den selbst zugefügten Wunden zu quellen, ehe er ihre Finger erreichen kann. Nichts geschieht. Sie erreicht ihn nicht. Das schrille Glockenklingeln trifft sie hart im Herzen, als er durch die Tür verschwindet. Etwas in ihr flammt auf und lässt ihre Augen flackern. Zwischen den altroten Polstern beginnt es zu flüstern und zu tuscheln. Marcias bestürzter Gesichtsausdruck formt mit den Lippen ein „Jesus Christ!“ und dein Denken springt an wie ein verrosteter Generator, in dem viel zu wenig Benzin ist. Das Mädchen wird noch immer wie ein seltenes Zirkustier begafft. Crazy bitch! Jeder wartet auf das nächste Kunststück, aber keiner möchte sich dem Unheil nähern. Achtung: Ansteckungsgefahr! Dann schrillt die Glocke ein weiteres Mal und dir ist unbegreiflich, wie das Mädchen so rasch Reißaus nehmen konnte. Es ist, als habe die Luft vermeintlich normaler Menschen sie aus dem Raum verbannt. Dir fällt nichts ein. Dir fällt nur wieder auf, warum Leute wie Babyface und das Mädchen strahlendweite Lächeln und langärmelige Pullover zu ihren liebsten Accessoires erklären. Ende Teil VII Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)