Der Junge hinter dem Lächeln von Mounira ================================================================================ Kapitel 5: ----------- V. Als du Alfred zum fünften Mal siehst, schaut er unglaublich schlecht aus. Im Auftrag des Totenmonats fegt der Winter samt kräftigem Wind und stählernen Flocken übers Land und reißt die Temperaturen in den klimatischen Keller. Die Luft hat den Geschmack von klebrigen Halloween Süßigkeiten gegen den von Zimt, Zucker und Lebkuchen eingetauscht, während bunte Lämpchen tapfer gegen das triste Novembergrau anglimmen. Alfred sitzt kalkblass im Wartezimmer, die Wangen seines hübschen Babyfaces glänzen fiebrig rosé. Seine spröden Lippen spannen vom einen eingerissenen Mundwinkel zum anderen. Kein Lächeln, nur ein Einmummeln in seine grau-schwarze Duffle Wool Jacket. Auf dem anderen Stuhl sitzt ein Mann, der nicht eindeutiger sein Vater sein könnte. Es ist bizarr. In etwa als habe man eine Schattenwand aufgebaut, Alfred davor und seinen Vater dahinter postiert, so sehr gleichen sich die beiden in ihren Grundzügen. Bloß dass sein Vater keine Pluspfunde mit sich rumschleppt. Fernab von (Über)Gewicht, besitzen beide den gleichen massiven Körperbau, der ebenso von direkter Verwandtschaft berichtet wie ihre Gesichtszüge – und damit möchtest du nicht behaupten, Alfreds Vater habe ein Babyface. Das ist keineswegs der Fall. Sein Kiefer ist robust breit, ohne einen optisch anzufallen. Die Gesichtsform fällt eher länglich aus, markant, mit kräftigen Augenbrauen und einer soliden Attraktivität, die einen in etwa so sanft aus dem Hinterhalt überfällt, als laufe man mit voller Wucht gegen eine Glastür. Ja, Alfreds Vater ist ein verdammt attraktiver Mann. Er gehört eindeutig der Gattung Mensch an, bei der das zunehmende Alter der Erscheinung charmant schmeichelt und obwohl der Herr eigentlich viel zu alt für dich ist, saugt sich dein Blick unweigerlich an ihm fest. In der dunklen Flurecke stehend, fressen sich deine Augen so schamlos satt wie bei einem kostenlosen All-you-can-eat-Buffet. Du lässt dir nichts entgehen und entsprechend lang dauert dein Augenschmausen an. Als du dich endlich loseisen kannst, wechselt deine Aufmerksamkeit forsch zwischen Vater und Sohn hin und her. Es ist faszinierend, festzustellen, wie bei Alfred alles noch ‚in Ausbildung’ ist, wenn man das so sagen darf. Bis vor wenigen Minuten war dir das in keiner Weise bewusst. Natürlich, er ist noch längst nicht ausgewachsen, aber dir war nicht klar, was für einen Weg er einschlagen wird; trotz oder gerade wegen des Babyfaces. Alfred führt nämlich, im Gegensatz zu seinem Dad, noch dieses spitzbübisch Süße mit sich spazieren. Sein Vater ist nicht süß. Auf gar keinen Fall würdest du einen Mann wie ihn süß nennen. Ein Mann wie er ist gut aussehend, stattlich und sexy, aber nicht süß. Dein Instinkt gerät bei süßen Männern nicht in aufgeregte Vibration. Ertappt schlägst du die Augen nieder und blendest das unangebrachte Prickeln auf deiner Gesichtshaut aus, bevor du dich der Ablenkung halber den feinen Unterschieden zwischen Vater und Sohn widmest. Die Augenpartien fallen dezent anders aus. Alfred hat runde, himmelblaue Augen. Die seines Vaters scheinen eine Nuance dunkler und haben etwas hochkonzentriert Zusammengekniffes an sich, so als würden sie ein unsichtbares Dokument lesen. Infolge dessen hängen seine Brauen tiefer und verkürzen somit das Augenlid. Die Stirn drängt sich zwangsläufig in den Vordergrund und strahlt eine zum geraden Nasenbein passende Zielstrebigkeit aus. Alfreds Nase ist geringfügig schmaler und neigt sich an der Spitze ein klitzekleines bisschen in die Höhe, wie ein vorwitziges Kind, das sich auf die Zehenspitzen stellt, um durch ein Fenster hinaus ins Leben spähen zu können. Zwischen Vater und Sohn herrscht einvernehmliches Schweigen; Alfreds Vater scheint einer regelrechten Gedankenflut nachzuhängen, während Alfred das Denken gänzlich eingestellt hat und wie ein Schluck Wasser in der Kurve da hängt: schlapp und müde. Ob er sich was eingefangen hat? Bei dem Wetter nicht auszuschließen. Zumal momentan eine fiese Grippewelle über die Stadt rollt, wegen der in etlichen deiner Kurse jeden Tag andere Mitschüler fehlen. Ständig schnieft, niest, hustet und friert jemand, fragt nach Taschentüchern und knistert mit Hustenbonbons. Du hoffst inständig, dich nicht anzustecken und kippst dir deswegen präventiv allmorgendlich eine saure Brausetablette rein. Alfreds Hände lugen nur knapp zur Hälfte aus den Ärmeln hervor; womöglich liegst du also mit deiner Einschätzung goldrichtig und ihm ist kalt, weil irgendwelche miesen Bazillen ihre helle Freude daran haben, sein Immunsystem auf die Probe zu stellen. Der weiße Schal mit dem dunkelblauen Logo der New York Yankees hängt ungeknotet um Alfreds Hals. Auf seinem Schoß hat er eine Umhängetasche von Converse liegen, deren taupefarbener Stoff mit einem hellen Stern besticht. Der teuer anmutende Wollmantel seines Vaters hängt sorgsam an der Garderobe. Der schwarze Aktenkoffer von Hugo Boss mit den glänzenden Verschlüssen steht griffbereit neben seinem Stuhl. Unter dem tiefdunklen Angorapullover streckt ein hellgraues Hemd den Kragen fühlerartig ins Leben. Alfreds Vater ist wohl direkt von der Arbeit aus hergekommen. Das würde zumindest seine Aufmachung erklären. Du bist echt beeindruckt, denn an diesem Mann stimmt einfach alles; von Kopf bis Fuß. Von der perfekten Kurzhaarfrisur bis hin zu den glänzenden Bugatti Lederschuhen. Es macht dich glatt sprachlos, wie präsent ein Verwandtschaftsverhältnis sein kann – und wie zwei Menschen dennoch eine grundlegend andere Ausstrahlung beherbergen können. Damit möchtest du nicht behaupten, dir Alfred nicht in kostspieliger Geschäftsmontur ausmalen zu können in ein paar Jahren. Das kannst du, auf eine absurd abstrakte Weise geht das. Vor allem, wenn du seinen Vater als optisches Vorbild zurate ziehst. Doch Ausstrahlung hat weniger mit einer edlen Garderobe zu tun; Ausstrahlung kommt von innen. Bei Alfred kehrt sich hauptsächlich Nervosität und Hektik nach außen; dir kommen das gepresste Lachen und das Elektrolächeln in den Sinn. Sein Vater ist in der Hinsicht viel ausgeglichener und abgeklärter, womöglich schlicht lebenserfahrener, und füllt mit seiner stolzen Präsenz den gesamten Raum aus. Es ist keine Arroganz, die du witterst. Er scheint es nicht mal großartig drauf anzulegen, alle Blicke auf sich zu ziehen. Dieser Mann weiß einfach, wer er ist. Das Sitzen in einem therapeutischen Wartezimmer ist ihm nicht vertraut – seine rechte Hand gleitet einmal in seinen Nacken und reibt kurz hinüber, ehe sie sich wieder in ihre Ausgangsposition begibt –, aber er kann damit umgehen. Er weiß Situationen zu meistern. Plötzlich fällt es dir wie Schuppen von den Augen und du begreifst, dass er hat, worum Alfred sich immer so redlich bemüht: Selbstbewusstsein. Alfred hat natürlich auch welches, allerdings ist es noch längst nicht so ausgereift wie das seines Vaters. Du kannst das Alfred nicht verübeln, denn es ist generell schwierig, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln und ihr seid beide noch dabei, das Erwachsenwerden samt seiner Pflichten und Erwartungen tagtäglich besser kennen zu lernen. Da gibt es so viel Neues, so viel Willkommenes und leider auch so viel Unwillkommenes. Wie soll man bitte nicht über dieses oder jenes verunsichert sein? Du hegst ja schon Selbstzweifel, wenn dir mal wieder kein vernünftiger Plot einfällt oder du an deine Abschlussklausuren denkst, von der Zukunft an sich mal ganz zu schweigen. Die Aussicht darauf, irgendwann den eigenen Lebensunterhalten bestreiten und für jede deiner Handlungen die Verantwortung tragen zu müssen, lässt dir die Haare zu Berge stehen. Wahrscheinlich wird fast jeder Mensch von irgendwelchen Selbstzweifeln geplagt; letztendlich geht es nur darum, sie nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Die Frage, die sich dir nun zwangsläufig aufdrängt, lautet: Was für Selbstzweifel hat denn ein Junge wie Alfred? Bei dem süßen Babyface würgt ihm garantiert niemand irgendwelche fiesen Sprüche rein. Er ist vernünftig angezogen, er benimmt sich weitgehend normal (sofern er nicht gerade vor dir wegrennt) und bisher sind dir noch keine eigenartigen Ticks oder Angewohnheiten an ihm aufgefallen. Der Babyspeck ist ebenfalls drauf und dran, sich zu verabschieden und so hohl in der Birne, dass man keine zwei Sätze mit ihm wechseln kann, ist er auch nicht. Es gibt also nichts an ihm, was einem auf Anhieb negativ aufstößt. Irgendwie macht es diese Erkenntnis nicht besser, wie du findest. Sie frustriert dich bloß zusätzlich, denn einerseits siehst du diesen Jungen und andererseits siehst du ihn ganz offenbar nicht! Die Arme verschränkend, lehnst du dich an den Türrahmen und betrachtest weiterhin das Vater-Sohn-Gespann. Insbesondere jugendliche Patienten werden nicht selten mal von einem Familienmitglied zur Therapie begleitet. So was kann sehr wertvoll sein für die Genesung; zuweilen ist es sogar dringend erforderlich. Klischeehaft wird eh immer den Eltern die Schuld zugeschoben, wenn der Sprössling Mist verzapft hat oder ‚missraten’ ist, wie es der Volksmund so schön nennt. Stichwort: er/sie hatte eine schwere Kindheit. Dies mag wahrlich abgedroschen klingen, aber Fakt ist nun mal, dass die Familie beziehungsweise die Menschen, mit denen man aufwächst, einen essentiellen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten. Trotzdem sollte man sie nicht pauschal für alles zum Sündenbock machen. Immerhin wirken sich auch gesellschaftliche und genetische Einflüsse aufs menschliche Verhalten aus. Was Alfred und seinen Vater betrifft, nimmst du jedenfalls keinen Konflikt wahr. Weder schroffe Blicke noch anklagende Worte werden einander zugeworfen; genauso wenig macht Alfred den Anschein, als sei ihm die Gesellschaft seines Vaters unangenehm. In Anbetracht von Alfreds Leichenblässe könntest du dir sogar vorstellen, dass sein Vater gar nicht vorhat, der Therapiestunde beizuwohnen, sondern er ihn in der schlechten Verfassung nur nicht allein hat herfahren lassen wollen. Der Verdacht erweist sich als falsch, als die Tür zum Behandlungszimmer geöffnet wird und du die begrüßende Stimme deiner Mutter vernimmst. Vater und Sohn erheben sich synchron; die eine Hand seines Vaters angelt sich den Koffer, der andere Arm legt sich in schützender Begleitung um Alfreds Schultern. Jener reagiert prompt und schlüpft mit einem Schlenker in die Umarmung; nicht klettend, sondern glücklich. Zwar ist sein Lächeln dünn wie Pauspapier, doch es ist unangestrengt. Unangestrengt ist tatsächlich eine optimale Beschreibung. Bei all den kurzen Gesprächen, die du mit Alfred geführt hast, hat er sich fortwährend angestrengt; sich auf Teufel komm raus ums Lächeln und Unbeschwertsein bemüht. Erst nachdem du ihm erklärt hast, nicht über seinen Therapieanlass Bescheid zu wissen, konnte er seelisch aufatmen und sich zumindest ansatzweise entspannen. Aber wieso um alles in der Welt fühlt sich der Junge so abnormal, dass er massenhaft Energie in eine Lächelfassade investiert? Theoretisch könntest du Mäuschen spielen, um dieses Babyface endlich etwas besser zu verstehen. Doch du traust dich nicht und von all den Worten, die kurz darauf durchs Behandlungszimmer schwirren, hörst du nichts, als du dich aus der düsteren Flurecke wagst. Eine neue Packung Kaffee im Küchenschrank deponierend, spitzt du erfolglos die Ohren, bevor du dich aus der Praxis schleichst. Vielleicht hättest du Alfred grüßen sollen, aber irgendwie hat dich sein miserabler Teint davon abgehalten und die Anwesenheit seines Vaters erst recht. Apropos Vater: du weißt ja gar nicht, wie es um Alfreds Familienverhältnisse gestellt ist. Geht dich prinzipiell auch nichts an und Familiengeschichten können zuweilen ein extrem heikles Thema sein, das man besser nicht unverfroren anschneidet. In deiner Familie herrscht glücklicherweise keine Fehde; das würde dir gerade noch fehlen. Als sich deine Eltern haben scheiden lassen, warst du sieben Jahre alt und dein Dad ist seitdem ein Mensch, zu dem du keine Beziehung aufbauen kannst oder möchtest – ohne dies so recht begründen zu können. In deinem Bauch bildet sich ein matschiger Klumpen, wenn du an den aufschauenden Blick denkst, den Alfred seinem Dad geschenkt hat. Hast du deinen Vater jemals so angeguckt? Womöglich schon, du kannst dich nur nicht mehr daran erinnern... Dein Vater ist der Mann, der dich alljährlich zum Geburtstag und zu Weihnachten anruft, er schickt dir Karten und Geschenke (Bares, falls du keine konkreten Wünsche äußerst), und stellt dir vor jeden Ferien frei, ihn und seine Familie in North Dakota zu besuchen. Alles kein Problem, jeder freut sich auf dich – aber du lehnst stets dankend ab. Irgendwie magst du die Kleinstadtidylle nicht, in der sich dein Dad neu eingerichtet hat. Vor rund sechs Jahren hast du dort das letzte Mal die Hälfte der Nacht in deinem Bett im Gästezimmer gelegen und bei offenem Fenster dem Leben gelauscht. Draußen ist der Wind über Felder und Gärten galoppiert und im Nebenzimmer hat dein Babyhalbbruder gegen halb zwei zu plärren begonnen. Ein süßer Fratz mit glänzenden Teddyaugen und Zootiermobile überm sonnengelben Bettchen. Dein Dad hat zwei Kinder mit seiner neuen Frau. Ein Mädel, das mittlerweile fast zehn sein müsste, und den jetzt gerade mal siebenjährigen Jungen. Raquel, die neue Frau deines Vaters, hat portugiesische Vorfahren und weiß, wie man kocht und zugleich unwiderstehlich in einem Bikini aussieht. Du begreifst nicht, was die Frau in North Dakota zu suchen hat oder wie sich das mit ihr und deinem Dad je ergeben konnte. Dein Dad ist zwar nicht unattraktiv, aber gegen jemanden wie Alfreds Vater hat er keine Schnitte und irgendwie ist er auch nicht der Typ Mann, neben dem man eine braun gebrannte, langhaarige Badenixe erwarten würde. Von den beiden wunderhübschen Kindern mal ganz abgesehen. Baby Henry hat damals eine Lockenpracht gehabt, um die ihn dein Dad mittlerweile sicher aus tiefstem Herzen beneidet und Leona ist ganz die Mami. Kurzum: alle sind nett – und genau da liegt das Problem. Du hasst, wie du gefühlstechnisch schlicht und ergreifend nicht in diese Familie passt. Raquel kann dir ganz ohne Ziepen die Haare dermaßen raffiniert frisieren, dass es hinterher bahnbrechend aussieht. Du hast nie rausgekriegt, wie sie das anstellt, wie sie alle Tücken des Alltags perfekt meistert, aber sie kann es und sie mag dich. Leona mag dich auch, weil du eine ‚supertolle große Schwester bist’, wie sie das so reizend zwischen ihren Milchzähnchen hindurch gezirpt hat, während du mit ihr und ihren Barbies eine Modenshow auf der Terrasse veranstaltet hast. Selbst Henry würde dich vermutlich mögen, wenn er sich an dich erinnern könnte. Dein Dad liebt dich sowieso, das steht gar nicht zur Debatte. Es schwingt in seiner Stimme mit, wenn er dich durchs Telefon umarmt, und es trieft aus den Buchstaben, die er in Sonntagsschrift auf jeder Karte für dich verewigt. Alle geben sich solche Mühe, doch die Sache mit der Familie scheitert trotzdem – und zwar an dir. An diesem unbeirrbaren Gefühl des Nichtdazugehörens in deiner Brust, wenn ihr bei Tische oder im Auto sitzt, um das üppige Thanks Giving Essen zu genießen oder um zum Shoppen in die nächste Mall zu fahren. Es gibt Gespräche und Musik und du bist ein Mädchen, das die alte-neue Tochter mimt, sie aber nicht sein will. Du liebst deinen Dad, aber er passt in diese neue Familie – und du irgendwie nicht. Die vier gehören zusammen, nicht ihr fünf, und das ist okay. Du verstehst das nicht: Wieso geht es dir gut damit, dass dein Dad eine neue Familie hat und fort gezogen ist? Warum ist dein Bedürfnis, ihn bei dir zu haben, so gering? Kann man einfach aufhören, einen Menschen zu lieben, wenn man weiß, er ist nicht länger Bestandteil des eigenen Alltags? Was ist da in dir vorgefallen, hat zur Schere gegriffen und beschlossen, diese Vater-Tochter-Nabelschnur zu kappen, als feststand, dass er sich von deiner Mutter trennt? Wenn du das nur wüsstest... Doch unabhängig davon, in welchem Licht du die Sache betrachtest, du findest keine Antworten auf diese Fragen. Das ist deprimierend, nicht wahr? Du kannst dich allem Anschein nach nicht mal in eine funktionierende Familiengemeinschaft integrieren. Dabei hat deine Mom seit etwa dreieinhalb Jahren auch wieder einen Freund, den du jedoch selten zu Gesicht bekommst. Die beiden wohnen nicht zusammen; stattdessen treffen sie sich meist an den Wochenenden, mal bei ihm, mal bei euch. Ansonsten ist eure Wohnung noch dieselbe, in der ihr seit der Trennung deiner Eltern lebt. Von der Praxis aus keine 15 Minuten zu Fuß oder eine U-Bahn-Station entfernt. Eine MetroCard zum Schülertarif besitzt du selbstverständlich, doch da die Luft im New Yorker Subway nicht die beste ist, ersparst du dir das drängelnde Elend gerne und spazierst lieber heim, sofern es das Wetter zulässt. Von den aufgebrachten Schneeflocken merkst du heute so gut wie nichts, als du im Kopf Bilder deiner neuen und alten Familienmitglieder hin und her schiebst und dich möglichst nah an den Geschäftseingängen hältst. Warme Luft und künstlichen Mandelduft abstaubst, die mit Passanten auf die Straße strömen. Dann verlässt du die klobige Hauptstraße, wechselst die Straßenseite und kannst gleich darauf am bepflanzten Treppenaufgang die zehn Stufen zur verglasten Eingangstüre hinauf pirschen. Das Parken ist in dieser Gegend den Anwohnern mit Parkausweis vorbehalten. Viele Gebäude sind aus Sandstein, der vor allem im 19. Jahrhundert bevorzugt zum Häuserbau genutzt wurde und einen natürlichen Charme zwischen dem gut gepflegten Park und den übrigen bepflanzten Fassaden versprüht. Auf so manchen Touristen mag es grotesk wirken, wie sich die verschiedenen Arten der Architektur in New York City die Hände reichen. Art déco, fast fensterlose railroad flats, Brownstone Häuser mit typischen stoops vornweg, gusseiserne Fassaden und Ornamente, sowie europäische Stileinflüsse, die hiesige Architekten schon vor über 200 Jahren inspirierten; die Liste ist schier endlos. New York City ist eben weit mehr als der Times Square und Ground Zero. New York City ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft etlicher Kulturen in eine Stadt getropft und über Jahre hinweg gedeihen lassend; Straßen züchtend und Viertel formierend. Du liebst den Eifer, mit dem sich zum St. Patrick’s Day jeder und alles in Grün wirft. Du staunst alljährlich über die stoische Gelassenheit, mit der sich die dicke Schneedecke über Land und Leute stülpt und du bewunderst Eltern, die sich von ihren quengelnden Kindern zu einem Tagesausflug ins gigantische Toys"R"Us breitschlagen lassen. Als geborene New Yorkerin stehst du mit Blick auf die wehende Fahne der Vereinigten Staaten am Gebäude gegenüber auf und hast mit deiner Grundschulklasse Lady Liberty besucht, ihre Originalfackel in der Eingangshalle bestaunt und mit offenem Mund die Aussicht von der Plattform genossen. New York City ist halt eine Klasse für sich. Es ist hell, doch zuweilen auch dunkel. Suizid ist bedauerlicherweise keine Seltenheit hier. Die Hektik entwurzelt, reißt mit, entfernt und entfremdet. Deformiert, bis man in aufgeriebener Einsamkeit jemand ist, der keine Perspektive, sondern nur noch schnelle Nüchternheit sieht, die zwischen zu hohen Gebäudekolossen und zu breitspurigen Straßen hervorquellt. Leute ertrinken emotional in der eigenen Straße. Vor, hinter oder neben ihrem Lieblingscafé. 24/7, ohne Halt. Leben entgleist. So kann Zukunft auch aussehen... Fröstelnd lässt du die breite Eingangstür deines Wohnhauses hinter dir zufallen und stehst gleich darauf vor der Wand mit den beiden Aufzügen. Einen Knopfdruck später schieben sich die metallenen Türen eines Aufzugs auf und du betrittst die weiträumige, teils spiegelbevölkerte Kabine. Die Zahl vier erscheint auf dem schmalen Display, als du den entsprechenden Knopf antippst und deine Haare leicht elektrisiert zum Vorschein kommen, als du die Kapuze deines Wintermantels vom Kopf schiebst. Unerwartet schlängelt sich noch jemand in den Fahrstuhl, gerade rechtzeitig, bevor sich die Türen automatisch schließen. Der Mann scheint Mitte bis Ende 20 zu sein und trägt braune, modische Boots zur wie angegossen sitzenden Jeans. Über seiner Schulter baumelt eine wintertaugliche Laptoptasche. Du kannst nicht wegsehen, denn er fängt dein Interesse wie der Honig die Biene. Was allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruht, denn seine Aufmerksamkeit gilt einzig und allein seinem iPhone. Höchstwahrscheinlich hast du es mit einem neuen Nachbarn zu tun, denn dem Mann bist du definitiv noch nie zuvor begegnet. An diese vorbildlich legere Haltung würdest du dich erinnern. Sie ist tadellos selbstbewusst und schubst dich eigennützig gegen die Wand, drückt bei der Übung sämtliche Luft aus deinen Lungen und lässt dich weiche Knie bekommen. Du triffst selten jemanden, der dich durch seine pure Anwesenheit zu erobern vermag. Unter der schwarzen Mütze lugen dunkelbraune Haare hervor, ähnlich ungezähmt wie die von Will Graham. Im stechenden Licht des Aufzuges scheinen seine Augen effizient grün. Als er plötzlich den Blick hebt, da der Lift angehalten hat und sich die Türen erneut öffnen, entdeckst du überdies eine indigoblaue Schattierung in seinen Iriden. Frontal ist die Wirkung seines Blick noch verheerender und du hast nicht die geringste Ahnung, wie du es anstellst, doch du marschierst so starr wie eine Marionette aus dem Aufzug, den Flur entlang und in Richtung deiner Wohnungstür. Hinter dir die mächtigen Schritte eines Mannes, der das schelmische Grinsen von Ian Somerhalder gepachtet hat. Verrucht hockt es in seinem Mundwinkel und hat dich gekonnt gegrüßt. Ein Tropfen Spiritus, um eine Stichflamme zu produzieren. Der Mann weiß, was er tut und wie er es zu tun hat. Die Schritte hinter dir überholen dich, als du an deiner Haustüre anlangst und mit einer narkotischen Ruhe deinen Schlüssel ins Schloss steckst. Zwischen deinen Fingern klirrt es zaghaft, und hinter dir zieht eine Aura vorbei, die dich fast zu Fall bringt. Schritt um Schritt stolziert der Mann über den steinernen Flurboden, vorbei an einer dekorativen Topfpflanze, und hält schließlich vor der nächsten Haustüre. Also tatsächlich ein neuer Nachbar und er ignoriert nicht mal beim Aufschließen sein Handy. Dich scheint er indes wieder wunderbar ignorieren zu können. Meinst du. Bis sein Blick mit skalpellartiger Präzision erneut zu dir hinüber schießt und du reflexartig in die Wohnung stolperst. Dein Herz donnerte lauter als die zuschlagende Türe. Wenn Marcia den Kerl gesehen hätte...! Du musst aus unerfindlichem Grund debil vor dich hin grinsen, derweil du dich aus deinem Wintermantel schälst und dir denkst, dass dieser Mann eine eindrucksvolle Begleitung auf deinem Abschlussball abgäbe. Zugegeben, auch zu einem Mann wie Alfreds Vater würdest du nicht Nein sagen, aber das Alter würde wohl oder übel dafür sorgen, ständig gefragt zu werden, warum du deinen Dad mitgebracht hast. Außerdem hat er einen Ehering getragen, was deinen Tagträumen allerdings völlig egal ist. Jeder Mensch darf sich jawohl ab und zu einer Illusion hingeben! Die Traumblase, in der du durch den Flur in dein Zimmer schwebst, verplatzt, kaum dass du deinen aufgeschlagenen Biologieordner auf deinem Schreibtisch sichtest. Daneben dein Laptop, eine leere Kaffeetasse, eine geplünderte Tüte Apfelbonbons und jede Menge anderer Schulkram, der mehr Eselsohren aufweist als dein Hirn Windungen. Deine Lust zu lernen bewegt sich irgendwo zwischen deiner Lust gehäutet und gevierteilt zu werden. Gleich, denkst du dementsprechend, lässt deine Schultasche auf den Boden sinken und klappst dann den Laptop auf. Vorm Lernen gönnst du dir noch schnell eine kurze Runde durchs Internet, die üblichen Verdächtigen abklappern, und dazu einen Weihnachtskakao, denn draußen bricht allmählich die schönste Zeit des Jahres an. Ob nun in den Wohnhäusern oder den Geschäften, die bunten Lichtchen blinken bereits mit der stillosen Plastikdeko um die Wette. Winkende Weihnachtsmänner, Rehntiere mit rot leuchtender Nase, überdimensionale Sterne und aus den Lautsprechern schallen teils mehr, teils weniger traditionelle Weihnachtslieder. Eigentlich ist das eindeutig zu viel des Guten. Du hältst aber mal lieber deine Klappe, denn dein Ciaté Adventskalender ist schon längst gekauft und wartet sehnsüchtig darauf, ab Dezember von dir geplündert zu werden. Drei Minuten später hast du dich mitsamt einer gigantischen Kakaotasse vorm Laptop verschanzt. Die Schokolade mit der Marzipannote benebelt deine Sinne und lässt dich selig das neue Kapitel einer deiner aktuellen Lieblingsfanfics anklicken. Endlich wieder ein Update! Darauf wartest du schon seit sage und schreibe fünf Wochen! Gespannt schlingen sich all deine zehn Finger um deine Kakaotasse, von der eine korpulente Pusheen mit den Wimpern klimpert. Deine in wärmenden Wintersocken steckenden Zehen schieben sich nervös übereinander, während sich die Tragödie auf dem Bildschirm Zeile um Zeile verdichtet. Nein. Nein! Nein! Nein! Nein! Vergeblich versuchst du, die Seite weiter runterzuscrollen, doch das verfluchte Kapitel ist natürlich zu Ende und spuckt dir ätzende Ungewissheit ins Gesicht. Das kann doch nicht wahr sein! Um ein Haar schwappt dein Kakao über, als du die Tasse auf den Tisch donnerst und dich sogleich auf den Reviewbutton stürzt. Was für ein grandios beschissener Cliffhanger! Die Autorin kann sich auf was gefasst machen! In einer Mordsgeschwindigkeit prügeln deine Fingerspitzen Buchstaben ins Reviewfeld. Du schreibst zu viel Irrelevantes und vergisst irgendwas hochgradig Wichtiges; so wie das immer ist, wenn dich der Leserausch gepackt hat und du voller Übermut einen Kommentar zusammenschusterst, in dem du vom Höckschen aufs Stöckchen kommst. Als du dich nach getaner Arbeit zurücklehnst, Kakao schlürfst und den Bildschirm fanatisch anstarrst, weil die bahnbrechend gute Autorin das verspätete Kapitel damit rechtfertigt, die meiste Zeit mit ihrem Projekt fürs nano writing zu verbringen, fragst du dich postwendend, warum du’s eigentlich nicht bringst? Warum schaffst du es nicht, so eine mitreißende Story zu schreiben? Missmutig schielst du zur Taskleiste und fühlst dich herausgefordert. Dummerweise hockt da vorne immer noch dein adipöser Bioordner. Schreiben oder Lernen – das ist eigentlich keine Frage! Du bist gerade im Inbegriff, dich auf das nackte Dokument zu stürzen, als du die Haustüre zufallen hörst. Oh shit! Deine Mom ist schon zurück!? Entsetzt checkst du die Zeitanzeige und schluckst. Fuck, deine Internetrunde ist noch nicht mal zur Hälfte abgefrühstückt und du hast schon wieder viel zu viel Zeit verloren. Tempus fugit, wie der Lateiner sagen würde. Alibimäßig ziehst du den Bioordner zu dir rüber und bemühst dich, Relevantes aus den Sätzen zu isolieren und in dein Hirn zu implantieren. So wirklich klappen will das selbstverständlich nicht. Dein Verstand ist jetzt auf Plotten gepolt, nicht auf Evolutionstheorie. Ernsthaft, so kann das nicht weitergehen. Du solltest dich irgendwie am Riemen reißen! Leute wie Babyface arbeiten an sich, um ihr Leben eines Tages auf die Reihe zu kriegen, und du? Du hängst vor deinem Laptop und schlingst Fanfictions in dich rein. Gratulation! So sieht Erwachsenwerden aus! Deine kreativen Ergüsse machen nicht mal jemanden glücklich! Okay, die Stories von anderen Leuten sind phantastisch genug, um Leser glücklich zu machen, aber dein Schund? – Definitiv nicht! Du spülst das vernichtende Urteil mit einer halben Tasse Kakao runter und bereust, dir nicht in der kleinen, koscheren Bäckerei an der Ecke ein paar köstliche Sufganiyots mit Vanillecreme und Schokoglasur gekauft zu haben. Im Moment gefällt dir nämlich die Vorstellung, an fettigem Gebäck zu ersticken und sich somit vor deiner Eigenverantwortung für die Zukunft zu drücken, verdammt gut... Ende Teil V Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)