High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 18: Stings Geburt ------------------------- Tick-tack, tick-tack, tick-tack. Das Echo einer unsichtbaren Uhr hallte durch den leeren Raum. Ba-dum. Ba-dum. Herzschläge. Nur das Geräusch des eigenen Atem. Sonst nichts. Schweben wie eine Feder, langsam und leicht hinab auf den Grund. Dann... Füße, die den Boden berühren. Finsternis, die langsam aufklart. Und doch... Grauer Nebel überall. Hastig fasste sich Wendy an den Hals. Erleichterung! Doch wie konnte das sein, dass sie, obwohl ihr der Sensenmann die Halsschlagader zerfetzt hatte, noch immer am Leben und unversehrt war? Ratlos blickte sie sich um. Wo war überhaupt Aquila abgeblieben? Und wo waren Hayate und Shinigami? Der Kampfring auf den von Wellen umspülten Felsen? Sie seufzte. Ja, sie war allein. Ganz allein. Irgendwo, nur nicht da, wo sie sein sollte. Hatte Hayate am Ende doch Recht gehabt? War sie tot und dieses Jenseits die Strafe für all ihre Sünden? Wenn ja, dann tat es ihr leid. Alles, was sie jemals an schlimmen Dingen gesagt und getan hatte. Wirklich alles... Und besonders, dass sie... Kinderlachen. Wendy zuckte zusammen und spitzte die Ohren. Woher kam das nur? Dort! Schon wieder! Ganz sicher aus dieser Richtung! Sie begann dem Lachen nachzulaufen. Tap-tap-tap... Mit jedem Schritt bildeten sich kleine Windteufelchen im Nebel. Und es war kalt. Bitterkalt. Die Stimmen wurden lauter. Wortfetzen drangen an ihr Ohr. „Karottenkopf, Karottenkopf, speckstinkender Karottenkopf!“ Oh ja. Sie erinnerte sich. „Ginger! Ginger! Geh weg mit deinen Gingerpocken, sonst kriegen wir alle noch Gingervitis!“ „Iiiih!“ „Wendy ist 'ne Hexe! 'Ne hässliche rothaarige Hexe! Hexe! Hexe!“ „Kobold! Kobold! Pumuckel!“ Kinder konnten so grausam sein. Doch es gab noch grausamere Dinge, als gehänselt zu werden... Der Nebel lichtete sich und offenbarte die Gesichter ihrer Peiniger. Wendy stand neben sich, selbst nur ein grauer Schatten neben dem kleinen Mädchen mit den zwei abstehenden Zöpfen, welches wutentbrannt von Gesicht zu Gesicht starrte, dort, in eine Ecke des Pausenhofs gedrängt, umzingelt von einer Gruppe von etwa zehn Gleichaltrigen. Ja, sie hatte Angst. Doch Angst würde ihr nicht helfen. Angst machte alles nur noch schlimmer, machte sie schwach, verletzlich und angreifbar. „Ich bin keine Hexe! Ich bin eben reinblütig Irisch, also hört auf so einen Mist zu sagen!“ Die Stimme der kleinen Wendy überschlug sich so sehr, dass sie zu krächzen anfing und ihr Gesicht ganz rot wurde. „Oh-oh! Die abnormale Hexe meint, dass sie von einem irischen Kobold abstammt! Passt auf, dass sie euch nicht verhext, hahaha~!“ Beklemmung machte sich in der Brust der großen Wendy breit. Es tat ihr noch immer weh, wenn sie an die Grundschulzeit erinnert wurde, doch noch mehr schmerzte die Erinnerung an das, was nun folgen würde. „Ihr seid so gemein! Hört endlich auf damit!“ Das Mädchen biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Sie war wütend. So wütend, dass ihr ganzer Körper zitterte und ihr die Tränen in die Augen schossen. „Fängt der Karottenkopf jetzt an zu heulen? Bu-huu! Passt auf, dass euch die Tropfen nicht treffen, sonst bekommt ihr auch noch rote Haare und eklige Sommersprossen, haha!“ KLATSCH! Der älteste Junge rieb sich überrascht die Wange. Die Ohrfeige hatte einen Handabdruck hinterlassen. „Du... Du haust mich?“ Die kleine Wendy zog die Augenbrauen zusammen und nickte ernst. „Und jetzt bekommst du auch Gingervitis! Und du auch!“ Sie holte aus und schlug dem nächsten Jungen die Faust in die Magengrube. Als er nach Luft rang und zu Boden ging, trat sie ihm mehrmals voller Wut ins Gesicht, wandte sich dann einer Gruppe von Mädchen zu und schubste auch diese, bis sie alle hingefallen waren. Sie zerrte an deren Haaren, bis sie kreischten und schrien und plötzlich so gar keine Lust mehr hatten, sie zu hänseln. Wut. Hass. Unbändiger Zorn! Hinaus damit! Hinaus! Man schlug ihr ins Gesicht, bis ihre Lippe aufplatzte, doch sie hörte nicht auf. Raufte, schlug, schrie, trat so lange, bis ein Lehrer sie von hinten packte und sie aus dem Pulk hinauszog. Sie wehrte sich, doch der Klammergriff war stärker, verfrachtete sie in das Zimmer des Direktors, wo man sie für eine Woche von der Schule suspendierte. Und als sie zurückkam, war sie... Allein. Scheue Blicke, die ihrem auswichen, wann immer sie sich begegneten, Getuschel hinter vorgehaltener Hand, ein leerer Sitzplatz im Klassenzimmer neben ihrem. Niemand, der auch nur freiwillig ein Wort mit ihr wechselte, aber auch niemand, der es erneut wagte, sie wegen ihrem Äußeren zu hänseln. Einsamkeit. Die große Wendy wandte sich ab und schloss die Augen. Die Erinnerung verschwand im Nebel. Ihr war mulmig zumute und ihr Herz schlug bis zum Hals, doch sie wollte dem unangenehmen Gefühl nicht klein bei geben. Sie lächelte flüchtig und sah nach oben in Richtung Nirgendwo. „War das alles?“ Ihre Stimme hallte wie in einem leeren Konzertsaal. „Wolltest du mir damit Angst machen, Hayate?“ Sie breitete die Arme aus und rief laut in den Nebel hinein: „Ja, damals haben mich alle gemieden. Doch das ist vorbei! Ich habe Freunde! Freunde, die niemals solche Dinge tun würden! Also zeig' dich endlich und lass uns dieses Duell zu Ende bringen, du feige Sau!“ Ein Sturm kam auf und sog den Nebel hinter ihr zusammen wie ein schwarzes Loch. „Bist du dir da auch ganz sicher?“, erklang Hayates fragende Stimme aus dem Zentrum des Nebels. „Denkst du wirklich, dass deine Freunde dich niemals verraten würden?“ Wendys hellgrüne Augen weiteten sich für einen Moment, dann schloss sie sie erneut und atmete tief durch. „Ich bin sechzehn Jahre alt und verfüge mittlerweile über genug Selbstbewusstsein, um keine Angst mehr davor zu haben, dass man mich so behandelt. Wenn du mich also fertig machen willst, dann musst du dir etwas anderes überlegen!“ Hayate lachte. „Bist du dir da wirklich ganz sicher?“, fragte er erneut. Kaum, dass er seinen Satz beendet hatte, breitete sich der Nebel erneut aus und verwandelte sich in den alten Deich am Stadtrand. „Eins! Zwei! Drei! LIFT 'EM UP!“ „LIFT 'EM UP ¡RAYO PISOTEO!“ Verwirrt ging sie ein paar Schritte auf den Kampfring zu. Ihre Knie zitterten. „Ethan! Vald! Was macht ihr denn hier?“ Doch die beiden bemerkten sie nicht. Stattdessen stürmten sie mit vollem Körpereinsatz aufeinander zu und ließen ihre Drachen Bat und Jaws aufeinander krachen. „Ach, wen haben wir denn hier...“ Jemand legte die Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und wandte sich zu der abschätzigen Stimme um. Und was sie sah, ließ sie erbleichen. Sie waren da. Alle. Ausnahmslos alle, die sie jemals zu ihren Freunden gezählt hatte – mit Ausnahme von Julius, der sich selbst zu träge dafür war, um in einem von Hayates Shinigami erzeugten Trugbild vorzukommen. Auch Ethan und Vald standen mit einem Mal vor ihr und bildeten mit den anderen eine undurchdringbare Wand. Und plötzlich war auch der Deich verschwunden und hatte sich in den Pausenhof der Grundschule verwandelt, nur dass sie alle keine Kinder mehr waren und nicht die kleine, sondern die aktuelle Wendy mit versteinertem Blick ansahen. Der Anblick brachte sie so sehr aus dem Konzept, dass sie ganz vergaß, dass es nur eine Illusion war. Angst hatte sich ihres Herzens bemächtigt und schnürte ihr die Brust zu. „Leute? Warum seht ihr mich alle so an? Ich... Ich habe doch nichts falsch gemacht?“ Ihre Stimme zitterte. Als sie einen Schritt zurückgehen wollte, spürte sie die kalte Betonwand des Schulgebäudes in ihrem Rücken. Angelo war der erste, der hervortrat. Ausdruckslos blickte er über seine halbmondförmigen Brillengläser. „Wendy, es gibt da etwas, das ich dir schon immer sagen wollte.“ Er kam immer näher. „Deine gesamte Existenz ist in meinen Augen nur eine Misskalkulation der Natur! Es wäre also besser, wenn du nun der Evolution ihren Lauf lassen würdest und für immer vom Antlitz dieser Erde verschwindest!“ Was? Wie? Warum sagte er nur so etwas? Harriet kicherte leise, trat an die andere Seite heran und blickte ihr gehässig in die Augen. „Sag, Wendy, magst du Spielzeug? Also ich liebe Spielzeug! Nur geht es bei mir immer viel zu schnell kaputt – und dann muss ich es wegwerfen!“ Hör auf damit! Hör auf solche Dinge zu sagen! Kein Mensch ist es wert, wie Spielzeug behandelt zu werden! Angelos Trugbild war verblasst und hatte dem von Zeph Platz gemacht. „Weißt du, Wendy...“, begann er und schniefte angewidert. „Bevor du da warst, war unser Club viel besser dran! Du hast mir meinen Platz als Nummer Zwei gestohlen und das finde ich richtig zum Kotzen! Verschwinde doch einfach!“ Nein! Nein! Das wollte ich doch nicht! Wendy hielt sich die Ohren zu, doch die Stimme Ethans drang ungefiltert an ihre Ohren. „Du bist weniger wert als die Insekten unter meinen Schuhsohlen! Bat und ich wollen mit dir nichts mehr zu tun haben!“ Das Trugbild wandte sich ab und verblasste. Bitte, Ethan, nicht du auch noch! Wir waren doch immer Freunde, auch wenn du nie ein Mensch großer Worte warst. Du würdest doch nie, NIE so etwas denken – oder doch? Sie senkte den Kopf. Zwei Tränen tropften auf den Boden. Wieder legten sich Hände auf ihre Schultern und als sie aufsah, blickte sie direkt in Balotellis Gesicht. Doch er lachte nicht. Kein strahlendes Zahnpastalächeln, kein lässiges Zurückwerfen der Haare und auch kein „Bellissima!“, sondern nur ein angewidertes und abschätziges „Ich habe mich in dir getäuscht! Du bist unwürdig ein Mitglied des Drachenclubs zu sein! Du hast ja nicht einmal einen richtigen Kirit!“. Nein! Das stimmte nicht! „Natürlich habe ich einen Kirit!“ Sie versuchte sich zu verteidigen, doch er stieß sie rabiat auf den Asphalt. „Ach, und wo ist dein Drachengeist jetzt? Du bist unfähig! Richtig nutzlos! Sogar weniger wert als Müll!“ Er trat ihr in den Bauch. Wendy rang nach Luft und krümmte sich vor Schmerzen. War dies das Ende? Sie lag erneut auf dem Pausenhofboden, getreten, geschlagen und gehänselt. Nur diesmal tat es richtig weh. So weh, dass sie sich nicht einmal wehren wollte. Und sie war schwach. Nicht einmal wütend, denn sie wusste, dass sie Recht hatten. Jeder von ihnen hatte auf seine Art und Weise einen Grund ihr solche grausamen Dinge zu sagen. Die Sicht verschwamm vor ihren Augen. Tränen flossen heiß über ihre Wangen und vereinten sich zu einem Rinnsal, das auf den Boden tropfte. „Es tut mir leid... Alles, was ich euch angetan habe... Es tut mir leid...“ – „Dir tut es leid?“ Man packte sie am Kragen und zerrte sie nach oben, um sie fest gegen die Wand zu drücken. Sie hob den Kopf und sagte ohne Elan, „Vald, nicht du auch noch...“, doch der wütende dunkelhäutige Chilene mit dem spanischen Akzent dachte nicht im Traum daran, sie loszulassen. Er verstärkte den Griff um ihren Hals und schüttelte sie. In seinen grünen Augen stand der Hass. „Warum... Warum, Wendy?“ Seine Zähne mahlten. „Warum hast du eine richtige Familie – und ich nicht?“ Er presste sie so fest gegen die Wand, dass ihr Hinterkopf aufschlug. „Das hast du nicht verdient! Und dafür... HASSE ICH DICH!“ KA-RACK. KLIRR. Etwas in ihr zerbrach. Als das Trugbild verschwand, sackte sie kraftlos zu Boden. Sie hatte ihren Lebensmut verloren. Es stimmte also wirklich, was Hayate gesagt hatte... Dies war das Ende. Dies war der Tod von Wendy O'Callaghan. Sie hatte mit voller Energie gelebt und bis zuletzt tapfer gekämpft, doch als die Einsamkeit sie übermannte, gab sie doch dem sanften Wispern des Todes nach. Ihre Augenlider wurden ganz schwer. „Es tut mir so leid... Auf Wiedersehen...“, hauchte sie mit letzter Kraft, dann war es... „HALTE DURCH!“ Wer spricht da? Träge hob sie den Kopf. „Du bist nicht allein!“ Wer bist du? Bist du dieses Leuchten? „Ich bin bei dir! Ich war immer bei dir! Und ich werde dich niemals verlassen!“ Sie lächelte flüchtig. Sting... Der leuchtende rosafarbene Skorpion materialisierte sich und stupste sie mit einer seiner Scheren an. „Komm' schon, Wendy, steh' auf!“ Seine Beißwerkzeuge bewegten sich klackend, als würde er sprechen, doch seine kindliche Stimme klang laut und deutlich in ihrem Inneren, da er telepathisch mit ihr kommunizierte. Sie schüttelte den Kopf und drehte sich um. „Ich will nicht... Lieber sterbe ich hier, als dass du mich diesmal wirklich den Feuertod sterben lässt...“ Das Klacken wurde ungeduldig. „Jetzt steh' schon auf! Das hier muss nicht das Ende sein, wenn du es willst! Das hier kann ein ganz neuer Anfang sein!“ Wendy reagierte nicht. „Oh, jetzt werde ich aber ganz böse!“ Seine acht Beine trappelten ungeduldig auf und ab, dann schnellten seine Greifzangen hervor und kniffen Wendy so heftig in den Rücken, dass sie vor Schmerz aufschreckte und sich gereizt umdrehte. „Sag' mal, bei dir hackt's wohl!“, blaffte sie ihn an und ballte die Fäuste, um ihn zu schlagen. „Tihihi~!“ Er legte den Kopf schief und lachte freudestrahlend. „Du bist ja doch aufgestanden!“ Wendy blickte ihn verdattert an. Es stimmte! Und es war sogar leichter, als sie gedacht hatte. Sie nickte und wischte sich über die vom Weinen geröteten Augen. „Du, Sting...“, fragte sie schließlich, als sie wieder voll und ganz die Alte war, „weißt du, wie wir aus diesem Nebel hinauskommen können? Ich denke, Hayate hat schon genug in meinem Kopf herum gebohrt!“ Der rosafarbene Skorpion nickte und drehte sich um. „Und ob! Folge mir einfach, dann schaffen wir es gemeinsam diese Illusion zu besiegen!“ Nervös ging Tornado am Rand des Kampffeldes auf und ab. Es waren schon fünfzehn Minuten vergangen, seitdem Hayate seine Albtraum-attacke gegen Wendy eingesetzt hatte. Fünfzehn Minuten, in denen beide nur regungslos im Kampfring verharrten und Hayate mit blutdurstigem Blick auf die apathische Wendy stierte. Er wusste, was die rothaarige Irin gerade durchmachte. Er selbst war vor langer Zeit auch einmal ein Opfer von Hayates heimtückischer Attacke geworden, welche es ihm möglich machte die Seele seines Gegenüber bis in den hintersten Winkel zu durchleuchten und ihm sämtliche seiner Schwächen und Ängste bewusst zu machen. Auch die anderen waren nervös. Zeph, dessen Drachengeist auf Stufe Zwei war, was bedeutete, dass er gerade einmal die Stufe der Manifestation erreicht hatte und nur schwache physische Attacken steuern konnte, hatte eine aufrechte und angespannte Haltung angenommen. Angelo tippte wie wild auf seinem Laptop und murmelte immer wieder „Zu hoch! Ihre Körpertemperatur ist zu hoch!“, während Costas, der wie er selbst einen physischen Kirit der Stufe Drei kontrollierte, seine Unruhe durch das Abspielen von griechischer Volksmusik auf Kassette zu übertünchen versuchte. Tornado presste die Lippen zusammen. Sollte er, oder sollte er nicht? Mit Icarus dazwischen gehen und das Duell beenden? Immerhin sah Wendy gar nicht gut aus! Er wollte nicht riskieren, dass sie wieder einen Ausbruch erlitt und sich womöglich noch schlimmer verbrannte als beim letzten Mal. Doch andererseits vertraute er Hayate blind. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser so weit gehen würde Wendy neben psychischen Qualen der Kirit-Stufe 4 noch weitere Schmerzen zuzufügen, denn immerhin war er keiner dieser verrückten Illusionisten bei der Weltmeisterschaft, die ihre Gegner so weit manipulieren konnten, dass diese sich von alleine aus dem Kampfring – und vielleicht sogar in den Tod – stürzten. „Ich will nicht...“, murmelte Wendy leise. „Bellissima!“ Tornado riss die Augen auf. „Hörst du mich! Du musst aufwachen, sonst verbrennst du noch!“ Doch Wendy reagierte nicht. Hayates Blick verfestigte sich. Plötzlich krümmte sie sich zusammen und begann schwer zu atmen. Es war ein Wunder, dass sie bei der Folter, die Hayate ihr innerlich zufügte, noch die Drachenleinen zum Himmel halten konnte. Hayate schmunzelte. „Es ist gleich vorbei! Gleich habe ich ihren Willen vollständig gebrochen...“ Wenn er nicht auch einen Drachen gesteuert hätte, hätte wohl niemand geglaubt, dass es sich hier um ein Drachenduell handelte, da das eigentliche Duell im unsichtbaren Bereich stattfand. Tornados Hände zitterten. Er vertraute doch Hayate, aber... „Mio Amore, hör' endlich auf damit! Du wirst sie noch umbringen!“ Er stürzte auf das Duellfeld zu, das nun durch die einsetzende Ebbe wie ein schwarzer Hügel aus dem Meer emporragte. Er konnte nicht anders, er musste einfach dazwischen gehen, sonst... Grüne Flammen loderten auf und schleuderten ihn zurück, so dass er unsanft auf dem Rücken landete und Icarus ins Wasser fiel. „Oh nein!“ Costas reagierte sofort und sprintete los, um die Leinen zu fassen, bevor der Wind den Drachen hinaus aufs Meer trug. Zum Glück war dieser wasserabweisend beschichtet, doch die Kamera, die noch immer das Duell aufzeichnete, war hinüber. Angelo blickte von seinem Bildschirm auf. Nur noch weißes Rauschen. „Ist alles okay bei dir?“ Tornado nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Ahi! Warum bin ich eigentlich immer derjenige, der zu Boden geht?“ Er rieb sich über den Hintern. „Wenn ich mich nächste Woche endlich mit Ethan duelliere, wird das nicht passieren, da bin ich mir ganz sicher!“ Mist! Warum musste Hayate auch einen Schutzschild errichtet haben? Was war an diesem Duell so wichtig, dass er sich und Wendy ein- und alle anderen aussperren musste? Nein, er würde sich jetzt nicht unterkriegen lassen! Er wollte nicht noch einmal mit ansehen müssen, wie Wendy in Flammen aufging, wie sie regungslos im Krankenhaus lag und wie sie geweint hatte, auch wenn er letzteres nur durch einen Türspalt gesehen hatte. Er wusste, dass er sie verlieren würde, wenn es ein weiteres Mal wie in der Nacht der Entführung ablief. Und dafür war sie ihm – und allen anderen auch – viel zu wichtig. Mit wackeligen Knien erhob er sich. „Wendy, Bellissima! Gib nicht auf!“ Auch Zeph stand auf. „Ja, hau rein! Du schaffst es, nie!“ Sogar Angelo kam angerannt und rief mit stockendem Atem: „Die Wahrscheinlichkeit, dass du dieser Illusion entrinnst und dieses Duell gewinnen wirst, liegt bei 98 Prozent!“ Costas stellte sich zu den drei Jungen und verschränkte die Arme. „Was soll ich jetzt sagen?“, grübelte er. „Ah ja! Wenn du dieses Duell gewinnst, dann gibt es heute Abend Bifteki mit Pommes Frites und Tsatsiki und reichlich Bohnen mit Speck!“ „...Speck...“ Ein Energiestoß ging durch Wendys Körper. Hayate schreckte zusammen. Mit aller Macht stemmte er sich nach vorne, doch der Bann war gebrochen. Shinigami, der nach der Sensenattacke in Wendys Körper verschwunden war, brach hinaus und verschwand mit einem gellenden Schrei. „Nandesuka? Wie hast du das nur geschafft?“ Sein Gesicht entgleiste. Das, was er sah, kam ihm eher vor wie eine Illusion, als dass es die pure Realität sein konnte. Wendy hatte sich aufgerichtet und starrte ihn mit festem Blick an. Und obwohl sie stinksauer war, dass Hayate so tief in ihrem Gedächtnis gewütet hatte, musste sie doch lächeln. „Ich bin zurück, mein Lieber...“, begann sie angriffslustig, „und das wird jetzt RICHTIG weh tun, das verspreche ich dir!“ All ihre Kraft konzentrierte sich mit einem Mal auf ihre Hände. Wabernde Flammen bildeten sich in ihren Fäusten, doch sie waren nicht rotglühend und brennend, sondern pink und körperwarm. „Na toll...“ Sie hob kritisch eine Augenbraue und betrachtete ihre Faust. „Kitschiger ging es wohl echt nicht?“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Na gut, dann wird dich jetzt dein persönlicher rosa Albtraum stechen! STING, ERSCHEINE!“ Die Flammen loderten immer stärker und stärker und krochen die Drachenleinen empor wie eine Lunte. Zeph hielt sich die Hände vor das Gesicht. „Niet, nicht Aquila kaputt machen!“ – „Diesmal nicht!“ Sie riss die Arme empor, um eine letzte Feuersalve nach oben zu schicken, dann konzentrierte sich die Energie und ihr Drachengeist erschien. Costas blieb der Mund offen stehen. „Ein... Skorpion? Kein rosa Schmetterling, eine glitzernde Fee oder wenigstens ein niedliches Kaninchen?“ Wendy zwinkerte ihm zu. „Tut mir leid, aber ich bin und bleibe das coolste Mädchen in dieser Geschichte! Und jetzt... Sting, zeig' ihm, was Schmerzen sind!“ Danke Wendy... Darauf habe ich so lange gewartet! Die Lichtgestalt stürzte sich herab und erhob ihren Stachel. Hayate erbleichte und schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht möglich! Aus meiner Illusion kann niemand entkommen!“ Er wollte zurückweichen, doch die Flammenwand hielt ihn fest. Ruckartig hob er die Arme vor das Gesicht, doch der leuchtende Skorpion ließ sich nicht aufhalten. Der brennende Stachel schnellte hervor und stach mehrere Male in seine Arme, bis sie ganz taub wurden und er Shinigamis Haltegriffe loslassen musste. Und als dieser schließlich ins Meer stürzte, verblassten auch die Feuerwände, ohne auch nur einen Hauch von Ruß und verbrannter Erde zu hinterlassen. „Das Duell ist entschieden! Sieger ist Wendy mit Aquila!“ Kaum, dass er seinen Satz beendet hatte, stürzte Tornado auch schon euphorisch auf Wendy zu und umarmte sie stürmisch. „Bellissima, fantastico!“ Auch die anderen taten es ihm gleich und bildeten ein Knäuel aus Armen und lobenden Worten. „Voll gut, nie!“ – „Statistisch gesehen unvergleichlich!“ – „Bravo!“ Hayate senkte den Kopf und lächelte kühl. „Das hast du hervorragend gemacht, Wendy-san.“ Er reichte ihr die Hand. Wendy wandte sich mühevoll aus der Gruppenumarmung hinaus. „Jungs, lasst mal los! Ich kann mich ja gar nicht mehr bewegen!“ Sie gähnte – der Einsatz des Drachengeistes hatte sie wie beim letzten Mal stark ermüdet – und blickte gen Himmel. Ein letztes Mal winkte Sting ihr mit seiner Schere zu, dann verschwand er. „Das Duell war wirklich erste Sahne!“ Sie schüttelte Hayates Hand. „Nur beim nächsten Mal wühlst du bitte nicht so tief in meinem Kopf herum, sonst haue ich dich zu Brei wie die anderen Kinder damals!“ Scherzhaft drohend hob sie die Faust. „Dieses Risiko werde ich mit Sicherheit kein zweites Mal eingehen.“ Er nickte und wandte sich Zeph zu. „Entschuldige, dass ich so unausstehlich war. Manchmal habe ich mich einfach nicht unter Kontrolle.“ Er reichte auch ihm die Hand. „Nie, ist alles okay. Kannst mir dafür ab jetzt auch immer gebratenen Speck mit Eiern zum Frühstück machen!“ Hayate blickte ihn verdattert an, fing dann aber an auf eine Art zu lachen, die viel ansteckender war als sein unheimliches Kampflachen und auf das gesamte Team überging. Nur Costas stand etwas abseits und beobachtete schmunzelnd die Szene. „Na sieh' mal einer an!“ Er nickte zuversichtlich. „Würde mich ja nicht wundern, wenn dieses Team bei der nächsten Weltmeisterschaft ganz groß raus kommt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)