The taste of falling rain. von Anemia ([Crashdiet - FF]) ================================================================================ Kapitel 2: 2. Kapitel - "Du bist ein Scheißfreund, London." ----------------------------------------------------------- Das Übel begann irgendwann nach Anbruch des neuen Tages. Anscheinend hatte man mir doch noch das Tor zur Traumwelt aufgestoßen, in dem ich für ein paar Stunden verweilen durfte. Allerdings fühlte es sich dennoch so an, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Meine schmerzenden Glieder ließen nur einen äußerst langsamen, schwerfälligen Gang zur Toilette zu, und wäre nicht bereits helllichter Tag gewesen, ich hätte mir wahrscheinlich meine Zehen an irgendeiner Schrankkante gebrochen. Obwohl es meine Wohnung war, die ich in- und auswendig kannte. Doch der sich dazu gesellende, durchdringende Schmerz in meinem Kopf machte es mir fast unmöglich, die Augen offen zu halten. Oh scheiße. Wie konnte das sein? In Sachen Alkoholkonsum hatte ich mich gestern gezügelt, besser gesagt, Peters Gesellschaft war mein Ersatz für die eklige Plörre, die ich nur in Ausnahmefällen zu mir nahm. Schnaps war einfach widerlich. Und ich hatte ihn leider nur zu deutlich in Peters Mund schmecken können. Aber ich wollte mich nicht an das Dilemma erinnern. Nicht schon wieder. Mir ging es beschissen, und die Gedanken an den Abend ließen nun auch noch meinen armen Magen Purzelbäume schlagen. So plötzlich, dass ich fürchtete, mich an Ort und Stelle übergeben zu müssen. Hektisch torkelte ich durch den Flur zum Badezimmer, wurde aber von meinen bleiernen Beinen davon abgehalten, auf Hundertachtzig zu beschleunigen. Inzwischen fühlte ich auch die Übelkeit in meiner Kehle aufsteigen. Beinahe hätte mich der Kotzreiz übermannt. Aber es war ja noch nicht aller Tage Abend. Noch konnte ich direkt auf der guten Auslegware rückwärts essen. Und das nur, weil Peter gerade mit seinem fetten Arsch das Klo blockierte. Panisch wanderten meine Blicke von ihm weg, blieben für einen Moment am Waschbecken hängen, ich verwarf allerdings den Gedanken schnell wieder, es für meine Zwecke zu missbrauchen, denn das hätte eine fürchterliche Schweinerei gegeben. Nur die Vorstellung meiner eigenen Kotze im Ausguss genügte, damit ich mir die Hand vor den Mund halten musste. Wäre ich fit gewesen, ich hätte Peter so lange mit Schimpfwörtern und Ausdrücken versehen, bis er sich aus dem Staub gemacht hätte. Aber es war mir nicht möglich, auch nur ein Wort zu sagen, ohne mich zu erbrechen. Peter allerdings schien mal wieder nichts zu raffen, absolut nichts. Natürlich, er sah mich an wie die Kuh wenns donnert, aber eine Reaktion folgte nicht. Friedlich kackte er weiter, bis ich es nicht mehr aushielt. Der Duft, den Peters Ausscheidungen verströmten, trugen letztendlich dazu bei, dass ich mich verzweifelt der Badewanne entgegenwarf und mich würgend in ihr entleerte. Oh fuck, so gereihert hatte ich zuletzt, als Dave noch lebte. Dave... Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis mein Körper mich endlich zur Genüge durchgebeutelt hatte. Ich verharrte noch eine Weile über der Badewanne, nur zur Sicherheit, und bemerkte erst jetzt, dass meine Haare etwas abbekommen hatten. Meine schönen, langen, schwarzen Haare. Mein Kapital. Mein Heiligtum. "Alles klar?", hörte ich eine Stimme neben mir fragen. Peter. Er hatte das alles mit angesehen und wollte noch wissen, ob alles klar war? Tickte der noch ganz sauber? Rhetorische Fragen gut und schön, aber man sollte sie mit Bedacht und Verstand einsetzen und nicht so sinnlos unschuldigen, leidenden Menschen an den Kopf knallen! "Du bist ein Scheißfreund!", donnerte ich los, ignorierte das abschwächende Zittern in meiner Stimme. "Anstatt du mir mal die Haare zurückgehalten hättest, aber nee..." "Ich kann nicht aufstehen, Martin." Ein ungläubiges Schnauben entwich mir, während ich mich auf dem Wannenrand aufstützte, um meinen schwachen Körper in die Horizontale zu ziehen. "Ach? Soll ich den Rollstuhl holen? Oder dich gleich im Seniorenheim anmelden? Der alte Peter kann nicht mehr auf. Mir kommen gleich die Tränen. Frag mal, was mir alles weh tut und urteile dann neu!" "Martin, ich kacke..." Ich schwieg. Raffte meine Haare hinten zusammen, als ich wieder aufrecht stand. Stellte mich vor den Spiegel, in dem ich leider nicht nur meinen neuen Modeschmuck namens Augenringe bewundern durfte, sondern auch das Spiegelbild des scheißenden Peters. Man hätte ihn malen sollen, so, wie er da saß und die Zeitung studierte. Aber dann hätte man es leider nicht plumpsen hören. Bilder mit Ton waren noch immer nicht erfunden und dabei schrieben wir das einundzwanzigste Jahrhundert. Wahrscheinlich hatte Peter wenigstens mitbekommen, dass ich ihn durch den Spiegel anschaute. Auf für mich sehr unangenehme Weise trafen sich unsere Blicke, aber ich hielt ihnen stand. Weil ich wütend war. Weil er meinen nach vorne geschobenen Kiefer sehen sollte. Okay, das hätte er auch, wenn ich den anderen ignoriert hätte, aber ich hoffte, dass zusätzlich die rote Glut in meinen Augen funkelte und von dort aus zwischen seine Beine hopste. Tat sie natürlich nicht. Denn meine Augen blickten alles andere als sauer in die Weltgeschichte. "Du siehst echt scheiße aus." Mit einem milden Lächeln legte ich meinen Kopf schief. Und das nicht, ohne Peter aus den Augen zu lassen. "Wenn du Frauen auch immer solche Komplimente machst, dann wundert es mich nicht mehr, dass du noch single bist. Ach, eigentlich wundert es mich sowieso nicht." "Wieso?", empörte er sich da zugleich, blieb aber wesentlich ruhiger als ich. Von seiner plötzlich erregten Stimmung zeugte eigentlich nur das Weglegen der Zeitung. "Du hast selbst gesagt, dass ich gut im Bett bin." Hatte ich das? Falls ja, dann konnte ich mich nicht daran erinnern. Ich hatte lediglich resultierend aus seinen Blasfähigkeiten gemutmaßt, dass er öfter mal etwas mit Männern hatte. Deep Throat war schließlich etwas, dass man als Laie nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln konnte. Deep Throat war eine Kunst. Die Kunst der schwulen Männer. Oder erfahrener Frauen. "Aber ehrlich, Süßer, du siehst schlecht aus. Total blass", griff Peter wieder den ursprünglichen Faden auf. Großzügig überhörte ich den Kosenamen. Von Peter wollte ich nicht so genannt werden. Allenfalls im Scherz ließ ich es gewähren, aber da mir momentan nicht nach Jux und Tollerei zumute war, hätte ich ohnehin nur zickig auf das kleine, harmlose Wörtchen reagiert. "Was denkst du, wieso ich gerade gekotzt habe?", kam es von mir. "Weil es mir so viel Spaß macht?" Peter schwieg, putzte sich den Arsch ab, was ich mir nicht unbedingt ansehen wollte, weswegen ich mich damit ablenkte, mein heißes Gesicht abzuwaschen. Selbst in den Wangenknochen donnerte der Kopfschmerz, der wahrscheinlich durch die nächtliche Gedankenflut bedingt aufgekreuzt war. Wieso um alles in der Welt musste mich der liebe Gott, falls es diesen gab, so bestrafen? Wenn einer es verdiente, ordentlich gefickt zu werden, dann war es der London-Typ. Aber nicht ich. Okay, vielleicht ja doch. Ein ehrenwerter Bürger war ich spätestens, als ich Peter den Marsch blies, nicht mehr. Ich war ein Arsch, ein riesengroßer Oberarsch! Der Chefarsch persönlich! Wäre ich tatsächlich ein Arsch gewesen und kein Mensch, hätte man mir wahrscheinlich einen LKW rektal einführen können. Man betrog seine Frau nicht. Man betrog sie einfach nicht. Nicht mit einer anderen Schnitte, nicht mit einem Mann und schon gar nicht mit seinem eigentlich besten Kumpel! "Scheiße, verdammte!" Der Schuss ging gehörig daneben, denn meine geballte Faust traf lediglich das sehr resistente Porzellan des Waschbeckens und leitete den Schmerz durch meine Hand zurück in mein Rückenmark, welches es wiederum an mein Oberstübchen schickte und mein Gehirn 'Aua!' schreien ließ. Und nicht nur mein Gehirn. Ich hätte heulen können. Es war nicht dieser neu hinzugekommene Schmerz, der mir die Tränen in die Augen trieb, es war alles. Ich fühlte mich, als würde ich jeden Moment Dave besuchen gehen und wollte einfach dieser scheiß Wirklichkeit den Rücken zudrehen, fröhlich winken und gehen. Aber es ging nicht. Ich musste es ausbaden. Alles. Die Emotionen kochten so heftig in mir, dass es mich nicht einmal kümmerte, dass Peter seine Hände auf meine Oberarme gelegt hatte und mir mit leiser, sanfter Stimme zu verstehen gab, dass ich mich beruhigen sollte. Doch wie sollte das gehen? Ich bebte am ganzen Körper, kämpfte gegen den Kloß in meinem Hals und sah vor meinem inneren Auge mein ganzes Leben den Bach hinuntergehen. Teilweise war es ja schon dahin, einfach weggeschwommen. Mit Daves Tod war auch ein großes Stück meiner selbst gestorben. Als er noch lebte, hätte ich nie gedacht, dass ich ihn so liebte. Aber manchmal realisierte man das erst, wenn der Mensch nicht mehr an seiner Seite war. "Dave war etwas Besonderes", entwich es mir zitternd, während ich Halt am Waschbecken suchte und starr in die weiße Schüssel starrte. "Dave war...toll. Einfach nur toll." Ich schniefte. Wieso sagte ich das eigentlich? Peter verstand es ja doch nicht. Schon gestern hatte er es nicht verstanden. Warum sollte sich das über Nacht geändert haben? Außerdem wollte ich nicht noch einen Zusammenbruch vor seinen Augen erleiden. Wir beide wussten, wie das beim ersten Mal geendet hatte. Wenn ich litt wie ein Hund konnte ich einfach für nichts garantieren. Dann war jeder, der mich tröstete, meine große Liebe. So absurd es auch klang. "Shhh." Das war alles, was von Peter kam. Mehr nicht. Immer nur dieses Geräusch, welches mich beruhigen sollte. Doch ich wollte mich nicht noch einmal von ihm einlullen lassen. Ich wusste, Peter war auf dem besten Weg, mich erneut dazu zu bekommen, ihm um den Hals zu fallen und ihn abzuknutschen, als gäbe es keinen Morgen. Nein. Heute war ich schlauer. Schüttelte entschieden seine Hände ab, drückte mich an ihm vorbei und schlich in das Schlafzimmer, um dort weiter in Selbstmitleid zu baden. Ungestört, wie ich hoffte. Aber Peter war hartnäckiger als so mancher Schimmelpilz. Selbstverständlich ließ er mich nicht in irgendeiner Ecke liegen und auf meine Verwesung warten, nein, er kam mir hinterhergekrochen und mimte zu allem Entsetzen auch noch die Krankenschwester. Ja, es gab Momente, in denen konnte Peter ein echter Freund sein, aber oftmals ging er mir einfach nur auf den Sack, ohne dass er es selbst merkte. Jetzt war so ein Moment. Ein Moment, in dem ich ihn am liebsten auf den Mond geschossen hätte. Ich fühlte mich wie ein seltenes Tier, welches im Zoo ausgestellt wurde. Und das nur, weil Peter meinte, sich direkt vor mein Bett zu knien und mich sorgenvoll aus seinen großen Augen anzusehen. Nein, ich war bei Weitem nicht nur ein Tier einer raren Gattung, sondern auch ein im Sterben liegendes Furunkel. Fragt mich nicht, wie ich auf diesen Vergleich komme. Wenn man sich schlecht fühlt, dann hat man manchmal seltsame Ideen. "Du gefällst mir echt gar nicht", kam es passend zu seinem besorgten Blick von Peter. "Du mir auch nicht", gab ich in eben der angstvollen Tonlage zurück. Leider kümmerte der andere sich überhaupt nicht um mein Kompliment, sondern streckte den Arm aus, um mir unverhohlen die Stirn zu betatschen. Mürrisch ließ ich es über mich ergehen. Ich war viel zu schwach, um Gegenwehr zu leisten. Ich nahm mir vor, einfach all meine Wut zu bündeln und sie irgendwann, wenn es mir besser ging, dem lieben Herrn London entgegenzuschleudern. "Du bist ganz warm", stellte Peter fest, nachdem er mich ausreichend befühlt hatte und seine Augen immer größer wurden. "Nicht so warm wie du, Bruder", fiel es mir ein und ich schreckte nicht zurück, meinen Gedanken einfach auszusprechen. Außerdem entsprach es einer Tatsache, dass Peter schwule Momente zu seinen special Effects zählte. Jedenfalls nahm ich das ganz stark an. Ich fühlte so etwas wie Erleichterung in mir aufsteigen, als der aufdringliche Hoden sich endlich erhob und ein paar Schritte von mir wich, allerdings begutachtete er mich noch immer so fachmännisch wie eine Krankenschwester, was mir auch nicht passte. "Ich geh mal kurz in die Apotheke", kündigte er an und lief auch schon in Richtung Wohnzimmertür. "Bisschen was für dein Fieber und deinen Bauch holen, Sweetie." Für mein Fieber? Wollte er es schüren? Mh. Ich sagte nichts dazu. Denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, ihm den Unsinn auszureden. Plötzlich konnte ich sogar wieder auf der Bettkante sitzen, wenn auch schief wie eine Bogenlampe und mit zugekniffenen Augen, weil mein Kopf noch immer rebellierte und wahrscheinlich auch nicht vorhatte, mich in Ruhe zu lassen. Theoretisch hätte er mit Peter einen Club gründen können. Den Club der Quälgeister. "Du musst nichts holen", grummelte ich, woraufhin Peter kurz inne hielt und mich erneut musterte. Von oben bis unten. "Mir geht's schon wieder viel besser." Peter aber konnte man nicht austricksen. Man mochte es nicht für möglich halten, aber er besaß genügend graue Zellen, um zu erkennen, dass ich gerade das Blaue vom Himmel log. Mir ging es offensichtlich beschissen, und ich trug mein innerstes Empfinden auch äußerlich zur Schau, wie Peters Komplimente deutlich bewiesen hatten. Deswegen schüttelte meine private Krankenschwester auch entschieden das blonde Haupt und drückte die Klinke nach unten. "Ich bin gleich wieder da. Dann kümmere ich mich um dich." Oh wacke. Das klang nicht gut. Ganz und gar nicht gut. In diesem letzten Satz schwang so viel Zweideutigkeit mit, dass es mir das Gehirn durchschüttelte vor Panik. Normalerweise hätte ich nun zugesehen, dass ich mich verflüchtigte, aber das war mir nicht möglich. Es war mein Schlüssel, den ich ihm Flur klappern hörte, was mir signalisierte, dass Peter das Teil entführen wollte, um sich wenig später wieder in meine heiligen Hallen zu schleichen. Nun, natürlich vertraute ich ihm, schließlich kannte ich ihn schon lange und wusste, er würde das Ding nicht nachmachen lassen, damit er jederzeit zutritt zu meiner Wohnung besaß. Trotzdem gefiel mir das nicht. Noch weniger aber gefiel mir mein sich plötzlich bemerkbar machendes Handy. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Mit summendem Kopf tastete ich nach dem nervigen Gerät, welches zum Glück nicht mehr irgendwo im Wohnzimmer lag und von dort aus wie am Spieß nach Papi brüllte. 'Eric', las ich auf dem Display und augenblicklich wurde mir wieder ganz übel. Konnte mich das Leben nicht mal für ein paar Stunden in Ruhe lassen? Aber nein, kaum hatte ich es geschafft, mir Peter von Backe zu machen, da klingelte mir der Drummer die Ohren wund. Ehrlich gesagt hätte ich am liebsten auf das kleine, rote Hörersymbol getippt, aber dann wäre die Kacke sicher mächtig am Dampfen gewesen. Und Ärger war das letzte, nach dem ich mich derzeit sehnte. "Mh", brummte ich in das Teil, konnte mich allerdings nicht mehr in mein Kissen sinken lassen, um gemütlich Erics Worten zu lauschen. Wenn es das gab, dass man von einer Stimme überrannt werden konnte, dann geschah eben dieses in genau diesem Moment mit mir. Abrupt erstarrte ich in der Bewegung, während ich mich fühlte, als ob meine Augen aus den Höhlen quellten. "Martin, ich hätte da jemanden, der unser neuer Sänger werden könnte! Der Junge ist ein Goldstück! Du wirst ihn lieben!" Halthalthalthalt. "Was?" "Neuer Sänger!" Ja, im akustischen Sinne hatte ich schon verstanden, was er meinte. Aber ansonsten... Puh. Ich wurde von einem Moment auf den anderen dermaßen überfahren, dass kein einziges Wort mehr meine Kehle verlassen wollte. Mit allem hätte ich gerechnet, mit der Zombie-Apokalypse, mit der Eiszeit und vielleicht auch nicht mit der Nachricht, Eric hätte die Fähigkeit entwickelt, Eier zu legen, aber nicht damit. Nee. Nie und nimmer. Crashdiet war schließlich mit Dave gestorben, schließlich war es sein Baby und wir hatten uns darauf geeinigt, es für immer ruhen zu lassen. Weil es ohne ihn einfach nicht funktionierte. Allen Anscheins jedoch war ich der einzige, der dieser Meinung war. Sonst hätte Eric sich nicht nach einem Ersatz umgetan. Einem Ersatz für Dave. "Sag mal, spinnst du bisschen?" Endlich schwieg die aufgebrachte Stimme am anderen Ende der Leitung still. Damit hatte der Gute anscheinend nicht gerechnet. Wahrscheinlich hatte er sich eingebildet, ich wäre vor Freude in die Luft gesprungen und ihm direkt um den Hals. Eric, der Retter unserer Band. Dabei wollte ich gar nicht, dass man sie rettete. "Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Ohne Dave keine Crashdiet. Welches Wort davon verstehst du nicht?" Man merkte förmlich, wie Eric nach Worten rang. Nun war er es, der überfahren wurde. Von mir. Martin, dem Riesenarsch. Groß wie eine LKW-Garage. "Martin...ich weiß ja, dass es dir schwer fällt, aber ich glaube nicht, dass Dave gewollt hätte, dass wir alles hinschmeißen", versuchte er mich nach einer Weile zu beschwichtigen und selbst ich musste einsehen, dass dies ein verdammt vernünftiger Grund war, die Band am Leben zu erhalten. Dennoch hätte ich ein echt mieses Gefühl gehabt, hätten wir einfach ohne Dave weitergemacht. "Weißt du denn, ob es in seinem Sinne wäre?", fragte ich deshalb und erhielt nur ein tiefes Seufzen als Antwort. Natürlich, er wusste es nicht. Niemand wäre ja auch auf die Idee gekommen, dass Dave sich so bald vom Planeten Erde verpisste, um als Geist sein Unwesen zu treiben. Weshalb hätten wir ihn also fragen sollen, was nach seinem Ableben geschehen sollte? Wut und Trauer überfielen mich mal wieder gleichermaßen. In Kombination mit meinen Kopf- und Bauchschmerzen stellten diese beiden Gefühle eine explosive Mischung dar. Und ich konnte es auch nicht verhindern, dass Eric alles abbekam. Außerdem verdiente er es meiner Meinung nach auch ein wenig. Schließlich hatten wir eine Abmachung! Aber er schiss auf diese scheiß Abmachung. Das machte er mir deutlich. Und irgendwie erpresste er mich sogar und drehte es so hin, dass die Entscheidung letztlich bei niemand anderem als Peter lag. "Wenn Peter derselben Meinung ist wie ich, dann bist du überstimmt." Auch von seiner ruhigen Vortragsweise konnte ich mir nichts kaufen. Alles hing von Peter ab, das wurde mir klar. Würde Peter einem neuen Sänger zustimmen und damit auch einer Fortführung der Band, durfte ich sehen, wo ich blieb. Fein. Gespräch beendet. Dave war also für alle Welt ersetzbar. Meine Bandkollegen gingen bereits wenige Tage nach dem Vorfall zur Tagesordnung über, besonders Peter mimte den Coolen oder besser gesagt: Er war der Coole. Das konnte keine Fassade sein. Keine gute Miene zum bösen Spiel. Bei einem derartigen Verlust ließen sich Gefühlsausbrüche einfach nicht unterdrücken. Und wenn, dann nur, weil man zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Peter würde einem neuen Sänger zustimmen, das ahnte ich. Und ich musste mich unterordnen. Oder gehen. Wenn Dave ersetzbar war, dann erst recht meine Wenigkeit. Mit zitternden Knien und einem gefühlten Backstein im Magen schob ich meinen schwachen Körper von der Matratze, um mich meiner Stereoanlage zu nähern. Es musste einfach sein. Wenn sie dich alle vergessen hatten, ich nicht, dachte ich, während ich die CD mit dem Song herauskramte, der seit Daves Tod mein treuer Begleiter war. Wild Rose. Wenn ich diese Lyrics hörte, dann hatte ich das Gefühl, Dave hätte das Lied nur über sich selbst gesungen. Als hätte er es schon so viele Monate vorher gewusst, dass er diesen nicht mehr rückgängig zu machenden Schritt gehen würde. "Oh, wild rose is gone he was one of the greatest of them all but the wild rose lives on even though he's forever and ever gone." Ich kuschelte mich in meine Bettdecke ein. Spürte den Kloß in meinem Hals, der nun bereits gegen meinen Unterkiefer drückte. Meine Lippen bebten. Niemand konnte Dave ersetzen. Niemand durfte das. Dave war viel zu wertvoll, um ihn einfach als gegangener Teil seines Lebens irgendwo in einer hinteren Ecke des Gedächtnisses abzulegen. Ich vermisste ihn so. Denn ohne ihn hatte sich die Welt zu einem ganz anderen Ort verwandelt. Und niemand war mehr da, der mich wirklich verstand. Wahrscheinlich lag ich stundenlang unbeweglich da, vielleicht aber waren es nur Minuten, die mir so lang vorkamen aufgrund des Schmerzes, der sie ausfüllte. Irgendwann vernahm ich den Schlüssel im Schloss und wusste, dass Peter zurückgekommen war. Dennoch machte ich keine Anstalten, mich aufzurappeln oder der Endlosschleife des Liedes ein Ende zu setzen. Hätte ich dies vorgehabt, ich hätte es sowieso nicht durchziehen können, so schnell wie der andere auch schon in das Schlafzimmer schoss. Ohne anzuklopfen, versteht sich. Über den Rand der Bettdecke konnte ich sehen, wie Peter allerdings in der Bewegung erstarrte, das Kinn schockiert zurückzog und den Kopf schüttelte, nachdem er die Tür fast wieder geschlossen hatte. "Was ist denn hier los?", wollte er verständnislos in Erfahrung bringen und blickte mich beiläufig, aber nicht minder fragend an. "Da verfällt man ja nach drei Sekunden in eine schwere Depression! Martin, Martin..." Selbstverständlich verstand er mal wieder überhaupt nichts. Und genau deswegen schritt er geradewegs auf die Anlage zu und sorgte dafür, dass der Song verstummte. "So, jetzt wäre das erledigt", lächelte er mir zu, überhaupt nicht bemerkend, dass ich ihm die Sache unheimlich übel nahm. "Und jetzt bist du dran, Baby." Argh. Ich wollte aber nicht dran sein. Peter verdiente es, dran zu sein. Ich wollte ihn umbringen und aus seinem Schädel einen hübschen Dekorationsgegenstand machen, den ich mir auf das Fensterbrett stellen konnte. Aber ich durfte nicht. Und irgendwie stand mir dann doch nicht mehr der Sinn danach. Denn Peterchen ließ sich ungefragt auf der Matratze nieder und eröffnete mir, er würde mir nun einen Tee kochen und derweil die beschmutzte Badewanne säubern. Das klang klasse. Er hätte mir allerdings nicht unbedingt über die Wange streicheln müssen. Auch ohne diese Geste mochte ich Peter viel zu sehr dafür, dass ich ihn eigentlich an die Wand klatschen wollte. Irgendwie war er ja lieb. Manchmal. Wenn er meine Schwäche nicht gerade schamlos ausnutzte, um mich flachzulegen. Und wenn er mich bemutterte. Ja, das war schon niedlich. Obwohl ich noch vor wenigen Minuten fand, die Rolle der Krankenschwester würde Peter nicht stehen. Ach, sollte er mich doch bedienen, wenn er es brauchte. Ich jedenfalls würde mich auf die andere Seite drehen, versuchen, an nichts zu denken und die Augen schließen, bis... Ja, bis ich wach wurde und in Peters Gesicht sah, welches mir fast schon liebevoll entgegenlächelte. Er hatte sich wieder auf der Matratze niedergelassen und niemand wusste, wie lange er bereits hier ausharrte und mich beim Schlafen beobachtete. "Na, mein Hübscher, ausgeschlafen?" Hübscher? Es war doch noch gar nicht lange her, da hatte er mir zu verstehen gegeben, dass ich ihm nicht gefiel. Um ehrlich zu sein zweifelte ich tatsächlich stark daran, dass ich hübsch war. Man, ich fühlte mich wie dreimal mit dem Trecker überfahren, hatte eine harte Nacht hinter mir und zudem eine Kotzattacke. Das ruinierte die Optik schon ganz gern mal. "Ich bin doch sicher total grün, aber wenn du das als hübsch bezeichnen möchtest...", krächzte ich mehr, als dass ich vernünftig redete. Peter aber schmunzelte nur noch breiter und beugte sich nun zum Tisch, um die darauf abgestellte Teetasse herbeizuholen und sie mir zu reichen. "Hier, die Wärme tut gut bei Bauchschmerzen", sagte er, während ich mich etwas aufzusetzen versuchte und die Tasse samt Untertasse in Empfang nahm. Auf letzterer fand ich eine längliche Tablette vor. "Gegen das Fieber", erklärte mir Peter, noch immer mit diesem unwahrscheinlich vergnügten Ausdruck im Gesicht und ich nickte lediglich verstehend, bevor ich das Medikament mit einem großen Schluck Tee zu mir nahm, hoffend, Peter würde recht behalten und das Fieber würde sich mitsamt den ekelhaften Kopfschmerzen auf Nimmerwiedersehen verpissen. Aber da war ja noch etwas. Etwas, das ich zur Besserung meines Schädelfickens beitragen konnte. Vielleicht hätte ich das Thema auf später verschieben sollen, aber ich verspürte den Drang, die Sache jetzt anzusprechen. In der Hoffnung auf ein kleines Wunder, das mir Peter mit sofortiger Wirkung mehrere Meilen näher gebracht hätte. Geliebt hätte ich ihn für die Antwort, die ich hören wollte. Bedingungslos, so glaubte ich. "Eric hat angerufen", eröffnete ich also das Gespräch, nippte erneut an meiner Tasse, aber ließ Peter nicht aus den Augen. "Er meint, er hätte einen Ersatz für Dave gefunden..." Dies war das erste Mal, seitdem er neben mir saß, dass er wegschaute. Sein Blick schweifte durch den Raum und ich hatte das Gefühl, er würde mit seiner Antwort zögern. "Ich weiß", sagte er schließlich. Ach so? Peter war also bereits eingeweiht? Dann hatte Eric bestimmt ganze Überzeugungsarbeit geleistet, um Peter auf seine Seite zu ziehen. Wenn das überhaupt nötig gewesen war... Aber ich klammerte mich an den kleinen, noch bestehenden Hoffnungsschimmer, wollte ihn für nichts auf der Welt aufgeben. "Dann weißt du ja sicher auch, dass ich gegen eine Fortführung der Band bin. Noch immer." Peter nickte. Starrte ins Leere. Er ahnte sicher, welche Frage ich nun stellen würde. "Und du? Möchtest du Dave einfach ersetzen?" Nun entschied sich die Zukunft der Crashdiet. Sie lag ganz alleine in Peters Hand. Würde er sich hinter mich stellen, würde die Band, Daves Baby, ewige Ruhe finden. Würde er allerdings Erics Meinung sein, würden sie gemeinsam die Leiche ausgraben, um sie lieblos wiederzubeleben. Es war so falsch. Doch Peter hatte sich bereits entschieden. "Hör zu, Martin...", begann er und das sagte bereits alles. Mehr brauchte ich nicht, um zu wissen, dass er hinter Eric stand. Und nicht hinter mir. "Ist okay, ist okay", wehrte ich zugleich mit einer hektischen Handbewegung ab, nachdem ich die geleerte Tasse auf dem Nachtschränkchen geparkt hatte. "Dann macht es doch. Macht weiter. Wenn euch Dave so egal ist." "Du weißt ganz genau, dass -" "Spar es dir, London", fiel ich ihm ins Wort und verkroch mich wieder unter meiner Decke. "Du hast keine Träne um ihn geweint. Keine einzige. Hast du ihn überhaupt geliebt? Du bist ein Scheißfreund, London. Ein richtiger Scheißfreund!" Nun schien Peter endgültig schachmatt gesetzt zu sein. Eine ganze Weile schwieg er und mir war es recht, denn ich hätte seinen Worten nichts mehr entgegensetzen können. Der Schmerz war mit einer solchen Intensität zurückgekehrt, dass er mir den Boden unter den Füßen wegriss. Mein Körper zitterte und Tränen legten sich auf meine Augen wie ein weißlicher Schleier. Und ich konnte nichts dagegen tun. Ich wurde übermannt von meinen Gefühlen. Heftiger als gestern Abend. Deswegen heulte ich schließlich auch richtig. Weil ich nicht mehr konnte. Beinahe wäre mir der warme Körper entgangen, der sich von hinten an mich schmiegte und mich ganz fest an sich drückte. Nicht mal dagegen konnte und wollte ich mich mehr wehren. Es war mir egal, dass Peter einfach über mich gekrabbelt war und nun mit mir kuschelte wie ein Lover, mein Haar küsste, als wäre ich ihm das Liebste auf der Welt. Und trotzdem hasste ich ihn. Ja, in jenem Augenblick hasste ich ihn wirklich. "Du bist so scheiße!", warf ich ihm im Heulkrampf an den Kopf, aber der andere schien sich daran überhaupt nicht zu stören. Er blieb an meiner Seite und hielt mich in seinen Armen, bis ich mich nach und nach beruhigte. Selbst dann ließ er mich noch immer nicht los und rührte sich nicht, nur seinen Kopf hatte er sanft auf meinen gelegt. "Du stehst ja total neben dir", bemerkte er irgendwann leise, während ich einfach nur vor mich hinstarrte, auf den Fußboden. "Mein Süßer...in dem Zustand kann ich dich vorläufig nicht alleine lassen. Ich werde dann später meine Klamotten holen und für so lange wie nötig zu dir ziehen. Du brauchst jemanden." Ich hasste ihn so sehr, wie ich ihn liebte. Peter konnte so ein Goldstück sein, wieso war er nur nicht immer so? Er war zwar ein Scheißfreund, mit dem man gemeinsam in die Scheiße ritt, aber wenn man einmal im stinkenden Pfuhl lag, dann leckte er einen sogar sauber. Ehrlich, ich wusste nicht mehr, was ich ihm gegenüber fühlen sollte. Ich wollte einfach nur, dass er hier liegen blieb und mich nicht mehr losließ. Alles andere hatte im Moment an Bedeutung verloren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)