A Doll's Lament von Flordelis (Ib ~ Alternatives Ende) ================================================================================ Part III: Klagelied ------------------- Der Korridor jenseits der Tür war dunkel, farblos, was seine Hoffnung bestärkte, dass sie nicht fern vom Ausgang waren. Eine endlos erscheinende Treppe tat sich vor ihnen auf und Ib wartete nicht eine Sekunde, um dieser hinabzufolgen. Doch schon nach wenigen Stufen änderte sich etwas an dem sonst leeren Gang. Puppen, die ein Seil um den Hals geschlungen hatten, hingen an der Wand herab, starrten sie an und schienen sie mit ihren roten Augen zu verfolgen, aber Garry versuchte lieber erst gar nicht, herauszufinden, ob er sich das nicht vielleicht nur einbildete. Stattdessen hielt er sich lieber an Ib, die keinen Blick dafür übrig hatte und ihm wieder einmal zeigte, wie mutig sie war, was ihn anspornte, es ebenfalls zu sein. Sie gab ihm Hoffnung, dass sie wieder nach Hause kommen könnten. Und das konnte er gut gebrauchen, als sie am Fuß der Treppe angekommen waren. Ein lautes Geräusch erklang hinter ihnen und als sie sich beide umdrehten, erkannte Garry mit Schrecken jenes Wesen wieder, das in diesem furchterregenden Raum aus dem Rahmen gekrochen war. Das wilde Grinsen, die gebleckten Zähne, die abstehenden schwarzen Haare, all das rief ihm diesen grauenvollen Moment in Erinnerung, während dem er seinen Verstand bereits verloren geglaubt hatte, nur um ihn doch wiederzufinden. „Was tun wir jetzt?“, fragte Ib leise. Doch die Antwort wurde Garry bereits abgenommen, als das Wesen sich zu bewegen begann und langsam auf sie zukam. „Lass mich nicht allein, Garry!“, kreischte es. „Bleib hier, Ib! Spiel mit mir!“ Garry kniete sich hin. „Kletter auf meinen Rücken, Ib.“ Bislang war sie gut allein zurechtgekommen, aber nun war er davon überzeugt, dass es besser war, wenn er sie trug. Nach ihrer letzten Flucht war sie zusammengebrochen und er wollte nicht, dass es ihr noch einmal so erging. Zu seinem Glück schien sie das genauso zu sehen, denn sie gab keinerlei Widerwort von sich und kletterte stattdessen auf seinen Rücken. Sie war, zu seiner Überraschung, leichter als er erwartet hätte, aber das war umso besser. Nachdem sie sicheren Halt gefunden hatte, richtete er sich wieder auf und rannte los. Hinter sich hörte er weiter das protestierende Kreischen und das laute Keuchen der Gestalt, die sie beide einzuholen versuchte und viel zu schnell näher kam. Es kam ihm wie eine unmögliche Aufgabe vor, diesem Wesen zu entkommen und dieser Gedanke wollte ihm jede Hoffnung rauben – doch Ibs Nähe, ihr verletzlicher Körper auf seinem Rücken, sagte ihm gleichzeitig, dass er nicht aufgeben konnte. Er war der Erwachsene, sie verließ sich auf ihn und wenn er aufgab, war sie verloren. Deswegen gab es für ihn nur eine Möglichkeit. Obwohl seine Lungen schmerzhaft brannten und er fast jedes Gefühl in den Beinen verloren hatte, rannte er immer weiter, folgte dem Gang, der nicht zu enden schien und ignorierte das Kreischen hinter sich, das er durch das rauschende Blut in seinen Ohren ohnehin kaum noch hören konnte. Doch die Flucht endete abrupt, als er gegen eine plötzlich vor ihm auftauchende Tür prallte. Ib stieß einen erschrockenen Laut aus. „Garry!“ „Ich bin okay“, keuchte er, während Sterne vor seinen Augen tanzten. „Wie ist es bei dir?“ Er glaubte es zwar nicht, aber vielleicht war sie dennoch verletzt worden, ohne dass er es bemerkt hatte. Er atmete erleichtert auf, als sie ihm bestätigte, dass es ihr gutging. Aber schon im nächsten Moment wurde ihm wieder bewusst, dass dieses Wesen immer noch hinter ihnen her war. Sein verzweifeltes Rütteln an der Tür blieb jedoch unbeantwortet, sie war eindeutig verschlossen und keiner von ihnen besaß den Schlüssel. Dafür musste er nicht einmal Ib fragen, denn das Wesen heulte bereits wieder auf: „Ich habe den Schlüssel! Ihr werdet für immer hier bleiben!“ Panik strömte durch seinen ganzen Körper, während er darüber nachzudenken versuchte, was er nun tun sollte. Es gab keinen Weg zurück, die Tür vor ihnen war verschlossen und der Schlüssel befand sich in dem Wesen, das sie verfolgte und ihm Furcht einjagte, die alles überstieg, was er je zuvor gefühlt hatte. Und noch während er wieder an jenen Moment zurückdachte, an dem sein Verstand beschlossen hatte, zu zerbrechen, nur um sich danach wieder neu zusammenzufügen, kamen ihm auch zwei andere Gedanken in den Sinn. Man muss sich seinen Problemen stellen und alle Probleme lösen sich in Rauch auf. Diese zwei Sätze gaben ihm schließlich die Eingebung, die er brauchte. Er griff in die Tasche seines Mantels und zog sein Feuerzeug heraus. In derselben Bewegung klappte er den Deckel auf und versuchte, es zu entfachen. Es gab nur ein klägliches Zischen von sich, das ihn innerlich fluchen ließ. Das Feuerzeug war fast leer, wenn er sich richtig erinnerte, was in diesem Moment kein sonderlich tröstender Gedanke war. „Komm schon“, murmelte er und versuchte es gleich nochmal – und diesmal entstand tatsächlich eine Flamme. Erstmals seit Beginn der Flucht, fuhr er herum, stellte erschrocken fest, wie nah das Wesen ihnen bereits war und schleuderte das brennende Feuerzeug, ohne zu zögern, in die Richtung ihres Verfolgers. Während des kurzen Fluges schickte er ein Stoßgebet gen Himmel und alle Göttlichkeiten, die es geben mochte, dass er das Wesen treffen und entzünden würde. Wer am Ende sein Gebet erhörte – oder ob sich mal eben alle Göttlichkeiten zusammengetan hatten, um ihm zu helfen – wusste er nicht und es kümmerte ihn auch nicht weiter, aber er stieß einen begeisterten und gleichzeitig erleichterten Ruf aus, als das Feuerzeug das Wesen traf und die Flammen sofort den gesamten Körper einhüllten. Es stieß ein schmerzerfülltes, anklagendes Kreischen aus und Garry empfand ein ungemein befriedigendes Gefühl, als es vor seinen Augen zu Asche wurde, die zu Boden fiel. Das, was ihm Angst eingejagt hatte, war fort und es würde nie mehr zurückkommen. Allein dieser Gedanke reichte, um seine mentale Gesundheit noch weiter wiederherzustellen. „Ist es weg?“, fragte Ib. Er warf einen Seitenblick zu ihr und stellte fest, dass sie die Augen geschlossen hielt. „Ja, ist es.“ Garry ging wieder auf die Knie, so dass sie von seinem Rücken klettern konnte und dann nutzte er die Gelegenheit, erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Wer hätte gedacht, dass mir diese Selbsthilfetipps einmal helfen würden? Und auch noch ausgerechnet hier. Ib strich ihm über das Haar, als müsste sie ihn beruhigen, was er mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm, dann ging sie zum Aschehaufen hinüber und betrachtete diesen eingehend. Garry schloss derweil die Augen und atmete tief durch. Seine Lunge brannte noch immer, aber der Schmerz ließ bereits nach und hinterließ das angenehme Gefühl, etwas erreicht zu haben, auch wenn es nur aus der Rettung seines Lebens bestanden hatte – und dem von Ib. Kaum dachte er an sie, griff sie nach seiner Schulter und brachte ihn so dazu, die Augen wieder zu öffnen. „Es ist nicht mehr weit“, sagte sie zuversichtlich und zeigte ihm den Schlüssel, den sie aus der Asche geholt haben musste. Er stand wieder auf, damit sie die Tür aufschließen konnten – und stellte dabei fest, dass Worte darauf erschienen waren: Warum mochtest du mich nicht...? „Das sind hoffentlich die letzten“, kommentierte Garry, ohne jedes Reuegefühl. Diese Puppe wollte von ihm geliebt werden, möglicherweise war das der Wunsch aller Kunstwerke in diesem Labyrinth gewesen – und höchstwahrscheinlich war es das, was Kunst im Allgemeinen wollte. Jedes Werk trug ein Stück der Seele seines Schöpfers in sich. War es da wirklich fragwürdig, dass es auch geliebt werden wollte, so wie jeder Mensch? Aber es ist nur ein Teil dieser Welt!, verteidigte er sich innerlich. Auch eine klagende Puppe, bleibt eine Puppe – und ich will nur nach Hause. Während er noch nachdachte, drehte Ib den Schlüssel und öffnete die Tür. Eine angenehme, erhabene Stille, empfing sie, als sie eintraten und Garry sofort erkannte, dass sie sich wieder in der Lobby des Museums befanden. „Wir sind fast zurück. Irgendwo hier muss es einen Weg nach Hause geben.“ Fort von all den furchtbaren Dingen, die sie versuchten, in dieser Welt zu halten oder sie zu töten, zurück in die Sicherheit des alltäglichen Lebens, das er fortan mehr zu schätzen wissen würde. Ib nahm Garrys Hand und ging gemeinsam mit ihm die Treppe nach oben. Die kopflosen Statuen standen immer noch bewegungslos an ihrem Platz und so war es kaum vorstellbar, dass sie im Labyrinth mehreren von ihnen begegnet und sogar vor ihnen geflohen waren. Ib besaß allerdings keinen Blick für sie, sondern lief zielsicher weiter und so kamen sie zu einem großen Gemälde, auf dem zahlreiche Ausstellungsstücke zu sehen waren, fast so, als wäre dieses eine Werk eine Werbung für das gesamte Museum. „Fabrizierte Welt“, las Garry auf der Plakette. „Das muss unser Weg nach Hause sein. Wenn wir hineinspringen, kommen wir bestimmt zurück. Aber wie sollen wir in ein Bild springen?“ Während er noch überlegte, wurde er von einem Lichtblitz geblendet und als er wieder etwas sehen konnte, war der Rahmen verschwunden. Das Bild erschien ihm plötzlich plastischer, er glaubte sogar, Stimmen zu hören, sein Herz schien um einiges leichter geworden zu sein. „Sieht so aus, als könnten wir jetzt springen“, sagte er. „Wollen wir?“ Er blickte Ib an, die noch immer seine Hand hielt und ihm lächelnd zunickte. Gemeinsam holten sie Anlauf, sprangen und tauchten in das Gemälde ein. Als er wieder etwas sehen konnte, war Garry allein. Er blickte nach rechts und nach links, aber niemand war zu sehen und er kam nicht umhin, sich zu wundern, was er an diesem Ort tat oder wie er dorthin gekommen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, zu diesem unheimlichen Porträt gegangen zu sein – und vor allem fragte er sich, warum er sich so erschöpft fühlte. War ich so lange hier? Kopfschüttelnd ging er davon, die Treppe hinunter und betrat den Erdgeschossbereich der Ausstellung, wo er schließlich vor der Skulptur einer Rose stehenblieb. Sie anzusehen löste ein melancholisches Gefühl in seinem Inneren aus, das er sich nicht erklären konnte. Es war, als ob etwas in ihm, ihn daran zu erinnern versuchte, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte. Aber egal, wie lange er diese Skulptur ansah, ihm fiel einfach nicht ein, was es war. Während er so in Gedanken versunken vor dieser Rose stand, spürte er plötzlich, wie jemand an seinem Mantel zupfte. Er wandte den Kopf und entdeckte ein junges Mädchen mit großen roten Augen, die ihn neugierig musterten. „Was siehst du da an?“, fragte sie. „Man nennt diese Figur Verkörperung des Geistes“, erklärte er. „Und sie spricht irgendwas in meinem Inneren an. Sie macht mich... traurig.“ Er verstummte, konnte aber sehen, wie Besorgnis in ihren Augen aufflammte, weswegen er rasch noch etwas hinzufügte: „Tut mir Leid, ich sollte vielleicht lieber gehen, ich muss langsam los.“ Doch kaum hatte er einige Schritte in Richtung des Ausgangs getan, hörte er wieder die Stimme des Mädchens: „Garry...“ Er hielt überrascht inne und fuhr herum. Sein Blick ging von ihrem Gesicht zu ihrer Hand, in der sie ein Feuerzeug hielt, das er sofort als seines erkannte. „Wo hast du das her? Und woher kennst du meinen Namen?“ „Weißt du das denn nicht mehr?“, fragte sie enttäuscht. „Wir waren zusammen an diesem Ort.“ Sie hob eine Hand, um auf ein Bild zu zeigen, das ihm bislang noch gar nicht aufgefallen war. Es zeigte eine grauenvolle Kreatur mit wildem Blick und abstehendem schwarzem Haar, umgeben von grauenvollen Puppen mit blutroten Augen. Ein furchterregender Schauer fuhr ihm über den Rücken, aber trotz der plötzlichen Angst in seinem Inneren, verspürte er auch ein wenig Mitgefühl und die Wesen schienen ihm... traurig zu sein. Deswegen überraschte ihn auch der Titel des Bildes nicht, der Klagelied einer Puppe lautete. Doch in dem Moment, in dem er sich fragte, was das Mädchen ihm damit sagen wollte, kehrten bruchstückhaft Erinnerungen zu ihm zurück. Angst, Wahnsinn, Besorgnis, Hoffnung, all diese Emotionen fluteten auf ihn ein, führten ihn vor Augen, wie er gemeinsam mit einem kleinen Mädchen durch eine albtraumhafte Galerie gewandert war, wie sie beide Rosen gehalten hatten, wie das Mädchen ihn mental gestützt hatte, so dass er sogar aus dem fast schon sicheren Wahnsinn wieder erwacht war. Und zuguterletzt das Feuer, das dieses albtraumhafte Wesen schließlich zerstört hatte. „Ich habe... das Feuerzeug liegen gelassen“, sagte er atemlos. „Hast du es aufgehoben... Ib?“ Sie nickte lächelnd, er blickte sich weiter um, nur um sicherzugehen, dass er sich wirklich in der echten Galerie befand, die mit anderen Leuten gefüllt war, denn für einen kurzen Moment hatte er befürchtet, alles würde vor seinen Augen zerbrechen und ihn wieder in dieses Labyrinth zurückschicken, sobald die Freude sich in seinem Inneren auszubreiten begann. „Wir sind zurück“, sagte er und begann leise zu lachen. „Wir haben es wirklich geschafft, Ib!“ „Du erinnerst dich?“, fragte sie lächelnd, worauf er nicht nur nickte, sondern sich auch hinkniete, um sie einen kurzen Augenblick zu umarmen. „Ich bin so froh, dass wir beide es geschafft haben“, sagte er und ließ sie wieder los, ehe irgendjemand auf seltsame Gedanken kommen würde. „Ich auch.“ Sie hielt ihm immer noch das Feuerzeug entgegen, aber er schüttelte mit dem Kopf. „Behalte es erst mal. Ich habe dir Süßigkeiten versprochen, nicht wahr? Heute habe ich dafür keine Zeit, aber wenn wir uns wiedersehen, gibst du mir das Feuerzeug zurück und ich kaufe dir viele Bonbons.“ Ihr Lächeln verriet ihm, dass sie darauf gehofft hatte, ein Andenken an ihn behalten zu dürfen und auch, dass sie weiter Kontakt mit ihm halten könnte. Noch ein Punkt, den er bewundernswert an ihr fand. In ihrem Alter hätte er dieses Abenteuer sicher nur vergessen wollen und damit auch jeden, den er dadurch kennengelernt hatte. Aber sie wollte das genaue Gegenteil und das rührte ihn und bestärkte ihn darin, dass er genau dasselbe wollte. Er hörte, wie jemand nach Ib rief und freute sich darüber, dass sie wieder ihre Eltern gefunden hatte. Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich von ihm und huschte davon. Garry sah ihr hinterher, winkte, bis sie gemeinsam mit ihren Eltern aus seinem Blickfeld verschwunden war. Kaum war sie fort, fühlte er sich einerseits einsam und gleichzeitig spürte er auch, dass sie fortan miteinander verbunden waren. Sie beide hatten etwas erlebt, das sie für ein Leben lang zusammenschweißte, eine Verbindung war geschaffen worden, die sich nie auflösen würde. Dieser Gedanke beruhigte ihn zunehmend. Er warf noch einen letzten Blick auf das Klagelied der Puppe, aber diesmal kehrte die Furcht nicht wieder. Stattdessen hoffte er plötzlich sogar, dass diese Wesen eines Tages in ihrer eigenen Welt glücklich sein könnten, so wie er in der Realität. Dann wandte er sich mit einem Lächeln ab und ging leise summend davon, um endlich nach Hause zu gehen, so wie er es sich die ganze Zeit gewünscht hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)