A Doll's Lament von Flordelis (Ib ~ Alternatives Ende) ================================================================================ Part I: Erwachen ---------------- Schlaf wird oft eine heilende Wirkung nachgesagt. Es lindert Schmerzen, hilft dem Körper, Reserven zu aktivieren, um Verletzungen zu heilen und nicht selten ist eine Portion Schlaf auch der mentalen Gesundheit zuträglich. Das wurde auch Garry bewusst, als er aus einem tiefen Schlaf erwachte, der mehrere Jahre angehalten zu haben schien. Mit einem lauten Gähnen setzte er sich aufrecht hin, noch bevor er die Augen geöffnet hatte. Der Traum, der ihn in dieser Nacht begleitet hatte, war furchterregend gewesen. Er war allein in einem dunklen Museum umhergeirrt, nur umgeben von unheimlichen Ausstellungsstücken, noch niemals zuvor hatte er sich derart einsam gefühlt. Dann hatte er eine Treppe entdeckt, die ihn in ein Labyrinth voller Gefahren führte. Bilder, die plötzlich zum Leben erwachten, kopflose Statuen, die ihn verfolgten, Puppen, die unbedingt von ihm mitgenommen werden wollten und eine schaurige Gestalt, die aus dem Rahmen kam, um... diese Erinnerung zerrann zwischen seinen Fingern wie Sand und er war davon überzeugt, dass es besser war, sich nicht mehr daran zu erinnern. Aber da war noch etwas anderes. Ein junges Mädchen mit braunem Haar und roten Augen, in derselben Farbe wie die Rose, die sie mit sich getragen hatte. Eine Rose, genau wie er, nur dass seine blau gewesen war. Und wenn die Blumen welkten, geschah dasselbe mit ihrem Leben. Er verstand diesen Traum nicht, konnte sich höchstens vorstellen, dass er von dem beeinflusst war, was er in der Ausstellung gesehen hatte. Aber war er überhaupt dort gewesen? Bei genauerem Nachdenken: Ja, war er. Er erinnerte sich sogar noch daran, wie er minutenlang vor dem Bild mit dem gehängten Mann gestanden und es angestarrt hatte. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, nach Hause gegangen zu sein. Am Ende ist der Traum wahr gewesen, dachte er amüsiert bei sich, und ich bin diese Treppe hinuntergegangen und hab all das verrückte Zeug erlebt. Er schüttelte sich bei diesem Gedanken vor Lachen, sagte sich immer wieder, wie idiotisch allein die Annahme war, dass so etwas in der Realität geschehen könnte – und stellte plötzlich fest, dass er noch immer die Augen geschlossen hielt. Ihm schien, als wolle sein Körper ihn davor bewahren, erneut in den Zustand zurückzufallen, in dem er sich vor dem Schlaf befunden hatte. Es war nicht gut gewesen, nicht normal, aber gleichzeitig wusste er auch, dass es so nicht bleiben konnte, dass er nicht an diesem Ort bleiben konnte. Egal wie lange er die Augen geschlossen hielt und so tat als würde er nicht wissen, was um ihn herum vor sich ging, nichts von dem, wovor er sich während seines Traums gefürchtet hatte, würde verschwinden. Und dann war da noch etwas, etwas sehr Wichtiges, weswegen er nicht einfach aufgeben konnte. Er wühlte tief in seinem Gedächtnis, um dem Mädchen einen Namen zu geben und kaum fiel er ihm ein, riss er Augen und Mund auf. „IB!“ In der Sekunde, in dem ihm wieder seine Umgebung bewusst wurde – der finstere Raum mit all den düsteren Puppen, deren blutrote Augen auf ihn gerichtet waren, die blaue Rose in seiner Hand – spürte er, wie die Verzweiflung wieder in seine Seele und der Wahnsinn in seinen Verstand kriechen wollte. Er war hier gewesen, um eine Farbkugel aufzuheben, war dann eingesperrt worden und dann war dieses... Ding aus dem Bild gekommen. Erschrocken wandte er den Blick nach links, wo er eine weiße Leinwand vorfand, aber keinerlei Spur, dass etwas an diesem nicht stimmte. Sein Herz schlug ihm dennoch bis zum Hals und so starrte er es weiterhin an, in der sicheren Erwartung, dass sich das Wesen jeden Moment noch einmal zeigen würde. Als nichts weiter geschah, entspannte er sich wieder ein wenig und schaffte es dann endlich, seine Aufmerksamkeit der einzigen Person zuzuwenden, die außer ihm anwesend war. Das Mädchen, das vor ihm lag und ebenfalls zu schlafen schien, erkannte er sofort. Realistisch gesehen, mochte es nicht viel Zeit gewesen sein, die sie miteinander verbracht hatten, aber in einer solchen Situation war es ihm vorgekommen wie eine Ewigkeit, in der sie seine einzige Stütze gewesen war. Er wollte nach ihrem Puls fühlen, nur um sicherzugehen, dass es ihr gutging, aber da erkannte er bereits, dass sich ihr Brustkorb immer hob und senkte. Noch dazu hielt sie die volle rote Rose fest in ihrer Hand. Sie war eindeutig am Leben und diese Erkenntnis ließ ihn erleichtert aufatmen. Dennoch musste er sie aufwecken, sie konnte hier nicht weiterschlafen und außerdem waren sie so kurz davor, endlich zu entkommen, das spürte er einfach und noch einmal wollte er hier nicht einschlafen. Also griff er nach ihrer Schulter und rüttelte vorsichtig an dieser. „Ib... Ib, wach auf. Es ist Zeit, aufzustehen.“ Sie murmelte etwas Unverständliches, richtete sich aber dennoch langsam auf und blickte ihn irritiert an. Er befürchtete schon, sie hätte vergessen, wer er war, doch plötzlich kräuselten sich ihre Lippen zu einem Lächeln. „Garry...“ Ehe er sich versah, hatte sie ihn bereits umarmt, was ihm ebenfalls ein Lächeln entlockte. Behutsam legte er die Arme um ihren zierlichen Körper. „Es ist schon gut, tut mir Leid, dass ich dir solche Sorgen bereitet habe.“ Das musste immerhin der Grund sein, weswegen sie hier bei ihm war, statt an dem Ort, wo sich Mary nun befinden mochte, wo auch immer das sein durfte. Aber bei diesem Namen fiel ihm noch etwas anderes ein, etwas Wichtiges, das er allerdings komplett vergessen hatte und nicht mehr greifbar war. „Geht es dir gut?“, fragte Ib, ihre Stimme kam nur undeutlich bei ihm an, weil sie ihr Gesicht noch immer in sein Hemd drückte. „Jetzt geht es mir schon um einiges besser“, antwortete er mit einem zuversichtlichen Lächeln, das sie beide beruhigen sollte. Urplötzlich löste Ib sich wieder von ihm und griff in ihre Rocktasche, wo sie nach kurzem Suchen triumphierend etwas hervorzog. Garry kniff die Augen zusammen, um den Gegenstand genauer in Augenschein zu nehmen und erkannte das Zitronenbonbon, das er ihr gegeben hatte. Damals, zu einer Zeit, die ihm inzwischen endlos entfernt schien. Sie reichte es ihm wieder. „Hier. Du hast es mir gegeben, damit ich mich besser fühle, ja? Ich will, dass du dich auch besser fühlst.“ Diese Geste rührte ihn ungemein, wie er zugeben musste. Sie war ein neunjähriges Mädchen und doch so stark, es wunderte ihn nicht, dass sie ihm das ganze Abenteuer über eine große Stütze gewesen war. Er lächelte, als er das Bonbon in seine Hand nahm. „Weißt du was? Ich nehme es jetzt wieder an mich, aber sobald wir hier draußen sind, werde ich dir ganz viele Bonbons kaufen. Wie findest du das?“ Sie lächelte ebenfalls wieder und nichts deutete mehr darauf hin, wie es ihr wohl vor dem Schlaf gegangen sein musste. „Abgemacht.“ „Dann sollten wir jetzt aber verschwinden.“ Er stand auf und half ihr dann ebenfalls nach oben. In dem Moment, in dem er ihre Hand hielt und sie sich gegenseitig ansahen, glaubte er regelrecht zu spüren, welche Verbindung zwischen ihnen herrschte und wie wichtig es war, dass sie beide auch weiterhin zusammenhielten. Sie war seine mentale Stütze in diesem grauenvollen Albtraum, so wie er die ihre war und deswegen gab es nur für sie beide einen gemeinsamen Weg. Doch während er diese Erkenntnis hatte, blickte Ib sich suchend um. „Wo ist Mary?“ „Ich schätze, sie ist vorausgegangen.“ Mary dürfte nicht viel älter als Ib sein, was bedeuten würde, dass sie mit dieser Situation heillos überfordert gewesen war. Garry konnte gut verstehen, dass sie da einfach allein die Flucht ergriff, er hätte auch Verständnis dafür aufgebracht, wenn Ib das getan hätte. „Das ist noch ein Grund, uns zu beeilen“, sagte Garry. „Wir holen sie sicherlich noch ein.“ Dabei wusste er nicht einmal, wie lange sie geschlafen hatten. Vielleicht war sie bereits längst über alle Berge und erfreute sich der Realität. Doch bei diesem Gedanken stutzte er wieder. Mary und Realität, etwas passte da nicht so ganz zusammen. Mary, die aussah, als wäre sie selbst einem Gemälde entsprungen und... Natürlich! Das Buch! Mary ist eines von Guertenas Porträts gewesen! Und sie war allein mit Ib! Er betrachtete sie prüfend, was sie seinen Blick verwirrt erwidern ließ. „Was ist los?“ „Hat Mary dir irgendwas getan?“, fragte er zur Antwort. „Hat sie dich verletzt?“ Zu seiner Erleichterung schüttelte Ib mit dem Kopf. „Nein, warum sollte sie denn?“ „Oh, schon gut.“ Er wollte das Thema nicht unnötig vertiefen, wenn es nicht weiter akut war. „Lass uns lieber endlich gehen. Dieser Raum jagt mir Schauer über den Rücken.“ Anhand des Blicks, den sie umherwarf, wusste er, dass sie offenbar nicht dasselbe sah, wie er, aber er wollte auch nicht lange darüber nachdenken, was sie sehen konnte, sondern nur noch fort. Allerdings konnte er nur ein paar Schritte in Richtung der Tür machen, als er eine leise, piepsige Stimme hörte: „Wohin gehst du?“ Erschrocken hielt er wieder inne, ein schauderhaftes Frösteln fuhr durch seinen ganzen Körper. Ib, die bereits an der Tür stand, wandte sich ihm fragend zu. Sie schien nichts gehört zu haben. Widerwillig, aber wie unter Zwang, drehte Garry den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und erkannte mit einem Schaudern die Puppe – oder das, was davon noch übrig war – die ihn bereits zuvor heimgesucht hatte und inzwischen nur noch ein Kopf war, was sie aber nicht davon abhielt, ihn weiter zu nerven. Es war dieser Gedanke, der ihm schließlich die Furcht nahm und ihn mit Wut erfüllte. Wut, dass er an diesem Ort gelandet war, der ein einziges Labyrinth zu sein schien, dass er beinahe den Verstand verloren hätte und für immer in diesem Albtraum gefangen geblieben wäre. „Nimm mich mit“, piepste die Puppe. „Sei nicht so. Wegen dir habe ich schon keinen Körper mehr. Du hast mir wehgetan!“ Bei ihrem letzten Satz wurde ihre Stimmen zu einem verzerrten Kreischen und das konnte anscheinend auch Ib nun endlich hören, denn ihr Blick fokussierte sich nun, genau wie seiner, auf den Puppenkopf, dessen rote Augen geradewegs zu lodern schienen. „Nimm mich mit!“, kreischte sie. „Lass mich hier nicht allein!“ Garry ging zu der Puppe hinüber und hob den Fuß. Seine Wut verlangte, dass er sie diesmal nicht nur trat, sondern sie unter seinem Fuß zerquetschte, bis sie nicht mehr nach ihm kreischen könnte und endlich ein für allemal still war. Doch bevor er das umsetzen konnte, spürte er, wie jemand nach seinem Mantel griff. Er hielt inne, wandte den Kopf und war bereits dabei, auszuholen, um die ungebetene Störung beiseite zu wischen, aber da stellte er fest, dass es sich dabei um Ib handelte, die ihn bittend ansah. „Tu das nicht“, murmelte sie. „Das hat sie nicht verdient.“ Er erinnerte sich, dass sie beim ersten Mal, als er das Mannequin getreten hatte, die Augen geschlossen hielt und als er der Puppe begegnet war, waren sie voneinander getrennt gewesen. Aber dieses Mal hielt sie ihn davon ab, verhinderte, dass er sich noch unglücklicher machte, als er es bislang war – und das erzeugte ein warmes Gefühl von Sicherheit und Verantwortung in seinem Inneren. Er konnte nicht einfach der Wut nachgeben und Ib damit ebenfalls ins Unglück stürzen, so wie es beinahe bereits geschehen wäre. Garry lächelte leicht, um Ib wieder zu beruhigen und stellte sich aufrecht hin, ohne der Puppe weiter zu schaden. „Du hast recht, ich habe mich gehen lassen. Tut mir Leid, das kommt nicht mehr vor.“ Sie lächelte ebenfalls und nahm seine Hand. „Gehen wir lieber.“ Gemeinsam mit ihr verließ er den Raum, nur um noch einmal innezuhalten. Auf den Wänden waren die Kritzeleien zu sehen, die er bereits von der Puppe kannte und jede davon hatte dieselbe Botschaft: NIMM MICH MIT! Sie waren in unregelmäßigen Abständen auf den Wänden verteilt, selbst in einer Höhe, in der es eigentlich gar nicht hätte möglich sein dürfen. Er widerstand der Versuchung, den Kopf in den Nacken zu legen, um festzustellen, ob die Decke ebenfalls betroffen war. „Was ist mit ihr?“, fragte Ib traurig. „Sie ist traurig und deprimiert“, antwortete Garry, der das durchaus nachvollziehen konnte. „Ich wäre es auch, wenn ich an diesem Ort festsitzen müsste.“ Deswegen strebte er auch eilig weiter und zog Ib dabei mit sich, um dem allem endlich zu entgehen. Im Gegensatz zu ihm gehörte diese Puppe immerhin in diese Welt, sie hatte in der Realität nichts verloren. Er aber wollte endlich wieder raus, unter andere Menschen, nach Hause, in sein Bett. Aber wie so oft stellte er fest, dass diese Welt ihre ganz eigenen Regeln besaß. Ib führte ihn in den braunen Korridor hinauf und dann zu der einzigen Tür, die sie bislang noch nicht benutzt hatte, wie sie sagte. Eine der kopflosen Statuen stand in einem kleinem Raum, die Treppe neben ihr war allerdings frei. Mit gerunzelter Stirn stellte Garry fest, dass auch diese Stufen direkt hinunter führten. Er glaubte nicht wirklich daran, dass all die nach unten führenden Treppen sie zurück ins Museum führen würden... immerhin war er durch eine solche ja erst in diesen Albtraum geraten, also bräuchte er eigentlich eine nach oben. Aber vielleicht ist das auch eine Sache des Glaubens. Ich verstehe diese ganze Sache nicht, also ist es vielleicht etwas Religiöses. Oder Guertena war ein reichlich verwirrter Mann. Ib schien darüber wesentlich weniger nachzudenken, denn sie zog ihn bereits weiter, mit sich die Treppe hinunter, um jenen Ort zu erreichen, der sich am Fuß eben dieser befand. Ein wenig beneidete er sie darum, dass sie mit ihren kindlichen Gedanken nicht nur weniger über all das nachdachte und damit zögerte, sondern auch, dass sie sie vermutlich manche Dinge gar nicht wirklich verstand und so sah wie er es tat. Als Kind war ihm immer daran gelegen, schnell erwachsen zu werden, aber nun sehnte er sich doch wieder danach zurück, ein unbedarfter Junge zu sein, den das alles hier gar nicht weiter kümmerte. Ich hätte aber auch nie gedacht, dass ich einmal in einen solchen Albtraum gerate. Und dieser war noch lange nicht vorbei, wie er feststellte, während sie weiterliefen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)