The King Is Dead, Long Live the King von Morwen ================================================================================ The King Is Dead, Long Live the King ------------------------------------ Eine endlose, schreckliche Nacht lang ist Maglor sich nicht sicher, ob sie überleben werden. Wie eine schwarze Welle ist die Armee der Orks am Abend zuvor über das Land geflutet und hat alles vernichtet, was sich ihr entgegengestellt hat. Als die Sonne schließlich blutrot über den Ered Luin aufgeht, erkennt Maglor, dass sein Reich verloren ist. Felder und Behausungen brennen und das einst große Reiterheer der Elben ist auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft. Bei ihrem Rückzug muss sein Volk schwere Verluste hinnehmen, und als Maglor die dunklen Scharen des Feindes sieht, die sich endlos nach Norden hin erstrecken, weiß er ohne Zweifel, dass auch Thargelion und Himlad fallen werden, und er betet, dass seine Brüder sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Er selbst wendet sich mit dem Rest seiner Leute nach Westen, in der Hoffnung, dass Himring dem Ansturm standhalten und Maedhros seine Burg verteidigen konnte. Er sieht über den Bergen Rauch aufsteigen, doch er gibt die Hoffnung nicht auf. Er weiß, dass sie verloren sind, wenn Maedhros gefallen ist (wenn Maedhros gefallen ist, ist alles verloren), und er klammert sich verzweifelt an den Glauben, dass nichts und niemand seinen älteren Bruder in die Knie zwingen kann. Tag und Nacht fliehen sie vor den Orks, und schließlich, als sie am Rande der Erschöpfung sind, kommt die Festung in Sicht, ein klobiges, graues Bauwerk, das einst errichtet wurde, um der Ewigkeit selbst zu trotzen. Doch obwohl ihr Ziel zum Greifen nahe ist, schaffen sie es beinahe nicht. Denn der Feind ist ihnen dicht auf den Fersen, und hätte Maedhros ihnen keine Krieger entgegengeschickt, um ihren Rückzug zu decken, wären sie bis auf den letzten Elben aufgerieben worden. Schließlich können sie sich in die Sicherheit der Burg retten und Maglor fällt ein Stein vom Herzen; sie haben es geschafft, sie sind am Leben. Maedhros sagt kein Wort, doch er schließt ihn in die Arme und Maglor lehnt mit leisem Schluchzen den Kopf an seine Schulter. Einen Moment lang halten sie sich einfach nur aneinander fest, und obwohl die Miene seines Bruders wie immer reglos ist, ist Maglor sich nicht sicher, wer von ihnen die Umarmung dringender gebraucht hat. Er gönnt sich nur wenige Stunden Ruhe, bevor er an der Seite seines Bruders wieder losreitet. Der Aglon-Pass im Westen wurde von Orks überrannt, und nun dringen immer mehr der dunklen Kreaturen durch die Schlucht in die Länder Beleriands vor. Die Elben, die den Pass bis dahin gehalten hatten, konnten sich rechtzeitig zurückziehen und die Brüder erfahren von ihnen, dass Celegorm und Curufin nach Nargothrond geflohen sind. Dieses Mal kann selbst Maedhros seine Erleichterung nicht verbergen; vier von sieben sind noch am Leben, was mehr ist, als sie erwartet haben (und sehr viel mehr, als sie verdient haben, seitdem sie diesen unseligen Krieg begonnen haben). Es kostet sie mehrere Tage und viel zu viele Krieger, den Pass zurückzuerobern und wieder zu schließen. Zwischendurch kommen Maglor Zweifel, ob sie es überhaupt jemals schaffen werden, doch Maedhros gibt nicht nach. Leidenschaft und Hass brennen wie Feuer in seinem Bruder und er ist so schrecklich anzusehen in seinem Zorn, dass die Orks vor Angst die Flucht vor ihm ergreifen und selbst Maglor es kaum wagt, ihm in die Augen zu sehen. Der zurückgewonnene Pass wird mit neuen Kriegern bemannt, dann kehren die Brüder mit dem Rest des Heeres zurück zur Festung. Die Gefahr ist noch längst nicht gebannt, doch der größte Ansturm ist für den Augenblick vorüber und die Elben können Himring halten – was, wie Maglor manchmal glaubt, vor allem der schieren Willenskraft seines Bruders zu verdanken ist, der keinen Moment lang ruht, bis die letzte Angriffswelle der dunklen Scharen schließlich abgeebbt ist. Die Orks haben sich kaum wieder zurückgezogen, als ein Gesandter aus Thargelion die Festung erreicht und ihnen die Nachricht überbringt, dass Caranthir und die Zwillinge sich in den Süden zurückgezogen haben. „Gut“, sagt Maedhros nur und nickt ihm dankbar zu, denn er weiß nun, dass alle seine Brüder am Leben und in Sicherheit sind. Dann weicht alle Farbe aus seinem Gesicht und seine Augen verdrehen sich, bis nur noch das Weiße darin zu sehen ist, und er bricht an Ort und Stelle vor Erschöpfung zusammen. Maglor ist sofort bei ihm und fängt seinen bewusstlosen Bruder auf, bevor er auf dem Boden aufschlagen und sich verletzen kann. Maedhros‘ Stirn ist schweißnass und beängstigend heiß, und es dauert Tage, bis das Fieber wieder gesunken ist – Tage, in denen Maglor oft am Bett seines Bruders sitzt und seine Hand hält und ihm leise etwas vorsingt, so wie damals, als sie noch Kinder in Tirion waren, sorglos und glücklich. (Doch diese Zeit liegt schon lange zurück und manchmal ist sich Maglor nicht mehr sicher, ob es sie je gegeben hat oder ob sie nur seiner Fantasie entsprungen ist. Denn Aman ist eine halbe Welt und einen schrecklichen Eid entfernt, und seine Erinnerungen daran sind kaum mehr als ein Traum.) Wie es sich anfühlt, glücklich zu sein, daran kann Maglor sich nicht mehr erinnern. Kaum ist sein Bruder wieder auf den Beinen, erreicht sie eine Botschaft aus Hithlum. „Ich bringe Kunde aus dem Norden, Herr“, berichtet der erschöpfte Bote, als er das Audienzzimmer betritt, und verneigt sich tief. Maedhros und Maglor mustern ihn mit unbewegten Mienen und bangen Herzen. „Fingolfin ist gefallen, Herr. Der König ist tot.“ Der Verlust trifft sie schwerer, als sie erwartet hatten, doch den Brüdern bleibt keine Zeit, um ihren Onkel zu trauern. Flüchtlinge müssen versorgt, neue Grenzposten errichtet und ein stets einsatzbereites Heer muss auf die Beine gestellt werden. Doch obwohl sie ohne Pause von morgens bis abends arbeiten, um ihrem Volk ein sicheres Leben zu ermöglichen, verlässt der Ausdruck unbestimmter Sorge in den nächsten Tagen nie Maedhros‘ Gesicht und seine Gedanken scheinen ständig woanders zu sein. Nach einer Weile hat Maglor schließlich genug und nimmt seinen Bruder beiseite. „Geh“, sagt er. „Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um alles andere.“ „Aber-“, will Maedhros mit schwacher Stimme protestieren, doch sein Bruder unterbricht ihn nur. „Sorge dich nicht um mich, ich komme schon zurecht. Auch ich weiß, wie man ein Volk regiert, falls du das schon vergessen hast.“ Er sieht Maedhros ruhig in die Augen und seine Stimme wird leiser. „Außerdem braucht er dich, Nelyo. Jetzt mehr denn je.“ Das Argument scheint seinen Bruder schließlich zu überzeugen, und er wendet sich ab, nicht ohne Maglor zuvor noch einen dankbaren Blick zuzuwerfen. Noch am gleichen Nachmittag sattelt Maedhros sein Pferd und verlässt Himring, um sich auf die lange Reise nach Westen zu machen. Es ist ein gefährlicher Weg und trotz der Eskorte, die seinen Bruder begleitet, wird Maglor schwer ums Herz, als er ihn mit wehenden Bannern davonreiten sieht. Es grenzt an ein Wunder, dass er bisher noch keinen seiner Brüder verloren hat, erst recht, da sie mittlerweile alles andere verloren haben. Doch tief im Innersten spürt Maglor auch, dass das Glück die Söhne Feanors bald verlassen wird, und die Angst vor diesem Moment legt sich wie ein kalter Schatten auf seine Seele. ~*~ Maedhros lässt seinen Bruder nur ungern allein zurück, doch er weiß, dass Maglor sich verteidigen kann und dass die Festung in seinen Händen sicher ist. Denn auch Maglor ist ein Sohn Feanors, und Söhne Feanors sind nicht leicht zu bezwingen. Die Reise ist lang und beschwerlich, und Maedhros ist entsetzt, als er die Zerstörungen sieht, die Morgoths Armeen angerichtet haben. Es wird Jahre dauern, die Orks wieder aus Beleriand zu vertreiben, und nicht zum ersten Mal überkommt Maedhros eine schreckliche Müdigkeit und er fragt sich, wie lange dieser furchtbare Krieg noch andauern wird – ein Krieg, bei dem ihm schon vor Jahrhunderten klar geworden ist, dass ihn die Elben nicht gewinnen werden... nicht gewinnen können. Auch Fingolfin muss dies erkannt haben, denkt er bitter, sonst hätte er keinen Selbstmord begangen, indem er Morgoth zum Zweikampf herausgefordert hat. Und das Schlimme daran ist, dass Maedhros es seinem Onkel nicht mal verdenken kann. Wer würde auch schon freiwillig in solch einer Welt leben wollen...? Doch Maedhros hat keine Wahl. Er hat einen Eid zu erfüllen und ein Volk zu beschützen, und darüber hinaus hat er sechs Brüder, die auf seinen Rat angewiesen sind. So sehr er sich manchmal auch danach sehnt, er kann sich keine Blöße geben. Er muss hart sein. Maedhros und sein Gefolge erreichen Hithlum am Morgen des Tages, an dem Fingon zum neuen Hochkönig der Noldor gekrönt wird. Sein Cousin ist unnatürlich bleich während der Zeremonie und Maedhros, der ihn besser kennt, als jeder andere Elb im Thronsaal, fragt sich, wie er es in den letzten Wochen seit dem Tod seines Vaters geschafft hat, nicht völlig die Selbstbeherrschung zu verlieren. Fingon war immer ein ruhiger Mann gewesen, der erst nachdachte, bevor er sprach – einer der Gründe, weshalb Maedhros seine Nähe und Freundschaft in seiner Jugend so geschätzt hatte – und er hatte seinen Schmerz und seine Trauer immer lieber in sich hineingefressen, anstatt sie offen zu zeigen. Maedhros stellt bald fest, dass sich an dieser Eigenart in den letzten Jahrhunderten nichts geändert hat, denn kaum hat sich der König nach den Krönungsfeierlichkeiten mit seinem Cousin in seine Privatgemächer zurückgezogen, als Fingon auch schon zusammenbricht. Der Druck, der in den letzten Wochen auf ihm gelastet hat, muss enorm gewesen sein, denn er weint ohne Scham oder Zurückhaltung – weint an Maedhros‘ Schulter, bis seine Augen rot und aufgequollen sind, weint, bis er keine Tränen mehr hat und schließlich erschöpft in den Armen seines Cousins einschläft. Maedhros bleibt an diesem Abend und auch in der Nacht bei ihm, und wann immer Fingon mit einem Schrei auf den Lippen aus seinen Alpträumen hochschreckt, ist er sofort zur Stelle und murmelt sinnlose Sachen in sein Ohr, um ihn wieder zu beruhigen, und küsst ihn, bis die Angst wieder aus seinen Augen verschwunden ist. Schließlich sinkt sein Cousin in einen tiefen, traumlosen Schlaf und Maedhros sitzt für den Rest der Nacht an seinem Bett und streicht ihm übers Haar und versucht sich zu erinnern, wie er ausgesehen hat, bevor Mittelerde seine Spuren an ihm hinterlassen hat. Aber so sehr er sich auch anstrengt, er kann sich nicht mehr erinnern. Als der Morgen anbricht und der andere wieder erwacht, ist von seiner Verzweiflung vom Vortag nichts mehr zu spüren. Er ist wieder ruhig und beherrscht, denn er ist Fingon, Fingolfins Sohn, Hochkönig der Noldor, Herrscher über das mächtigste Elbenreich im Norden und einer der wenigen, die zwischen Angband und Beleriand stehen. Doch er ist auch Fingon, Cousin und Freund, und der einzige Mann, der Maedhros jemals mehr bedeutet hat, als sein Eid, mehr sogar, als sein eigenes Leben. Und Maedhros entdeckt in Fingons Augen ähnliche Gefühle und plötzlich können sie nicht mehr an sich halten; zu lange mussten sie für andere stark sein, können sie da nicht einmal einen Moment nur für sich haben...? Als sie sich lieben, ist es langsam und exquisit, und jede Kopfbewegung und jedes Seufzen des anderen gräbt sich tief in Maedhros‘ Gedächtnis ein. Sein schwarzes, mit goldenen Bändern geschmücktes Haar betont Fingons blasse Schönheit nur noch und Maedhros kann sich nicht an ihm sattsehen, und in seinen Armen findet er schließlich zum ersten Mal seit viel zu vielen Jahren wieder einen Moment des Friedens. Doch als es vorbei ist, vergeht auch dieser Augenblick, und während sie nackt nebeneinander auf dem Bett liegen, besprechen sie Truppenbewegungen und neue Bündnisse und sind wieder ganz die Heerführer, die sie sein müssen, damit Mittelerde nicht gänzlich auseinanderbricht. Maedhros bleibt für eine Woche in Hithlum (und er verbringt keine Nacht davon außerhalb von Fingons Gemächern), doch schließlich ruft die Pflicht. Fingon ist in Barad Eithel gefragt, wo er die neuen Truppen sichten muss, bevor er den langen Kampf gegen Sauron in Minas Tirith und die Orks in Dorthonion aufnehmen kann, und auch Maedhros will Maglor nicht länger allein lassen. Als sie sich voneinander verabschieden, ist es sehr förmlich. Sie tragen beide schwere Rüstungen und sind umringt von ihren Leibwächtern, doch Maedhros entgeht das Lachen in den Augen seines Cousins nicht. Fingolfin mag tot sein, doch der Glaube an den Sieg ist noch nicht gestorben und nach den Tagen an Fingons Seite sieht die Welt nicht mehr ganz so düster aus, wie zuvor. Und während er in den Osten zurückkehrt, um die Scherben seines Reiches aufzusammeln und mit dem Wiederaufbau zu beginnen, hat Maedhros das erste Mal seit langem wieder Hoffnung, dass dieser Krieg eines Tages vielleicht doch noch ein Ende finden wird. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)