Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 4: Der erste Brief -------------------------- Kari saß auf dem Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch und starrte die fünf Briefe an, die sie aus der Schublade geholt und vor sich auf der Tischplatte ausgebreitet hatte. Man sah ihnen nicht an, dass sie teilweise schon ein paar Jahre alt waren. Sie hatten nicht in der Sonne gelegen und waren auch nicht oft in die Hand genommen worden, weshalb die Briefumschläge noch immer weiß und glatt waren. Kari nahm den ältesten Brief in die Hand, den sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag erhalten hatte, und drehte ihn hin und her. Vorn stand ihre Adresse und auf der Rückseite T.K.s, genau wie es sich gehörte. Einige Sekunden starrte sie den Brief an, bis sie kurzentschlossen den Umschlag aufriss und einen Bogen Papier herausholte, der etwas unordentlich zusammengefaltet worden war. Sie faltete ihn auseinander, legte ihn auf die Tischplatte und glättete ihn mit den Händen. Das Gesamtbild des Briefes entsprach durchaus dem Gestaltungsvermögen eines dreizehnjährigen Jungen. Einige Wörter waren durchgestrichen und neu geschrieben worden, ein paar wenige Grammatikfehler hatten sich eingeschlichen und die Schrift war krakelig, aber Kari erkannte sie wieder. Sie atmete tief durch und begann zu lesen. Hi Kari! Alles Gute zum Geburtstag! Feierst du gerade? Hast du schon Geschenke bekommen? Also eigentlich hast du ja erst in ein paar Tagen Geburtstag, aber meine Mutter meinte, ich sollte den Brief heute schon zur Post bringen, damit er rechtzeitig am Fünfundzwanzigsten ankommt. Ich weiß, dass du eigentlich nicht mehr mit mir reden willst, aber ich wollte dir trotzdem zum Geburtstag gratulieren. Vielleicht redest du ja jetzt wieder mit mir? Ich würde mich zumindest freuen... Ich komme in meiner neuen Schule ganz gut zurecht. Mittlerweile verstehe ich sogar alles und ich träume sogar schon auf Französisch! Was sagst du dazu? Erinnerst du dich eigentlich noch, wie wir letztes Jahr deinen Geburtstag gefeiert haben? Schade, dass wir ihn nicht wieder so feiern können. Also, ich höre jetzt auf zu schreiben und hoffe, dass du mir antwortest. Viele Grüße dein T.K. P.S.: Im Umschlag ist noch ein kleines Geschenk, hast du ja bestimmt schon gesehen. Kari biss sich auf die Unterlippe, als sie fertig gelesen hatte. Sie spähte in den Umschlag und holte die kleinen Gegenstände heraus, die sie vorhin schon bemerkt, aber erst einmal nicht beachtet hatte. Es waren drei Schokoladenbonbons, die Kari so liebte und die T.K. ihr jedes Mal aus seinem Urlaub in Frankreich mitgebracht hatte. Sie waren inzwischen hell angelaufen und Kari wollte sie lieber nicht essen, doch wegschmeißen wollte sie sie irgendwie auch nicht. Sie las den Brief noch einmal durch, bevor sie ihn säuberlich wieder zusammenfaltete und in den Umschlag steckte. Anscheinend hatte T.K. nicht einmal daran gedacht, dass Kari den Brief eventuell nicht lesen würde. Und er hatte vergebens auf eine Antwort gewartet. Kari verstaute die restlichen ungelesenen Briefe wieder in ihrer angestammten Schublade, doch den Brief, den sie gerade eben gelesen hatte, ließ sie auf ihrem Schreibtisch liegen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie konnte sich gut den dreizehnjährigen T.K. vorstellen, wie er auf seinem Bett gelegen und diesen Brief geschrieben hatte. Wie seltsam es doch war, dass er ihr auch zu den folgenden Geburtstagen geschrieben hatte, obwohl sie diesen ersten Brief schon nicht beantwortet hatte. Offenbar hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, sie würde sich doch noch melden. Kari war eigentlich neugierig darauf, was wohl in den anderen vier Briefen stand, doch sie wollte sie jetzt nicht lesen. Es war genug T.K. für einen Tag. Es klopfte an ihrer Zimmertür. „Ja?“, rief Kari und stand auf. Susumu Yagami erschien im Türrahmen und hielt ihr den Telefonhörer entgegen. „Telefon für dich“, sagte er. „Danke“, erwiderte Kari und nahm ihm den Hörer ab, bevor er wieder aus ihrem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss. „Hallo?“ „Hey, hier ist Ken“, meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Oh, hallo Ken“, sagte Kari ein wenig überrascht. Ken war nicht gerade der Typ, der gern telefonierte. „Was gibt’s denn?“ „Ähm also... ich wollte dich nur fragen, ob alles okay ist?“, fragte er und klang unsicher. „Ja, wieso nicht?“, entgegnete Kari verwundert. „Naja, ich kam heute in der Pause einfach mit T.K. zu euch. Ich dachte mir, dass dir das wahrscheinlich nicht gefallen hat und es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verärgern oder so“, murmelte er und Kari hatte Mühe, alles zu verstehen, was er sagte. „Ach was“, meinte Kari abwinkend. „Ist schon okay. Ich bin nur von euch weg gegangen, weil Tai angerufen hatte.“ „Achso. Da bin ich ja beruhigt. Ich hatte schon Angst, du wärst jetzt böse auf mich“, seufzte Ken und klang erleichtert. „Nein, nein“, sagte Kari schnell. „Das ist doch albern. Ich weiß, dass ich mich nicht so haben sollte. Ich komme schon zurecht.“ „Okay, wie du meinst. Naja, das war alles, was ich sagen wollte, glaube ich“, antwortete Ken. „Gut. Na dann bis morgen“, verabschiedete Kari sich. „Ja, bis morgen. Schlaf gut“, hörte sie Ken noch sagen, bevor sie auflegte. Nun hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie konnte sich Ken gut vorstellen, wie er sich Gedanken über etwas machte, über das es sich überhaupt nicht lohnte nachzudenken. Es tat ihr Leid, dass sie ihm überhaupt Anlass dazu gegeben hatte. Kari ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen, wo sie auf ihre Mutter traf, die gerade noch dabei war, Geschirr abzutrocknen. „Was wollte Ken denn?“, fragte Yuuko und musterte sie interessiert. „Nichts weiter. Nur wegen Schule morgen“, log Kari und nahm sich ein Glas aus dem Hängeschrank über der Arbeitsfläche. „Achso“, meinte Yuuko nur. „Übrigens habe ich Natsuko und T.K. morgen zum Abendessen zu uns eingeladen. Nur, dass du Bescheid weißt.“ Sie zwinkerte ihr zu und Kari musste sich bemühen, ihren Schock zu verbergen. „Warum?“, platzte sie heraus und bereute ihre Frage sofort. „Warum? Na einfach so. Ich freue mich nur, dass sie wieder in Tokio sind“, antwortete ihre Mutter verwirrt. „Hast du denn was dagegen?“ Ihr Blick wurde skeptisch, als sie das fragte. „N-nein“, stammelte Kari. Sie würde sich wohl für den nächsten Abend woanders einquartieren müssen. Am nächsten Morgen kam Kari gerade noch rechtzeitig mit dem Läuten der Schulglocke in den Klassenraum gehetzt. Sie hatte verschlafen, weil sie in der Nacht kaum ein Auge zu bekommen hatte. Zu sehr musste sie über alles nachdenken, was gestern gewesen war. Davis drehte sich fragend zu ihr um, als sie sich auf ihren Stuhl fallen ließ und ihre Sachen aus der Tasche kramte. „Warum kommst du denn so spät?“, fragte er flüsternd und musterte sie neugierig. „Hab verschlafen“, murmelte Kari und wandte sich dem Unterrichtsgeschehen zu. Davis bekam mal wieder eine Ermahnung, weil er sich umgedreht und gequatscht hatte und der Unterricht konnte beginnen. Kari konnte sich nur schlecht konzentrieren. Sie starrte ständig aus dem Fenster und beobachtete, wie kleine Schäfchenwolken durch den Himmel zogen und Vögel am Fenster vorbei flatterten. Die Fenster waren geöffnet und die Geräusche von draußen wehten herein. Vogelgezwitscher, das Summen von Bienen, vorbeifahrende Autos. Nur nebenbei nahm sie das quietschende Geräusch der Tafelkreide und das Gerede des Lehrers wahr. Sie spürte, wie schwer ihre Lider wurden und ihr Bewusstsein immer weiter abdriftete. „Hikari, geht’s dir nicht gut?“ Die Stimme ihres Lehrers riss Kari aus dem Halbschlaf, in den sie soeben gesunken war. Sie schreckte hoch und starrte nach vorn. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. „Ähm... nicht so richtig“, murmelte sie. „Geh besser ins Krankenzimmer“, schlug er vor. „Daisuke, begleitest du sie bitte?“ „Klar.“ Davis stand sofort auf und wandte sich zu Kari um, die ebenfalls langsam aufstand, wobei ihr Blick den von T.K. streifte. Beim Rausgehen erhaschte sie auch einen Blick auf Aya, die eine Augenbraue in die Höhe gezogen hatte und sie wie immer abwertend ansah. Sie tuschelte gerade ihrer Banknachbarin etwas zu, wobei es offensichtlich um Kari ging. Genervt wandte Kari den Blick ab und ging mit Davis nach draußen. Sie liefen den Gang entlang bis sie an die Kreuzung kamen, wo es nach links zum Krankenzimmer ging. Kari bog nach rechts ab. „Zum Krankenzimmer geht es hier lang“, meinte Davis verwirrt und blieb stehen. „Ich weiß. Aber ich gehe nach Hause“, verkündete Kari und ging einfach weiter, ohne sich umzudrehen. „Jetzt warte doch mal. Was ist denn los mit dir?“ Davis kam ihr nachgelaufen und hielt sie an der Schulter fest. „Mir geht’s halt nicht so gut. Ich hab schlecht geschlafen“, nuschelte Kari und machte sich von ihm los, um weiterzugehen. „Ist es wegen T.K.?“, fragte Davis. Kari drehte sich um und sah ihn stirnrunzelnd an. „Ich wünschte, er wäre nicht hergekommen.“ „Kari, du solltest...“ „Nein!“, rief Kari und sah ihn wütend an. „Ich will nicht wieder hören, ich sollte mit ihm reden und er ist ja ganz toll! Es ist verdammt noch mal meine Sache und es geht niemanden was an, ob ich je wieder mit ihm rede oder nicht!“ Ruckartig drehte sie sich um und eilte davon. Diesmal lief Davis ihr nicht nach. Als sie zu Hause ankam, war sie glücklicherweise allein. Ihr Vater war arbeiten, ihre Mutter vermutlich gerade noch einkaufen für das Abendessen mit T.K. und seiner Mutter. Das war theoretisch gesehen Karis beste Gelegenheit, sich einfach aus dem Staub zu machen. Schnell Sachen packen und bei Nana oder so übernachten. Aber wie sollte sie das ihrer Mutter erklären? Die würde sich ohne Zweifel Sorgen machen und sie fragen, was das sollte. Seufzend setzte Kari sich an ihren Computer und loggte sich in ihren mittlerweile verstaubten Facebookaccount ein. Sie wusste eigentlich nicht, weshalb sie auf dieser Seite überhaupt noch angemeldet war, so selten, wie sie sich einloggte. Gelangweilt überflog sie die Startseite, bis sie auf etwas stieß, das sie aufmerksam machte. „Motomiya Davis und 3 weitere Freunde sind jetzt mit Takaishi Takeru befreundet.“ Kari zog die Augenbrauen zusammen und ließ den Mauszeiger über die drei weiteren Freunde wandern. Ken, Nana und Akito, ein Junge aus ihrer Klasse, der ebenfalls im Basketballteam spielte. Na, das ging ja schnell. Kari konnte nicht widerstehen und klickte auf T.K.s Namen, woraufhin sein Profil erschien. Fast alles war auf privat gestellt und Kari konnte nur wenig einsehen. Sie musterte sein Profilbild, das schwarzweiß war und ihn von schräg hinten zeigte, wie er auf den Eiffelturm in der Ferne blickte. Wie albern. Sein Geburtsdatum zeigte den sechsundzwanzigsten November an, genau wie Kari es in Erinnerung hatte. Sein Beziehungsstatus verriet ihr, dass er Single war. Ein Wunder. Und er hatte fast zweihundert Freunde. Jaja, das waren bestimmt alles ganz enge Freunde. Kari schüttelte missbilligend den Kopf und schloss das Fenster. Diesen Hype um Facebook würde sie wohl nie verstehen können. Sie beschloss, sich noch ein wenig hinzulegen, da ihre Lider sich noch immer sehr schwer anfühlten. Ein oder zwei Stunden Schlaf konnte sie sich ruhig noch gönnen, bevor sie überlegte, wo sie den heutigen Abend verbrachte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)