Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 65: Ein sechster Brief ------------------------------ Kari hatte geglaubt, es würde ihr helfen, wieder in die Schule zu gehen. Sie hatte gedacht, dort wäre sie abgelenkt und Matts Tod würde sich nicht wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge abspielen. Allerdings stellte sich die erste Woche seit dem Geschehen als der reinste Horror heraus. Natürlich hatte jeder mitbekommen, dass der berühmte Yamato Ishida erschossen worden war. Es stand in allen Zeitungen, Fernseh- und Radiosender berichteten darüber und selbst, wenn man keines dieser Medien nutzte, konnte man sich darauf verlassen, dass einen die Nachbarin oder der Kumpel darauf ansprechen würden. Hast du schon gehört? Der Typ von den Teenage Wolves ist tot. Im gleichen Atemzug wurde dann auch erwähnt, dass die Band schon einen Tag nach Matts Tod ihre Auflösung bekannt gegeben hatte. Da die ganze Schule mittlerweile wusste, dass T.K. Matts Bruder war, begegneten ihm alle mit mitleidigen Blicken, tuschelten hinter seinem Rücken und mieden es, mit ihm zu reden. Kari glaubte nicht, dass es sich dabei um eine böse Absicht handelte, sondern vermutete, dass lediglich niemand etwas Falsches zu ihm sagen wollte, doch trotzdem hätte sie gern alle, die T.K. schräg ansahen und über ihn tuschelten, angeschrien. T.K. selbst hingegen tat, als würde er das alles nicht bemerken. Er verhielt sich, als wäre alles in bester Ordnung, arbeitete normal im Unterricht mit, verbrachte die Pausen wie immer und ging zum Basketballtraining. Wenn man ihn nur oberflächlich kannte, könnte man meinen, er steckte den Tod seines Bruders außergewöhnlich locker weg. Doch Kari konnte er nichts vormachen. Ihr war nicht entgangen, dass seine Augen ein kleines bisschen an Glanz verloren hatten, dass sein Teint fahler geworden war, dass sein Lächeln wie eine Maske wirkte. Selbst die Grübchen waren kaum noch zu erkennen. Und außerdem distanzierte er sich von ihr. Er hatte sie seit Matts Tod nicht mehr geküsst, nicht mehr berührt, ja kaum angesehen. Immer, wenn sie versuchte, sich ihm anzunähern – und sei es nur, um mit ihm über das Erlebte zu reden – zog er sich zurück, begann mit einem neuen Gesprächsthema und baute eine unsichtbare Barriere um sich herum auf. Kari konnte es ihm kaum verübeln. Sie wollte sich nicht einmal im Traum vorstellen, wie es sein mochte, Tai zu verlieren. Wie es sein mochte, dabei zuzusehen, wie der eigene Bruder erschossen wurde, ohne etwas tun zu können. Sie wollte und konnte sich den Schmerz, den er empfinden musste, nicht im Geringsten vorstellen. Und doch verstand sie nicht, warum sie die Einzige war, die er so behandelte. Es tat weh, von ihm zurückgewiesen zu werden und es tat noch mehr weh, ihn leiden zu sehen, ohne ihm helfen zu können. Wie gern würde sie mit ihm reden, die Schulter sein, an der er sich ausweinen konnte? Aber wahrscheinlich weinte sich ein Takeru Takaishi nicht aus. Es machte den Anschein, als bräuchte er nur ein wenig Zeit mit sich selbst, um über dieses schreckliche Ereignis hinwegzukommen. Das Gleiche hatte Mimi schon gesagt und auch Nana vertrat diese Meinung. „Lass ihn einfach. Mit sowas geht eben jeder anders um und er will anscheinend nicht reden, sondern das mit sich selbst ausmachen. Er wird zu dir kommen, wenn er bereit ist. Glaub' mir.“ Doch Nana kannte den Hintergrund nicht. Sie wusste nicht, dass es sich bei Matts Mörder um einen Mann handelte, der über Monate hinweg ihn und seine Mutter tyrannisiert hatte. Und sie wusste auch nicht, dass T.K. jahrelang jeden Kontakt zu Matt vermieden hatte, weil dieser nicht für ihn da gewesen war, als er ihn so dringend gebraucht hatte.   Ende Januar hatte Kari Geburtstag. Es war ein kalter, grauer Tag und für den Nachmittag hatte der Wetterbericht leichten Schneefall gemeldet. Kari kam es falsch vor, auch nur einen Gedanken an ihren Geburtstag zu verschwenden, doch als sie am Morgen zum Frühstück aus ihrem Zimmer kam, erwarteten ihre Eltern sie bereits. „Alles Gute zum Geburtstag“, sagten sie im Chor, lächelten und umarmten Kari herzlich. „Danke“, murmelte sie und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. „Na los. Geh schon deine Geschenke ansehen“, forderte Susumu und deutete auf den Esstisch. Kari ging in die Küche und fand den Esstisch für drei Leute gedeckt vor. Es kam sehr selten vor, dass sie gemeinsam frühstückten, da ihr Vater normalerweise um diese Uhrzeit schon bei der Arbeit war. Doch heute hatte er offenbar eine Ausnahme gemacht. Neben dem Besteck und dem Geschirr befanden sich auf dem Tisch noch eine Glückwunschkarte und eine bunte Geschenktüte. Das Licht einer Kerze tauchte die Küche in einen warmen Schein. Kari las die Karte und packte die Geschenktüte aus. Darin befanden sich ein IKEA-Gutschein, ein neues Paar Tanzschuhe, Schokolade und ein Fotoalbum. Mit fragendem Blick holte Kari das Album heraus und schlug es auf. Auf der ersten Seite befand sich ein Foto von ihr selbst im Alter von wahrscheinlich wenigen Stunden. „Es wird ja erst mal dein letzter Geburtstag zu Hause sein und da haben wir uns gedacht, wir schenken dir was Besonderes, damit du uns nicht so schnell vergisst“, erklärte Yuuko. „Es war gar nicht so leicht, die ganzen Fotos zusammenzusuchen“, fügte Susumu hinzu. Kari blätterte schnell durch das Fotoalbum und sah, dass es Fotos von ihr, ihrer Familie und ihren Freunden enthielt zu allen möglichen Zeitpunkten ihres Lebens. „Das ist toll“, sagte Kari gerührt. „Danke.“   In der Schule warteten Ken und Nana schon im Foyer auf Kari, um ihr um den Hals zu fallen und ihr zu gratulieren. Sie hatten ihr sogar ein Geschenk mitgebracht. Ein Buch über die Geschichte New Yorks und ihre Lieblingsschokolade. Gemeinsam gingen sie in den Klassenraum, wo sie auf einen müden Davis trafen, der jedoch sofort aufsprang und Kari in eine Umarmung zog, als sie den Raum betraten. Kari plauderte mit Nana darüber, wie sie den Morgen verbracht hatte, bis T.K. kurz vor Stundenbeginn in den Raum kam. Er lief zu seinem Platz neben Kari und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Alles Gute“, murmelte er, setzte sich hin und packte seine Sachen aus. Kari musterte ihn von der Seite. Der Kuss auf die Wange war die erste zärtliche Geste von ihm seit einer gefühlten Ewigkeit gewesen. Naja, seit zwei Wochen, um genau zu sein. „Danke“, erwiderte Kari nach einer Weile. „Möchtest du heute nach der Schule mit zu mir kommen?“ Sie rechnete mit einer Absage, da sie nach seinem Verhalten in den letzten Tagen nicht glaubte, dass er wegen ihres Geburtstages eine Ausnahme machen und aus seiner dunklen Höhle hervorkommen würde. Er hatte seine Wohnung nur für die Schule verlassen. „Klar“, antwortete er schulterzuckend, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.   Der Tag zog sich schleppend hin. Zu sehr fieberte Kari dem Nachmittag und der Gelegenheit entgegen, endlich einmal wieder mehr Zeit mit T.K. zu verbringen. Nach der Schule liefen sie, größtenteils schweigend, gemeinsam nach Hause. Kari schloss die Wohnungstür auf und Yuuko kam ihr schon entgegen. „Du kommst wie gerufen. Ich bin gerade mit dem Kuchen fertig geworden. Oh, hallo T.K. Schön dich zu sehen.“ T.K.s Erscheinen hatte sie sichtlich irritiert. Sie strich sich eine lose Haarsträhne hinter das Ohr und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Kari wusste, dass sie in den letzten Tagen sehr viel Zeit zusammen mit Natsuko verbracht hatte. Natsuko war am Boden. Matts Tod hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Sie war noch nicht wieder zur Arbeit zurückgekehrt, doch von Yuuko wusste Kari, dass sie nahezu keine freie Minute zu Hause verbrachte. Kari konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, den eigenen Sohn zu beerdigen. Zu dritt aßen sie frisch gebackenen Apfel-Zimt-Kuchen, der zu Karis Überraschung trotz einiger verbrannter Stellen durchaus angenehm schmeckte, und tranken heiße Schokolade. Sie plauderten oberflächlich mit Yuuko über ihren Schultag und was im Unterricht passiert war, bevor sie sich zu zweit in Karis Zimmer verzogen. T.K. nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz, Kari ließ sich auf ihr Bett fallen. Vorsichtig musterte sie ihn, wie er auf dem Stuhl saß und ins Leere starrte. Er drehte sich leicht hin und her und seine Finger spielten mit einem Stift, der auf dem Schreibtisch herumgelegen hatte. Kari räusperte sich, nicht sicher, wie sie ein Gespräch beginnen sollte. Es fühlte sich fast so an, als würden sie sich noch nicht richtig kennen. Genau genommen kannte sie den T.K., der gerade vor ihr saß, auch noch nicht. „Danke, dass du hergekommen bist“, sagte sie und lächelte leicht. „Nichts zu danken. Ist doch dein Geburtstag. Und ich hab' sogar ein Geschenk, fällt mir gerade ein.“ Er griff nach seiner Schultasche, die er neben dem Stuhl hatte fallen lassen, und begann, darin herumzuwühlen. „Naja, ich dachte nur, wegen Matt und so...“ stammelte Kari und zuckte hilflos mit den Schultern. T.K. hielt inne, sah sie jedoch nicht an. Sein Blick war scheinbar auf das Innere des Rucksacks gerichtet. „Also, ich meine, seitdem bist du schon ziemlich... anders. Das kann ich natürlich verstehen. Das soll auch gar kein Vorwurf sein. Überhaupt nicht! Ich meine, es ist echt furchtbar und... ja.“ Sie presste die Lippen zusammen und suchte seinen Blick, doch sein Kopf war noch immer gesenkt. „Ich... vielleicht sollten wir... also, du weißt, dass ich immer da bin, wenn du jemanden zum... zum Reden brauchst“, nuschelte sie. Er hob den Blick endlich wieder und lächelte. Ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Klar, weiß ich. Danke.“ Zögerlich stand sie auf und ging auf ihn zu. Er sah sie fragend an, ließ jedoch seinen Rucksack langsam wieder zu Boden sinken. Bei ihm angekommen setzte sie sich rittlings auf seinen Schoß und verschränkte die Hände in seinem Nacken. „Du hast mir gefehlt in den letzten zwei Wochen“, murmelte sie, bevor sie die Augen schloss und ihre Lippen auf seine legte. Das Gefühl war so unbeschreiblich gut, dass sie sich am besten nie wieder von ihm lösen wollte. Zögerlich erwiderte er ihren Kuss und legte seine Hände auf ihre Hüften. Darauf hatte Kari gewartet. Irgendein Zeichen, dass er sie noch wollte, noch begehrte, noch liebte, trotz allem, was passiert war. Sie rutschte so weit sie konnte nach vorn und drängte sich an ihn, verfestigte den Griff in seinem Nacken. Sie wollte den Kuss intensivieren, doch in diesem Moment löste er sich von ihr und schob sie sanft von sich. Enttäuscht öffnete Kari die Augen und seufzte leise. „Entschuldige, ich wollte nicht...“ „Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin nur irgendwie ein bisschen... naja.“ Er rieb sich die Augen, als wäre er müde. „Wärst du lieber allein?“, fragte Kari zögerlich. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Er schien einen Augenblick nachzudenken. „Ich weiß nicht. Nein... eigentlich nicht. Ich brauche nur ein bisschen Zeit. Oder so.“ Kari rutschte auf seinem Schoß ein wenig zurück und ließ die Hände sinken, die noch in seinem Nacken verschränkt gewesen waren. Sie senkte den Blick. „Du gibst mir die Schuld, oder?“ Ein paar Sekunden lang sagte T.K. gar nichts und Kari dachte schon, er wäre nur zu höflich, um ihre Frage zu bejahen. Doch dann legte er den Kopf schief und zog verständnislos die Augenbrauen zusammen. „Was? Wie kommst du darauf?“ „Naja, du verhältst dich so komisch. Du fasst mich nicht mehr an, redest kaum noch mit mir und gehst mir mehr oder weniger aus dem Weg“, erklärte sie ihre Vermutung und hob den Blick wieder, um in sein Gesicht sehen zu können. „Kari, du denkst doch nicht selbst, dass du schuld daran bist, oder?“ Seine blauen Augen hatten sie fixiert und starrten sie durchdringend an, sodass sie seinem Blick ausweichen musste. Sie konnte ihn nicht länger ansehen, nicht in dieser Situation. „Er hat mich festgehalten und wollte mich... also er hat mich mit einer Pistole bedroht. Und Matt kam, um mir zu helfen. Wäre ich nicht...“ „Nein“, unterbrach er sie forsch und packte sie an den Oberarmen. „Wag' es ja nicht, diesen Satz zu Ende zu sprechen.“ „Aber ohne mich würde er vielleicht noch...“ Tränen stiegen ihr in die Augen und sie wandte das Gesicht ab. „Oh Gott, ich wusste nicht, dass du so denkst“, murmelte T.K. „Kari, das ist nicht wahr. Ich mache dich nicht dafür verantwortlich. Wie könnte ich?“ „Es ist nur... er wollte mir nur helfen und...“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen, da sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Zu sehr brach jener Tag wie eine Welle erneut über sie herein und drohte, sie zu verschlingen. Es war, als würde sie wieder den Lauf der Pistole an ihrer Schläfe spüren, Matt sehen, der auf sie zu lief, und den Schuss hören. T.K. schlang die Arme um sie und zog sie wieder dicht an sich. Sie lehnte ihr Gesicht, das sie noch immer mit den Händen bedeckte, gegen seine Halsbeuge und schluchzte. Sie wusste nicht, wie lang sie so dagesessen hatten, sie noch immer rittlings auf seinem Schoß, in seinen Armen weinend. Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis sie sich wieder beruhigt hatte, doch T.K. hatte nichts gesagt. Er hatte nur seinen Kopf gegen ihren gelehnt, ihr über den Rücken gestreichelt und gewartet. Doch irgendwann kamen keine neuen, heißen Tränen mehr, das Beben ihres Körpers ließ nach und ihr Atem wurde ruhiger. Schließlich löste sie sich von ihm und strich sich Haarsträhnen aus dem Gesicht, die auf ihren nassen Wangen geklebt hatten. „Entschuldige“, murmelte sie mit belegter Stimme. „Ich habe kein Recht, mich bei dir auszuheulen. Es sollte eher andersrum sein.“ Er sah sie schief an und hob eine Augenbraue. „Kari, du wurdest mit einer Waffe bedroht. Du hast jeden Grund, dich auszuheulen.“ „Aber nicht bei dir. Ich meine...“ „Natürlich bei mir. Dafür ist man doch in einer Beziehung, oder nicht?“ „Aber dir geht es doch viel schlechter als mir. Du hättest viel eher einen Grund zum Heulen als ich.“ Er seufzte und zog sie wieder ein wenig dichter an sich. „Mit mir ist alles in Ordnung, okay? Ich brauch' einfach nur ein bisschen Zeit.“ Kari sah ihn an. Ihr lagen so unendlich viele Fragen auf der Zunge. Wie konnte es ihm gut gehen? Es war sein Bruder, der da gestorben war. Sein Bruder, zu dem er jahrelang keinen Kontakt gehabt hatte. Sein Bruder, mit dem er sich bis zuletzt nicht wirklich versöhnt hatte. Sein Bruder, dessen Tod er sogar mit ansehen musste, weil seine Freundin die Jungfrau in Nöten hatte spielen müssen. Wie um alles in der Welt konnte er nur mit alldem völlig allein klarkommen? Konnte Kari denn überhaupt nichts tun, um ihm zu helfen? Wie würde es jetzt weitergehen? Anstatt jedoch auch nur eine dieser Fragen zu stellen, nickte sie stumm. „Möchtest du jetzt vielleicht dein Geschenk haben?“, fragte er dann. Erst jetzt erinnerte Kari sich daran, dass er ja vorhin etwas von einem Geschenk erzählt hatte, das in seinem Rucksack wartete. Sie nickte erneut und er griff wieder nach seinem Rucksack. Seine Hand kramte darin herum und fischte schließlich einen violetten Briefumschlag heraus. „Alles Gute zum Geburtstag“, sagte er und reichte den Umschlag an sie weiter. Kari lächelte und öffnete den Umschlag. Zuerst holte sie einen Brief heraus. Noch immer auf T.K.s Schoß sitzend faltete sie den Brief auseinander und begann zu lesen.   Liebe Kari,   da ich dir in den letzten fünf Jahren zu jedem Geburtstag einen Brief geschrieben habe, dachte ich mir, du bekommst auch diesmal einen. Vielleicht freust du dich ja. Ich wünsche dir alles Gute zu deinem achtzehnten Geburtstag! Ab jetzt bist du volljährig, bald schließen wir die Schule ab und danach fängt das Leben erst richtig an. Bisher war es nur Vorgeplänkel und die Schule hat versucht, uns auf das echte Leben da draußen vorzubereiten. Auf manche Dinge kann man sich allerdings gar nicht vorbereiten und das ist vielleicht auch besser so. Diesmal habe ich gar nichts aus meinem Leben zu erzählen, weil ich hier nichts schreiben kann, was ich dir nicht auch so sagen könnte. Noch vor einem Jahr hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, wie mein Leben heute aussieht. Ich hätte nie gedacht, dass du mich so umhaust und mein ganzes Leben auf den Kopf stellst. Ich dachte, es würde schwierig werden, wieder mit dir in Kontakt zu treten, wenn ich erst einmal zurück bin, und das war es auch. Ich dachte, wir würden maximal wieder so etwas wie Freunde werden. Naja, zumindest habe ich das gehofft. Das, was wir jetzt haben, ist natürlich mindestens tausend Mal besser, als „so etwas wie Freunde“ zu sein. Ich will mal Journalist werden, Bücher schreiben, Berichte verfassen, eine Kolumne veröffentlichen und bilde mir ein, dass ich auch gar nicht so schlecht im Schreiben bin. Und trotzdem kann ich einfach nicht in Worte fassen, was ich für dich empfinde. Vielleicht gibt es dafür auch gar keine Worte. Vielleicht braucht es auch einfach keine Worte. Ich bin mir sicher, du verstehst mich auch so.   In Liebe Takeru   Und wieder schwammen Karis Augen in Tränen, als sie den Brief sinken ließ und T.K. ansah. „Das ist so süß“, murmelte sie mit erstickter Stimme. „Nun schau' dir schon dein eigentliches Geschenk an“, forderte er sie auf und deutete auf den Briefumschlag. Kari holte eine kleine Karte hervor. Darauf stand in geschwungenen Buchstaben „le joyeux citron“ geschrieben. Eindeutig französisch. Verwirrt öffnete Kari die Karte. Der Text darin war auf Französisch, doch sie konnte eine Adresse lesen. 43 Avenue des Champs-Élysées, 75008 Paris. „Was ist das?“, fragte Kari verwirrt. „Le jo-....“ Sie hatte keine Ahnung, wie sie den Namen aussprechen musste. „Le joyeux citron“, sagte T.K. „Das ist ein Restaurant.“ „Oh, okay. Aber hier steht Paris“, wandte Kari ein und deutete auf die Adresse in der Karte. „Ja.“ Sie hob den Blick und musterte ihn irritiert. Sie hatte keine Ahnung, was diese Karte ihr sagen wollte. Restaurant in Paris? „Naja, es ist ein Restaurantgutschein. Ich lade dich zum Essen ein. In Paris.“ Einen Moment lang starrte Kari ihn nur an. Ihre Augen wurden immer größer, ihr Mund klappte auf und sie wusste nicht, ob sie sich vielleicht verhört hatte. Dann fiel ihr die einzig vernünftige Erklärung für sein Gerede ein. „Das ist ein Scherz.“ Sie sahen sich an, er verzog keine Miene. „T.K., komm' schon. Sag' mir, dass das ein Scherz ist.“ Seine blauen Augen fixierten sie, sein Blick durchbohrte sie wieder einmal, sodass sie sich geröntgt fühlte. Wie machte er das nur immer? „Kein Scherz“, sagte er schließlich. Wieder starrte Kari ihn nur an und konnte einige Sekunden lang nichts erwidern. Er hatte sie zum Essen in Paris eingeladen. Und er meinte es ernst. Aber das bedeutete ja... „A-aber... wie...“, stotterte sie verständnislos. „Wir fliegen nach Paris. Du und ich. Im Sommer.“ Mit offenem Mund starrte sie ihn an und noch immer machte er keine Anstalten, ihr zu eröffnen, dass es sich um einen Scherz handelte und sie in Wahrheit irgendwo in Tokio essen gehen würden. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Naja, ich dachte, es wäre vielleicht ganz nett, in den Urlaub zu fliegen, bevor wir uns dann... eine Weile nicht sehen“, meinte er schulterzuckend. „Wir schlafen bei meinen Großeltern. Alles schon abgeklärt. Sie freuen sich auf unseren Besuch.“ Er meinte es tatsächlich ernst. Sie würden zu zweit Urlaub in Paris machen. Nur sie beide. „Oh mein Gott“, hauchte Kari. Sie rutschte wieder so dicht an ihn heran, wie sie konnte und schlang die Arme um seinen Hals. „Oh Gott.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)