Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 23: Davis' Geheimnis ---------------------------- Am Sonntag Vormittag bekam Kari von Nana einen Anruf, wie wundervoll ihr Date mit Ken verlaufen war. Sie war bei ihm gewesen und sie hatten ein paar DVDs geschaut und dann hatten sie irgendwann rumgeknutscht, was Kari verwirrte. Jedoch verwirrte sie daran nicht Nana, sondern Ken. Der ruhige, zurückhaltende Ken, der rumknutschte. Irgendwie konnte sie sich das so überhaupt nicht vorstellen, doch sie freute sich sehr für Nana. Zusammen waren sie jedoch noch nicht offiziell. Zumindest hatten sie noch nicht darüber geredet. Jedoch zwei Wochen später in der Schule kam es zu einem kleinen Vorfall. Kari saß gerade in der Mittagspause mit Davis auf ihrem Stammplatz auf der Wiese. Sie hatten sich ein schattiges Plätzchen suchen müssen, da die Sonne erbarmungslos vom Himmel schien. Mittlerweile waren alle Schüler auf ihre Sommeruniform umgestiegen, da es niemand mehr mit langen Ärmeln aushielt. Alle waren in guter Stimmung, weil die Sommerferien vor der Tür standen. Alle bis auf Davis, der nach wie vor seltsamerweise dauerhaft schlecht gelaunt war. Er und Kari waren gerade dabei, einigermaßen locker zu plaudern, als Ken und Nana zu ihnen stießen. Händchenhaltend. Kari sah, wie Davis' Miene sich verfinsterte. „Uh, macht ihr es jetzt offiziell?“, fragte Kari und musterte die beiden neugierig. Sie tauschten einen verstohlenen Blick und setzten sich zu ihnen auf die Wiese. Nana antwortete nicht, sondern sah unverwandt Ken an. „Ja“, sagte dieser schließlich und wich verlegen Karis Blick aus. „Irgendwie schon.“ „Was heißt denn irgendwie? Seid ihr nun zusammen oder nicht?“, fragte Kari stirnrunzelnd. Noch einmal tauschten Ken und Nana einen Blick, als würden sie sich per Telepathie auf eine Antwort einigen. Gerade öffnete Ken wieder den Mund, um das Ergebnis ihres Gedankenaustauschs zu verkünden, als Davis plötzlich aufsprang. „Mann, Kari, was fragst du denn so blöd? Das sieht man doch wohl, oder nicht?“, rief er wütend, sodass Kari zusammenzuckte. Dann wandte er sich an Ken und Nana. „Na dann, viel Glück euch und ein schönes Leben noch!“ Er drehte sich um, lief davon und ließ Kari, Ken und Nana völlig sprachlos zurück. „Was... zum...“, stammelte Nana und starrte Davis entgeistert hinterher. Kari fing Kens Blick auf und erkannte, dass er ebenso wenig verstand, was los war wie sie. „Entschuldigt mich, aber ich gehe ihm mal nach“, murmelte Kari betroffen und stand auf. „Vielleicht sollten wir ihn auch erst mal in Ruhe lassen?“, schlug Ken ratlos vor. „Naja, ihr anscheinend schon“, schnaubte Kari und lief Davis nach. Wo war er jetzt nur hingelaufen? Sie überquerte den Schulhof und hielt nach ihm Ausschau, doch konnte ihn weder bei seinen Fußballkumpels noch sonst irgendwo entdecken. Kari lief an T.K. vorbei, der mit Aya und drei Kumpels vom Basketball herumlungerte. „Ich hab' mal gehört, die Falte bleibt, wenn man oft so guckt“, hielt er Kari auf und deutete grinsend auf seine Stirn. Erst da fiel Kari auf, dass sie offenbar die Augenbrauen zusammengezogen hatte. Sie bemühte sich, ihr Gesicht zu entspannen und rang sich ein Lächeln ab. „Alles okay?“, fragte er. Er hatte sich von seinem Grüppchen gelöst. Die drei Jungs unterhielten sich weiter, doch Aya beobachtete ihn misstrauisch und schenkte Kari einen verachtungsvollen Blick. „Ja. Nein. Davis ist irgendwie sauer abgehauen“, antwortete Kari schulterzuckend. „Hast du zufällig gesehen, wo er hingegangen ist?“ Verwirrt musterte er Kari. „Er ist sauer? Ich glaube, ich habe ihn gerade Richtung Sportplatz gehen sehen.“ „Ja. Okay, danke“, antwortete sie und ging weiter, doch er hielt sie noch einmal auf. „Warte mal. Ich glaube, meine Mutter kommt heute zum Abendessen zu euch. Bist du auch da?“, fragte er. „Ja. Kommst du auch?“, erwiderte Kari die Frage. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ „Meine Mutter hat versprochen, das Essen heute nicht zu versalzen oder anbrennen zu lassen“, sagte Kari und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Dann könnte es durchaus sein, dass ich komme“, sagte T.K. amüsiert lächelnd. „Okay. Dann helfe ich ihr vielleicht lieber beim Kochen“, erwiderte Kari lachend. T.K. zwinkerte ihr zu, sagte „Bis heute Abend“ und wandte sich wieder seinem Grüppchen zu. Besser gelaunt setzte Kari ihren Weg zum Sportplatz fort. Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht zu spät zur nächsten Stunde kommen wollte. Auf dem Sportplatz stand genau ein Mensch und Kari erkannte schon von weitem, dass es sich nur um Davis handeln konnte. Seine Frisur war einfach verräterisch. Er saß im Gras, gegen die Stange eines der Fußballtore gelehnt. Die Beine hatte er ein wenig angezogen und die Arme auf den Knien abgelegt. Schnell lief Kari über den Sportplatz auf ihn zu. Obwohl er sie sicher bemerkte, blickte er nicht auf, sondern starrte vor sich hin. Wortlos setzte Kari sich neben ihn. „Die Pause ist gleich zu Ende“, sagte sie nach einigen Augenblicken der Stille. Davis erwiderte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern. „Warum kannst du uns nicht einfach sagen, dass dich das mit Ken und Nana stört?“, fragte Kari nun geradeheraus. „Was würde das denn ändern?“, murrte Davis vor sich hin starrend. „Naja, dann können sie Rücksicht nehmen“, antwortete Kari. „Du hättest gleich sagen sollen, dass du in Nana verliebt bist. Bestimmt hätte Ken dann gar nichts mit ihr angefangen. Aber wenn er es nicht weiß, woher soll er dann wissen, dass du...“ „Verdammt, Kari, es ist nicht Nana!“, unterbrach Davis sie und sah sie nun wütend an. „Warum leugnest du das? Ich meine, das erkennt doch ein Blinder mit einem Krückstock. Wir finden bestimmt eine Lösung, wenn du nur...“ „Es – ist – nicht – Nana!“, rief Davis. „Es ist Ken!“ Verwirrt sah Kari ihn an, doch er wich ihrem Blick aus. Sie nahm an, dass sie irgendetwas falsch verstanden hatte. „Was ist Ken?“ „Ken ist der Grund, warum ich so drauf bin, wie ich es gerade nun mal bin“, erklärte Davis ungeduldig. Kari zögerte einige Sekunden. „Ja, weil er mit Nana zusammen ist. In die du verliebt bist.“ Sie beobachtete ihn skeptisch. „Oder... nicht?“ Davis stöhnte. „Ich bin nicht in Nana verliebt, sondern in Ken. Verstehst du es jetzt? Ich stehe auf Kerle.“ Nein, das verstand sie nicht. Sie starrte ihn an und erst nach einigen Sekunden fiel ihr auf, dass ihr Mund offen stand. „Bist du... bist du dir sicher?“, fragte sie verdattert. „Was soll diese Frage?“ „Entschuldige. War unangemessen. Aber ich bin verwirrt“, gestand Kari. Sie hörte die Schulglocke, doch das hier erschien ihr gerade wichtiger als Unterricht. „Also du bist in Ken verliebt, nicht in Nana.“ Davis atmete tief durch und nickte. „Und wie lange schon?“ Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Eine Weile.“ „Wie hast du das gemerkt?“, fragte Kari. „Wie man sowas eben merkt“, murmelte Davis. „Und jetzt, als das mit Nana angefangen hat, war ich mir dann sicher. Davor wollte ich es nicht wahrhaben und dachte, ich irre mich. Aber jetzt...“ Er sprach nicht weiter, doch Kari verstand auch so und nickte mitfühlend. Nach und nach wurde ihr klar, wie kompliziert diese Situation auf einmal wurde. „Willst du es ihm sagen?“, fragte sie nach einigen Augenblicken. „Nein, jetzt nicht mehr. Er und Nana wirken ja ziemlich verknallt“, antwortete er zynisch. „Aber vielleicht sollte Ken es wissen“, gab Kari zu bedenken. „Warum denn? Das ändert doch nichts. Ich tue einfach so, als wäre alles okay und dann wird es auch nicht komisch“, antwortete Davis gleichgültig. „Dafür dürfte es ein bisschen spät sein“, meinte Kari. Davis schnaubte. „Vielleicht sage ich ihm einfach, dass ich auf Nana stehe und deswegen so reagiert habe.“ Kari biss sich auf die Unterlippe. Sie hielt dieses Vorhaben für keine gute Idee, denn Ken würde sich wahrscheinlich wieder von Nana trennen, da die Freundschaft mit Davis ihm alles bedeutete. Und wenn er die Sache zwischen ihnen tatsächlich beendete, wäre keiner der Beteiligten mehr glücklich. Doch sie sagte lieber nichts. Das würde Davis auch nicht helfen. „Wie lang weißt du schon, dass du...“, fing Kari an. „Dass ich schwul bin?“, beendete Davis ihre Frage, woraufhin sie nickte. „Wie gesagt, eine Weile. Es fing mit Ken an.“ „Aber... warst du nicht früher mal in mich verliebt?“, fragte Kari irritiert. Sie konnte immer noch nicht glauben, was Davis ihr eben erzählt hatte. „Ja, schon. Aber... keine Ahnung. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet“, antwortete er unwirsch. „Vielleicht bildest du dir das jetzt auch nur ein“, überlegte Kari. „Die Verliebtheit in Ken, meine ich.“ Davis sah sie stirnrunzelnd an. „Sag mal, hast du was gegen Schwule?“ „Was? Nein!“, widersprach Kari eilig. „Ich meinte doch nur...“ „Dann hör auf, meine Gefühle in Frage zu stellen“, sagte er grimmig. „Entschuldige“, murmelte Kari. Sie kannte Davis überhaupt nicht so, wie er sich gerade benahm. Normalerweise war er ein positiver Mensch, der andere nicht so schnell anblaffte. Vor allem nicht sie. „Erzähl es niemandem, okay?“ „Natürlich.“ Sie verbrachten die ganze restliche Unterrichtsstunde auf dem Sportplatz und redeten über Davis und seine Gefühle. Kari versuchte in dieser Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass einer ihrer besten Freunde homosexuell war. Nicht, dass es sie störte, doch es war etwas komplett Neues für sie. Sie gingen erst zur nächsten Stunde zurück in den Unterricht und behaupteten, Kari wäre plötzlich schlecht geworden und Davis hätte auf sie aufgepasst. Ken und Nana gegenüber tat Kari so, als wäre alles in Ordnung, während Davis die beiden ignorierte. T.K. warf ihr einen fragenden Blick zu, als sie wieder im Unterricht auftauchte, sagte aber nichts. Als Kari am späten Nachmittag nach dem Unterricht nach Hause kam, hatte ihre Mutter schon mit dem Kochen begonnen. Ein strenger Geruch nach Verbranntem schlug ihr entgegen, als sie die Wohnungstür öffnete und sie rümpfte die Nase. Gerade stand sie am Mülleimer und warf ein paar angebrannte Fleischstücke hinein. „Ach, da bist du ja. Willst du mir helfen?“, fragte sie mit leicht hilflosem Blick. „Ich glaube, ich habe zu wenig Öl in die Pfanne getan und dann dachte ich, es muss ja durch sein und schon war's verbrannt.“ „Ja, ich versuch's“, antwortete sie zuversichtlich lächelnd, zog sich um und gesellte sich zu ihrer Mutter in die Küche. „Und? Ist in der Schule irgendwas passiert?“ Diese Frage stellte Yuuko ihr seit der Sache mit Shinji jeden Tag mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, als befürchtete sie, Kari hätte sich wieder in irgendeiner Form danebenbenommen. Ein wenig fühlte sich Kari von ihr damit gekränkt. Sie dachte an Davis und ihr Gespräch. „Nö, alles normal.“ „Das ist schön“, sagte Yuuko und klang ein wenig erleichtert. „Ach, bevor ich es vergesse. Tai hat gestern angerufen. Er und Mimi kommen am Wochenende zu Besuch.“ Kari sog scharf die Luft ein und ihre Mutter sah sie verwirrt an. „Oh, äh... das ist schön. Ich freue mich.“ Ganz sicher wollten sie ihren Eltern von dem Baby erzählen. Das wurde ja ein heiterer Besuch. „Ja, ich freue mich auch. Ich muss mir unbedingt noch ein schönes Kleid für die Hochzeit kaufen“, meinte Yuuko und widmete sich einer Ladung Gemüse, das darauf wartete, geschnitten zu werden. „Ich werde einfach wieder Nana fragen“, überlegte Kari und kippte Öl in die Pfanne. „Sag mal, Mama, findest du es jetzt eigentlich okay, dass Tai heiratet?“ „Hm“, machte ihre Mutter nachdenklich, ohne von den Möhren aufzublicken, die sie gerade massakrierte. „Ja. Ich wünsche mir zwar, er hätte noch ein wenig gewartet, aber er hat ja mit vielen Dingen nicht lange gewartet.“ Kari musste ein Schnauben unterdrücken. „Ich denke, er weiß, was er tut. Und deswegen finde ich es okay.“ Sie lächelte. „Er ist bestimmt ein toller Ehemann“, meinte Kari. „Ja, das denke ich auch“, stimmte Yuuko ihr zu. Gemeinsam schafften sie es, das Essen nicht anbrennen zu lassen und auch das Würzen nicht zu verhauen. So waren sie gerade mit der Vorbereitung fertig, als es an der Tür klingelte. Yuuko ging T.K. und seiner Mutter aufmachen, während Kari noch einmal in ihr Zimmer verschwand, um ihre Haare einigermaßen in Ordnung zu bringen. Schließlich wollte sie nicht schon wieder aussehen, als wäre sie gerade aufgestanden. Als sie ihr Zimmer wieder verließ, hatten es die beiden Frauen doch tatsächlich schon geschafft, sich in ein Gespräch zu vertiefen. Yuuko verteilte gerade eine Flasche Sekt auf vier Gläser, während sie sich von Natsuko über deren neuen Artikel berichten ließ. T.K. stand ein wenig gelangweilt gegen den Tisch gelehnt da und schien mit den Gedanken woanders zu sein. Als Kari auf der Bildfläche erschien, unterbrach Natsuko ihren Bericht, um sie zu begrüßen. „Hallo, Kari. Wie geht’s dir?“, fragte sie strahlend. „Hallo. Danke, gut und dir?“ „Prima. Ich bin ein bisschen hungrig und bin gespannt, was ihr heute gezaubert habt.“ Dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort und Kari verdrehte die Augen und ging zu T.K. „Na? Gab es wieder Küchenunfälle?“, fragte er leicht spöttisch. „Nein, heute nicht. Zumindest nicht unter meiner Führung“, antwortete Kari selbstbewusst. „Und wer über das Essen meckert, fliegt raus.“ „Also ich meckere nicht“, behauptete T.K. und zog eine Augenbraue hoch. „Es sei denn, du versuchst, mich zu vergiften.“ „Nein, heute nicht“, erwiderte Kari lächelnd. „Kinder, wir wollen anstoßen“, rief Yuuko fröhlich und hob ihr Glas. „Auf was denn?“, fragte Kari verwirrt und griff nach ihrem Glas. „Auf uns. Dass wir wieder zusammen sind“, antwortete Natsuko und hob ihr Glas ebenfalls. „Und dass es uns gut geht. Kari warf T.K. einen irritierten Blick zu, doch er schien ebenso wenig zu verstehen, wie ihre Mütter auf einmal darauf kamen. Klirrend stießen die vier ihre Gläser aneinander und tranken einen Schluck. „Aber nicht, dass du dich wieder von irgendjemandem abschleppen lässt“, sagte Yuuko mit strengem Blick zu Kari und sie und Natsuko brachen in Gelächter aus. „Ist ja keiner hier“, murmelte Kari angesäuert. Dieser Kommentar ihrer Mutter war ihr überaus peinlich und sie vermied es, T.K. anzusehen. Aber immerhin konnte sie mittlerweile darüber lachen. Sie ließen sich das Essen schmecken, das diesmal wirklich genießbar war und räumten hinterher gemeinsam den Tisch ab. Anschließend warf Yuuko Kari und T.K. mehr oder weniger raus. Das Gerede zweiter mittelalter Damen wollten sie ja eh nicht hören, hatte sie gesagt. Natsuko hatte gekichert und ihr zugestimmt und Kari ging mit T.K. in ihr Zimmer. „Wo ist dein Vater heute?“, fragte T.K., der Karis Zimmertür hinter sich schloss und sich im Zimmer umsah. „Mit seinen Kollegen und dem Chef unterwegs. Kommt erst nachts wieder“, antwortete sie. „Achso, das kenne ich von meinem auch“, antwortete T.K. Kari ließ sich auf ihr Bett fallen, während T.K. weiterhin ihr Zimmer betrachtete, als wäre er seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Dabei war das letzte Mal erst wenige Wochen her. „Siehst du deinen Vater oft, seit du wieder hier bist?“, fragte Kari und beobachtete ihn. „Ich besuche ihn einmal die Woche“, antwortete T.K. „Als ich in Paris war, haben wir öfter telefoniert oder E-Mails geschrieben.“ „Wie geht’s ihm?“, fragte Kari interessiert weiter. „Gut. Alles okay, aber er arbeitet immer noch so viel“, antwortete T.K., nahm ein gerahmtes Foto in die Hand, das auf Karis Kommode stand, und drehte sich zu ihr um. „Hab ich dir das nicht geschickt?“ „Ja“, sagte sie und spürte, dass sie rot anlief. Es war das Kinderfoto von ihnen, das sie im vierten Brief gefunden hatte. „Es ist so eine schöne Erinnerung an früher und... ja, da musste ich es einfach aufstellen.“ Er lächelte und stellte das Foto zurück. „Ich mag's auch. Ich hab das gleiche bei mir zu Hause rumstehen.“ Eine peinliche Stille legte sich über sie und Kari fuhr sich durch die Haare, spielte mit ihren Fingern und zupfte unsichtbare Flusen von ihrer Kleidung, nur um etwas zu tun zu haben. Schließlich stand sie auf. „Also ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte einen Verdauungsspaziergang vertragen“, verkündete sie und sah ihn erwartungsvoll an. „Bin dabei.“ Sie verließen Karis Zimmer, sagten ihren Müttern Bescheid, die so sehr in ihr Gespräch vertieft waren, dass sie sie kaum beachteten, und gingen aus der Wohnung. Sie schlenderten durch den Park in eine noch recht belebte Einkaufsstraße und betrieben dabei Smalltalk. Für Kari war diese Situation noch immer sehr ungewohnt, da sie sich sonst nur in der Schule sahen und ihnen dort seltsamerweise auch nie die Gesprächsthemen ausgingen. Heute war es aus irgendeinem Grund etwas schwieriger. Doch hier draußen war es immer noch besser als zu zweit in ihrem Zimmer. „Hat deine Mutter eigentlich einen neuen Freund?“, fragte sie beiläufig und schielte in die Schaufenster der Klamottenläden, an denen sie vorbeigingen. „Nein. So schnell geht’s nun auch wieder nicht“, antwortete T.K. schief lächelnd. „Oh, ja. Ich hab schon wieder vergessen, dass ihr ja noch nicht lange hier seid“, sagte Kari verlegen. „Wollt ihr irgendwann wieder nach Frankreich zurück?“ T.K. schien eine Weile nachzudenken, zumindest antwortete er nicht gleich. „Vielleicht irgendwann, ja. Aber vorerst nicht.“ Kari beobachtete ihn verstohlen von der Seite und wartete auf eine Begründung, doch er sagte nichts mehr und sein Gesichtsausdruck war ziemlich kühl. „Ich würde auch gern mal nach Frankreich“, sagte sie verträumt. „In den Sommerferien fliege ich für zwei Wochen zu meinen Großeltern. Wenn du willst, kannst du sicher mitkommen“, meinte T.K. Mit großen Augen sah Kari ihn an, um zu überprüfen, ob es ein Scherz war, doch er fing nicht an zu lachen. „Puh, ich, äh...“, stammelte sie. Zwei Wochen mit T.K. in Frankreich, lieber nicht. Erst seit einem Monat redeten sie wieder einigermaßen normal miteinander und die Sommerferien begannen schon bald. Nein, das würde nicht gut gehen. Oder doch? „Ich könnte dir Paris zeigen. Es ist nicht so groß wie Tokio, aber viel zu sehen gibt’s trotzdem“, sagte T.K. „Und du könntest dir anschauen, wo ich die letzten fünf Jahre gesteckt habe.“ Kari lachte leicht. „Das klingt nach einem aufregenden Urlaub.“ Er zuckte lässig mit den Schultern. „Du kannst es dir ja überlegen. Ist auf jeden Fall besser, als sich zu langweilen.“ Kari wollte gerade etwas erwidern, doch sie wurde unterbrochen, bevor sie nur den Mund aufgemacht hatte. „Takeru!“ Sie blieben beide stehen und wandten sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dort aus einem Lebensmittelgeschäft kam Aya gelaufen, in der Hand eine vollgepackte Tüte. Sie strahlte T.K. an und zeigte dabei ihre schneeweißen Zähne. Als sie bei ihnen ankam, umarmte sie ihn und löste die Umarmung erst nach einer gefühlten Ewigkeit. „Wie schön, dich zu treffen“, sagte sie charmant lächelnd. Für Kari hatte sie diesmal nicht einmal einen verachtenden Blick übrig. Sie wurde völlig ignoriert. „Gehst du noch einkaufen?“ „Wir gehen nur spazieren“, sagte Kari blitzschnell, ehe T.K. antworten konnte und lächelte breit. „Ein Verdauungsspaziergang. Soll ja helfen.“ Nun sah Aya Kari doch kurz an. Ihr Lächeln war nur ein klein wenig verblasst, doch Kari konnte sich auch so sehr gut verstellen, was gerade in Ayas Kopf vorging. Womöglich plante sie gerade Karis Tod. „Und was machst du hier noch?“, fragte T.K., dem die angespannte Stimmung nicht entgangen sein konnte. „Nur ein paar Einkäufe für die Familie erledigen“, meinte Aya abwinkend. „Gut, dass ich dich gerade treffe. Hast du am Wochenende schon was vor?“ Sie klimperte mit den Wimpern und Kari unterdrückte ein Würgegeräusch. „Nein, wieso?“, erwiderte T.K. „Naja, am Samstag ist die Geburtstagsparty von Masao und es wäre echt toll, wenn du auch kommst“, erklärte sie süß lächelnd. Masao war ebenfalls im Basketballteam und in Karis Klasse. Im Gegensatz zu Shinji und seinen beiden Komplizen war er ganz in Ordnung, soweit Kari ihn beurteilen konnte. „Er hat heute die Einladungen bei Facebook rausgeschickt.“ „Okay, das habe ich noch nicht gesehen. Bestimmt werde ich kommen“, antwortete T.K. und erwiderte ihr Lächeln. „Das wäre super“, sagte Aya und sah aufrichtig begeistert aus. „Na dann bis morgen in der Schule.“ Und wieder umarmten sie sich, bevor sie ihm ein letztes kokettes Lächeln schenkte und davonging. „Wow. Du bist echt beliebt“, bemerkte Kari trocken. „Du anscheinend nicht so“, erwiderte T.K. grinsend. „Gut beobachtet, Sherlock.“ „Gehst du auch zu dieser Party?“ „Nö“, antwortete Kari einsilbig. Selbst, wenn sie eine Einladung bekommen hätte, würde sie wohl nur über die Leiche ihrer Mutter dort hingehen können. „Tai und Mimi kommen am Wochenende.“ „Das ist schön“, meinte T.K. und klang dabei fast ein bisschen wehmütig. „Ja, ich freue mich auch. Hast du denn Matt mal wieder gesehen?“, fragte Kari neugierig. Vielleicht würde sie jetzt endlich erfahren, was zwischen den beiden vorgefallen war. „Nein“, antwortete T.K. abweisend. „Also als ich das letzte Mal mit Tai gesprochen habe, haben wir uns auch gestritten. Das heißt, ich war ziemlich sauer auf ihn und habe einfach aufgelegt. Das tut mir jetzt echt Leid und das werde ich ihm am Wochenende sagen“, berichtete Kari, woraufhin T.K. sie fragend ansah. „Was ich damit sagen will: Ich frage mich echt, weswegen man sich mit seinem Bruder so streiten kann, dass man so lange nicht mehr miteinander spricht.“ T.K.s Miene verhärtete sich. „Sagen wir es so: Er war nicht da, als meine Mutter und ich ihn am dringendsten gebraucht hätten.“ „Deine Mutter redet auch nicht mehr mit ihm?“, fragte Kari verwundert. „Doch, für sie ist das schon in Ordnung. Für mich allerdings nicht“, antwortete er. Nachdenklich runzelte Kari die Stirn. Matt war nicht da gewesen, als seine Familie ihn gebraucht hatte. Bei was hatten sie ihn wohl gebraucht? War jemand gestorben und Matt war nicht zur Trauerfeier erschienen? Hatte jemand aus der Familie eine neue Niere gebraucht und Matt hatte als einziger in Frage kommender Spender nicht eingewilligt? Hatte er bei irgendetwas helfen sollen? Kari würde es anscheinend nie erfahren. Sie hatten sich beide nicht auf den Weg konzentriert, den sie gegangen waren, und landeten schließlich am Meer, worüber Kari fast schon ein wenig verwundert war. Sie schloss den Augen und genoss den leichten Wind, der ihre Haare flattern ließ. „Weißt du noch, als du hier verloren gegangen bist?“, fragte T.K.leise. „Und du mich wiedergefunden hast? Ja“, antwortete Kari. Sie konnte sich sogar sehr gut erinnern. „Das Meer zieht mich heute noch ständig an, aber jetzt bin ich gern hier.“ „Solange du nicht wieder verschwindest und keiner weiß, wo du bist“, meinte T.K. schief grinsend. Kari boxte ihm leicht gegen den Arm. „Ich glaube, wir sollten langsam mal wieder nach Hause gehen. Sonst machen sich unsere Mütter noch Sorgen.“ Wie sich jedoch kurz darauf herausstellte, waren Karis Bedenken unbegründet. Verwirrt sahen die beiden Mütter sie an, als sie zur Wohnungstür hereinkamen. „Nanu? Wart ihr weg?“, fragte Yuuko. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ein schräges Lächeln hing ihr auf den Lippen. Zwischen den beiden Frauen standen zwei geleerte Weinflaschen. Kari musterte sie skeptisch. „Äh... ja? Ich hab' dir doch Bescheid gesagt?“ „Oh.“ Yuuko kicherte. „Hast du das mitgekriegt, Natsu?“ „Nee“, antwortete Natsuko grinsend. „Ist uns wohl entgangen.“ Sie lachten und T.K. und Kari tauschten einen genervten Blick. „Jedenfalls haben wir gerade über euch gesprochen“, verkündete Natsuko und Yuuko nickte bekräftigend. „Wir finden, ihr solltet heiraten“, sagte Yuuko bestimmt. „Oh Gott“, murmelte Kari und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Schnell drehte sie sich weg, damit keiner mitbekam, dass sie rot anlief. „Was denn?“, fragte Yuuko verständnislos. „Es ist uns wichtig, dass wir uns mit den Familien der Partner unserer Kinder gut verstehen. Daher wäre es doch super, wenn ihr heiraten würdet. Damit würdet ihr uns viel Freude machen.“ „Mhm“, machte Natsuko und nickte eifrig. „Ihr versteht euch gut, das reicht doch.“ Die beiden Frauen lachten und Kari starrte sie für einige Sekunden fassungslos an. Dann drehte sie sich um, sagte „Komm, T.K.“ und marschierte in ihr Zimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)