In Ketten gelegt von Shinoito ================================================================================ Kapitel 8: Kais Aufgabe ----------------------- „Ruki, wieso…“, Kais geschockter Blick glitt an mir hinunter, wobei er immer wieder hängen blieb. Schuldbewusst beobachtete ich währenddessen seine Augen, die sich immer mehr verengten, bis sie schließlich kaum mehr als ein Schlitz waren. Ich kannte meinen Bruder nur zu gut, um zu wissen, was Nächstes folgen würde. „Wie erklärst du dir das?“, fragte Kai in einer strengen, keinen Widerspruch zulassenden Stimme und deutete auf meine Ärmel. Ich folgte seinem Finger und zuckte unmerklich zusammen. Die Ärmel meines einst weißen Hemdes waren blutgefärbt und zerrissen, doch nicht nur dies; selbst meine Hosen waren auf der Ebene der Knie zerstört und verschmutzt. „Ich-“, begann ich zögerlich, während ich auf den Boden starrte, „-Eigentlich will ich deine fadenscheinigen Ausreden gar nicht hören. Sag mir lieber gleich, ob du dich wieder mit ihnen geprügelt hast!“, unterbrach mich Kai kühl. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er die Arme verschränkte. Endlich gelang es mir, meinen Kopf zu heben, sodass ich ihm nun wieder in die Augen sah. „Es stimmt.“, sagte ich leise. „Was stimmt?“ „Ich habe mich wieder mit ihnen geprügelt, aber-“ „Wusste ich es doch!“ „Kai bitte hör mir zu, ich-“, „Nein, du hörst mir zu!“, unterbrach mich mein Bruder erneut, „Die Gründe interessieren mich nicht. Allerdings wird es langsam Zeit, dass du lernst, dich zu beherrschen!“ Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um ihm erneut zu widersprechen, ließ es dann aber gleich sein, als ich seinen Blick bemerkte. Stattdessen nickte ich einfach nur. „Du nickst nur? Was soll das nun heißen?“, herrschte er mich an. Ich wusste, dass er etwas ganz Bestimmtes hören wollte und genau dieses ‚Bestimmte‘ wollte einfach nicht aus meinem Mund kommen. Kai boxte mir kurz aber schmerzhaft in die Schulter, ehe er sich schließlich von mir abwandte und mich mit einem mehr als schlechten Gefühl zurückließ. Wieso konnte er mir nicht einfach einmal zuhören? Wieso wollte er die wahren Gründe nicht hören? In Wirklichkeit hatte ich mich nämlich nur mit den zwei Typen aus meiner Klasse geprügelt, weil sie sich über Kai lustig gemacht hatten und niemand, der schlecht über meinen großen Bruder redete, kam ungestraft davon. Ich seufzte und blickte in den Spiegel, der sich etwas weiter weg von mir befand. Mit meinem momentanen Aussehen konnte ich wirklich keinen Preis mehr gewinnen. Mein einst wasserstoffblondes Haar sah aus, als hätte ich mich im Schmutz gewälzt und die Wunde gleich neben der Lippe, die von einer anderen Schlägerei stammte, war auch noch immer nicht verheilt. Kein Wunder schämte sich Kai für einen Bruder wie mich, der dauernd in irgendwelche Prügeleien verwickelt war, die Finger nicht vom Alk lassen konnte und die Schule öfters wegen Kopfschmerzen und Übelkeit schwänzte. Aber, wenn interessierte es schon, daran konnte man nun wirklich nichts mehr ändern. Ich hatte bereits einmal einen Entzug und irgend so ein seltsames Anti-Aggressions Training gemacht, geholfen hatte aber keines von beiden. „Taka?“ Aus dem Nichts drang plötzlich eine Stimme an mein Ohr. Verwirrt drehte ich meinen Kopf. Ich kannte niemanden, der mich mit dieser Abkürzung rief. Im Allgemeinen war ich unter dem Nicknamen ‚Ruki‘ bekannt, wobei die formalen Erwachsenen es vorzogen, mich ‚Takanori’ zu nennen. Aber keiner hatte mich je Taka genannt. „Taka, bist du da drin?“ Langsam nahm meine Umgebung die Gestalt eines mir nur allzu bekannten Raumes an; Aois Badezimmer. Dementsprechend war es auch nicht schwierig, den Besitzer der Stimme zu erahnen. Ich seufzte, während ich mich mit zusammengekniffenen Augen umsah. So wie es aussah, musste ich erneut eingeschlafen sein, wobei dieses Mal der kleine, runde Teppich vor der Badewanne hatte herhalten müssen. Doch was zur Hölle hatte ich eben gerade geträumt? Der Traum hatte sich so wirklich angefühlt und doch war ich mir sicher, dass ich diese Szene noch nie erlebt hatte. Außerdem hatte ich auch nie Probleme mit Alkohol oder große Auseinandersetzungen mit meinen Klassenkameraden gehabt. Mein Unterbewusstsein musste wohl wieder einmal etwas völlig verrücktes zusammengesponnen haben… „Taka, nun antworte mir doch endlich, ich weiß, dass du da drin bist!“, die Stimme wurde bittender. Erneut drang ein ungewollter Seufzer aus meinen Lippen, ehe ich die Tür mit meinen Augen fixierte, als war sie es, die zu mir sprach. Ich hatte alles andere als das Bedürfnis, jetzt mit ihm zu sprechen. Einerseits spürte ich ihm gegenüber noch immer Schuldgefühle, obwohl ich auch jetzt noch immer keine Erklärung dazu finden konnte, andererseits war ich noch immer verwirrt und irgendwie auch etwas beduselt von meinem seltsamen Traum. „Bitte lass mich in Ruhe, Aoi.“, sagte ich schließlich in einer mir seltsam fremd erscheinenden Stimme. Erschrocken darüber, schloss ich sogleich wieder den Mund, während ich mich mit zitternden Armen und Beinen am Waschbecken hochzog und in den Spiegel blickte. Mein Blick galt sofort den Haaren und schließlich meinem Gesicht, wo ich nach einem Anzeichen von Wunden suchte. Doch weder das eine noch das andere stimmte mit meinem Traum überein. Ungläubig schüttelte ich über mich selber den Kopf. Nun wurde ich wirklich paranoid... Fehlte nur noch, dass ich anfing, mich seltsam zu benehmen. Wobei dies, bezogen auf die Sache mit Uruha, eigentlich bereits der Fall war… oder etwa nicht? Erschrocken darüber riss ich die Augen auf, was mein Spiegelbild mir zur exakten Zeit gleichtat. Konnte es sein dass ich… zwei Persönlichkeiten in mir hatte? Eine disso-irgendetwas Identitätsstörung? Der Gedanke löste auf meiner Haut eine leichte Gänsehaut aus. Die Vorstellung, mich nicht mehr unter Kontrolle zu haben, war ziemlich beunruhigend. Ich konnte mich hingegen nicht erinnern, in letzter Zeit Blackouts gehabt zu haben und auch ein schweres Kindheitstrauma hatte ich nie erlebt. Also fiel diese Möglichkeit auch gleich wieder weg. Wahrscheinlich hatte mich dieser Traum einfach nur aufgewühlt, was nun zu solchen Gedanken führte... „Habe ich irgendetwas Falsches gesagt oder gemacht?“, unterbrach Aoi meinen Gedankenfluss und klang dabei beinahe etwas wie ein hilfloses Kind. „Nein hast du nicht, ich möchte… einfach alleine sein!“, antwortete ich zögerlich und hoffte damit, dass er mich in Ruhe lassen würde. Doch diesen Gefallen wollte er mir nicht tun, denn sogleich wollte er wissen: „Haben dir Kai oder Reita wehgetan?“ Ein leises "Nein" drang aus meinen Lippen, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob es Aoi überhaupt gehört hatte. „Oder… Uruha?“ Das Stichwort ‚Uruha‘ war wie eine Scherbe in meinem Herzen, die es unerbittlich zerschnitt. Es war ja nicht so, dass Uruha mich verletzt hatte, weder körperlich, noch seelisch. Doch das Ganze wühlte in mir die ganze Sache erneut auf und vermischte sich mit dem Heimweh, dem ständigen Druck alles korrekt zu machen und den seltsamen Gefühlen, das noch immer von meinem Traum herrührte. Ich konnte einfach nicht mehr. Langsam ließ mich zurück auf den Teppich sinken und vergrub meinen Kopf in meinen Armen, die ich gekreuzt auf meinen Knien platziert hatte. Heisere Schluchzer drangen aus meinem Mund und schüttelten meinen ganzen Körper. Ich wollte diese Sache nicht mehr tun müssen. Lieber wollte ich sterben, um dadurch von diesem Ort wegzukommen. Aoi hatte inzwischen aufgehört, nach mir zu fragen. Anscheinend hatte er begriffen, dass ich nun einfach alleine sein wollte, worüber ich überaus froh war. Sein tadelnder Blick hätte mir gerade noch gefehlt. Sofort hasste ich mich für den Gedanken. Was war ich doch nur für eine undankbare Heulsuse, die aus einer Mücke einen Elefanten machte und gleich daran dachte, sich das Leben zu nehmen. Aufgeben bedeutete schwach zu sein und indirekt auch, dass ich Uruha gegenüber fügsam werden würde. Doch ich durfte ihn nicht gewinnen lassen, nicht dieses eine Mal. Ich wollte allen zeigen, wie sehr sie mich unterschätzen, zu was ich wirklich taugte. Ich musste die anderen und auch mich hier rausbringen, ehe es zu spät war. Mit diesen Gedanken unterdrückte ich den nächsten Schluchzer, indem ich mir fest auf die Lippe biss. Danach rappelte ich mich zögerlich auf, warf mir im Spiegel ein gespielt aufmunterndes Lächeln zu und entriegelte schließlich die Badezimmertür. Dort fand ich Aoi auf seinem Bett sitzend vor. Sogleich drehte er den Kopf in meine Richtung und sah mich besorgt an. Doch kein einziges Wort verließ sein Mund, als wollte er dem Motto "Das ist nicht dein Business, also stell auch keine Fragen" folgen. „Es…es tut mir leid.“, sagte ich leise zu ihm, um mein aufkeimendes, schlechtes Gefühl zu beruhigen. "Wofür?", Aois Gesichtszüge und auch seine Stimme verrieten mir nicht die geringste Emotion, was mich nur noch mehr verunsicherte. "Ich weiß es nicht...", gestand ich ehrlich und merkte sogleich, wie er sich daraufhin abwandte. Für ihn war das Thema gestorben. Für den restlichen Abend herrschte eine ungemütliche Stille zwischen uns, die keiner zu brechen wagte. Er hatte sich hinter einem dicken Wälzer vergraben, während ich einfach nur da sass und mit dem Finger Formen und Figuren auf die Bettdecke zeichnete. Irgendwann stand er ruckartig auf, murmelte: „Ich muss los.“, ehe er verschwand. Stirnrunzelnd blickte ich zur Tür, dorthin, wo er eben gerade verschwunden war. Auch während dem Abendessen fehlte jede Spur von ihm, sodass ich alleine mit Reita und Kai am Tisch sass. Ersterer war erstaunlich still und auch seine Sprüche, die er ansonsten bei jeder Gelegenheit brachte, blieben heute aus. Stattdessen stocherte er lustlos in den Spaghetti, ohne seinen Blick auch nur einmal zu heben. Kai währenddessen starrte düster vor sich hin und rührte sein Essen nicht einmal an. Ironischerweise passte das Wetter nur zu gut zu dieser seltsamen Stimmung. Dunkle Wolken hatten sich vor die Abendsonne geschoben, Regen prasselte an die dicken Fensterscheiben. Plötzlich stand Kai auf, sodass sein Stuhl nach hinten fiel und verließ die Küche in großen Schritten. Mit offenem Mund sah ich ihm nach, ehe ich meinen Kopf zu Reita drehte, welcher jedoch nicht einmal aufgeschaut hatte. „Sag mal-“, begann ich, brach allerdings ab, da mir sogleich klar wurde, dass ich auch auf diese Frage niemals eine Antwort bekommen würde. Was zur Hölle war heute eigentlich mit allen los? Erst benahm sich Uruha seltsam freundlich und zuvorkommend, dann verschwand Aoi und kam nicht einmal zum Abendessen, was nebenbei bemerkt überhaupt nicht zu ihm passte, und auch Kai und Reita hatten miesere Laune denn je. Ich schnaubte frustriert. Warum konnte man mich nicht einfach dieses eine verdammte Mal aufklären? Ich kam mir wie der hinterletzte Idiot vor, der überhaupt keine Ahnung von dieser Welt hier hatte. Wahrscheinlich machten sich die anderen schon lange einen Spaß daraus... Keine fünf Minuten später nach Kais Verschwinden, stand auch Reita auf und ließ mich somit alleine. So wie es aussah, durfte ich den Abwasch also wieder einmal ganz alleine machen. Ich hatte inzwischen recht gut begriffen, dass man den Tisch bestenfalls als erster verließ, um der lästigen Aufgabe zu entkommen. Jedenfalls benutzten Reita und Kai diese Taktik liebend gerne. Aoi und ich hingegen mochten diesen Stress weniger und zogen die Mahlzeit damit oftmals ziemlich in die Länge. Apropos Aoi, ich konnte mir einfach nicht erklären, weshalb er nicht gekommen war. Er arbeitete doch nie um diese Zeit, jedenfalls nicht ohne mir wenigstens Bescheid zu geben. Nachdem ich die Küche einigermaßen sauber aufgeräumt hatte, machte ich mich wieder auf den Weg zurück zu Aois Zimmer. Irgendwoher konnte ich Kai und Reitas wütende Stimmen hören. Wahrscheinlich stritten sie sich wieder einmal, beeindrucken tat es mich schon lange nicht mehr. Doch als mein Name fiel, blieb ich schlagartig stehen. Sie mussten sich gleich um die Ecke befinden, nur wenige Schritte von mir entfernt. „Verdammt, Kai! Ich verstehe ja, dass du dies nicht machen willst, aber er ist dein Bruder!“, sagte Reita gerade, seine Stimme klang nun leise und etwas bedrohlich. „Denkst du, das weiß ich nicht? Wieso will Uruha eigentlich, dass wir es ihm sagen?“, antwortete Kai, seine Stimme hatte dabei einen ähnlichen Tonfall. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Was wollte Uruha mir sagen lassen? Wollte er, dass ich nun endlich mehr über diese Arbeit hier erfuhr? "Woher soll ich das wissen? Uruha erzählt dir doch immer alles." "Alles? Beim besten Willenn nicht. Wieso kann Aoi das eigentlich nicht übernehmen? „Aoi? Bist du verrückt?“ Reita lachte sarkastisch. „Hast du nicht bemerkt, wie sehr Takanori an ihm hängt? Das wird ihm vollends den Boden unter den Füssen wegziehen!“ „Dann tu du es doch. Ich bin sein Bruder, an mir hängt er auch.“ „Tut er nicht. So, wie du ihn behandelst, wird er dich wohl kaum mögen.“ „Ich werde es aber nicht tun. Denkst du, mich schmerzt es nicht? Denkst du, ich sei ein emotionsloses Wrack?“, Kais Stimme war lauter und hitziger geworden. Ich hingegen wurde immer nervöser und zappeliger. Worüber redeten die beiden eigentlich? Und wieso war es Kais Sache, mit mir darüber zu reden? „Natürlich nicht, auch wenn du selten irgendwelche Emotionen zeigst.“, sagte Reita und erhielt damit wieder meine volle Aufmerksamkeit, „Das kommt von-“, begann Kai, wurde aber sogleich unterbrochen: „Weiß ich doch.“ „Gut. Wenn du mich fragst, überlassen wir trotzdem Aoi die Sache. Er hat von Uruha den Auftrag erhalten, also wird er ihn auch zu Ende führen und dazu gehört nun mal auch, Ruki zu informieren.“ Das Wort „Ruki“ schlug in mir ein wie ein Blitz. Kai hatte mich eben genauso genannt, wie er es auch in meinem Traum genannt hatte. Also musste er doch mehr bedeuten, als ich gedacht hatte.. „Ruki?“, fragte Reita nach und klang dabei sichtlich verwirrt. „Ich meine Takanori.“ „Ah ja? Hör mal Kai, du weißt, dass Aoi nicht die Schuld dafür trägt. Er muss es auf-“ „-Uruhas Befehl tun, ich weiß. Aber Uruhas Anordnung war es auch, dass er Takanori informieren muss.“ „Das ist mir durchaus bewusst. Nur verschlimmert das die Situation noch viel mehr. Bitte tu du es, Aoi und auch mir zu liebe!“ Ich hörte, wie eine kurze Pause entstand, ehe Kai brummte: „Na schön!“ Gerade noch konnte ich mich in die allgemeine Toilette verdrücken, als kurze Zeit später auch schon Kai an mir vorbeirauschte. Mein Herz pochte noch immer wie wild, obwohl ich nicht mehr als Bahnhof verstanden hatte. Alles was ich wusste war, dass Kai mir bald etwas wohl eher Schlimmes ausrichten würde, woran Aoi und Uruha nicht unschuldig waren... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)