Rotorange von FreeWolf (Drittes Fenster von links, fünfter Stock | Wichteln für Krylow) ================================================================================ Kapitel 1: Voyeurismus ---------------------- Leise Schritte auf dem Asphalt hallten in den Häuserfluchten der Straße wieder. Sie vermischten sich mit dem leisen Zwitschern der Vögel, welche den kaum angebrochenen Tag Willkommen hießen, und drangen durch das geöffnete Fenster in den weißen Raum. Der Körper unter den weißen Laken regte sich nur langsam, vorsichtig, als könne er sich selbst zerbrechen, wenn er sich zu solch früher Morgenstunde zu hastig bewegte und die Ruhe störte. Er drehte sich um, um einen kühlen Fleck in den Laken des schmalen Betts zu finden, legte seine Wange auf die kühle Fläche, welche sich überhitzt anfühlte. Sein Schlaf war unruhig gewesen, die Träume wirr und vergessen, kaum war er aus den Tiefen des Unterbewussten aufgetaucht. Der frühe Tag war noch nicht einmal angebrochen, doch der Klang der Schritte, welcher leise zu ihm heraufdrang, trieb den Schlafenden aus den Laken und auf den kühlen Fließenboden des Zimmers. Er fröstelte, schlüpfte in eine Jeans und ein weißes Oberteil, ohne sich großartig um sein Aussehen zu kümmern. Der junge Mann ließ sich von den Schritten treiben, hinaus aus der Wohnung, über Treppen und Treppen hinaus aufs Dach. Er lehnte sich übers Geländer, um den winzigen Menschen zu beobachten, wie er sich zwischen den Stämmen der Kastanien, welche die Allee säumten, immer weiter fortbewegte. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand, blinzelte in der Dunkelheit, welche alles verschwommen machte. Aus seiner Hemdtasche fischte er sich eine Zigarette, deren Spitze sich kurz darauf im Halbdunkel rundum glühend abhob, und inhaltierte tief. Er blies den weißen Rauch zu den hellen Wolken über der Stadt, welche zeilleos über den Himmel trieben. Eine orangerote Strähne wehte ihm ins Gesicht, und er strich sie fahrig zurück in den verwuschelten Haarschopf, während er sich ans Geländer lehnte, sich wie zufällig darüberbeugte, um seinen Läufer zu betrachten, wie er an der Tür zum Haus gegenüber ankam und eintrat. Brooklyn inhalierte nochmals tief, blies den Rauch durch die Nase aus den Lungen – eine Angewohnheit, für die es keine wirkliche Begründung gab – und wartete. Es war nur eine Frage von Minuten, bis sein Läufer den fünften Stock erreicht hatte, und im dritten Fenster von links als Schatten im Schatten erscheinen würde, welcher nur mehr oder weniger sichtbar wurde, trat er ans Fenster. Sein Läufer knipste das Licht niemals an, wenn er vom Laufen kam. Er schien sich bestens in den vier Wänden seines Zimmers zurechtzufinden, und schien nicht zu wissen, dass er ihn sah. Ansonsten würde er wohl kaum dermaßen freizügig mit seinen Vorhängen umgehen. Brooklyn beobachtete, und hoffte, sein Läufer möge seiner nicht gewahr werden. Er hatte immer nur beobachtet, und sich das Leben von der Seitenlinie aus angesehen, während alle rund um ihn herum ihren Träumen nachjagten. Er hatte die Träume einst zu fangen versucht, unwillkürlich als wären sie reale Dinge, welche man fassen konnte, und hatte sie für sich vereinnahmen wollen. Doch Träume waren sehr scheu, und kaum zu locken. Ein kleiner Vogel ließ sich auf dem Geländer der Dachterrasse nieder, blickte ihn mit schief gelegtem Kopf an. Der junge Mann imitierte die Geste, sein orange-roter Schopf neigte sich zur Seite, ein leises Lächeln auf den Lippen. „Guten Morgen, mein Kleiner. Hast du dich verirrt?“, sprach er das Vögelchen an, welches mit einem kurzen Flattern furchtlos auf seine Hand sprang und sich dort kurz niederließ. Brooklyn fiel der Umgang mit Tieren leicht – sie schienen ihn auf Anhieb zu verstehen, und waren auf Ahnhieb zutraulich. Er lächelte. Es war sein kleines, unbedeutendes Talent. Sein Blick schweifte gewohnheitsmäßig in Richtung des dritten Fensters von links, fünfter Stock. Er erstarrte. Sein Läufer war in seinem Zimmer, und seine helle Haut zeichnete sich scharf vor dem Halbdunkel des Raums ab. Alles, was Brooklyn erkennen konnte, war bleiche Haut und das vage Spiel von Muskeln unter derselben, während die Erscheinung – so kam ihm sein Läufer gerade zumindest vor – sich nach vorne beugte. Und dann war keine Kleidung mehr an ihm. Brooklyns Mund war leicht geöffnet, und die Zigarette zwischen seinen Fingern fiel ihm beinah aus der Hand. Dann wandte sein Läufer sich um, und Brooklyn erhaschte einen Blick auf Schatten von Muskeln und dunkles Haar auf weißer Haut, und- Er wandte seinen Blick hastig in einer Mischung aus Scham und Erregung ab, streichelte dem Vögelchen, welches still auf seiner Hand saß, vorsichtig über den gefiederten Schopf, um an etwas Anderes zu denken. Der kleine Vogel stieß einen leisen Laut aus, als hätte er seine Gemütsregungen bemerkt, und flog auf. Brooklyn sah ihm nach, während er über das Dach hinweg flatterte, fühlte erste Strahlen der Sonne hinter sich, welche sein orange-rotes Haar in Flammen verwandelte. Der junge Mann schüttelte den Kopf und wandte sich mit einem letzten Blick auf das Fenster ab. Sein Läufer war verschwunden, eine Ahnung von der langen Gestalt noch im Raum. Er war eine Erscheinung, dachte Brooklyn und hob den Kopf, starrte in den Himmel, während er seine Zigarette Zug um Zug verkleinerte. Er verharrte – dabei war sich Brooklyn selbst nicht so richtig sicher, ob er wartete oder einfach nur den Morgen beobachten wollte, wie er die Stadt langsam aufweckte. Er blies gerade den letzten Zug des Glimmstängels in die Luft und schnippte den Stummel über das Geländer hinweg in die Regenrinne, da riskierte er nochmals einen Blick zum dritten Fenster von links, fünfter Stock. Sein Läufer – er nannte ihn so, seit er ihn zum ersten Mal Anfang des Semesters beobachtet hatte, nachdem er eine Nacht an einer Übersetzung gesessen war und den Morgen auf dem Dach hatte ausklingen lassen – war inzwischen wieder ins Zimmer getorkelt, nackt als wäre er alleine im Paradiesgarten, und Brooklyn lehnte sich leicht nach hinten, den Blick verschämt abgewandt. Sein Läufer war eine Erscheinung – und sein Schamgefühl war doch noch intakt. Auch wenn er sich manchmal dafür verfluchte. Er war ein Voyeur – Brooklyn war sich dieses Umstands peinlich bewusst – und sein Opfer sein Läufer, dessen Namen er nicht kannte. Es wäre so einfach gewesen, die Straße zu überqueren, das Klingelschild abzusuchen, und – vielleicht nicht beim ersten, aber vielleicht beim zehnten, vielleicht beim hundertsten Mal – die entsprechende Klingel zu drücken. Doch nicht heute, und genausowenig morgen. ~ Der Tag war noch zu jung, um die Menschen in Bewegung zu versetzen: es war noch zu früh, um die Straßen mit Autos zu füllen – sie waren wie leer gefegt, und noch klammerte sich der Nebel des anbrechenden Morgens an die breiten Betonplatten des Bürgersteigs, den klammen Asphalt der Fahrbahn, den Tau auf den Bäumen der Allee. Die Sonne war noch schwach, doch es war nur mehr eine Frage Zeit, bis der Nebel vollkommen verschwunden sein würde. Es war menschenstill; die Bäcker der Straßen arbeiteten schon oder hatten ihren Morgen gerade begonnen, Berufstätige und Studenten ruhten noch in ihren Betten, oder hatten sich gerade hingelegt, um dringend benötigte Ruhe zu finden. Es war noch zu früh für wirklichen Verkehr. Diese war die Stunde der Vögel, welche munter zwitscherten und den Morgen einleiteten, welcher noch im Grauen begriffen war. Dies war seine Zeit – gerade der Moment, wenn es hell genug war, sodass die Lampen auf dem Weg ausgeschaltet wurden, der Himmel jedoch noch dunkel war. In solchen Momenten fühlte er sich wie in einer Zwischenwelt, weder Tag, noch Nacht, sondern irgendetwas dazwischen. Manchmal fragte er sich, ob er seine Läufe nicht vielleicht träumte – es war unwirklich, in einer der bevökerungsdichtesten Gegenden so vollkommen alleingelassen sein zu können. Momente wie diese waren ihm die liebsten, denn er war alleine auf der Welt,auch wenn die Welt sich bloß vor seinem amnethystfarbenen Auge verbarg. Es gab nichts außer ihm und dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren, der kalten Luft prickelnd auf seiner verschwitzten Haut und dem regelmäßigen Tapp-Tapp-Tapp seiner Schritte auf den breiten Betonplatten des Bürgersteigs. Der Schrei eines Kindes ertönte von irgendwoher – in der klaren, kühlen Luft schien es von überallher zu kommen – und die Erinnerung daran, dass die Welt sich bloß versteckte, war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Der Laut seiner Schritte auf dem kalten Beton klang ihm urplötzlich unproportional laut in den Ohren, und sein Atem rasselte in seinen Lungen, selbst das leise Rascheln seiner Kldigung schien zu laut. Nun wurde ihm auch bewusst, wie nahe seine Wohnung. Wenige Meter später schloss er die übermäßig gesichtere Tür des Wohnhauses auf, und trabte locker die Treppen nach oben. Der Lauf lockerte jede Verspannung, welche ihm sein Leben bescherte. So machte ihm selbst der Trab in den fünften Stock nichts aus. Kai fühlte die bleierne Müdigkeit, welche an seinen Muskeln und Sehnen nagte, erst als er die Haustür leise hinter sich schloss und den Riegel wieder vorschob. Sein Mitbewohner arbeitete im Moment an einer Arbeit, deren Note die Endbewertung des Rotschopfes entscheidend beeinflusste, darum mühte er sich momentan durchgehend ab. Kai hatte Yuriy in den letzten Tagen erst zu Bett gehen hören als er zu seinem morgendlichen Lauf aufgebrochen war. Der junge Halbrusse verbiss sich ein Gähnen, und sein Gesicht im Flurspiegel zog ihm eine Grimasse, während er sich selbst verschwommen anblinzelte. Seine Augenringe sprachen wohl für sich, dachte er und verzog das Gesicht abermals, während er sich seiner Laufschuhe entledigte. Sein Zimmer war die erste Tür links, und er fröstelte leicht als er in den Raum trat. Es war wohl noch etwas zu früh, um das Fenster dermaßen weit aufzureißen, denn kaum hatte er sich seiner Socken entledigt – sie landeten irgendwo in ungefährer Richtung seines Wäschehaufens – fröstelte er beim Erstkontakt mit den ausgekühlten Holzpanelen des Parkettbodens. Als nächstes war sein T-Shirt an der Reihe. Kai zog es sich über den Kopf, schnupperte kurz daran und warf es auf besagten Wäschehaufen, der schon bedenkliche Höhe erreicht hatte. Er würde der Waschküche im Keller wohl in naher Zukunft einen Besuch abstatten müssen, wenn er frische Hemden haben wollte, überlegte er und streifte das letzte Kleidungsstück – seine Shorts – ab. Sie blieben – schlampig, wie Kai eben beizeiten sein konnte, besonders was sein Zimmer anging – auf dem Boden liegen, ein kleiner Haufen dunkler Stoff neben dem schwarzen Teppich. Kai gähnte, diesmal ausgiebig, und streckte sich, um die letzte Verspannung in seinen Schultern zu lösen. Es knackste, und er wandte sich dem Fenster zu. Er blieb einen Moment lang am offenen Fenster stehen, blickte zum Haus gegenüber. Das Fenster seinem gegenüber war offen, doch der weiße Raum, in welchem Rotorange sich normalerweise aufhielt, war leer. Sein Blick wanderte nach oben, zur Dachterrasse zwei Stockwerke darüber, und er hätte die Gestalt, welche am Geländer zu lehnen schien, beinah im morgendlichen Halbdunkel übersehen. Ein Vogelflog auf, und Kai kniff die Augen zusammen. War das Orangerot? Kai wusste noch nicht einmal, ob es tatsächlich ein Mensch sein konnte, von welchem die Rauchkringel aufstiegen, hinauf zu den Wolkenschlössern im Himmel als kommuniziere er mit Träumen. Der Halbrusse blickte noch einen Moment lang gedankenverloren hinauf zur Dachterrasse, fing sich jedoch schnell wieder und schüttelte den Kopf. „Dusche, dann Bett“, bestimmte er mit belegter, beinah tonloser Stimme und sehnsüchtigem Blick in Richtung der zerwühlten Laken, aus welchen er vor einer knappen Stunde hervorgekrochen war. Wenige Minuten später torkelte er schlaftrunken zurück ins Zimmer, provisorisch mit dem Handtuch abgerubbelt und so noch klammfeucht vom warmen Wasser. Die heiße Dusche hatte seine Müdigkeit nur verstärkt, und er stolperte mehr als dass er schritt in vage Richtung seines Bettes und ließ sich – nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte – auf die grauen Laken fallen. Er wickelte sich, sich halb der aktuellen Zimmertemperatur bewusst, ein, um sich nicht zu erkälten, und rollte sich zusammen, den Kopf ins Kissen geschmiegt. Der Blick des einen Auges, welches er noch offen halten konnte, wanderte nochmals kurz zum Leuchtfeuer aus Rotorange auf der Dachterrasse gegenüber, von der Wolkenkringel aufstiegen. Er hob seinen Kopf leicht an, betrachtete fasziniert das Schauspiel, wie die ersten Sonnenstrahlen, welche ihren Weg über das gegenüberliegende Dach fanden, das rotorangene Haar der Gestalt zum Leuchten brachten. Kai war eigentlich ein rationaler Mensch. Er glaubte nicht daran, dass Rauchzeichen mitten in einer Stadt voller Telefone noch gebraucht wurden. Er glaubte nicht an Luftschlösser oder Träume oder dergleichen, und er hatte sich jeden Schritt auf der langen Leiter seines Weges zur Selbstständigkeit hart erarbeitet. Er stand mit beiden Füßen auf dem Boden, war sich bewusst, dass er schnell und tief fallen konnte, wenn er Pech hatte. Doch gerade schien es ihm nicht einmal derart unmöglich, dass dort oben ein Traum mit den Luftschlössern über ihnen komunizierte. Kai schüttelte den Kopf, bettete sich zurück aufs Kissen und schloss die Augen, während vor seinem Fenster ein Windhauch leise pfeifend vorüberstrich. Seine schwerfälligen Gedanken machten den Kopf leichter, und wie durch einen dichten Nebel hindurch wunderte sich Kai noch im Einschlafen, ob er vielleicht nicht bereits schlief. Vielleicht war er ja in der Badewanne, die sie auch als Dusche benutzten, eingeschlafen und weichte nun fröhlich vor sich hin. Ob Yuriy ihn wohl vor übermorgen finden würde, so selten, wie er das Bad momentan aufsuchte? Als Kai Stunden später, geweckt durch frenetisches Klingeln, auf das Yuriy wieder nicht reagierte, einen Blick in Richtung der Dachterrasse riskierte, war nichts mehr von der leuchtend Rotorange-Erscheinung zu sehen. Kai schüttelte den Kopf und streifte sich eine seiner langen Sporthosen über, während er sich gemächlich in Richtung Flur aufmachte. Er drückte auf den Türsummer für Mariam, welche Yuriy davon abhielt, sich während der letzten Phase seines Schreibvorgangs nur mehr von Aprikosenjoghurts zu enähren. Er bahnte sich einen Weg durch den mit Sitzmöbeln vollgestellten Wohnbereich, um in die Küchenecke zu gelangen, bevor die junge Frau ihre Küche in Beschlag nahm. Kai massierte sich die Schläfen, verfluchte den Kopfschmerz und grummelte tonlos vor sich hin. Er füllte eine Tasse mit kaltem Kaffee, presste Zitrone darüber aus und lehnte seinen Kopf ans kühle Küchenfenster. Der Silberhaarige trank einen Schluck, verzog das Gesicht. Das Gebräu wurde auch nicht besser. Unten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, machte sich gerade ein rotoranger Haarschopf auf den Weg, wohin auch immer er gerade ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)