Feigning Sane von Votani (Justified) ================================================================================ Kapitel 1: - 1 - ---------------- Die Telefone läuteten ununterbrochen und panische Stimmen durchzogen die Luft, während Raylan Sirenen in der Ferne vernehmen konnte. Von dem sonst eher entspannt angehauchtem Arbeitsklima des Lexington US Marshal Field Office war nichts mehr übrig – und wenn Raylan ehrlich sein sollte, so empfand er das als glatt ein wenig irritierend, als er im Eingang des Büros stehen blieb. Die Glastür fiel hinter ihm zu, als er langsam in die Richtung seines Schreibtisches schlenderte. Dabei schob er seinen beigen Cowboyhut ein Stückchen nach hinten, um einen besseren Blick auf die umherlaufenden Leute zu haben, die Mehrzahl davon ihm unbekannt. „Hab’ ich schon wieder den Geburtstag von irgendjemandem vergessen?“, fragte er, als er Tim erreichte. „Oder was geht hier vor?“ Sein Kollege saß an dem Schreibtisch, der sich direkt neben dem Raylans befand, und schenkte ihm einen ausdruckslosen Blick, den Telefonhörer ans Ohr gepresst. Er trug ein blaugraues Hemd, von dem er die Ärmel hochgeschoben hatte und seine dunkelblonden Haare waren nach hinten gegelt. Kurzzeitig bedeckte der junge Mann den Lautsprecher mit der freien Hand und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Du meinst abgesehen von Grabschänderein auf allen Friedhöfen in der Umgebung?“ Zeitgleich begann Tim in dem kleinen Notizblock vor ihm auf dem Tisch zu blättern. „Dreizehn gemeldete Fälle von Körperverletzung, neun Todesfälle, einige Vermisstenanzeigen, Kannibalismus – die örtliche Polizei ist überfordert, weshalb wir mit eingeschaltet worden sind. Hast du nicht die ganzen Gläubigen mit ihren Schildchen auf der Straße gesehen? Sie munkeln, dass die Toten wieder auferstanden sind und jetzt ihre Rache an allen Sündern in Kentucky nehmen. Wenn du mich fragst, haben sie damit eine Weile zu tun.“ All das sagte Tim Gutterson mit der üblichen ausstrahlenden Gelassenheit und zuckte mit den Schultern. „Wenn Art davor mal so ausgesehen hat, als würde er einen Herzinfarkt bekommen, dann ist es diesmal wohl unvermeidlich.“ Tim nahm die Hand von dem Lautsprecher. „Ja, ich bin noch dran, M’am.“ „Meine Güte“, murmelte Raylan, als er sich von dem anderen Deputy Marshal abwandte. „Und es ist noch nicht mal zehn Uhr.“ Seine Aktentasche warf er nonchalant auf seinen Bürostuhl, bevor er zu Arts Büro herüberschlenderte und dort am Türrahmen lehnte. Ähnlich wie sein Kollege war auch sein Chef am Telefon, sich mit den Fingern entnervt die Schläfen massierend. „Sie können mir glauben, dass meine Leute tun, was sie können. Das Zerteilen haben sie nur – verdammt noch mal – noch nicht gelernt.“ Mit diesen harschen Worten knallte der grauhaarige Chief Deputy den Hörer auf die Gabel und haute mit der flachen Hand auf die Tischplatte und die darauf verstreuten Akten. „Schlechter Tag, huh?“, ließ Raylan verlauten, um Art über seine Anwesenheit zu informieren. Sein Chef warf ihm einen finsteren Blick zu und rückte die blaue Krawatte zurecht, die sich mit dem rotkarierten Hemd biss. „Weißt du, Raylan...“, sagte er langsam und bedacht, doch Raylan kannte ihn lange genug, um die Wut dahinter zu erkennen. „Es gibt Tage, da sollte man sich schlaue Sprüche sparen. Und ich sag’ dir gleich, mein Lieber, dass heute einer davon ist.“ Damit erhob er sich mit einem Ächzen aus seinem Stuhl und umrundete den massiven Schreibtisch. Raylan hob entschuldigend die Hände, als Art sich an ihm vorbeischob und er ihm zurück zu Tims Platz zu folgen begann. „Rachel habe ich bereits losgeschickt, da einige Idioten der Meinung gewesen waren, sich in einem Supermarkt zu verbarrikadieren“, erklärte Art und stemmte die Hände in die Hüften, während sein skeptischer Blick zwischen dem vor ihm sitzenden Tim und Raylan hin und her wanderte. Beinahe so, als müsste er sich seine nächsten Worte stark überlegen. „Raylan, du und Tim seht euch auf dem Friedhof um. Ich will ganz genau wissen, was da draußen vor sich geht. Auf die Medien ist da kein Verlass. Bei denen geht schon wieder die Welt unter – wie bereits letzten November. Oder war das Oktober?“ „Dezember. 21. Dezember, um genau zu sein“, warf Tim ein, der aufstand und seine dunkelblaue Jacke von der Stuhllehne nahm, um sie sich überzustreifen. Sein Marshalabzeichen trug er wie gewohnt an seinem Gürtel, ebenso wie die schwarze Glock. Art runzelte die Stirn. „Wie auch immer. Kommt einfach mit etwas Handfestem wieder, damit wir diesem Unsinn ein Ende setzen und nachher in Ruhe unser Lunch machen können.“ Er warf seinen Deputys einen vielsagenden Blick zu, bevor er in sein Büro zurückkehrte und dort die Tür mit einem Krachen hinter sich ins Schloss warf. Für einen Moment verstummte daraufhin selbst das Stimmengewirr der restlichen Anwesenden. Raylan deutete mit dem Daumen über seine Schulter zurück, als er mit Tim die Glastüren ansteuerte, die sie zu den Fahrstühlen brachte. „Wer sind all die Leute?“ Abermals zuckten Tims Schultern in einer wegwerfenden Bewegung. „Journalisten, Zivilisten... Ganz ehrlich, irgendwann habe ich den Überblick verloren.“ ● Auf den Straßen von Lexington herrschte Chaos. Raylan hatte bereits bei seiner Hinfahrt zum Büro einen Unterschied festgestellt, doch da hatte seine Aufmerksamkeit viel eher seinem Kaffeebecher gegolten. Abgesehen davon, wusste er aus eigener Erfahrung, dass Lexington und seine Umgebung grundsätzlich aus bizarren Gestalten bestand, die in neunundneunzig Prozent der Fälle irgendwelchen Dreck am Stecken hatten. Da sah Raylan selten zweimal aus dem Fenster, wenn einer von ihnen mit einem Pappschild vor seinem Wagen herumtänzelte, auf dem irgendetwas mit Jesus hingekritzelt worden war. Nein, dagegen war er inzwischen mehr als nur immun. Erst jetzt sah er sich genauer um, als sie an der roten Ampel zum Stehen kamen. Die Straßen waren mit Autos verstopft, viele davon mit überquälendem Dach oder Kofferraum. Allgemein lag das Geräusch von Autohupen in der Luft, während Menschen mit gehetzten Schritten über die Bürgersteige marschierten, während wieder andere sie skeptisch dabei beobachteten. Es war nicht schwer, die von dieser Katastrophe - oder wie man es auch nennen wollte – Überzeugten von den nicht Überzeugten zu unterscheiden. „Wahrscheinlich ist das alles nur ein schlechter Halloweenscherz“, entrann es Raylan, als die Ampel auf Grün schaltete und er den Wagen anfuhr. Neben ihm auf dem Beifahrersitz ließ Tim das Fenster herunter und hob eine Augenbraue. „Wir haben April.“ Diesmal war es an Raylan mit den Schultern zu zucken. „Dann eben ein Aprilscherz.“ Zeitgleich bog er auf eine Seitenstraße ab, die weniger bevölkert war. Der Friedhof befand sich am Stadtrand und somit nur wenige Minuten entfernt. Im Gegensatz zum Herz von Lexington war es hier ruhiger, fast schon verlassen. Raylan parkte den Wagen und schaltete den Motor aus, während beide Männer auf die mit Grabsteinen gesäumte Wiese hinausblickten, die sich vor ihnen unter der Morgensonne erstreckte. Es wirkte friedlich – wäre da nicht überall die aufgewühlte Erde gewesen, die bereits aus der Entfernung sichtbar war. „Da scheint sich jemand ordentlich Mühe gegeben zu haben“, sagte Tim, als sie gemeinsam durch das Tor im Zaun traten und zwischen den Löchern im Boden hindurchschlenderten. Sie beide hatten eine Hand in der Nähe ihrer Pistolen, die noch immer in den Halterungen an ihren Hüften steckten. Vor einer Stelle des aufgerissenen Bodens blieben sie stehen. „Vielleicht Boyd“, erwiderte Raylan und mit der freien Hand glättete er sein offenes Jackett, welches sich unter der leichten Brise bewegte. Tims Fuß schob die aufgewühlte Erde hin und her, ehe er den Blick umherwandern ließ. „Ich dachte, ihr habt zusammen in der Mine gearbeitet und keine Gräber ausgebuddelt.“ „Tja... manche Leute können eben immer tiefer sinken.“ Wirklich vorstellen, dass Boyd Crowder dafür verantwortlich war, konnte Raylan es sich jedoch beim besten Willen nicht. Sicherlich hatte dieser in der Vergangenheit kein Problem damit gehabt, sich dreckig zu machen, doch Grabräuberei brachte nicht den nötigen Profit. Raylans Augen richteten sich wieder auf das Loch vor seinen Füßen. Es war nicht mit einem Spaten gegraben worden, dafür war es zu unsauber und in sich eingefallen. In die Hocke gehend besah er sich die Fingerspuren, die sich durch die Erde zogen. Wenn Raylan viel Fantasie aufbrachte, wirkte es so, als habe sich jemand versucht festzuhalten oder gar herauszuziehen. „Raylan“, holte Tims Stimme ihn in das Hier und Jetzt zurück. Als er zu diesem aufsah, deutete Tim mit einem Kopfnicken hinter sich, die Finger etwas fester um den Griff der Glock geschlossen. Raylan richtete sich auf, ehe er herumfuhr und sein Blick an dem Mann hängen blieb, der zwischen den Büschen hervortrat. Er trug eine stellenweise kaputte Latzhose, die mit Dreck besudelt war, doch er war zu weit weg, um mehr erkennen zu können. „Der erste Tatverdächtige...“, entwich es Raylan mit gehobenen Mundwinkeln und er setzte sich in Bewegung, um sich dem Fremden anzunähern. „Und Art hat sich schon um sein Mittagessen Sorgen gemacht.“ „Bist du sicher, dass er in die Kategorie eines Tatverdächtigen fällt?“ Obwohl Tims Stimme noch immer gelassen klang, meinte Raylan einen ernsteren Unterton heraushören zu können, weshalb er seinem Kollegen einen Seitenblick schenkte. „Für mich sieht der Kerl eher wie eines der Opfer aus“, fuhr Tim fort, als ihr Gegenüber mit schleifenden, abgehackten Bewegungen auf sie zukam. Auch die röchelnde Atmung war auf dem ruhigen Friedhof hörbar. Sie hörte sich an wie der erste Wagen, den sich Raylan damals hatte leisten können. Wie alt war er da gewesen? Siebzehn? Natürlich hatte er das Geld mit einigen Nebenjobs erarbeiten müssen, weil Arlo mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war. Aber wann war sein Vater mal nicht in irgendwelche kleinen Kriminaltaten verwickelt gewesen? Das war etwas, was sich bis zu seinem Ableben nicht geändert hatte. Der Anblick, der sich ihnen bot, als der Fremde näher kam, verdrängte jedoch den Gedanken an seinen alten Herren. Raylan formte die Augen zu Schlitzen, obwohl der Cowboyhut auf seinem Kopf ihn vor der Sonne schützte. „Was zum...“, begann er, brach jedoch ab, als er in seinem Schritt innehielt. Tim tat es ihm gleich. Sein Blick war ebenfalls weiterhin auf den auf sie zuhinkenden Mann gerichtet und eine tiefe Falte grub sich zwischen seine Augenbrauen. Die Haut des Mannes war teilweise abgefressen, Fetzen hingen herunter, einer davon von seiner Wange und somit unter einem seiner milchigen Augen. Sein schwarzes Haar war stumpf und herausgefallen, so dass sein Schädel an mehreren Stellen sichtbar war. „Das ist nah genug, Mister“, warnte Raylan, doch sein Gegenüber schien sich daran nicht zu stören. Stattdessen setzte er seinen Weg fort, setzte einen wackligen Fuß vor den anderen, wankend und strauchelnd, die Arme nach Tim und ihm ausstreckend. Er röchelte und keuchte als wäre er am Ersticken. Fünf Meter wurden zu vier, zu drei – und Raylan zog mit gewohnter Schnelligkeit seine Pistole hervor. Der Schuss hallte über den verlassenen Friedhof, scheuchte einige Vögel aus den Bäumen auf, doch der Mann stolperte nur einen Schritt rückwärts, bevor er sich weiter annährte. Anstatt abermals auf das Bein des Mannes zu zielen, hinterließ die nächste Kugel ein rundes Loch auf seiner Stirn. Er klappte in sich zusammen, Blut und Gehirnmasse über den Rasen verstreut. Eine unangenehme Stille folgte, als Raylan die Hand mit der Waffe sinken ließ. „Was ist gerade passiert?“, platzte es schließlich aus ihm heraus und er sah irritiert zu Tim herüber. „Du hast mal wieder jemanden erschossen“, beantwortete dieser überflüssigerweise. Dabei vermochte Raylan nicht zu sagen, ob er es als beunruhigend oder nicht empfand, dass sein Gegenüber noch immer einen passiven Ausdruck auf dem Gesicht trug. Konnte diesen Mann überhaupt etwas aus der Ruhe bringen? Oder trieben sie das einem im Militär gleich vollkommen aus? Manchmal kam es Raylan so vor. Zwar verlor er selten die Nerven, doch Tim hatte er bisher nicht ein einziges Mal auch nur überrascht erlebt. „Und diesmal scheint es sogar gerechtfertigt zu sein“, fügte Tim derweil hinzu, als würde er sich für den bürokratischen Papierkram interessieren, der hierauf folgen würde. Doch Raylan trat nur näher an den Toten heran und musterte ihn. Wie frisch von ihnen gegangen wirkte er nicht, viel eher so, als sei er schon ein paar Jährchen tot. „Wieder auferstandene Tote?“, fragte Raylan. Tim sah auf. „Oder ein ziemlich gut ausgearbeiteter Aprilscherz. Lass uns ihn ins Auto laden. Art wird ihn sehen wollen.“ „Du meinst wohl in den Kofferraum“, antwortete Raylan, während er darüber nachdachte, was aus dem eigentlichen Protokoll geworden war und – noch wichtiger – warum sie ausgerechnet seinen Wagen genommen hatten. Kapitel 2: - 2 - ---------------- Kentucky bestand aus mehr toten als lebenden Menschen. Zumindest kam es Raylan inzwischen so vor, obwohl er sich zuvor darüber nie ernsthafte Gedanken gemacht hatte. Andererseits hatte dazu auch kein Anlass bestanden. Tot war tot – und Raylan war sich durchaus bewusst, dass er einige dieser halb verwesten Leichen einst unter die Erde gebracht hatte. Zu guter Letzt waren da die drei Männer von Nick Augustin gewesen, von denen Raylan einer bereits wieder über den Weg gelaufen war. Der lag jetzt erneut und vollständig tot irgendwo an einer Straßenecke, an der sich wahrscheinlich die Bussarde auch über die letzten Hautfetzen und Innereien hermachten. Leid tat es Raylan um ihn nicht. Er hatte selbst Schuld gehabt, sich die Frechheit herauszunehmen, Winona und seine ungeborene Tochter zu bedrohen. Vielleicht sollte er die zwei anderen auch suchen gehen, ging es Raylan durch den Kopf, als sie in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes standen, in dem sich auch das Marshal Field Office befand. Von beidem war jedoch nicht mehr viel übrig. Aus dem einst zivilisierten Lexington war ein Schlachtfeld geworden. Es war von Untoten überrannt, die wie in einem billigen Hollywoodstreifen nach ihrem Fleisch lechzten. Viel für Filme hatte Raylan noch nie übrig gehabt, doch Tim erinnerte ihn regelmäßig an diese Tatsache. „Lange werden wir die Stellung nicht mehr halten können“, entwich es Raylan, obwohl seine Worte beinahe gänzlich in dem Kugelhagel untergingen, welcher die Halle immerzu erschütterte. Dabei waren Art, Tim und er die einzigen Ordnungshüter hier, was nur durch die kugelsicheren Westen mit der Marshalaufschrift und ihren Abzeichen erkenntlich wurde. Bei allen anderen handelte es sich um Anwälte, Richter und Journalisten, die einem selbst am Tag des jüngsten Gerichts – wie einige diese Invasion nannten – noch versuchten einen Kommentar aus der Nase zu ziehen. Doch Raylan konnte sich nicht beschweren, einige von ihnen hatten sich als ganz annehmbare Schützen herausgestellt, nachdem man ihnen gezeigt hatte, wie man die Sicherung einer Pistole löste. Kugeln flogen, bohrten sich in verfaulte Körper und holten sie von den Beinen, bis sie sich wieder hochkämpften und sich weiter durch die eingeschlagene Glastür am Eingang drängten. Ihre Vorgänger lagen bereits mit Kopfschüssen in der Halle verteilt, die Lebenden von den Toten nur durch die in eine Reihe verschobenen Bänke und Stühle getrennt. Diese Abgrenzung war jedoch mehr Schein als Sein. „Trotzdem“, erwiderte Tim, der seine Worte irgendwie trotz des Krachs aufgeschnappt hatte. Er trug eine dunkelblaue Baseballmütze verkehrt herum auf dem Kopf, das Gewehr im Anschlag tragend. „Das bleibt trotzdem das sicherste Gebäude in der Stadt – was auch immer das jetzt noch heißen mag.“ „Stimmt“, gab Raylan zu. „Was auch immer das bei Glastüren und Fahrstühlen heißen mag...“ Beide Männer warfen sich einen langen Blick zu, bevor sie ihre Waffen mit der Munition aus der mitgebrachten Tasche zwischen ihnen nachluden. Es waren routinierte Handbewegungen. Altes Magazin raus, neues rein, einrasten lassen. Verschossene Patronen fielen klimpernd zu Boden, als Tim neue in das Gewehr schob und es geräuschvoll zuklappte. Doch diese Biester waren genauso unaufhaltbar wie die Flut es war. Sie kam und ließ das Wasser weiter und weiter den Sand hinaufkriechen. Genauso war es mit den verwesten Männern und Frauen und Kindern mit ihren dreckigen und fehlenden Gesichtern und Gliedmaßen. Mit jedem weiteren, der es in das Interieur der Halle schaffte, stieg die Unruhe in den Menschen um sie herum. Sie äußerte sich in panischen Stimmen, die sich zu dem Stöhnen und zu den schleifenden Schritten gesellten, und in verfehlten Schüssen. Mehr und mehr Untote kamen auf sie zu, während weniger und weniger Kugeln ihr Ziel trafen. Neben ihm presste Tim sein Gewehr gegen seine Schulter und schaltete drei von ihnen hintereinander aus. In der Genauigkeit war Raylans Kollege ihm voraus, dessen war sich jeder im Büro bewusst gewesen. Aber Raylan hatte auch keine Ausbildung als Scharfschütze genossen – was sich nach all den Jahren als ein echter Fehler auf seiner Seite herausstellte. „Macht euch bereit zum Zurückziehen!“, brüllte Art weiter links von ihnen und deutete mit einer wiederholenden Handbewegung zu den Fahrstühlen hinter ihnen. Er trug noch immer das rotkarierte Hemd mit der dunkelblauen Krawatte, doch es hatte ohnehin niemand Zeit gehabt, um nach Hause zu gehen. Nein, Art hatte nur seine Frau abgeholt, bevor er wieder hier erschienen war. Raylan selbst hatte mit dem Gedanken gespielt, zu Winona zu fahren. Sie war außerhalb Kentuckys bei ihrer Mutter, weil ihr hier die Sicherheit durch Raylans Feinde genommen worden war. Ein Teil von ihm wusste jedoch, dass sie wahrscheinlich besser ohne ihn aufgehoben war. Zudem war das Problem mit den wiederauferstehenden Toten laut den Medien ohnehin lokal. Wahrscheinlich saß Winona mit einer Tasse Kaffee – nein, Tee, immerhin war sie schwanger – bei ihrer Mutter auf der Veranda und blätterte durch eines der gekauften Babybücher. „Willst du da Wurzeln schlagen?“, riss ihn Tim aus den Gedanken, indem er Raylan zusätzlich noch einen Ellenbogen in die Seite stieß. Zeitgleich schlang sich der Jüngere den Träger der Munitionstasche um die Schultern und schleppte sie zu dem von einem Anwalt aufgehaltenen Fahrstuhl. Raylan blinzelte ein, zweimal und sein Blick blieb auf zwei Untoten haften, die auf ihn zu gewackelt kamen. Ohne ein Zögern schickte er sie dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Noch bevor sie jedoch auf dem Boden aufgeschlagen waren, joggte er ebenfalls zu den Fahrstühlen. Die Türen schlossen sich mit einem Quietschen und nahmen ihnen die Sicht auf die ehemaligen Einwohner Lexingtons, als ihre kleine Gruppe in das Stockwerk des Marshal Field Office fuhr. „Und ich hab immer gedacht, dass so etwas erst passiert, nachdem ich in Rente bin“, murmelte Art hinter ihm und Raylan warf ihm einen skeptischen Blick über seine Schulter hinweg zu, ebenso wie einige andere es taten. „Ich meine, wie kann die Welt innerhalb von zwei Tagen so den Bach runtergehen?“, fuhr dieser jedoch unbekümmert fort. „Das hat alles mit euch und eurer komischen Leiche angefangen. Ja, da brauchst du mich nicht so anzugucken, Raylan.“ Tim, der neben ihm an der Wand des Fahrstuhls lehnte, senkte den Blick auf seine Schuhe. „Selbst ich dachte, dass das höchstens passiert, wenn ich mal in Rente bin. Und sicher nicht in Kentucky, eher in Atlanta oder so.“ In dem trockenen Ton, in dem er das sagte, vermochte Raylan nicht zu sagen, ob es als Scherz oder Ernst gedacht war. Aber würde ein Mann, der in seinen Zwanzigern irgendwo in Afghanistan mit einem Scharfschützengewehr gesessen hatte, wirklich daran glauben, jemals das Rentenalter zu erleben? Raylan war sich da nicht so sicher. „Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht“, warf er ein, als er seine Glock wieder in das Holster an seiner Hüfte steckte. Art schnaubte hinter ihm. „Das ist dein Problem, Raylan. Du machst dir zu wenig Gedanken. Stimmt’s oder hab' ich recht, Tim?“ Inzwischen hielt der Fahrstuhl und die Türen öffneten sich, um ihr Büro zu zeigen, in dem einige Frauen und Kinder es sich bequem gemacht hatten. Decken waren ausgebreitet worden, Leute saßen auf Kissen und an den Wänden. Plötzlich war aus dem Marshal Field Office ein kleines Motel geworden. „Ich ziehe es vor neutral zu bleiben“, erwiderte Tim, als er sich mit der Munitionstasche und seinem Gewehr als erstes aus dem Fahrstuhl schob. ● Das Rattern der Klimaanlage war das einzige Geräusch, als sie den Gang entlang schritten. Tim war ihm dicht auf den Fersen, beinahe wie ein zweiter Schatten. Nur war er einer, der ihm den Rücken stärkte und kein Problem damit hatte, die Initiative zu ergreifen. Zu einer Zeit wie dieser stellte sich das als noch nützlicher heraus, als vor einer Woche noch, als nur Kleinkriminelle und die Mafia aus Detroit ihnen an die Wäsche gewollt hatten. Die gute alte Zeit – Raylan vermisste sie glatt ein wenig. „Ich hätte diesen Gang auch allein übernehmen können“, ließ er jedoch lediglich verlauten, als sie damit begannen die Türen zu öffnen und einen Blick in die Zimmer dahinter zu werfen. Das erste stellte sich dabei als ein einfaches Abstellzimmer heraus, in dem einige alte Computer und Aktenschränke untergebracht waren. „Besonders viel werden wir sowieso nicht finden.“ Tim ging in der Zwischenzeit die Türen auf der anderen Seite des Ganges durch, nahm sich jedoch die Zeit, um Raylan einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. „Art hat gesagt, ich soll sichergehen, dass du dich nicht verläufst. Du willst mich doch nicht in Verruf bringen, oder, Raylan?“ „Irgendwie kriege ich das Gefühl, dass es keine Rolle spielt, was ich dazu sage“, antwortete dieser, als er die Tür zur Abstellkammer zuzog. Er schlenderte weiter. „Ich meine, was denkt ihr eigentlich von mir? Dass ich mich heimlich aus dem Staub mache, sobald ihr blinzelt?“ „Das wäre ja nicht das erste Mal.“ Daraufhin legte Raylan nickend den Kopf schief. Er hatte eine gewisse Neigung dazu, wenn er ehrlich mit sich selbst sein sollte. „Als ob das jetzt noch so einfach wäre.“ Bevor die Fernsehsender in konstante Statik gewechselt hatten, weil sich niemand mehr hatte finden lassen, der noch irgendetwas zu sagen hatte oder die Kamera bedienen wollte, waren bereits Meldungen über das Militär übertragen worden. Es wusste niemand genau, woher das Phänomen stammte, welches die Toten aus ihren Gräbern steigen ließ. Die immer wiederkehrende Vermutung waren jedoch Chemikalien, die in den Boden gedrungen waren. Dennoch waren die Straßen gesperrt worden und dieser Teil von Kentucky stand inzwischen unter Quarantäne. Keiner betrat ihn, keiner verließ ihn – und obwohl sich Raylan für gut hielt, machte er sich keine Hoffnungen gegen eine bewaffnete Einheit mit Panzer und Maschinengewehre ankommen zu können, um Winona zu erreichen. Als wollte das Schicksal Raylan auf die Probe stellen, kam er zu der nächsten Tür, auf der ihm ein kleines Schildchen mit dem Namen Michael Reardon begrüßte. Das war der exzentrische Richter, für den Winona als Stenographin gearbeitet hatte. Was aus diesem geworden war, vermochte Raylan nicht zu sagen. Ihre letzte Begegnung lag bereits eine ganze Weile zurück und zu ihrer kleinen Gruppe Überlebender gehörte er ebenfalls nicht. Schade eigentlich, er war ein guter Mann gewesen. Aber vielleicht hatte er es auch noch rechtzeitig aus der Stadt geschafft und sich irgendwo zurückgezogen, wo es keine Friedhöfe oder vergrabene Tote auf Privatgründstücken gab. Existierten solche Orte überhaupt noch in Kentucky? Hatte nicht mittlerweile jeder eine Leiche im Garten? Hah, selbst Raylan hatte drei zu verzeichnen, obwohl er längst nicht mehr in dem Haus seiner Familie lebte. „Ich schätze, Art ist bloß besorgt“, sagte Tim. Das Gewehr trug er noch immer im Arm, als erwartete er, dass einer der Toten hier oben aus einer schattigen Ecke springen würde. Es war seltsam, wie ein einzelner Mann auf den ersten Blick so entspannt wirken konnte und doch eine gewisse Unruhe in sich tragen musste, um die Waffe ständig im Anschlag zu haben. Raylan zögerte nicht, als er die Tür zum Büro des Richters verschlossen vorfand. Er zog seine Pistole hervor, nahm den Lauf in die Hand, drehte sich weg und schlug damit das kleine Fenster in der Tür ein. Anschließend fasste er hindurch und öffnete sie. „Wegen Rachel“, antwortete er schließlich auf Tims Worte, als beide das Büro betraten. Das Vorzimmer bestand aus dem Schreibtisch der Sekretärin und einer kleinen Kochnische, während eine weitere Tür zu dem Zimmer des Richters führte. „Wegen Rachel“, stimmte Tim tonlos zu. Er besah sich aufmerksam den Innenraum, bevor er zur Kochnische herüberwanderte und die Schränke öffnete. Rachel Brooks, ein weitere Deputy Marshal, gehörte ebenfalls zu den vermissten Personen. Wenn sich Raylan recht erinnerte, hatte Art sie vor zwei Tagen losgeschickt, weil ein paar Irre einen Supermark überfallen und sich darin mitsamt Geiseln verbarrikadiert hatten. Allerdings konnte niemand mit Gewissheit sagen, was dort eigentlich geschehen oder wie es ausgegangen war. In dem Chaos war es untergegangen wie ein Stein im Wasser es tat und als Raylan und Tim hingefahren waren, war keine Spur von ihrer Kollegin gewesen. Ein Seufzen kam über Raylans Lippen, als er zum Schreibtisch schlenderte und dort in die Hocke ging, um die Schubladen durchzugehen. Akten, Akten, mehr Akten. „Erdnüsse...“, murmelte Raylan, als er zwischen all dem Papierkram eine Snacktüte hervorzog. Damit würden sie bestimmt all die hungrigen Mäuler stopfen können, die im Office auf die Rückkehr ihrer Jäger und Sammler warteten. „Da bist du erfolgreicher als ich“, gab Tim zurück, der drei Büchsen vor sich auf der Anrichte stapelte. „An Instantkaffee soll es uns aber nicht mangeln.“ „Ich werde ohne Koffein sowieso nie richtig wach.“ Mit diesen Worten erhob sich Raylan und trat auf Tim zu, um ihm eine der Büchsen abzunehmen. „Lass uns die restlichen Zimmer durchsuchen. Vielleicht gibt’s da mehr Instantkaffee.“ Kapitel 3: - 3 - ---------------- Der Morgen brach an. Die Sonnenstrahlen stahlen sich in das Gerichtsgebäude und erstreckten sich über den Boden, um auf die restlichen noch schlafenden Männer, Frauen und Kinder zuzukrabbeln. Zudem heizten sie das Gebäude bereits auf, woraufhin die Rollläden und Vorhänge geschlossen wurden. Der Strom war gestern Mittag ausgefallen, ebenso wie das Wasser nicht mehr lief. Niemand, der nicht dringend auf die Toilette musste, nährte sich den verstreuten Badezimmern auf den verschiedenen Etagen noch an. Allerdings hatten sie vorgesorgt und so viel Wasser wie möglich in Flaschen und andere Behälter abgefüllt, so dass vorerst lediglich das Essbare zur Neige ging. Raylan war gerade dabei eines der in den Minikühlschränken gefundenen und verteilten Sandwichs aus seiner Folie zu befreien, als sein Chef sich zu ihm an das Fenster gesellte. Dort hatte man durch einen Spalt im Vorhang eine gute Sicht auf Lexington, das sich unter ihnen erstreckte. Die Stadt bestand aus leeren Straßen, stehen gelassenen Autos und Fahrrädern und in der herannahenden Hitze flimmernden Schemen, die wahllos durch die Gegend zogen. In der letzten Woche war dieser Anblick zu etwas Gewohntem geworden, was Raylan nicht mehr die Nackenhaare aufstellte. Wahrscheinlich sollte ihm das zu denken geben, vermutlich war er dem Wahnsinn näher als er annahm. „Hör zu, Raylan“, begann Art, als er ihn erreicht hatte. Der Chief Deputy stemmte die Hände in die Hüften und fixierte ihn mit einem ernsten Blick. „Ich und eine handvoll Freiwillige werden rausgehen und versuchen etwas zu essen aufzuspüren.“ Daraufhin zuckte Raylans Augenbraue instinktiv in die Höhe und er hielt beim Auspacken des Sandwichs inne. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ „Nein?“, entwich es Art irritiert. „Wie könnte das jemals eine gute Idee sein, Raylan? Ich würde auch lieber hier auf meinem Hintern sitzen und darauf warten, dass das Essen zu mir kommt. Wird das passieren? Ich denke, diese Antwort können wir uns beide denken.“ Raylan antwortete zunächst mit einem bedachten Nicken und seine Augen wanderten zu dem Sandwich in seinen Händen herunter. Die Antwort lag tatsächlich auf der Hand. „Na ja... vielleicht sollten Tim und ich dich dann begleiten.“ „Rede keinen Schwachsinn!“, erwiderte Art sogleich, eigentlich bereits, bevor Raylan überhaupt geendet hatte. „Oder glaubst du wirklich, dass du dich so um das Babysitten dieser Bälger drücken kannst?“ Den Kopf hin- und herwiegend huschte ein schmales Lächeln über Raylans Lippen. „Du hast mich erwischt, Art. Kinder gehören eben nicht zu meiner Spezialität.“ Diesmal war es an Art Mullen zu nicken. „Dann wird es Zeit, dass du das übst. Wann ist der Geburtstermin deines Töchterchens?“ „In einem Monat?“ Raylans Schultern zuckten. Die Vorstellung, dass da bald ein kleines Baby existieren würde, welches seine Gene in sich trug, war noch immer seltsam. Fast ein wenig beängstigend. Andererseits wusste Raylan aus eigener Erfahrung, wie sehr das Elternhaus einen prägen konnte, wie sehr Arlos Vaterschaft ihn geprägt hatte. Und dass seine Beziehung zu Winona wohl niemals normal in dem Sinne von einem gemeinsamen Haus sein würde, war er sich inzwischen klargeworden. Der Marshalservice war irgendwann zu seinem Leben geworden und irgendwelche Kriminellen würden es immer auf ihn abgesehen haben. Auf seine Familie. „Na, siehst du“, sagte Art und klopfte ihm locker auf den Oberarm. „Das hier ist eine gute Übung für dich.“ Er deutete auf die wenigen Kinder, die noch immer auf den ausgebreiteten Decken zwischen den Schreibtischen schliefen, während die Erwachsenen längst mit besorgten Blicken und Ringen unter den Augen auf den Beinen waren. „Außerdem wirst du ein Auge auf meine Frau haben. Ich denke, das bist du mir nach dem ganzen Mist, den du schon verzapft hast, schuldig.“ Raylans Blick blieb jedoch an Tim hängen, der mit seiner Army Ranger-Tasse auf sie zugeschlendert kam. Als er einen Schluck nahm, verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. „Wirklich, Tim?“, fragte Raylan und musterten den Jüngeren amüsiert. „Das Zeug kriegt doch keiner runter. Selbst Art hat den Kaffee aufgegeben.“ „Kalter Kaffee ist besser als gar keiner. Wenn dir das Militär etwas beibringt, dann nicht wählerisch zu sein“, erwiderte dieser und hob einen Mundwinkel zu einem Lächeln, das es bis zu seinen Augen hinauf schaffte. „Keine Sorge, das wirst du auch noch einsehen.“ „Das bezweifele ich.“ „Wie auch immer, Gentlemen“, lenkte Art ein, wandte sich dann jedoch Tim zu. „Du und Raylan werdet hier die Stellung halten, während ich weg bin.“ Tim schwieg für einen Moment, bevor er abermals einen Schluck des Kaffees zu sich nahm. „Wird gemacht, Boss.“ „Art hier möchte den Ritter in weißer Rüstung spielen“, warf Raylan ein, als er sein Sandwich gänzlich auspackte. Was sollte er auch anderes tun? Sobald sich Art etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn ohnehin nicht mehr davon abbringen. Theoretisch war er zudem noch immer sein Vorgesetzter, obwohl Raylan sich nicht sicher war, ob das bei einer Zombieapokalypse noch galt. „Er möchte als Held gefeiert werden, wenn er mit einer Ladung Nahrungsmittel zu uns zurückkommt.“ Art warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Wenn du in mein Alter kommst, Raylan, dann darfst du dir dieses Privileg auch annehmen. Und wehe, hier herrscht Mord und Totschlag, wenn ich zurück bin.“ Mit diesen Worten marschierte er davon und zu dem Waffenraum, vor dem bereits einige Männer auf den Chief Deputy zu warten schienen. Seine locker dahin gesagten Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack auf Raylans Zunge, als er den ersten Bissen seines Sandwichs nahm und ihn herunterschluckte. Obwohl es keiner von ihnen aussprach, klang es wie ein Abschied. Es klang endgültig. „Meinst du, er kommt klar?“, fragte Raylan leise, als sich Tim mit seiner Kaffeetasse neben ihn ans Fenster lehnte. Tim brummte ein „Trotz des Stresses hat er bisher keinen Herzinfarkt bekommen. Ich sage, da ist alles möglich.“ ● Mit langsamen Schritten stieg Raylan die Stufen hinauf, wobei er sich vorsichtig bewegte, um den Inhalt der zwei Tassen nicht zu verschütten. Die Vorräte waren schon knapp genug. Allerdings jagte der Gedanke an die braune Flüssigkeit Raylan noch immer einen eisigen Schauer über den Rücken, doch immerhin beruhigte das Koffein seine Nerven. Es machte die von Monotonie herbeigerufene Müdigkeit erträglicher. Zudem neigte sich der Tag allmählich dem Ende entgegen. Raylan konnte bereits die ersten Sterne zwischen den grauen Wolken am Firmament ausmachen, als er die Tür zum Dach passierte. Bis auf zwei Stühle, die sie von unten geholt hatten, war es vollkommen leer und unberührt. Auf einem von ihnen saß Tim mit seinem Scharfschützengewehr, dessen Lauf er auf dem Geländer vor sich abstützte. Ein Schuss zerriss die Stille, als Raylan auf ihn zutrat. „Die Jagdsaison ist eröffnet, huh?“, kommentierte er und ließ sich schwer auf dem noch freien Stuhl nieder. Während er eine Tasse des kalten – und entgegen Tims Aussage heute Morgen immer noch ungenießbaren – Kaffee an seinen Kollegen weiterreichte, ging sein Blick über das Geländer hinaus. Ein weiterer herumliegender Körper hatte sich zu den anderen gesellt, die bereits erschossen auf der leeren Straße vor dem Gerichtsgebäude gelegen hatten. Unter ihnen war auch ein Mann, der von der Schrotflinte niedergemäht worden war, die neben Raylan am Stuhl lehnte. Es war Arlos Givens’ Körper. „Man muss schließlich in Form bleiben“, entrann es Tim inzwischen. Er setzte die Tasse an seine Lippen, doch bevor er einen Schluck nehmen konnte, fixierten seine Augen eine weitere Gestalt, die sich zwischen einigen Autos bewegte. Sogleich stellte er die Tasse auf den Boden zu seinen Füßen und spähte durch das Fernglas, das auf dem Schafschützengewehr montiert war. Der Finger, der den Abzug drückte, war genauso ruhig wie Tims Atmung. Er ließ das Töten dieser Biester professionell aussehen, obgleich Raylan ein anderes Motiv hinter diesen Taten vermutete. Es war Zorn, der unter Tims gelassener Oberfläche vor sich hinköchelte. Einer, der Raylan durchaus bekannt war. Immerhin war er nicht umsonst der wütendste Mann, den Winona je getroffen hatte. Abermals wurde die Stille hier oben von einem Knall zerrissen wie ein Stück Papier. Schnell und unbarmherzig – das genaue Gegenteil von dem ersten, täuschenden Eindruck, den man von Tim Gutterson bekam. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Raylan in einem beiläufigen Ton, als er seinen Kaffee schlürfte und er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Tim scannte die Umgebung nach seinem nächsten Opfer. „Es ist nicht mein Vater, der dort unten vor sich hinrottet“, war alles, was dieser erwiderte. Raylans nachdenklicher Blick kehrte daraufhin unwillkürlich zu dem bereits halbverwesten Körper seines Erzeugers zurück. „Arlo wollte immer neben meiner Mutter begraben werden. Solange ich sie nicht finden kann, macht es wohl keinen Sinn mich noch mal um ihn zu kümmern. Weglaufen tut er jedenfalls nicht mehr.“ Dabei vermochte Raylan nicht zu sagen, was ihn mehr ärgerte: Dass der zombifizierte Arlo die Frechheit besaß, den gesamten Weg von ihrem Haus bis ins Stadtzentrum von Lexington zu hinken oder dass er keine Ahnung hatte, wo sich seine Mutter und seine Tante aufhielten. Wollte er sie überhaupt zu Gesicht bekommen? Würde er sie ebenfalls erschießen können? Das war etwas, was Raylan nicht beantworten konnte. Etwas, worüber er nicht nachdenken wollte. „Du hast mich nie gefragt, warum ich meinen Vater erschießen wollte“, entrann es Tim, der scheinbar seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte. Raylan betrachtete den dunkelblonden Deputy Marshal aus den Augenwinkeln, der noch immer wie Raylan selbst eine kugelsichere Weste trug. Er lehnte sich zurück und betrachtete den Sonnenuntergang, der so rot wie Blut war. „Ich hab’ angenommen, dass du schon mit der Sprache herausrücken wirst, wenn dir danach ist.“ Auf seine Worte folgte ein Schweigen, von dem Raylan nicht sagen konnte, wie lange es anhielt. Ob die Zeit unter diesen Umständen noch wichtig war, bezweifelte er jedoch, weshalb er stattdessen in die Ferne schaute. Irgendwann, als Raylan längst keine Erwiderung seitens Tim mehr erwartete, erhob dieser schließlich erneut die Stimme. „Mein alter Herr hat mich damals mit meinem Freund erwischt – wenn man den Kerl, den man zum ersten Mal mit fünfzehn küsst, denn einen Freund nennen kann.“ Raylan konnte ihn mit den Schultern zucken sehen, als er bequem in seinem Stuhl saß, aber die Hände keine Sekunde von seinem Scharfschützengewehr nahm. „Dein Vater war nicht angetan, nehme ich an“, antwortete Raylan, als Tim abermals ins Schweigen verfiel. Es wirkte beinahe so, als wollte er eigentlich nicht darüber sprechen, musste es aber vielleicht einfach loswerden. Das würde zumindest erklären, warum es Chemikalien im Boden und lebende Tote brauchte, damit Raylan erfuhr, dass Tim scheinbar auf das eigene Geschlecht stand. Wirklich überraschen tat es ihn nicht. Vielleicht lag es daran, dass er Tim noch nie mit einer Frau – eigentlich mit niemandem wirklich – romantisch involviert erlebt hatte oder einfach daran, dass Raylan das Liebesleben seiner Mitmenschen nicht weniger egal sein könnte. Neben ihm stieß Tim ein freudloses Lachen aus. „Nicht angetan ist eine schöne Umschreibung. Wir haben uns noch nie gut verstanden, aber danach hat er mir das Leben zur Hölle gemacht.“ „Und deswegen bist du nach der Schule zu den Army Rangers gerannt.“ Es ergab absolut keinen Sinn, andererseits... was machte schon jetzt noch wirklichen Sinn? Tote Familienangehörige, die durch die Straßen wanderten? Art, der heute morgen mit einer Gruppe Freiwilliger losgezogen und seitdem nicht mehr gesehen worden war? Oder Rachel, die ebenfalls spurlos verschwunden war? An Winona und das Baby wollte Raylan erst gar nicht denken. „Wenn der eigene Vater nicht damit umgehen kann, dann kann es wohl kaum einer. Hab ich zumindest immer gedacht“, murmelte Tim im nonchalanten Ton. Wahrscheinlich war er diese Worte in seinen Gedanken schon tausend Mal durchgegangen, was erklären würde, warum er die Gleichgültigkeit perfekt hinbekam. „Es war auch eher eine spontane Entscheidung, als dieser eine Kerl in unserer Schule einen Vortrag gehalten hat. Er war sehr überzeugend.“ Nun drehte Raylan ihm das Gesicht zu und musterte ihn für einige Sekunden. „Und das erzählst du ausgerechnet mir?“ „Du bist gerade hier, Raylan.“ Dazu konnte dieser nicht viel sagen. Es stimmte. Raylan war gerade hier, genauso wie Tim es war. Wann hatte es angefangen, dass sie sich immer öfter an demselben Ort aufhielten? Raylan vermochte sich beim besten Willen nicht daran zu erinnern. Doch egal, wohin er ging oder was er tat, Tim schien immer an seiner Seite zu sein. Er war wirklich wie ein Schatten. Ob Tim sich ihm auch anschließen würde, wenn Raylan sich entscheiden sollte, dass er Art suchen gehen würde? Wenn er eine zweite Gruppe hinaus auf die Straßen führen würde, um nach Nahrungsmitteln schauen zu gehen? Um zu sehen, ob sie irgendwie aus Lexington herauskommen konnten? „Würdest du mit mir kommen?“ Nicht ein Muskel in Tims Gesicht zuckte und auch sonst gab keine Reaktion Aufschluss darüber, ob er den Zusammenhang seiner Worte erahnen konnte oder nicht. „Wie es mir scheint, folge ich dir seit einer Weile so gut wie überall hin.“ Raylan nickte langsam. Offensichtlich war dieser Umstand auch an Tim nicht vorbeigegangen, was bedeutete, dass Raylan es sich nicht eingebildet hatte. Stören tat er sich daran ebenfalls nicht, denn es war angenehm in dieser radikal veränderten Welt eine Konstante zu haben. Und als die ersten Regentropfen zu fallen begannen und Tim keine Anstalten zum Aufstehen machte, sank Raylan tiefer in seinen Stuhl und zog seinen Cowboyhut entspannt über die Augen. „Du weißt aber, dass ich zu alt für dich bin, oder?“ „Natürlich“, antwortete Tim trocken und Raylan konnte spüren, wie sich seine eigenen Mundwinkel unter dem Hut ein Stückchen hoben. Kapitel 4: - 4 - ---------------- Es dauerte ganze vier Tage, bis Leslie Mullen die Fassung verlor. Zunächst waren es die dunkler werdenden Ringe unter ihren Augen gewesen, die sie verraten hatten, bis ihr beim Frühstück – wenn man Brotreste und Instantkaffee wirklich so nennen konnte – bei der namentlichen Erwähnung ihres Ehemannes der Teller aus den zittrigen Fingern glitt und sie in Tränen ausbrach. Das Zerspringen des Porzellans wurde von erschrockenen Blicken und von einem ausnahmslosen Schweigen begleitet. „Jemand sollte sie trösten gehen“, entrann es Raylan, der abseits des Geschehens saß. Sein Blick wanderte von der alten Dame mit den mausgrauen Haaren zu Tim herüber, der auf der anderen Seite der Plastikscheibe saß, die ihre Schreibtische voneinander trennte. Trotz des allgegenwärtigen Chaos war dieser Anblick vertraut, beinahe normal. „Betreuen, meine ich.“ Tim saß zurückgelehnt in seinem Drehstuhl, die Arme vor dem Brustkorb verschränkt. Manchmal kam es Raylan so vor, als würde sein Kollege nichts anderes mehr mit seinen Händen anzufangen wissen, wenn sie keine Schusswaffe trugen oder Papierkram ausfüllten. „Hast du nicht gesagt, dass Art dich beauftragt hat, ein Auge auf sie zu werfen?“ Ein Nicken folgte zunächst. „Ja, aber dann ist mir aufgefallen, dass du mit deiner Erfahrung in Kriegsgebieten besser dafür geeignet bist.“ „Willst du damit sagen, dass ich eine Schraube locker habe?“, fragte Tim und schnaubte belustigt. Er drehte seinen Stuhl ein Stück, um Raylan vollständig ins Auge fassen zu können. Der Ausdruck auf seinem Gesicht lag irgendwo zwischen offener Belustigung und einer Neutralität, die nicht erkennen ließ, ob Raylan mit diesen Worten einen wunden Punkt getroffen hatte oder nicht. Überraschend wäre es nicht, denn Taktgefühl war noch nie seine Stärke gewesen – und Tim war ohnehin wie ein Minenfeld. Erst wenn man aus Versehen auf eine getreten war, bemerkte man es in der Form eines sarkastischen Scherzes oder eines mysteriösen Blickes. „Na ja“, begann Raylan und kratzte sich an dem kurzen Bärtchen an seinem Kinn, welcher bereits ein bisschen Grau aufwies. „An eine lockere Schraube hab' ich dabei nicht gedacht, aber mir ist etwas von posttraumatischem Stress zu Ohren gekommen.“ „Manchmal vergesse ich, dass es hier so etwas wie Privatsphäre nicht gibt“, antwortete Tim mit einem Schulternzucken, während er einen Arm aus seiner Verschränkung löste. Er hielt Raylan die geballte Faust hin, der daraufhin die Augenbrauen zusammenzog. „Schere, Stein, Papier – ist das dein Ernst?“ Tim antwortete ihm nur mit einem gehobenen Mundwinkel und einem vielsagenden Blick. Doch Raylan nahm an, dass es jemanden mit Tims Erfahrung brauchte, um in einer derartig verzwickten Situation wie ihrer noch herumwitzeln zu können. In dem gewissenhaften Deputy Marshal mit seinem Scharfschützengewehr steckte eben ein Teenager, der nie ausgelebt worden war. Und wer war Raylan, dass er dieser Herausforderung den Rücken kehrte? Nein, stattdessen hob er die Hand und ließ sich auf das Spiel ein. Tims Papier umwickelte seinen Stein, woraufhin sich Raylan seufzend aus seinem Stuhl erhob. Das wäre auch zu schön gewesen um wahr zu sein... „Ach, Raylan...“, ließ ihn Tims Stimme drei Schritte später innehalten und er wandte sich dem jüngeren Mann noch einmal zu. „Ich hab’ vielleicht eine Idee, wie wir hier rauskommen.“ Er sagte es so locker dahin, dass Raylan einige Sekunden brauchte, um den Inhalt seiner Worte zu verstehen, ihn viel mehr zu verdauen. „Sag’ das lieber nicht zu laut“, erwiderte er schließlich, obwohl er nichts lieber tun wollte, als Tim danach zu fragen. „Sonst werden dir die Leute noch mit dem Lynchen drohen, um sie aus dir herauszubekommen.“ Raylan setzte seinen Weg unter Tims Blick fort und schlenderte langsam auf Arts Frau zu. Leslie saß an einem der anderen Schreibtische, die Hände mit dem Stofftaschentuch in ihrem Schoß gebettet. Vor dieser Katastrophe hatte Raylan sie noch nie zu Gesicht bekommen, doch er hatte sich stets eine schlagkräftige Frau vorgestellt, die in Wahrheit im Hause der Mullens die Hosen trug. Scheinbar hatte er sich darin geirrt, denn Leslie war das genaue Gegenteil davon. Sie reichte Raylan nicht einmal bis zu den Schultern hinauf und trug ein mit Blumen besticktes Kleid. Sein Blick ging kurzzeitig über seine Schulter zurück und erfasste Tim, ehe er sich räuspernd mit dem Oberschenkel auf der Schreibtischecke vor ihr niederließ. „Mrs. Mullen“, begann er leise. „Mein Name ist Deputy US Marshal Raylan Givens und—“ „Ich weiß, wer Sie sind, Deputy“, schnitt Leslie ihm das Wort ab und warf ihm einen empörten Blick zu, der nur durch die Tränen in ihren Augen besänftigt wurde. „Art hat sich immer so sehr über Sie aufgeregt, dass selbst unsere Enkel Sie inzwischen vom Namen her kennen.“ „Oh.“ Es war das einzige, was Raylan in den Kopf geschossen kam, denn mit dieser Begrüßung hatte er ganz sicher nicht gerechnet. Da fiel ihm glatt wieder ein, warum er der älteren Frau von vornherein aus dem Weg gegangen war. Doch trotz ihrer Aussage eröffnete sich ein schmales Lächeln auf ihren Lippen, das eine Wärme in sich trug, die genauso irritierend wie ihre vorigen Worte war. „Sie bedeuten ihm viel, Deputy Givens“, sagte sie nun in einem versöhnlicheren Ton und ihre Hände umfassten seine eigene, die auf seinem Knie gelegen hatte. „Ansonsten hätte er Sie schon längst wieder versetzen lassen. Das macht Art mit allen, die er nicht leiden kann. Für ihn sind seine Untergebenen auch gleich Familie – auch wenn er das nicht gern zeigen mag.“ „Das merkt man...“, entrann es Raylan nachdenklich. Zwar hatte er sich nie wirklich damit auseinandergesetzt, doch es war kein Geheimnis, dass Art stets besorgter um ihn und geduldiger mit ihm gewesen war als sein eigener Vater. Art hatte immer ein Auge auf ihn gehabt, dabei hatte Raylan ihn niemals darum gebeten. Genauso wie er es bei Tim oder Rachel getan hatte. Er hatte immer gewusst, wie es privat bei seinen Deputys aussah, obwohl keiner von ihnen gern mit der Sprache herausrückte. Irgendwie war er mit seinem Sarkasmus und seinem grimmigen Gesichtsausdruck doch immer dahinter gekommen. „Art ist hart im Nehmen“, sagte er an Leslie Mullen gewandt und drückte ihre Hand, die noch immer seine umklammert hielt. „Man sieht es ihm zwar nicht an, aber er lässt sich nicht so einfach unterkriegen, Mrs. Mullen.“ Abermals schenkte sie ihm ein Lächeln – und ein Teil von Raylan wollte nach dem nächstbesten Gewehr greifen und ihren Mann suchen gehen. Allerdings hatte er Art versprochen, dass er auf diese Gruppe, auf Leslie, aufpasste. Vorsichtig pellte er seine Hand unter ihrer hervor und erhob sich. „Entschuldigen Sie mich einen Moment“, ließ er in einem leisen Ton verlauten, als er sich von ihr abwandte und zurück zu Tim schlenderte, der noch immer in derselben Position dasaß und ihn beobachtete. „Meinst du bei ‚rauskommen’ raus aus der Quarantänezone?“, fragte Raylan ohne eine Einleitung, als er Tims Schreibtisch erreichte. „Weißt du noch die ganzen Male, wenn du mich darum gebeten hast, beim FBI nach Informationen für dich zu fragen?“, stellte Tim die nüchterne Gegenfrage und Raylan schürzte die Lippen. „Ich hab’ mich gerade daran erinnert, dass ich auch jemanden bei der Nationalgarde kenne. Derjenige schuldet mir auch noch einen Gefallen.“ „Dazu brauchst du ein Funkgerät und eine Energiequelle“, warf Raylan ein, wobei es eine simple Feststellung war. Immerhin war das Stromnetz in Lexington und seiner Umgebung längst ausgefallen und einen Generator hatte das Gerichtsgebäude ebenfalls nicht. Beide Männer sahen einander an und nickten kaum merklich. Dabei war sich Raylan sicher, dass Tim das Gleiche wie ihm durch den Kopf ging: endlich hatten sie einen Plan, ein Ziel, und mussten nicht mehr herumsitzen und Däumchen drehen. ● Raylan überprüfte ein letztes Mal das Magazin seiner Glock, als er vor der Glastür zum Stehen kam. Sie war das einzige, was Tim und ihn von der zuvor überrannten Empfangshalle und den funktionsuntüchtigen Fahrstühlen des Gerichtsgebäudes noch trennte. Auf den ersten Blick wirkte alles verlassen, ausgestorben, doch der Eindruck schien trügerisch. Das sagte Raylan zumindest seine Intuition. „Ich weiß nicht, ob das die beste Idee ist, die du jemals gehabt hast, oder nicht doch die verrückteste“, murmelte er an Tim gewandt. Dieser stand hinter ihm, eine schwarze Tasche und seine eigene Dienstwaffe in den Händen tragend. „Sagt der, der sich in regelmäßigen Abständen in verzwickte Situationen manövriert.“ Er zuckte mit den Schultern. „Immerhin hatte ich wenigstens eine Idee.“ Raylan schenkte ihm daraufhin ein Halbgrinsen, bevor sich sein Blick wieder auf die Tür vor ihm richtete. „Touché.“ Als wäre dies das vereinbarte Stichwort gewesen, stieß Raylan sie auf und beide Männer schoben sich mit erhobenen Pistolen in die Halle hinaus. Das erste, was ihnen entgegenschlug, war ein magenumdrehender Geruch, der jemandem in ihrem Geschäft nicht unbekannt war. Der Tod hatte längst die Luft kontaminiert. Die aufgestaute Hitze hatte den Verwesungsprozess der am Eingang liegenden Toten beschleunigt, worüber Raylan jedoch nicht näher nachzudenken versuchte. Stattdessen atmete er flach ein und aus und presste die Lippen fest aufeinander, als er einen Fuß vor den anderen setzte. Leise bahnten Tim und er sich den Weg zwischen der Reihe aus Bänken und Stühlen hindurch, die nur wenige Tage zuvor als ihre Abgrenzung gedient hatte. Der Tresen der Anmeldung war leer, während eine leichte Brise durch die kaputten Türen drang und einige verstreute Papiere raschelnd über den Boden kriechen ließ. Auf dem halben Weg zur Tür und im selben Moment als Raylan die von Maden zerfressenen Körper ins Auge fielen, ließ ihn Tims Hand auf seiner Schulter zusammenfahren. Ein verständnisloser Blick ging über seine Schulter, doch Tim nickte lediglich zu dem Tresen herüber, den sie bereits hinter sich zurückgelassen hatten. Hinter diesem hockte eine Gestalt, die man vorher nicht hatte sehen können. Es war eine Frau. Ihre Schädeldecke fehlte und ihr blaues Kleid war zerrissen und mit Blut besudelt. Dem Anblick nach war sie ein weiteres Gewaltopfer, dessen Leiche wahrscheinlich zuvor niemals gefunden worden war. Im Moment kniete sie in einer gekrümmter Haltung mit dem Rücken zu ihnen – und erst nach einigen Sekunden erkannte Raylan das Blut, das sich zudem um ihre nackten Füße ausgebreitet hatte, sowie das vor ihr am Boden liegende Etwas. Irgendeine arme Seele hatte sich in die Halle verirrt, war ihr jedoch nie mehr entkommen. War es Art? Oder jemand anderes, der ihnen bekannt war? Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und es bedurfte Tim um ihn anzutreiben, damit sie die Unaufmerksamkeit der Untoten ausnutzen konnten. Vorsichtig überbrückten sie die letzten Meter zum Eingang, stiegen über die Toten herüber und vermieden auf die Glassplitter am Boden zu treten, die sie verraten hätten. „Um sie können wir uns auch später noch kümmern“, murmelte Tim als sie sich im Freien befanden. „Wenn wir schießen, locken wir die Biester erst recht an. Das ist in den Filmen immer so.“ Ihre Blicke wanderten über die Straße, die sie von oben schon unzählige Male beobachtet hatten. Sie kannten all die herumstehenden Autos auswendig, weshalb sie nicht zögerten und stattdessen auf den weißen Mercedes zuschritten, der direkt vor ihnen zum Stehen gekommen war. Er stand mit dem Vorderreifen auf dem Bordstein und somit beinahe diagonal auf der Straße, auf der so einige verlassene Wägen die Durchfahrt versperrten. „Du und deine Filme“, erwiderte Raylan, als Tim seinen Arm durch das halbgeöffnete Autofenster streckte, um sich die Tür zu öffnen. „Kein Wunder, dass du keinen Freund hattest. Wahrscheinlich hast du in deiner Freizeit nie einen Fuß vor die Tür gesetzt.“ Noch während er diese Worte aussprach, wurde Raylan bewusst, dass es die falschen gewesen waren. Doch Tim – offensichtlich die Professionalität in Person – ignorierte ihn. Er zog die Wagentür auf, betätigte den Hebel und umrundete das Auto, um sich an der Motorhaube zu schaffen zu machen. Die schwarze Tasche fiel zu seinen Füßen auf den Asphalt, als er anfing die Autobatterie abzuschrauben. Auch Raylan erhob nicht mehr das Wort, sondern kehrte Tim den Rücken. Mit der im Anschlag tragenden Glock wanderte sein Blick über ihre Umgebung, nach Bewegungen Ausschau haltend. Obwohl man meinen sollte, dass die Fronten zwischen ihnen geklärt waren, schienen sie zum ersten Mal zwischen ihnen zu existieren. Die Vertrautheit, die sie mit Blicken allein kommunizieren ließ, war noch immer ausgeprägt, doch die Lockerheit zwischen ihnen war von einer Ernsthaftigkeit überschattet, die man nur aus den Augenwinkeln heraus in den Schatten lauern sah. Vielleicht war es, weil Tims Geheimnis nun nicht mehr so geheim war wie er es gern gehabt hätte oder weil Raylan es nicht überspielte. Weil er es zur Sprache brachte, immer wieder und ohne sich einzugestehen, weshalb er das eigentlich tat. Womöglich war es aber auch eine Mischung aus allem, ging es ihm durch den Kopf, als er eine durch die Gegend geisternde Person entdeckte. Raylan hielt den Atem an, doch im selben Augenblick klapperte sein Kollege mit irgendetwas hinter ihm. Der Kopf des Untoten ruckte in die Höhe und er hielt in seinem Schritt inne, bevor er bereits ihre Richtung einschlug. „Scheiße“, presste Raylan hervor. Tim hatte recht. Sobald er ihn erschoss, würden alle ehemaligen Bewohner Lexingtons und seiner Umgebung aus ihren Löchern gekrochen kommen, weil sie frische Beute witterten. „Musstest du das Geräusch gerade machen?“ Hinter ihm konnte er das Rascheln der Tasche vernehmen, als Tim sie aufhob. „Ich entschuldige mich vielmals, Raylan“, erwiderte dieser in einem sarkastischen und unangebracht ruhigen Ton. Den Geräuschen nach zu urteilen hievte Tim soeben die Autobatterie in die Tasche, weswegen Raylan das als Zustimmung sah, dass es Zeit zum Gehen war. Mit dem halb verwesten Mann, der auf ihn zu hinkte, machte er kurzen Prozess. Er jagte ihm eine Kugel direkt zwischen die Augen, deren Echo durch die leere Straße hallte. Im selben Atemzug joggten sie zurück zum Gerichtsgebäude, Tim nur etwas durch das Gewicht der Tasche verlangsamt. Wenn er sie jetzt schon als schwer empfand, würde es ein Spaß für Raylan werden zuzusehen, wie er sie drei Stockwerke hinauftrug. Die schädelplattenlose Frau kam ihnen entgegen, als sie sich wieder in den Eingang schoben. Ein Fauchen entrann ihrer Kehle, als sie sich auf sie stürzte. Raylan hielt sie mit einer Hand auf Abstand, als er mit ihr rangelte, als er den Lauf der Glock unter ihr Kinn brachte und abdrückte. Er drehte den Kopf weg, doch konnte dennoch spüren, wie einige Blutspritzer auf seiner Wange landeten. „Ich schätzte, das war auch gerechtfertigt“, entrann es ihm mit kratziger Stimme, als sie vor ihm leblos zu Boden sackte. Tim musterte ihn aufmerksam von der Seite, als er sich mit dem Ärmel über das Gesicht wischte. „Definitiv.“ Kapitel 5: - 5 - ---------------- Statik. Ein beständiges Rauschen war das einzige Geräusch, welches das Funkgerät von sich gab. Tim hatte es mit einigen Kabeln an die Autobatterie angeklemmt, um den nötigen Strom zu haben, um überhaupt zu versuchen, jemanden zu erreichen. Nun saß er an seinem Schreibtisch und veränderte immer wieder die Frequenz, um von irgendwoher ein Lebenszeichen aufschnappen zu können. Raylan sah ihm dabei zu. Er hatte einen zweiten Stuhl herangezogen und einige andere hatten sich ebenfalls um sie herum zu sammeln begonnen. Schon früher hatte es in ihrem Büro keine Geheimnisse gegeben und daran änderte scheinbar auch keine Zombieapokalypse etwas. Ein, zweimal waren verzerrte Stimmen zu vernehmen, doch jedes Mal übersprang Tim den Kanal, was Raylan die Augenbrauen heben ließ. „Nach was suchst du eigentlich?“ Doch dieser hob die Hand, wollte offensichtlich nicht gestört werden, während er weiter an dem kleinen Rädchen drehte und der Statik lauschte. Auch die umstehenden Leute – Leslie Mullen unter ihnen – hielten den Atem an, was Raylan doch als ein wenig albern empfand. Zumindest solange, bis eine weitere Stimme abhackt über das Funkgerät zu vernehmen war. Sogleich versuchte es Tim auf einer ähnlichen Frequenz, woraufhin sie ein deutliches „...und da fragte mich der Kerl, ob das meine Freundin wäre“ vernahmen. Ein schrilles, durch Mark und Bein gehendes Lachen folgte. Trotzdem huschte ein Schmunzeln über Tims Züge, wie Raylan aus den Augenwinkeln heraus bemerkte. „Das ist Gregory“, murmelte er in seinem typischen Südstaatendialekt, als er nach dem Lautsprecher griff und ihn an seine Lippen hielt. Mit einem Mal sprang seine Laune von einer professionellen Konzentriertheit zu einer Belustigung, vielleicht sogar Erleichterung, über. „Wie viele Verwarnungen braucht es, damit du lernst, dass das kein Privatsender ist, an dem du sitzt, Gory?“, sprach Tim in das Funkgerät hinein, als sein Gegenüber in seinem Geschwätz über seinen letzten Barbesuch eine Pause einlegte. Daraufhin herrschte eine minutenlange Stille, ehe ein „Timmi?“ zurückkam. Auf Raylans Lippen breitete sich sogleich ein amüsiertes Lächeln aus, als er seinem dunkelblonden Kollegen sachte einen Ellenbogen in die Seite stieß. „Timmi?“, formten seine Lippen, als Tim ihn ansah. Dieser verdrehte die Augen. „Der einzig wahre“, gab er über Funk zurück und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Erinnerst du dich noch, als ich deinen Hintern in Afghanistan gerettet hab'? Als du sagtest, dass ich etwas bei dir gut habe?“ Abermals folgte eine kurze Funkstille, als ahnte dieser Gregory bereits etwas Ungutes. Unrecht hätte er dabei nicht. Wahrscheinlich saß Tims Bekannter irgendwo sicher auf der anderen Seite der Quarantäneabsperrung und rauchte seine Zigaretten, während eine Horde Untoter sich vor dem Gerichtsgebäude gesammelt hatte und dort unruhig umherzog. Ein Blick vom Dach hatte erkenntlich gemacht, dass es doch mehr als gedacht waren. „Ich erinnere mich...“, antwortete Gregory und selbst über das Funkgerät vermochte man die Skepsis in seiner Stimme heraushören zu können. „Dann hör’ jetzt genau zu, Gory“, sagte Tim und schloss die Augen, als er sprach. „Ist mir egal, wie du das machst, aber ich möchte, dass du einen Hubschrauber besorgst. In drei Stunden werden eine kleine Gruppe Überlebender und ich uns auf dem Flugplatz außerhalb von Harlan zusammenfinden und du wirst dafür sorgen, dass man uns hier rausfliegt. Ist mir egal, was die von Ansteckungsgefahr sagen. Ich sage dir, dass das absoluter Schwachsinn ist.“ „Dafür könnte ich meinen Job verlieren, Timmi. Die stellen dafür alle vors Kriegsgericht!“ Doch Tim schienen diese Worte nicht aus der Ruhe zu bringen. Er atmete tief durch und starrte auf einen imaginären Punkt irgendwo auf der Tischplatte, während Raylan die Beine übereinander schlug. Wenn er ganz ehrlich sein sollte, hatte er Tim noch nie bei der Arbeit zugesehen. Aber konnte man das überhaupt Arbeit nennen? War die Linie zwischen dieser und ihrem Privatleben nicht angesichts der Tatsachen unlängst verwischt worden? „Du schuldest mir das“, entwich es Tim schließlich. Dabei war es offensichtlich, dass er nur ungern darauf beharrte, auch wenn die Bedenken Gregorys mehr als nachvollziehbar waren. „Fein!“, kam es sogleich zurück. Wütend und verstimmt, was Raylan nur belächeln konnte. Am besten ließ er sich niemals von Tim Gutterson retten, um diesem schwerwiegenden Gefallen erst gar nicht zum Opfer zu fallen. „Sei einfach da, wenn der Hubschrauber kommt. Mehr als fünf Minuten kann ich euch nicht einräumen, verstanden?“ „Verstanden.“ Damit schaltete Tim das Funkgerät aus, um die Energie zu sparen. Sein Blick wandte sich Raylan zu, der ihn beobachtete. „Wenn ich mich recht erinnere, hab' ich dir auch des Öfteren den Rücken freigehalten“, sagte er, als hätte er soeben Raylans Gedanken gelesen. „Und ich hab’ dir heute morgen deinen Kaffee gebracht.“ Mit diesen Worten erhob sich Raylan und schob amüsiert grinsend seinen Hut zurecht. „So wie ich das sehe, sind wir mehr als nur quitt.“ Tim sah ihm nach, als er sich von dem Schreibtisch entfernte und die Leute um sich herum zu sammeln begann. Die Hände in die Hüften stemmend wanderte sein Blick über die erwartungsvollen, aber gleichzeitig auch erschöpften, Gesichter. „Für alle, die es nicht wissen, der Weg bis zum Treffpunkt benötigt in etwa zwei Stunden. Ich würde also vorschlagen, dass jeder sich fertig macht und wir uns in einer Viertelstunde an der Glastür treffen. Ihr müsst auf die Toilette? Jetzt ist eure Chance.“ Keiner der Anwesenden stellte Fragen, alle setzten sich sofort in Bewegung. Einige sammelten das wenige Hab und Gut, das sie bei sich trugen, ein, während andere die letzten Vorräte aufteilten. Raylan selbst marschierte zu dem kleinen Waffenraum herüber, für den nur Tim und er einen Schlüssel besaßen. Nahrungsmittel waren wichtig, aber ohne eine Verteidigung würde ihnen auch das meiste Wasser und Brot nichts bringen. ● Raylan hatte nicht damit gerechnet, dass der Weg zu dem kleinen Flugplatz am Rand von Harlan einfach zu erreichen sein würde. Mit was er jedoch noch weniger gerechnet hatte, war der brummende Motor eines Wagen sowie das Knattern eines Maschinengewehres ganze fünf Minuten, nachdem sie das Gerichtsgebäude durch die Tiefgaragen verlassen hatten. Sie waren gerade dabei auch die letzten Taschen klammheimlich in die Kofferräume der von Tim kurzgeschlossenen Autos zu laden, als es ertönte. Ein kleiner Teil von Raylan kam sich dabei vor wie ein Verbrecher, denn Ordnungshüter schlichen nicht auf leisen Sohlen durch die Gegend. Sie marschierten bis auf wenige Ausnahmen geradeaus und nieteten alles um, was eine Gefahr für sie selbst und andere war – und einige Leute, die einfach nicht wussten, wann es angebracht war den Mund zu halten. „Runter!“, presste Raylan hervor und bedeutete den anderen, hinter den Autos in Deckung zu gehen, ehe Tim und er dasselbe taten. Frauen zogen ihre Kinder in die Arme und jeder von ihnen, denen sie eine Pistole anvertraut hatten, holte diese hervor, wobei die Hälfte vergaß die Sicherung zu lösen. Raylan schwante Übles, als er geduckt und mit einer Hand an seinem Holster über das Autodach hinwegspähte. Neben ihm schob Tim den Lauf seines Gewehres in den schmalen Spalt, den die geöffnete Wagentür kreiert hatte. Im nächsten Augenblick brauste ein alter Truck bereits vor ihnen um die Ecke. Mit einer seltsamen Eleganz, die bei der Geschwindigkeit eher manisch wirkte, manövrierte der Fahrer den Wagen zwischen den herumstehenden Autos hindurch. Raylan richtete sich ein Stück auf, als der Mann mit dem Maschinengewehr auf der Ablage zu schießen aufhörte und sich stattdessen festhielt, um nicht herunterzufallen. Er kannte den Truck, ebenso wie den jungen Mann auf der Ablage. Als das Auto näher kam, erkannte Raylan selbst die blonde Frau auf dem Beifahrersitz und den Fahrer – oh, ganz besonders den Fahrer. „Boyd Crowder...“, entrann es ihm, als der braunhaarige Mann ihn ins Auge fasste und auf die Bremse trat. Wahrscheinlich sollte es Raylan nicht überraschen, dass ausgerechnet er noch am Leben war. Irgendwie schien Boyd alles zu überleben, denn in dieser Hinsicht war er wie eine Kakerlake. Eigentlich waren in dieser Hinsicht so einige wie Kakerlaken, denn die Bewohner von Harlan County waren immer schon zäh und schwer umzubringen gewesen. Boyd warf nur einen knappen Blick in den Rückspiegel, um sicher zu gehen, dass sich für den Moment keine unerwünschten Gäste an sie heranschlichen, bevor er die quietschende Autotür öffnete. „Warte hier, Baby“, murmelte er zu Ava und stieg aus. Allerdings verweilte er in ihrem Schutz, in seiner Hand eine Pistole tragend. Auch Jimmy richtete sich mit seinem Maschinengewehr auf der Ablage des Trucks auf, um über das Dach sehen und notfalls schießen zu können. „Ach, hallo, Raylan“, begrüßte ihn Boyd, als sich beide Männer anstarrten. „Boyd.“ Kurz zuckten Raylans Augen zu Ava, die ihn besorgt durch die Frontscheibe hindurch musterte. „Wo hast du Johnny gelassen?“ Kurzzeitig neigte Boyd den Kopf zur Seite, obwohl kein Muskel in seinem Gesicht zuckte und auch keine Reue zu sehen war. Natürlich war da keine Reue, denn das vor ihm war immerhin Boyd. „Cousin Johnny hat es nicht lebend aus seiner Bar geschafft, fürchte ich“, antwortete dieser schließlich. „Ich würde ja jetzt sagen, dass es die Sünder als erstes trifft, aber das scheint nicht zu stimmen“, sagte Raylan und zuckte mit den Schultern. „Ansonsten wärst du jetzt nicht hier, Boyd, nicht wahr?“ Es würde ihn nicht einmal wundern, wenn es nicht die wiederauferstandenen Bewohner Harlans gewesen waren, die für Johnnys frühzeitiges Ableben die Verantwortung trugen, sondern ein noch kerngesunder. Immerhin gab es kaum jemanden, der nicht wusste, wie Johnny Boyd hintergangen hatte, um diesen aus dem Weg zu räumen. Johnny hatte ihm die Gründe irgendwann mal genannt, doch an mehr als Eifersucht und Habgier vermochte sich Raylan nicht zu erinnern. Über Boyd Crowders schmale Lippen huschte ein Lächeln, doch als er zu einer Erwiderung ansetzen wollte, schnitt ihm Jimmy das Wort ab: „Boyd! Wir kriegen Besuch!“ Kurz warf dieser einen Blick über seine Schulter und auch Raylan konnte die Schemen in der Ferne erkennen, die sich mit abgehackten Bewegungen zwischen den Autos in ihre Richtung bewegten. Sie waren von dem Krach, den Boyd und seine Leute angerichtet hatten, angelockt worden. „So wie ich das sehe, haben wir hier zwei Optionen, wie das ausgehen kann, Raylan“, entrann es Boyd, noch immer die Ruhe in Person. Doch Raylan kannte ihn lange genug, um den Nachdruck aus seinen Worten herauszuhören und zu wissen, dass sich Boyd ihrer Lage durchaus bewusst war. „Und ich bin sicher, dass du mir die gleich nennen wirst“, antwortete Raylan, dessen Blick zwischen seinem Gegenüber und der angekrochenen Schar Untoter hin- und herwechselte. Boyds Finger schlossen sich fester um den Griff seiner Pistole, ebenso wie Raylans es daraufhin taten. Wirkliche Sorgen machte er sich jedoch nicht, denn aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, dass Tim ihm noch immer den Rücken freihielt. „Entweder wir gehen getrennte Wege, um uns allein durchzuschlagen, oder wir schließen einen vorläufigen Waffenstillstand, der meiner Meinung nach beiden Parteien zu Gute kommen könnte“, erklärte Boyd und machte eine ausschweifende Handbewegung in die Richtung der Männer, Frauen und Kinder, die noch immer hinter den Wägen kauerten oder ihm finstere Blick zuwarfen. „Denn deine kleine Kindergartengruppe wirkt auf mich nicht so, als würde sie sonderlich weit kommen. Im Gegensatz zu denen wissen wir in welche Richtung unsere Pistolen zeigen müssen und das könnte sich durchaus als praktisch herausstellen, meinst du nicht?“ Ein Kugelhagel, welcher aus Jimmys Maschinengewehr stammte und die vorderen Reihen der Untoten von den Beinen holte, gab Raylan Zeit zum Überlegen. Er biss lediglich die Zähne aufeinander, da das Knallen der Waffe seine Trommelfelle strapazierte. „Für mich sieht es aus, als kommt ihr drei auch gut allein klar“, warf er ein, als Jimmy seinen Finger vom Abzug nahm. Er musterte Boyd Crowder von seinen wild abstehenden Haaren bis hin zu den abgetragenen, schwarzen Stiefeln. Irgendwie würden sich er, Ava und Jimmy auch ohne ihre Hilfe durchschlagen können und Raylan war sicherlich kein Samariter, der sich allen Streunern annahm, die ihm über den Weg liefen. Aus diesem Grund war es fraglich, warum Raylans Finger sich schließlich von seiner Glock lösten, die er noch immer im Holster trug. „Wir werden nicht mehr lange hier sein. Unsere Mitfahrgelegenheit wartet nämlich bereits auf uns.“ Irritation und Erstaunen zeigte sich auf dem Gesicht des Mannes, mit dem er in seinen jüngeren Jahren in der Mine gearbeitet hatte. „Ein Maschinengewehr könnte trotzdem ganz praktisch sein, das stimmt“, fügte er hinzu, nachdem er sich für den Bruchteil einer Sekunde an dem Ausdruck gelabt hatte. „Also steig' in deinen Wagen und reih’ dich in unserer Autokolonne ein, Boyd.“ Mit diesen Worten wandte Raylan seinem Widersacher den Rücken zu und umrundete den Wagen, um sich hinter das Steuer zu setzen. Die anderen aus seiner Gruppe folgten seinem Beispiel und stiegen ebenfalls hastig in ihre Autos ein. „Du hast nicht vor, mir zu erzählen, was das für eine Mitfahrgelegenheit ist, oder, Raylan?“, rief Boyd noch aus. „Wo wäre denn da der Spaß?“, stellte Raylan die Gegenfrage, bevor er die Autotür zuzog. Im Seitenspiegel sah er Boyd, der zu seinem Truck zurückjoggte und ebenfalls einstieg, während sich Tim mit seinem Gewehr neben ihn auf den Beifahrersitz schob und Jimmy abermals einige der untoten Horde eliminierte. „Du weißt nicht mal, für wie viele Leute im Hubschrauber Platz ist“, bemerkte Tim und Raylan schenkte ihm einen Seitenblick. Anschließend setzte er den Wagen zurück, um auszuparken. Tim und er übernahmen die Führung, als sie sich durch die verwüsteten Straßen Lexingtons schlängelten. „Dann müssen sie halt in den Kofferraum, wenn sie mitwollen.“ Das Gewehr ließ Tim zwischen seinen Beinen ruhen, als er sich mit einer Hand an dem Haltegriff über ihm festhielt. „Gut, dass wir beide wissen, dass Hubschrauber keine Kofferräume haben.“ Kapitel 6: - 6 - ---------------- Der Wagen kam zu einem Halt. Raylans Blick war auf die Autokarambolage vor ihnen gerichtet, welche die gesamte Breite der Straße einnahm und ihnen somit die Weiterfahrt unmöglich machte. Was hier vorgefallen war, ließ sich leicht erahnen. Einige Bewohner Harlan Countys, die sich nicht in ihren Häusern verbarrikadiert hatten, waren auf der Flucht gewesen, bis es an dieser Stelle zu einem Unfall gekommen war. Der Blechschaden betrug sich auf vier verschiedene Autos, wobei es insgesamt neun waren, die verlassen auf der Landstraße standen. „Das ist eine bessere Polizeisperre, als wir sie jemals hinbekommen haben“, entrann es Raylan, als er den Motor abstellte, um Benzin zu sparen. Tim nahm neben ihm sein Gewehr zur Hand. „Lass das bloß nicht Art hören.“ Trotz der Gelassenheit, in der diese Worte ausgesprochen wurden, war die Stille im Wagen plötzlich drückend. Seufzend stieg Raylan aus und Tim tat es ihm gleich. Ihre Blicke wanderten über das Waldstück, durch welches diese Straße führte. Es war dicht genug, um die sie blockierenden Autos nicht umfahren zu können. Es war auch dicht genug für Leute wie Boyd Crowder, wenn sie einen Körper loswerden wollten. Wobei Raylan sicher war, dass keiner von ihnen je damit gerechnet hatte, diese jemals wieder den Gehweg entlang laufen zu sehen. „Worauf warten wir, Gentlemen?“, rief Boyd aus, der mit Ava und Jimmy im Schlepptau von ihren Wagen zu Raylans und Tims geschlendert kam. Wenn man vom Teufel sprach... Seine Pistole trug er nicht mehr in der Hand, doch Raylan schätzte, dass sie unter seiner geschlossenen Jacke im Gürtel steckte. Jimmy war währenddessen noch immer mit seinem Maschinengewehr bewaffnet und Ava Crowder trug dieselbe Schrotflinte, mit der sie ihren Ehemann damals erschossen hatte und auch Boyd selbst einst eine Ladung Blei hatte verpassen wollen. Hinter ihnen stiegen zudem einige andere aus und sahen mit angsterfüllten Blicken in ihre Richtung. Warum konnten nicht alle für einen Moment ruhig in ihren Autos sitzen bleiben? „Wonach sieht es denn aus, Boyd? Ein Picknick?“, gab er jedoch lediglich an sein Gegenüber zurück und kratzte sich an der Augenbraue. „Lasst uns die Wagen beiseite schieben.“ „Die Uhr tickt“, warf Tim neben ihm hilfreich ein, als er einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Das Ziffernblatt war auf der Innenseite seines Handgelenks, wie es im Militär üblich war, um sich nicht durch das Reflektieren von Licht in einer brenzligen Situation zu verraten. Seltsam, dass Raylan das erst jetzt auffiel. „Deputy...“, entrann es Boyd plötzlich ernster und er musterte Tim, als hätte er ihn soeben wahrgenommen oder eher erkannt. Vielleicht war das Tims Persönlichkeit; womöglich fiel er einem erst nach mehreren Blicken tatsächlich auf. Ava warf Raylan einen warnenden Blick zu, doch es brauchte einige Sekunden, bis Raylan den Zusammenhang verstand. Das hatte er vergessen gehabt. Tim war für den Tod von diesem Spinner verantwortlich, der ein Veteranenfreund von Boyd gewesen war. Wie war noch sein Name gewesen? Colt oder zumindest so ähnlich wie die Waffe, wenn sich Raylan recht erinnerte. „Die Wiedersehensfreude könnt ihr euch für einen anderen Zeitpunkt aufheben“, sagte er und bugsierte Tim mit einer Hand auf seiner Schulter in die Richtung der herumstehenden Autos. Bevor er Tim jedoch folgte, kehrten seine Augen zu Boyd zurück. „Nur damit du es weißt, Boyd“, fügte er leiser hinzu. „Guckst du Deputy Gutterson auch nur noch mal falsch an, werde ich dich wirklich erschießen. Und dieses Mal werde ich dein ach-so-poetisches Herz nicht verfehlen.“ Damit wandte er sich ab und folgte Tim, damit sie endlich den Weg freibekamen, eine Hand an der Glock in seinem Holster. Auf böse Überraschungen hatte er nämlich nun wirklich keine Lust. „Und ich dachte, dass wir hier alle Freunde sind, Raylan“, konnte er Boyd hinter sich sagen hören, doch er antwortete nicht mehr. Was hätte das auch für einen Zweck? Stattdessen wandte er sich dem eigentlichen Problem zu und steuerte den ersten Wagen an. Es war ein dunkelgrüner Audi, dessen Türen sperrangelweit offen standen, als wären die Insassen panisch geflüchtet. Vereinzelte Blutspritzer klebten von der Innenseite an den Scheiben, die heruntergelaufen waren und rote Streifen hinterlassen hatten. Entweder die Verantwortlichen des Unfalls waren handgreiflich geworden oder sie hatten unerwünschten Besuch bekommen. „Raylan“, zog Tim seine Aufmerksamkeit auf sich. Er deutete mit dem Lauf seines Gewehrs hinter eines der anderen Autos, auf das Raylan daraufhin zuging. Allerdings hielt er inne, als er die Blutspur entdeckte. Sie führte von der geöffneten Wagentür über die Straße und über das Laub tief in den Wald hinein, in dem sie sich zwischen den Bäumen verlor. „Sieht so aus, als sind wir nicht so allein wie es aussieht“, entrann es ihm tonlos und abermals glitten seine Augen über die Umgebung. Bis auf verdächtige Blutspuren war jedoch nichts zu erkennen, weshalb sie sich stumm an die Arbeit machten. Die Wagen ohne noch im Zündschloss steckende Schlüssel schoben Boyd, Tim, Raylan und einige andere beiseite, während Ava und Jimmy sich um die anderen kümmerten und diese an den Straßenrand fuhren. Erst das Geräusch einer Hupe zerriss die Stille, in der sie die Karambolage aus dem Weg räumten. Es ließ sie zusammenzucken, einige unter ihnen nach ihren Waffen greifen, als sie herumfuhren und zu ihrer eigenen Autokolonne zurückschauten. Holly – eine weitere Überlebende und alleinerziehende Mutter von drei Kindern – zog ihren jüngsten Sohn am Arm vom Fahrersitz. „Das ist kein Spielzeug, Shawn! Hat dir Mama nicht gesagt, dass du leise sein musst? So leise, als wenn du mit Freddie Verstecken spielst?“ Ihre Stimme klang genauso schrill wie die Autohupe zuvor, panisch und viel zu laut. „Ava-Darling, würdest du so gut sein...“, entrann es Boyd und er machte eine wegwerfende Geste in Hollys Richtung. Die Angesprochene zog kritisch die Augenbrauen zusammen, bevor sie sich der Mutter und ihren Kindern annährte, um sie daran zu erinnern, die Tonlage gesenkt zu halten und sie wieder dazu zu überreden, in den Wagen zu steigen. Dort konnte ihnen am wenigstens passieren und, wenn Shawn die Finger von der Hupe ließ, auch am wenigstens anstellen. „Lasst uns die anderen beiden Wagen beiseite schieben, damit wir endlich weiterkönnen“, sagte Raylan resignierend. Damit schlenderte er auf das vorletzte Auto zu. Zwar war dort von dem Autoschlüssel keine Spur, doch wenigstens war die Bremse nicht gezogen. „Sonst verpassen wir noch unsere Mitfahrgelegenheit.“ Boyd stemmte sich zu seiner rechten gegen die Stoßstange des Lexus. „Und du willst mir wirklich nicht verraten, was genau ihr geplant habt?“, fragte er atemlos, als sie beide den Wagen zum Rand der Straße schoben. In dem Moment, in dem sich jedoch Raylans Mund zu einer Erwiderung öffnete, schnitt ihm ein Schuss das Wort ab. Er hallte die einsame Straße herunter, nur von einem dumpfen Geräusch begleitet, als ein Körper auf dem Asphalt aufschlug. „Ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, aber ich würde vorschlagen, dass wir einen Zahn zulegen“, sagte Tim, als er sein Gewehr ein Stückchen senkte und Raylan stattdessen einen bedeutungsschweren Blick zuwarf. Dieser brauchte nicht zu dem toten Körper sehen, um zu wissen, was er dort vorfinden würde. Nein, viel eher war es dasselbe wie das, was dort im Unterholz um sie herum zu rascheln begann. Es war mehr als nur ein Untoter, um einige mehr waren von der Autohupe angelockt worden. Boyd und er hatten gerade den ersten Wagen aus dem Weg geräumt und steuerten auch den letzten an, als sie aus den Büschen und zwischen den Bäumen hindurch gekrochen kamen. Es waren zu viele, um sie zu zählen. Fiebrige Augen erfassten sie von beiden Seiten der Straße, als sich die aus ihren Gräbern gestiegenen Leichen auf sie zu schleppten. Ihre Schritte waren abgehackt und unsicher, aber ihr Vorankommen stetig, als die Horde sie umringte. „Ab heute werden Kinder grundsätzlich im Kofferraum fahren“, presste Raylan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Tim schaltete einen weiteren Zombie aus, bevor er nachlud. „Was ist dann mit Crowder?“ „Der wird auf dem Dach festgebunden.“ Boyd, der zusammen mit Raylan auch den zweiten Wagen mit einem Ächzen aus dem Weg schob, entwich es ersticktes „In deinen lieblichen Träumen vielleicht, Raylan“. ● Die Luft war von Schüssen erfüllt. Tim Gutterson hatte mit seinem Gewehr einen der Wagen erklommen, um einen besseren Überblick über die Zombies zu haben. Trotz der Schreie und der panischen Stimmen blieb er ruhig, seine Atmung gleichmäßig, als er einen der verrotteten Untoten ins Visier nahm und ihm eine Kugel durch den Schädel jagte. Das Blut bespritzte die Scheibe, an der er gestanden hatte, als er versucht hatte, an die Insassen des Autos heranzukommen. „Jetzt bist du sicher froh, dass wir uns deiner Gruppe angeschlossen haben“, entwich es Boyd, mit dem Raylan Rücken an Rücken stand. Das war nicht zwingend etwas Neues, denn der Feind des Feindes war bekanntlich ein Freund. Mit der Glock in der Hand schoss er den sich annährenden Untoten ohne mit der Wimper zu zucken nieder. Der Lauf seiner Waffe ruckte von einer Seite zur anderen, bis ihm die Patronen ausgingen und er ein neues Magazin aus der Hosentasche kramte. Er hatte schon so viele lebende Menschen erschossen, dass ein Toter nun wirklich nicht mehr so viel ausmachte. Doch für jeden Untoten, den sie niederschossen, drängten sich zwei weitere auf sie zu. Sie wollten einfach kein Ende nehmen. „Unheimlich, Boyd“, raunte er lediglich zurück. Allerdings hätte er wohl kaum das Angebot angenommen, wenn er nicht die Nützlichkeit der drei miteingerechnet hätte. Man mochte über Boyd Crowder eine Menge sagen, aber dass er sich zur Wehr setzen konnte war keine Übertreibung. „Boyd!“, schallte Avas Stimme zu ihnen herüber, gerade so hörbar über den Tumult. Sie stand noch immer an einem der hinteren Autos, in dem sich Holly mit ihren Kindern verbarrikadiert hatten. Nur hatten einige Untote ihr den Weg zur Tür abgeschnitten, so dass Ava nicht ins Innere schlüpfen konnte. „Ich hab keine Patronen mehr.“ Enger und enger zog sich der Kreis um sie, bis sie einem Zombie mit dem Griff ihrer Schrotflinte eines überzog und ihn kurzzeitig einknicken ließ. Bevor Raylan reagieren konnte, war Boyd bereits losgestürmt. Er schoss sich den Weg frei, als er mit raschen Schritten den Abstand zu seiner Verlobten überbrückte. „Ava!“ Vielleicht hatte er Boyds Gefühle für sie unterschätzt, ging es Raylan durch den Kopf, als er herumfuhr, um die von Boyd übrig gelassenen Zombies einen nach dem anderen niederzuschießen. Zeitgleich kämpfte er sich zu ihrem Wagen vor, stieß einen dieser Dinger mit der Tür beiseite und schob sich ins Interieur. Benzin hin oder her, aber wenn sie weiter so machten, dann würden sie keine Munition mehr haben. Die Glock landete auf dem Beifahrersitz, als er den von Tim in das Zündschloss gehämmerte Schraubenschlüssel drehte und somit den Motor anwarf. Gleich darauf drückte Raylan das Gaspedal durch, woraufhin es krachte, als er ein, zwei, drei der Untoten umfuhr. Nach einigen Metern legte er bereits den Rückwärtsgang ein und lenkte den Wagen über die am Boden liegenden Toten. Viel Manövrierfreiheit hatte Raylan durch die anderen Autos nicht, doch er wiederholte diese Vorgehensweise noch einige Male, bis er seine Glock erneut aufnahm und wieder ausstieg. Die Frau mit dem fehlenden Auge und mit dem klumpenhaften Haaren vor ihm am Boden knallte er ab, als deren Finger sich um sein Fußgelenk schlossen. Die Berührung stellte ihm die Nackenhaare auf und ließ ihn das Gesicht verziehen. Im Moment gab es jedoch wichtigere Dinge als Ekel, weshalb Raylan nicht zögerte, sondern sich eine mitgenommene Waffe mit mehr Durchschlagskraft aus dem Kofferraum angelte. Tim und er hatten darauf geachtet, dass sämtliche Waffen bereits geladen und einsatzbereit waren, weshalb er sich nicht die Mühe machte und das Gewehr checkte. Stattdessen warf er den Deckel krachend zu und begann sich den übrig gebliebenen Untoten zu widmen. Auch Tim eliminierte einen nach dem anderen, bevor er von dem Wagen herunterkletterte und Raylan zu Boyd und seinen Leuten herüber folgte. Diese waren es nämlich, die sich in einer ungünstigen Lage befanden. Jimmy musste das Maschinengewehr aufgeben, da die Gefahr zu groß war, anstatt der Zombies seinen Auftragsgeber und seine Lady zu treffen. Er hatte ein Messer hervorgezogen und einen seiner Gegner zu Boden gestoßen, um ihm die Klinge schmatzend in das Gehirn zu rammen. Inzwischen war Boyd dabei seine Pistole nachzuladen, Ava direkt hinter ihm auch weiterhin die Schrotflinte umklammert haltend. Einige in den Wägen verbarrikadierte Männer und Frauen öffneten die Türen einen Spalt und kurbelten die Fenster ein Stückchen herunter, um den Pistolenlauf hindurchschieben zu können. Und obwohl Raylan sicher war, dass sie genauso gut eine Kugel von ihnen abgekommen könnten, so stillte das Wissen, dass er eine kugelsichere Weste trug und er einen Kriegsveteranen direkt hinter sich hatte, die Unruhe in seinem Inneren. Tim würde im Notfall schon wissen, was zu tun war – ob nun bei einer Schusswunde oder um die anderen dennoch rechtzeitig zu ihrem Rendevouzpunkt zu bringen. Die verwesten Körper fielen nach und nach zu Boden, bereits tot, bevor sie überhaupt auf dem Asphalt aufgeschlagen waren. Einer nach dem anderen, von einem von ihnen in Selbstverteidigung in den Kopf geschossen, bis die zweistellige Zahl sich in eine einstellige verwandelte. Sein Gewehr mit eingesteckten Patronen nachladend sah Raylan nur in den Augenwinkel, wie Boyd abermals die Pistole hob, um den Untoten vor sich den Todesstoß zu geben. Ein hilfsloses Klicken war alles, was ertönte. Erstaunen breitete sich auf Boyds Gesicht aus, als er ein zweites und drittes Mal erfolglos den Abzug drückte. Doch es war Jimmy, der den Zombie von den Beinen holte, bevor er sich auf Boyd stürzen konnte. Gemeinsam gingen sie zu Boden, das Messer rutschte aus der Hand des jungen Mannes und schlitterte außer Reichweite. Jimmy folgte ihm mit dem Blick, streckte den Arm verzweifelt nach ihm aus, in dem Versuch es doch noch irgendwie zu erreichen. Erfolglos, stattdessen ließ sein Schmerzensschrei alle Köpfe herumrucken. Die verwesten Arme hatten sich wie in einer Umarmung um Jimmys Schultern geschlungen und die verfaulten Zähne sich in das Fleisch in seiner Halsbeuge geschlagen. Blut spritzte, zu viel und zu schnell, einer Fontäne gleich. Raylan klappte das Gewehr zusammen, schoss den letzten ihm in Weg stehenden Untoten das Gehirn weg, bevor er Jimmy bereits erreicht hatte. Zusammen mit Boyd packte er den Jungen an den Armen und entzog ihn der wiederauferstandenen Leiche. Im selben Augenblick zog Tim seine Dienstwaffe hervor und pustete ihr das Licht aus. Der Körper sackte zur Seite, wo er bewegungslos liegen blieb. Den weinenden Jimmy hingegen drehten sie auf den Rücken. Ihre Jacke opfernd übergab Ava sie ihrem Verlobten, der das Material auf die Wunde an Jimmys Hals presste. Raylan ließ den Arme mit dem Gewehr sinken, als er über ihnen stand. Die Jacke verfärbte sich binnen weniger Sekunden rot, sog sich mit seinem Blut voll. Es war eindeutig die Hauptschlagader beschädigt worden. „Boyd...“, entrann es Raylan und er schüttelte den Kopf, als der braunhaarige Mann aufsah. Trotz seiner sonst so stahlharten Nerven, stand Boyd der Schweiß auf der Stirn und der Schock in seinem Gesicht geschrieben. Es war derselbe Schock, der auch in Jimmys aufgerissenen Augen lesbar war, der ihn anstarrte und gleichzeitig durch ihn hindurch zu sehen schien. Selbst seine Schreie waren inzwischen verebbt und nur noch ein Gurgeln und Röcheln entrann seiner Kehle, als er ausblutete. Die Glock aus der Halterung ziehend hielt er sie Boyd hin, der sie nach einigen Sekunden entgegennahm. Im selben Moment fiel Ava neben den beiden auf die Knie. Zittrige Finger strichen Jimmy einige der dunkelblonden Haarsträhnen aus der Stirn, als sie sich die freie Hand gegen den Mund presste. Stumme Tränen tropfen von ihrem Kinn und Raylans Blick wanderte zu Tim herüber, der ihn mit melancholischer Miene erwiderte. Das hätte genauso gut einer von ihnen sein können oder es könnte sogar noch einer von ihnen werden. „Es tut mir wirklich leid, Jimmy“, konnte er Boyd flüstern hören, als er in einer sanften Bewegung Avas Hand von seiner Stirn zog und den Abzug drückte. Das Echo des Schusses suchte sich den Weg die Straße herunter und Boyd erhob sich. Er zog Ava auf die Beine und in seine Arme, ehe er Raylan die Glock überreichte und sie zu ihrem Wagen zurückkehrten. Kapitel 7: - 7 - ---------------- Die Hinterstraßen am äußersten Rand Harlans waren mehr Feldwege als alles andere. Doch wenigstens versperrten keine Autokarambolagen mehr ihren Weg, als sie in die Richtung des Flugplatzes brausten. Ein Blick auf die Uhr verriet Raylan, dass sie nur noch eine halbe Stunde hatten, bis der Hubschrauber auftauchen würde. Es war doch knapper als erwartet. „Man könnte annehmen, es wäre das erste Mal, dass du jemanden hast sterben sehen“, bemerkte Tim neben ihm nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie mit einem Stillschweigen verbracht hatten. Raylans Augen blieben auf die Straße gerichtet, beide Hände am Lenkrad, da der Wagen auf dem unebenen und teilweise überwucherten Boden beständig ruckelte. „Und man könnte glatt meinen, dass du dich um mich sorgst.“ „Um was ich mir Sorgen mache, Raylan, ist, ob du in einem kritischen Moment in der Lage bist, den Abzug zu drücken“, erwiderte Tim nonchalant. In der Art und Weise wie er es sagte, erinnerte er Raylan unweigerlich an Art. Er hatte auch immer durch seine sonst so perfekte Maske blicken können, hatte stets den Nagel auf den Kopf getroffen, auch wenn Raylan es abgestritten hatte. Dennoch zog Raylan die Augenbrauen zusammen und schmunzelte. „Wenn ich es nicht besser wüsste, wurde ich sagen, dass du vergessen hast mit wem du hier sprichst.“ Tim gab ein belustigtes Schnauben von sich. Er war so unbeeindruckt, dass es Raylan wiederum glatt ein wenig beeindruckte. „Vielleicht kenn’ ich dich auch einfach besser als du annimmst.“ Seine Worte quittierte er mit einem Schulternzucken und einem gelangweilten Blick aus dem Seitenfenster – zumindest so lange, bis er Raylans bemerkte, der immerzu von der Straße zu ihm herüberzuckte. „Was?“, fragte Tim und er studierte Raylans undefinierbare Züge. „Du siehst aus, als ob du mich küssen willst“, fügte er nach einem kurzen Zögern hinzu und beide Männer hoben unabhängig voneinander die Augenbrauen. „Tu ich das?“ Tim nickte kaum merklich, so dass es auch nur der unebene Feldweg hätte sein können. „Ja, Raylan“, erwiderte er. „Das tust du. Und das nicht erst seit fünf Minuten.“ Ein minutenlanges Schweigen hing zwischen ihnen in der Luft, bevor Raylan antwortete. „Na ja... wäre das denn so schlimm?“ Denn wenn er darüber nachdachte, klang diese Feststellung nicht ganz so abwegig wie er sich vielleicht wünschen würde. War das der Auslöser der Angespanntheit zwischen ihnen gewesen? Es war jedenfalls einen Gedanken wert. Da seine eigenen Augen nun wieder vollkommen geradeaus gerichtet waren, spürte er Tims Blick viel eher als dass er ihn sah. „Ich hab’ wirklich nicht die Absicht, mich zu deinen Exfreundinnen zu zählen. Wir wissen wohl beide, dass es davon schon zu viele gibt.“ Es war ein einschlagendes Argument, das Raylan nicht widerlegen konnte. Dennoch öffnete er den Mund, nur um ihn im selben Atemzug wieder zu schließen und auf die Bremse zu treten. Vor ihnen gabelte sich der zugewachsene Feldweg, doch es war das unter der Sonne blitzende Metall zwischen den Sträuchern in der Ferne, welches seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er formte die Augen zu schmalen Schlitzen. „So viel dann wohl zu unserem Plan“, entrann es ihm, als er in die Richtung der Straßensperre deutete, die auf sie wartete. Im Gegensatz zu der verlassenen Karambolage war diese tatsächlich von polizeilicher und gar militärischer Natur, dessen war sich Raylan sicher. Immerhin war das einer der unzähligen Wege, die aus Harlan hinaus zum Rest der amerikanischen Landkarte führte. Es war ein strategisch guter Platz, um ein paar Fahrzeuge und bewaffnete Leute abzustellen, obwohl sie gehofft hatten, dass man diese Straße übersehen würde. Ein Blick in den Rückspiegel verriet Raylan, dass die anderen Autos hinter ihnen zum Stehen gekommen waren und auf sie warteten. Wenigstens hatten sie aus dem vorangegangenen Vorfall gelernt und alarmierten dieses Mal niemanden mit einer unnötig betätigten Autohupe. Tim starrte konzentriert in die Ferne, seine Hand längst wieder um sein Gewehr geschlossen, als wollte er losstürmen und sich den Weg freikämpfen. Wahrscheinlich aber war es viel mehr ein Reflex als alles andere, denn für unüberlegte Handlungen war der dunkelblonde Deputy nicht bekannt. „Das Unterholz ist dicht genug. Man könnte sich unter Umständen vorbeischleichen“, bestätigte er kurz darauf Raylans Gedanken. Dieser legte den Kopf schief. „Vorausgesetzt, jemand anderes zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Wie ein Mann mit einem Marshalabzeichen und einem Wagen wie diesem.“ „Oder wie zwei Männer mit Marshalabzeichen und in einem Wagen wie diesem“, verbesserte Tim, bevor er die Wagentür langsam öffnete, um ein Quietschen zu vermeiden. Er stieg aus und Raylan tat es ihm gleich. Gemeinsam steuerten sie die hinteren Autos an, bedeuteten den Insassen beim Aussteigen jedoch mit einem Finger an den Lippen Ruhe. Immerhin waren sie nicht so weit gekommen, um hier und jetzt von einem möglichen Maschinengewehr durchlöchert zu werden. „Was ist es diesmal, Raylan?“, fragte Boyd leise. Seine braunen Haare saßen einen Deut wilder als zuvor und sein Gesicht war nachdenklicher als man es gewohnt war – und dennoch vermochte Raylan kein Mitgefühl für ihn aufbringen zu können. Genauso wenig wie für Ava, die blass wie Papier war und dunkle Ringe unter den Augen trug. Vielleicht mochte er früher einst ein Verhältnis mit ihr gehabt haben, doch heute steckte sie genauso tief in Boyds illegalen Geschäften drin wie ihr Verlobter selbst. Als sie vor einigen Monaten wegen Mordes an Delroy Baker verhaftet worden war, hatte Boyd die Jurymitglieder bestochen oder gar bedroht, um den Freispruch zu erlangen. Es gab keine Beweise, doch Raylan kannte ihn lange genug, ebenso wie er mit dem Rechtssystem vertraut war, um zu wissen, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Wirklich schade war es um Delroy, dem Besitzer Audrey’s nicht. Wie er mit den Frauen in seinem Freudenhaus und seiner Bar umgangen war, war ebenfalls kein Geheimnis. Nein, viel eher hatte er es verdient. Karma erwischte einen früher oder später eben immer. „Die Straße ist gesperrt“, murmelte Raylan. Er schob eine Hand in die Hosentasche, als er die umstehenden Leute ins Auge fasste, die sich mit angsterfüllten Blicken umsahen. Es waren alles Zivilisten und Familien, die vermutlich nicht einmal wussten, wie man eine anständige Lüge erzählte. „Von hier aus geht es nur noch zu Fuß weiter, aber bis zu dem Flugplatz ist es nicht mehr weit. Wie lange wird es dauern? Tim?“ Der Angesprochene hielt das Gewehr griffbereit. „Fünfzehn Minuten in etwa.“ „Fünfzehn Minuten.“ Raylan nickte und er sah zu Boyd herüber, der noch immer Avas Hand fest umklammert hielt. „Du wirst sie dorthin bringen, Boyd.“ Dieser trat einen Schritt vor, die Stimme noch weiter gesenkt. „Und da dachte ich, dass du mir nicht über den Weg traust, lieber Raylan.“ Raylan presste daraufhin lediglich die Lippen aufeinander und schluckte die Antwort, die sie beide kannten, herunter. „Aber sag’, was machen Deputy Gutterson und du in der Zeit?“, fuhr Boyd unbeirrt fort. „Willst du das wirklich wissen, Boyd?“, entrann es Raylan in einem harschen Ton. Seine Augen bohrten sich in diesen hinein, während der Zorn, der schon seit einer Ewigkeit einen festen Platz in seiner Brust hatte, um die Kontrolle rang. Er war wie Krebs, der wuchs und sich ausbreitete, bis nichts mehr übrig war. „Deputy Gutterson und ich gehen uns für dich opfern. Das ist es doch, was Leute für dich ständig tun. Deinen Arsch retten. Weil das ist doch das Beste, was du kannst: anderen die Schuld in die Schuhe schieben und die Verantwortung tragen lassen. Ist es nicht ein tolles Gefühl, wenn andere ihre Leben für dich geben? Hm?“ Eine Stille breitete sich aus, die niemand zu zerbrechen gedachte, als beide Männer sich anstarrten. Irgendwann brach Boyd den Blickkontakt und schaute an ihm vorbei. „Ich wusste nicht, dass dir Arlos Tod noch immer so zu schaffen macht, Raylan. Er war ein guter Mann. Ich habe ihn stets zu meiner Familie gezählt.“ Bei diesen Worten biss Raylan die Zähne aufeinander, während seine Finger in die Richtung seiner Glock zuckten. Es war ein irrationaler Instinkt. Obwohl Raylan anfangs geglaubt hatte, dass Arlo den Tod eines Polizisten auf sich nahm, um Boyd zu beschützen, musste er sich später eines Besseren belehren. Arlo hatte nicht die Schuld auf sich genommen, sondern er hatte tatsächlich den Polizisten für Boyd umgebracht. Er hatte einen Mann in einem Cowboyhut gesehen – einen Mann, der Raylan ähnlich sah –, der mit der Pistole auf Boyd gezielt hatte. Anstatt zu seinem eigenen Sohn zu stehen, den er ohnehin sein ganzes Leben wie Dreck behandelt hatte, hatte er zu einem Kriminellen, zu einem Fanatiker, gehalten. Und das hier war vielleicht die letzte Chance, um mit Boyd Crowder abzurechnen – es war Tims Hand auf seiner Schulter, die ihn jedoch aus diesem Strudel der Gefühle riss. Im ersten Moment war es Unverständnis, was über Raylans Gesicht zuckte, denn immerhin betraf das Tim genauso wie ihn. Immerhin kannte Raylan ihn gut genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass Tim ihm nicht allein das Ablenkungsmanöver überlassen würde. Egal, ob er ihn nun darum bat oder es zu bestimmen versuchte. Sich abwendend warf Raylan nur noch einen letzten Blick über seine Schulter. „Keine Opfergaben mehr. Du bringst alle zum Flugplatz.“ Boyd nickte bedächtig. „Versprochen, Raylan. Egal, was für böses Blut zwischen uns geflossen ist, ich werde dich nicht enttäuschen. Der alten Zeiten willen.“ Inzwischen rutschte Tims Hand von seiner Schulter und er sah stattdessen auf seine Armbanduhr. „Ihr müsst euch leise und schnell bewegen. Der Helikopter wird in zwanzig Minuten landen. Mehr als fünf wird er nicht bleiben. Sagt ihnen einfach, dass Tim Gutterson euch schickt.“ „Danke, Deputy“, war alles, was Boyd erwiderte, als die Menschen zu ihren Autos zurückkehrten, um die wichtigsten Dinge herauszuholen. ● Der Wagen rollte auf die Straßensperre zu. Von ihrem jetzigen Standort aus hatten sie einen guten Blick auf die zwei tarngrünen Fahrzeuge, die horizontal zueinander auf dem Feldweg geparkt worden waren. „Ich kann nicht glauben, dass ich das sage“, begann Raylan, als er den Wagen auf die fünf uniformierten Männer vor ihnen zusteuerte, „aber du hättest bei Boyd bleiben sollen.“ Einer der Soldaten postierte sich direkt vor ihnen und hob warnend die Hand, während alle anderen ihre Maschinengewehre im Anschlag trugen und sie wachsam beobachteten. Boyd und dem Rest ihrer Gruppe hatten sie einen kleinen Vorsprung gegeben, doch Raylan konnte im Moment nur erraten, welche Route sie um diese Absperrung machten. Es blieb lediglich zu hoffen, dass sie leise dabei und die Soldaten zu sehr auf sie fixiert waren, um sie zu bemerken. Ein Seitenblick in Tims Gesicht verriet jedoch nichts, seine Züge waren genauso ebenmäßig wie sonst. „Warum? Weil ich draufgehen könnte oder weil man Crowder nicht vertrauen kann?“ Raylan ließ ihren Wagen langsam zu einem geschmeidigen Stillstand kommen und ließ das Seitenfenster herunter. „Beides“, erwiderte er dabei auf Tims Frage. „Wahrscheinlich aber ein bisschen mehr wegen letzterem.“ „Das ist gut zu wissen“, kam es von Tim, als der Soldat, der ihnen signalisiert hatte, an das Fenster trat. Auch der Schwarze trug ein Maschinengewehr in den Händen, hielt die Mündung jedoch auf den Boden gerichtet. „Die Zufahrt ist gesperrt. Bitte drehen Sie um und fahren Sie zurück.“ Sein Ton war ausdruckslos und in seinem Gesicht zuckte nicht ein Muskel. Er hatte eindeutig ein besseres Pokerface als Tim. Beeindruckend. „Ich bin Deputy US Marshal Raylan Givens“, erwiderte Raylan, als hätte er die vorangegangenen Worte nicht gehört. Zeitgleich nahm er in einer langsamen Bewegung die Marke von seinem Schoß und klappte sie auf, um sie dem Soldaten hinzuhalten. „Und das ist Deputy US Marshal Tim Gut—“ „Sir“, unterbrach der Schwarze ihn ungehalten. „Es ist mir egal, wer Sie sind. Meinetwegen können Sie auch der Kaiser von China sein. Ich habe meine Befehle – und die lauten, niemanden durchzulassen. Niemanden.“ Bei dem Soldaten handelte sich offenbar um eine harte Nuss, um jemanden, der sich strikt an das Handbuch hielt. Alles andere wäre auch zu schön, um wahr zu sein gewesen, obwohl sie es wohl gutheißen sollten, dass wenigsten in einer Krisenzeit wie dieser jemand seine Arbeit richtig machte. „Wer hat etwas davon gesagt, dass wir durch wollen?“, fragte Raylan in einem heiteren Ton und mit dem Ansatz eines Schmunzelns. „Eigentlich sind wir eher auf der Suche nach jemandem, der uns sagen kann, wie lange diese Quarantäne anhalten soll. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern haben die Bewohner hier längst bemerkt, dass diese... dieses Phänomen, wenn man es denn so nennen will, nicht auf einen lebenden Organismus überspringt.“ Er zuckte locker mit den Schultern, obwohl sein Gegenüber alles andere als locker war. Dem Schweiß auf seiner Stirn nach zu urteilen, war er das genaue Gegenteil davon. Der Mann hatte doch wohl keine Angst, sich anstecken zu können? „Darüber kann ich keine Auskunft geben“, antwortete er. „Wie wäre es, wenn Sie einfach mal bei Ihrem Vorgesetzten durchklingeln, Lieutenant“, lenkte Tim ein, „und ihm sagen, dass zwei Deputy US Marshals um Auskunft bitten. Ein ungefährer Zeitraum genügt dabei völlig, um den Überlebenden in Lexington einen Hoffnungsschimmer zu geben.“ Obwohl sein Ton nonchalant klang, ließ sein ernster Gesichtsausdruck keine faulen Ausreden zu. Das schien auch an dem Soldaten nicht gänzlich vorbeizugehen, denn die prompte Antwort blieb aus. Nur die Angespanntheit seines Kiefers und der Schweiß ließen darauf schließen, dass die Situation seine Nerven strapazierte. „Ich sehe, was sich machen lässt“, presste er letztendlich harsch hervor. Dabei war Raylan sich nicht sicher, ob der Grund für diese widerwillige Einwilligung nun Tims Worte waren oder doch die Erkennungsmarken, die um Tims Hals hingen und ihm soeben ins Auge gefallen waren. Wann hatte Tim sie unter dem Hemd hervorgeholt? “Warten Sie hier.“ Mit diesen Worten wandte sich der Schwarze ab und stiefelte davon. Das tat er jedoch nicht, ohne seinen Leuten zu signalisieren, dass sie weiterhin ein Auge auf den Wagen und seine Insassen haben sollten. Die Mündungen der Maschinengewehre sowie die Blicke der anderen vier Soldaten blieben somit auf sie gerichtet, während ihr Lieutenant zu einem der Fahrzeuge zurückkehrte und das Funkgerät ergriff. „Meinst du, er macht es wirklich oder tut nur so?“, fragte Raylan, als sich seine Lippen zu bewegen begannen, und er warf Tim einen Seitenblick zu. Dieser beobachtete ebenfalls das Geschehen vor ihnen. „Er fragt nach“, sagte er und schob die Erkennungsmarken wieder unter sein Hemd. Ein siegreiches Lächeln huschte über sein Gesicht und Raylan wurde klar, dass er es geplant hatte. Ein Soldat war wohl doch eher geneigt, einem Kameraden einen Gefallen zu tun, als einem einfachen dahergelaufenen Deputy Marshal. Nächstes Mal würde Raylan Tim gleich das Reden überlassen, so viel stand fest. Allerdings wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen, als ein Schrei durch den Wald gellte. Schrill und voller Panik – und ganz sicher von jemandem aus der kleinen Gruppe, die auf dem Weg zum Flugplatz waren. Waren sie über einen Untoten gestolpert? Raylan fluchte, als sich die Soldaten umwandten und die entgegengesetzte Richtung starrten, ihre Waffen fest umgriffen. In derselben Sekunde hatten seine Finger bereits seine Glock aus dem Holster gezogen. Die Soldaten beachteten ihn nicht weiter, sondern umrundeten ihre Fahrzeuge und schlichen in die Richtung, aus welcher der Laut gekommen war. Langsam und bedacht, mit Handzeichen, woraufhin sie sich in zwei Gruppen aufteilten. „Weißt du, was du tust?“, fragte Tim neben ihm, als Raylan seine Pistole aus dem geöffneten Fenster schob. „Weiß ich das jemals?“, konterte er, als er den Abzug drückte. Da er mit seiner linken Hand schoss, traf er nichts außer die staubige Erde des Feldwegs. Genau das war jedoch seine Absicht gewesen. Ein weiteres Mal fuhren die Soldaten mit ihren Maschinengewehren blitzschnell herum und visierten Raylan an. Doch es war erst bei seinem zweiten Schuss, dass sie das Feuer eröffneten. Raylan und Tim duckten sich, als der Kugelhagel über sie hereinbrach. Die Scheibe zerbarst und Splitter regneten über sie herein, als Raylan hektisch den Rückwärtsgang einlegte. Sein Fuß drückte blind das Gaspedal, als er den Wagen ruckartig zurücksetzte. Er rumpelte einige Meter über den Feldweg, direkt in kniehohes Unkraut hinein, in welchem er zum Stehen kam, als Kugeln ihn durchlöcherten. Tim stieß die Wagentür auf, nahm sie als Schutzschild, als er sich hinter der Stoßstange in vorläufige Sicherheit brachte. Raylan war ihm dicht auf den Fersen. Beinahe monoton flogen die Kugeln an ihnen vorbei und wirbelten links und rechts von ihnen die Erde auf. Dennoch war sich Raylan sicher, dass mindestens zwei von den Soldaten die Gelegenheit nutzten, um sich näher an sie heranzuschleichen. „Hörst du das?“, presste Tim hervor, der immer wieder von der Seite des Wagen zurückschoss. Nur zielen tat er dabei nicht, was Raylan sagte, dass er ebenfalls nicht vorhatte, einen der Soldaten auszuschalten. Raylan lauschte den Schüssen, welche die Stille kontinuierlich zerrissen und wahrscheinlich eine weitere Horde von den Untoten anlocken würde. Doch nach einigen Momenten konnte er hören, was Tim gemeint hatte: Die Rotoren eines Hubschraubers. Beinahe im selben Augenblick erhob sich die Militärmaschine in der Ferne über die riesigen Bäume und die Sonne brach sich auf ihrem schwarzen Lack. Auch die Soldaten blickten in den Himmel und unterließen sekundenlang das Schießen. Boyd und die anderen hatten es geschafft, wurde Raylan klar. „Jetzt können wir auch nach Art suchen gehen. Wenn wir schon mal hier festsitzen, versteht sich“, entrann es ihm, als er Tim neben sich ebenfalls dem Helikopter nachschauen sah. Irgendwo wartete Winona auf ihn, doch genauso wie sie nicht erwartete, dass er zu den Vorbereitungskursen erschien, würde sie ihn bei der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter nicht erwarten. Sie würde es ihm nicht übel nehmen, wenn er sie erst in ein paar Monaten besuchen kam. Sie würde es verstehen, genauso wie sie es immer getan hatte. „Der Gedanke kam mir auch“, erwiderte Tim inzwischen kurzatmig. „Und wenn wir das hier überleben“, lenkte Raylan ein, „werde ich vielleicht auch auf den Kuss zurückkommen.“ Tims Augen zuckten sogleich zu ihm herüber, lagen jedoch auf Raylans provokant verzogenen Lippen. „Wenn dir das so wichtig ist, solltest du das wohl tun.“ Anschließend bedeutete er Raylan einen Weg querfeldein durch das Dickicht und dieser nickte. Zeitgleich bäumten sie sich auf und stürmten hinter dem Auto hervor, um den Rückzug anzutreten. Mit rasselndem Atem, hektischen Schritten und wieder hinter ihnen einschlagenden Schüssen stürzten sie sich einen kleinen Abhang herunter und strauchelten zwischen den Bäumen hindurch, zurück in die Richtung des überrannten Lexington. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)