Feigning Sane von Votani (Justified) ================================================================================ Kapitel 4: - 4 - ---------------- Es dauerte ganze vier Tage, bis Leslie Mullen die Fassung verlor. Zunächst waren es die dunkler werdenden Ringe unter ihren Augen gewesen, die sie verraten hatten, bis ihr beim Frühstück – wenn man Brotreste und Instantkaffee wirklich so nennen konnte – bei der namentlichen Erwähnung ihres Ehemannes der Teller aus den zittrigen Fingern glitt und sie in Tränen ausbrach. Das Zerspringen des Porzellans wurde von erschrockenen Blicken und von einem ausnahmslosen Schweigen begleitet. „Jemand sollte sie trösten gehen“, entrann es Raylan, der abseits des Geschehens saß. Sein Blick wanderte von der alten Dame mit den mausgrauen Haaren zu Tim herüber, der auf der anderen Seite der Plastikscheibe saß, die ihre Schreibtische voneinander trennte. Trotz des allgegenwärtigen Chaos war dieser Anblick vertraut, beinahe normal. „Betreuen, meine ich.“ Tim saß zurückgelehnt in seinem Drehstuhl, die Arme vor dem Brustkorb verschränkt. Manchmal kam es Raylan so vor, als würde sein Kollege nichts anderes mehr mit seinen Händen anzufangen wissen, wenn sie keine Schusswaffe trugen oder Papierkram ausfüllten. „Hast du nicht gesagt, dass Art dich beauftragt hat, ein Auge auf sie zu werfen?“ Ein Nicken folgte zunächst. „Ja, aber dann ist mir aufgefallen, dass du mit deiner Erfahrung in Kriegsgebieten besser dafür geeignet bist.“ „Willst du damit sagen, dass ich eine Schraube locker habe?“, fragte Tim und schnaubte belustigt. Er drehte seinen Stuhl ein Stück, um Raylan vollständig ins Auge fassen zu können. Der Ausdruck auf seinem Gesicht lag irgendwo zwischen offener Belustigung und einer Neutralität, die nicht erkennen ließ, ob Raylan mit diesen Worten einen wunden Punkt getroffen hatte oder nicht. Überraschend wäre es nicht, denn Taktgefühl war noch nie seine Stärke gewesen – und Tim war ohnehin wie ein Minenfeld. Erst wenn man aus Versehen auf eine getreten war, bemerkte man es in der Form eines sarkastischen Scherzes oder eines mysteriösen Blickes. „Na ja“, begann Raylan und kratzte sich an dem kurzen Bärtchen an seinem Kinn, welcher bereits ein bisschen Grau aufwies. „An eine lockere Schraube hab' ich dabei nicht gedacht, aber mir ist etwas von posttraumatischem Stress zu Ohren gekommen.“ „Manchmal vergesse ich, dass es hier so etwas wie Privatsphäre nicht gibt“, antwortete Tim mit einem Schulternzucken, während er einen Arm aus seiner Verschränkung löste. Er hielt Raylan die geballte Faust hin, der daraufhin die Augenbrauen zusammenzog. „Schere, Stein, Papier – ist das dein Ernst?“ Tim antwortete ihm nur mit einem gehobenen Mundwinkel und einem vielsagenden Blick. Doch Raylan nahm an, dass es jemanden mit Tims Erfahrung brauchte, um in einer derartig verzwickten Situation wie ihrer noch herumwitzeln zu können. In dem gewissenhaften Deputy Marshal mit seinem Scharfschützengewehr steckte eben ein Teenager, der nie ausgelebt worden war. Und wer war Raylan, dass er dieser Herausforderung den Rücken kehrte? Nein, stattdessen hob er die Hand und ließ sich auf das Spiel ein. Tims Papier umwickelte seinen Stein, woraufhin sich Raylan seufzend aus seinem Stuhl erhob. Das wäre auch zu schön gewesen um wahr zu sein... „Ach, Raylan...“, ließ ihn Tims Stimme drei Schritte später innehalten und er wandte sich dem jüngeren Mann noch einmal zu. „Ich hab’ vielleicht eine Idee, wie wir hier rauskommen.“ Er sagte es so locker dahin, dass Raylan einige Sekunden brauchte, um den Inhalt seiner Worte zu verstehen, ihn viel mehr zu verdauen. „Sag’ das lieber nicht zu laut“, erwiderte er schließlich, obwohl er nichts lieber tun wollte, als Tim danach zu fragen. „Sonst werden dir die Leute noch mit dem Lynchen drohen, um sie aus dir herauszubekommen.“ Raylan setzte seinen Weg unter Tims Blick fort und schlenderte langsam auf Arts Frau zu. Leslie saß an einem der anderen Schreibtische, die Hände mit dem Stofftaschentuch in ihrem Schoß gebettet. Vor dieser Katastrophe hatte Raylan sie noch nie zu Gesicht bekommen, doch er hatte sich stets eine schlagkräftige Frau vorgestellt, die in Wahrheit im Hause der Mullens die Hosen trug. Scheinbar hatte er sich darin geirrt, denn Leslie war das genaue Gegenteil davon. Sie reichte Raylan nicht einmal bis zu den Schultern hinauf und trug ein mit Blumen besticktes Kleid. Sein Blick ging kurzzeitig über seine Schulter zurück und erfasste Tim, ehe er sich räuspernd mit dem Oberschenkel auf der Schreibtischecke vor ihr niederließ. „Mrs. Mullen“, begann er leise. „Mein Name ist Deputy US Marshal Raylan Givens und—“ „Ich weiß, wer Sie sind, Deputy“, schnitt Leslie ihm das Wort ab und warf ihm einen empörten Blick zu, der nur durch die Tränen in ihren Augen besänftigt wurde. „Art hat sich immer so sehr über Sie aufgeregt, dass selbst unsere Enkel Sie inzwischen vom Namen her kennen.“ „Oh.“ Es war das einzige, was Raylan in den Kopf geschossen kam, denn mit dieser Begrüßung hatte er ganz sicher nicht gerechnet. Da fiel ihm glatt wieder ein, warum er der älteren Frau von vornherein aus dem Weg gegangen war. Doch trotz ihrer Aussage eröffnete sich ein schmales Lächeln auf ihren Lippen, das eine Wärme in sich trug, die genauso irritierend wie ihre vorigen Worte war. „Sie bedeuten ihm viel, Deputy Givens“, sagte sie nun in einem versöhnlicheren Ton und ihre Hände umfassten seine eigene, die auf seinem Knie gelegen hatte. „Ansonsten hätte er Sie schon längst wieder versetzen lassen. Das macht Art mit allen, die er nicht leiden kann. Für ihn sind seine Untergebenen auch gleich Familie – auch wenn er das nicht gern zeigen mag.“ „Das merkt man...“, entrann es Raylan nachdenklich. Zwar hatte er sich nie wirklich damit auseinandergesetzt, doch es war kein Geheimnis, dass Art stets besorgter um ihn und geduldiger mit ihm gewesen war als sein eigener Vater. Art hatte immer ein Auge auf ihn gehabt, dabei hatte Raylan ihn niemals darum gebeten. Genauso wie er es bei Tim oder Rachel getan hatte. Er hatte immer gewusst, wie es privat bei seinen Deputys aussah, obwohl keiner von ihnen gern mit der Sprache herausrückte. Irgendwie war er mit seinem Sarkasmus und seinem grimmigen Gesichtsausdruck doch immer dahinter gekommen. „Art ist hart im Nehmen“, sagte er an Leslie Mullen gewandt und drückte ihre Hand, die noch immer seine umklammert hielt. „Man sieht es ihm zwar nicht an, aber er lässt sich nicht so einfach unterkriegen, Mrs. Mullen.“ Abermals schenkte sie ihm ein Lächeln – und ein Teil von Raylan wollte nach dem nächstbesten Gewehr greifen und ihren Mann suchen gehen. Allerdings hatte er Art versprochen, dass er auf diese Gruppe, auf Leslie, aufpasste. Vorsichtig pellte er seine Hand unter ihrer hervor und erhob sich. „Entschuldigen Sie mich einen Moment“, ließ er in einem leisen Ton verlauten, als er sich von ihr abwandte und zurück zu Tim schlenderte, der noch immer in derselben Position dasaß und ihn beobachtete. „Meinst du bei ‚rauskommen’ raus aus der Quarantänezone?“, fragte Raylan ohne eine Einleitung, als er Tims Schreibtisch erreichte. „Weißt du noch die ganzen Male, wenn du mich darum gebeten hast, beim FBI nach Informationen für dich zu fragen?“, stellte Tim die nüchterne Gegenfrage und Raylan schürzte die Lippen. „Ich hab’ mich gerade daran erinnert, dass ich auch jemanden bei der Nationalgarde kenne. Derjenige schuldet mir auch noch einen Gefallen.“ „Dazu brauchst du ein Funkgerät und eine Energiequelle“, warf Raylan ein, wobei es eine simple Feststellung war. Immerhin war das Stromnetz in Lexington und seiner Umgebung längst ausgefallen und einen Generator hatte das Gerichtsgebäude ebenfalls nicht. Beide Männer sahen einander an und nickten kaum merklich. Dabei war sich Raylan sicher, dass Tim das Gleiche wie ihm durch den Kopf ging: endlich hatten sie einen Plan, ein Ziel, und mussten nicht mehr herumsitzen und Däumchen drehen. ● Raylan überprüfte ein letztes Mal das Magazin seiner Glock, als er vor der Glastür zum Stehen kam. Sie war das einzige, was Tim und ihn von der zuvor überrannten Empfangshalle und den funktionsuntüchtigen Fahrstühlen des Gerichtsgebäudes noch trennte. Auf den ersten Blick wirkte alles verlassen, ausgestorben, doch der Eindruck schien trügerisch. Das sagte Raylan zumindest seine Intuition. „Ich weiß nicht, ob das die beste Idee ist, die du jemals gehabt hast, oder nicht doch die verrückteste“, murmelte er an Tim gewandt. Dieser stand hinter ihm, eine schwarze Tasche und seine eigene Dienstwaffe in den Händen tragend. „Sagt der, der sich in regelmäßigen Abständen in verzwickte Situationen manövriert.“ Er zuckte mit den Schultern. „Immerhin hatte ich wenigstens eine Idee.“ Raylan schenkte ihm daraufhin ein Halbgrinsen, bevor sich sein Blick wieder auf die Tür vor ihm richtete. „Touché.“ Als wäre dies das vereinbarte Stichwort gewesen, stieß Raylan sie auf und beide Männer schoben sich mit erhobenen Pistolen in die Halle hinaus. Das erste, was ihnen entgegenschlug, war ein magenumdrehender Geruch, der jemandem in ihrem Geschäft nicht unbekannt war. Der Tod hatte längst die Luft kontaminiert. Die aufgestaute Hitze hatte den Verwesungsprozess der am Eingang liegenden Toten beschleunigt, worüber Raylan jedoch nicht näher nachzudenken versuchte. Stattdessen atmete er flach ein und aus und presste die Lippen fest aufeinander, als er einen Fuß vor den anderen setzte. Leise bahnten Tim und er sich den Weg zwischen der Reihe aus Bänken und Stühlen hindurch, die nur wenige Tage zuvor als ihre Abgrenzung gedient hatte. Der Tresen der Anmeldung war leer, während eine leichte Brise durch die kaputten Türen drang und einige verstreute Papiere raschelnd über den Boden kriechen ließ. Auf dem halben Weg zur Tür und im selben Moment als Raylan die von Maden zerfressenen Körper ins Auge fielen, ließ ihn Tims Hand auf seiner Schulter zusammenfahren. Ein verständnisloser Blick ging über seine Schulter, doch Tim nickte lediglich zu dem Tresen herüber, den sie bereits hinter sich zurückgelassen hatten. Hinter diesem hockte eine Gestalt, die man vorher nicht hatte sehen können. Es war eine Frau. Ihre Schädeldecke fehlte und ihr blaues Kleid war zerrissen und mit Blut besudelt. Dem Anblick nach war sie ein weiteres Gewaltopfer, dessen Leiche wahrscheinlich zuvor niemals gefunden worden war. Im Moment kniete sie in einer gekrümmter Haltung mit dem Rücken zu ihnen – und erst nach einigen Sekunden erkannte Raylan das Blut, das sich zudem um ihre nackten Füße ausgebreitet hatte, sowie das vor ihr am Boden liegende Etwas. Irgendeine arme Seele hatte sich in die Halle verirrt, war ihr jedoch nie mehr entkommen. War es Art? Oder jemand anderes, der ihnen bekannt war? Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und es bedurfte Tim um ihn anzutreiben, damit sie die Unaufmerksamkeit der Untoten ausnutzen konnten. Vorsichtig überbrückten sie die letzten Meter zum Eingang, stiegen über die Toten herüber und vermieden auf die Glassplitter am Boden zu treten, die sie verraten hätten. „Um sie können wir uns auch später noch kümmern“, murmelte Tim als sie sich im Freien befanden. „Wenn wir schießen, locken wir die Biester erst recht an. Das ist in den Filmen immer so.“ Ihre Blicke wanderten über die Straße, die sie von oben schon unzählige Male beobachtet hatten. Sie kannten all die herumstehenden Autos auswendig, weshalb sie nicht zögerten und stattdessen auf den weißen Mercedes zuschritten, der direkt vor ihnen zum Stehen gekommen war. Er stand mit dem Vorderreifen auf dem Bordstein und somit beinahe diagonal auf der Straße, auf der so einige verlassene Wägen die Durchfahrt versperrten. „Du und deine Filme“, erwiderte Raylan, als Tim seinen Arm durch das halbgeöffnete Autofenster streckte, um sich die Tür zu öffnen. „Kein Wunder, dass du keinen Freund hattest. Wahrscheinlich hast du in deiner Freizeit nie einen Fuß vor die Tür gesetzt.“ Noch während er diese Worte aussprach, wurde Raylan bewusst, dass es die falschen gewesen waren. Doch Tim – offensichtlich die Professionalität in Person – ignorierte ihn. Er zog die Wagentür auf, betätigte den Hebel und umrundete das Auto, um sich an der Motorhaube zu schaffen zu machen. Die schwarze Tasche fiel zu seinen Füßen auf den Asphalt, als er anfing die Autobatterie abzuschrauben. Auch Raylan erhob nicht mehr das Wort, sondern kehrte Tim den Rücken. Mit der im Anschlag tragenden Glock wanderte sein Blick über ihre Umgebung, nach Bewegungen Ausschau haltend. Obwohl man meinen sollte, dass die Fronten zwischen ihnen geklärt waren, schienen sie zum ersten Mal zwischen ihnen zu existieren. Die Vertrautheit, die sie mit Blicken allein kommunizieren ließ, war noch immer ausgeprägt, doch die Lockerheit zwischen ihnen war von einer Ernsthaftigkeit überschattet, die man nur aus den Augenwinkeln heraus in den Schatten lauern sah. Vielleicht war es, weil Tims Geheimnis nun nicht mehr so geheim war wie er es gern gehabt hätte oder weil Raylan es nicht überspielte. Weil er es zur Sprache brachte, immer wieder und ohne sich einzugestehen, weshalb er das eigentlich tat. Womöglich war es aber auch eine Mischung aus allem, ging es ihm durch den Kopf, als er eine durch die Gegend geisternde Person entdeckte. Raylan hielt den Atem an, doch im selben Augenblick klapperte sein Kollege mit irgendetwas hinter ihm. Der Kopf des Untoten ruckte in die Höhe und er hielt in seinem Schritt inne, bevor er bereits ihre Richtung einschlug. „Scheiße“, presste Raylan hervor. Tim hatte recht. Sobald er ihn erschoss, würden alle ehemaligen Bewohner Lexingtons und seiner Umgebung aus ihren Löchern gekrochen kommen, weil sie frische Beute witterten. „Musstest du das Geräusch gerade machen?“ Hinter ihm konnte er das Rascheln der Tasche vernehmen, als Tim sie aufhob. „Ich entschuldige mich vielmals, Raylan“, erwiderte dieser in einem sarkastischen und unangebracht ruhigen Ton. Den Geräuschen nach zu urteilen hievte Tim soeben die Autobatterie in die Tasche, weswegen Raylan das als Zustimmung sah, dass es Zeit zum Gehen war. Mit dem halb verwesten Mann, der auf ihn zu hinkte, machte er kurzen Prozess. Er jagte ihm eine Kugel direkt zwischen die Augen, deren Echo durch die leere Straße hallte. Im selben Atemzug joggten sie zurück zum Gerichtsgebäude, Tim nur etwas durch das Gewicht der Tasche verlangsamt. Wenn er sie jetzt schon als schwer empfand, würde es ein Spaß für Raylan werden zuzusehen, wie er sie drei Stockwerke hinauftrug. Die schädelplattenlose Frau kam ihnen entgegen, als sie sich wieder in den Eingang schoben. Ein Fauchen entrann ihrer Kehle, als sie sich auf sie stürzte. Raylan hielt sie mit einer Hand auf Abstand, als er mit ihr rangelte, als er den Lauf der Glock unter ihr Kinn brachte und abdrückte. Er drehte den Kopf weg, doch konnte dennoch spüren, wie einige Blutspritzer auf seiner Wange landeten. „Ich schätzte, das war auch gerechtfertigt“, entrann es ihm mit kratziger Stimme, als sie vor ihm leblos zu Boden sackte. Tim musterte ihn aufmerksam von der Seite, als er sich mit dem Ärmel über das Gesicht wischte. „Definitiv.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)