Torn World von Sas-_- ================================================================================ Prolog: Awakening ----------------- Hastig flogen Narutos zitternde Hände durch die Schublade. Wo verdammt noch mal hatte er den Stadtplan hingeschmissen?! „Vergiss das Ding, Naruto! Hast du mal aus dem Fenster gesehen?! Da ist nichts mehr, wie es mal war, der Plan hilft uns doch kein –“ „Könntest du mal die Klappe halten?! Ich will wenigstens ein Stück weit Orientierung, ist das denn zu viel verlangt?!“ Wütend hieb Naruto mit seiner Faust beim Sprechen auf die Kommode ein, eines der wenigen noch intakten Stücke ihres Mobiliars. Sofort wirbelte der Staub und Dreck auf, der sich auf der Kommode angesammelt hatte, und tanzte vor Narutos Gesicht verhöhnend auf und ab. Sakura machte ihn ganz verrückt. Seit das alles passiert ist, machte sie ihn völlig verrückt. Ständig musste sie reden, ständig wusste sie alles besser und ständig versuchte sie, ihm – Naruto Uzumaki – zu sagen, was besser, schlauer, klüger und angebrachter wäre. Ständig! Erschrocken blickte Sakura mit ihren schillernd grünen Augen zu ihrem Freund herüber. So aufgebracht hatte sie ihn selten erlebt, aber im Moment lagen wohl bei jedem die Nerven blank. Naruots Kleidung bestand nur noch aus Fetzen. Seine Jeanshose hatte unzählige Löcher, und das hatte nichts mit Style oder Mode zu tun. Dichter Staub klebte ihm sein sonst strahlend blondes Haar grau und fettig an den Kopf. Überall hatte er Schnittwunden, Prellungen und Blutergüsse. Sakura sah kein Stück besser aus. Still musterten die Beiden einander. Wie viele Stunden waren nun schon vergangen, seit sie sich aus den Trümmern zurück in ihr Leben gewühlt hatten, von dem kaum noch etwas übrig war? Sakuras Haar war ebenso grau wie Narutos, ihre Wangen waren aufgeschürft, Schweiß und Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ihre Körper zitterten wie Espenlaub, die Angst lähmte jegliche Vernunft und merzte jeden klaren Gedanken aus. Panik, Furcht, Verzweiflung. „Was ist nur passiert? Was ist nur … Was ist nur aus uns geworden, wir –“, dachte Naruto und eine erschreckende Kälte breitete sich in ihm aus. Langsam klärte sich sein vor Wut vernebelter Blick wieder, und er starrte mit zusammengepressten Lippen auf seine Faust, die immer noch auf der Kommode ruhte. Narutos feste Schläge hatten dem Holz tiefe Dellen verpasst. „Es … Es tut mir leid. Das wollte ich nicht, ich bin nur –“ Erschöpft sackte er auf den Überresten ihrer Couch zusammen und vergrub sein gefurchtes Gesicht in seinen müden Händen. Das war einfach zu viel, es war alles zu viel für ihn. Ihre Wohnung, ihr Leben, alles schien in Trümmern zu liegen. Alles war aus der Bahn geworfen worden. Ihre Welt, ihre Existenz, einfach alles. Die Decke ihres Zuhauses war größtenteils eingestürzt, kühle Luft strich durch ihre Wohnung und verteilte Papier, Staub und abgestorbene Blätter über sie, als wollte der herannahende Winter sich rechtzeitig ankündigen. Der Boden war an einigen Stellen eingebrochen; es war nicht mehr sicher hier herumzulaufen. Man musste gut Acht geben, wohin man trat, wenn man nicht ins Bodenlose stürzen wollte. Chaos über Chaos, Beton über Beton, Habseligkeiten, Abfall und Zerstörung ineinander verwoben. Ein Spinnennetz des Grauens. Die Couch knarzte und senkte sich leicht ab. Sakura setzte sich neben Naruto und legte ihre Arme um ihn. „Ich versteh dich, ist schon okay. Wir drehen alle gerade ein bisschen durch. Ich will nur nicht, dass wir uns streiten oder gegenseitig fertigmachen. Wir haben doch nur noch uns“, flüsterte sie leise und küsste Naruto auf die Stirn. Schwach nickte er und legte seine Arme ebenfalls um Sakura. Sie hielten sich fest, ganz fest. Sie durften sich auf keinen Fall verlieren, weder physisch noch psychisch, auf keinen Fall! Denn sie sind alles, was sie noch haben. --- Während Sasuke die Trümmer verzweifelt von sich trat, schrie er so laut, wie er konnte. Doch niemand hörte ihn. Er brüllte schon seit fast einer Stunde, wenn nicht sogar schon länger. „Hilfe! Hiiilfeee!“ Sasukes Stimme war schon ganz heißer, seine Kehle schmerzte und fühlte sich wund an. Die Luft stand förmlich. Der Staub und der Dreck, der durch die Luft wirbelte, setzte sich in seinen Atemwegen fest und ließ ihn immer wieder husten und schwer keuchen. Völlige Dunkelheit umfing Sasuke. Nicht ein einziger Lichtstrahl verriet ihm, wo er sich befand. Alles kam so plötzlich, viel zu plötzlich für ihn. Wo waren alle? Wo waren seine Eltern und sein großer Bruder Itachi? Wo war vor allem er, Sasuke? War er etwa ganz allein?! Das konnte und wollte er nicht glauben. Sasuke drückte sich seine blutigen Fäuste auf seine Augen, um seine heißen, salzigen Tränen zurückzuhalten. „Du bist jetzt schon ganze zwölf, Sasuke. In deinem Alter weint man nicht mehr, verstanden?!“, schalt ihm die kühle Stimme seines Vaters in Gedanken. „Was ist hier los … Wo sind alle!?“, wimmerte seine kaum noch vernehmbare Stimme. Heftig atmend tastete Sasuke noch mal seine Umgebung ab. Langsam strichen seine Finger über Gestein und Eisen, doch er musste befürchten, sich irgendwo die Finger aufzuschneiden. Manchmal berührte Sasuke etwas Feuchtes; es ist Wasser, welches in diese seltsame kleine Höhle tropfte, in der Sasuke gefangen war. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hier drinnen überhaupt gelandet war. Er hatte das Gefühl, dass die Luft allmählich knapp wurde. Immer wieder stiegen Wellen der Panik in ihm hoch, immer wieder schüttelten Krämpfe der Angst seinen schmächtigen Körper, und Schreie brachen ungewollt, aber auch gewollt aus ihm heraus. Wie junge Vögel, die sich ihren Weg aus einem fleischgewordenen Käfig bahnten, so breiteten seine Hilferufe ihre Schwingen aus, jedoch brachen ihre Flügel an den Höhlenwänden und der Dunkelheit. Sie hatte keine Chance, in die Freiheit zu gelangen und Sasukes Worte nach draußen zu tragen. Gab es denn noch ein Draußen? Oder war diese Höhle alles, was von dieser Welt noch übrig war? All diese Gedanken schossen durch Sasukes kleinen Kopf. Seine Füße tasteten ebenfalls umher, suchten nach einer Schwachstelle in den Trümmern, die ihn umgaben und in eine kalte und tödliche Umarmung schlossen. Schließlich glaubte er, lockeres Geröll gefunden zu haben, und trat zu. Immer wieder, so fest er konnte. Seine Anstrengungen schienen sich nicht zu lohnen, seine Muskeln schmerzten bald und übersäuerten. Müdigkeit breitete sich in ihm aus, doch seine hartnäckigen Beine hatten es schließlich doch noch geschafft. Endlich! Sasukes Füße hatten sich ins Freie geboxt, die Felsen und Trümmer waren ihm endlich gewichen. Keuchend und schluchzend kroch er aus der viel zu kleinen Höhle. Ein staubiger, grauer Himmel begrüßte ihn, Sasuke musste die Augen fest zusammenkneifen, weil ihn das unerwartet helle Licht blendete. Als er sich endlich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, blickte er zitternd und keuchend um sich. Alles, aber wirklich alles um Sasuke lag in Schutt und Asche. Er erkannte nichts mehr wieder. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er ungläubig um sich. Wo zum Teufel war er hier?! War das etwa sein Zuhause?! Sollte das seine Heimatstadt darstellen, dieses Chaos aus Beton, aufgerissenen Straßen und brennenden Autos? Dieses Chaos aus leblosen Leibern, willkürlich überall verteilt wie weggeworfenes Spielzeug; das sollte sein Zuhause sein?! Eingestürzte Gebäude kränkelten an den Straßen, die keine Straßen mehr waren. Immer wieder hörte Sasuke, wie eine Etage eines dieser kaputten Gebäude nachgab und unter tosendem Lärm in sich zusammenstürzte. Er spürte den kalten Luftzug einer Freiheit, die nicht nach Freiheit aussah. Glas, Beton, Metall, alles kaputt, alles zerstört, völlig verborgen und von einer Gewalt, die Sasuke noch nie zuvor gesehen hatte, bis zur Unkenntlichkeit verwüstet worden. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wieder schrie Sasuke aus Leibeskräften, schlug und trat um sich, stieß sich dabei seine Arme und Beine an den Überresten seines Hauses an und fügte sich dabei blutige Wunden zu. Trauer und Verzweiflung hallten durch die Gassen, die keine mehr waren, doch Sasuke war nicht allein. --- Schwer atmend strich Itachi sich die Papiere vom Gesicht. Sein Schädel brummte, und ihm war kotzübel. Was war denn jetzt wieder passiert? Er fühlte sich wie an dem Tag, als sein Kampfpartner im Karatetraining ihm aus Versehen den Fuß mit voller Wucht gegen den Kopf gedonnert hatte. Doch dieser Schmerz, den er jetzt verspürte, ließ Itachi an ganz neue Ufer branden. Mühsam zog er sich an seinem Schreibtisch … Da war kein Schreibtisch mehr. Langsam stellten Itachis Augen sich wieder scharf. Sein Büro sah aus wie ein Schlachtfeld. Nichts – aber auch gar nichts – war mehr an seinem Platz. Es war, als hätte ein Riese sein Büro in seine übergroßen Hände genommen und es einmal schön durchgeschüttelt. Direkt neben Itachi lag sein großer, massiver Eisenschrank, und ihm wurde sofort bewusst, dass er von Glück reden konnte, neben und nicht unter dem Schrank wieder zu sich gekommen zu sein. Wenn er denn unter dem Schrank überhaupt je wieder zu sich gekommen wäre. Itachi wurde sofort schwindelig, als er versuchte, sich auf seine zitternden Beine zu kämpfen, zudem pochte sein Schädel immer noch und flutete seine wirren Gedanken mit brennendem Schmerz. Seine Füße stießen Büromaterial unachtsam beiseite. Auf dem Boden lagen alle seine sonst fein säuberlich sortierten Ordner auf dem Boden verteilt. Sie waren verbogen, zerfleddert und größtenteils völlig kaputt. Ihren Inhalt hatten sie förmlich erbrochen und einfach überall verteilt; unter anderem auch auf Itachi. Sein Schreibtisch war unter dem massiven Eisenschrank begraben und zermalmt worden. Das Holz war gesplittert, und Itachi musste darauf achten, sich beim Aufstehen nicht daran zu verletzen. Die Enden des geborstenen Holzes standen scharfkantig und herausfordernd ab. Die Bürowand, wo all Itachis Auszeichnungen gehangen hatten, war eingestürzt, und ein eisiger Wind blies ihm ins Gesicht. Zitternd wanderte sein Blick über das Trümmerfeld, welches einmal sein Arbeitsplatz gewesen war. Sein Büro sah schlicht und ergreifend so aus, als hätte er es im Gazastreifen stehen lassen. Heftig schwankend stand Itachi endlich. Mit rudernden Armen versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Doch was war aus dem Gleichgewicht seiner Welt geworden?! Itachi musste sich an der Wand abstützen. Seine feuchten Handflächen lagen auf der einigermaßen intakten Bürowand, die viele große und kleine Risse aufwies. Er hoffte inständig, dass sein Gewicht die Wand nicht zum Einsturz brachte. Zig Gedanken, was denn nur passiert sein könnte, schossen Itachi durch den Kopf; von Erdbeben bis Atomkrieg war einfach alles dabei. Schweren Schrittes stolperte er zum Fenster, das keine Fensterscheibe mehr besaß. Unter seinen einst blank polierten Schuhen knirschten winzige Glassplitter, doch Itachi verschwendete keine Kraft damit, einen Blick darauf zu werfen. Er wollte auch keinen Blick auf sich selbst werfen. Der fledderige Anzug und seine zerfetzte Krawatte reichten ihm. Seine Kleidung fühlte sich verrutscht, rissig und unangenehm an wie die alte Haut einer Schlange, kurz bevor sie diese abwarf. Stattdessen blickte er, Böses ahnend aus den Überresten seines Fensters, und sah auf eine völlig zerstörte Stadt hinunter. Die Hälfte aller Gebäude lag in Trümmern oder war nur noch eine Ruine. Es war die komplette Verwüstung! Hätte Itachi nicht gewusst, dass neben dem Bürogebäude ein Marktplatz stünde, würde er ihn jetzt nicht mal im Ansatz wiedererkennen. Denn dort lag jetzt eine Tram, rauchend und qualmend, Itachi musste unwillkürlich an eine sterbende Raupe denken: verbrannt bei dem Versuch, sich in einen Schmetterling zu verwandeln. Leichen, überall lagen sie, so viele Leichen. Manche noch im Ganzen, manche nur noch zum Teil vorhanden. Überall lagen Gliedmaßen, überall sah man nur noch Teile von zerquetschten Körpern, überall tropfte das Blut von Beton und strömte über aufgerissenen Teer. Leblose Arme und Köpfe hingen aus Autofenstern. Würgend wandte Itachi den Blick von diesem unaussprechlichen Grauen ab. Er konnte sich glücklich schätzen, dass ausgerechnet sein Bürogebäude gerade noch so stand. Kaum dass er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, schoss Itachi nur noch ein Gedanke durch den Kopf. Sasuke! --- Shikamaru war sich nicht sicher, ob er jetzt aufblicken durfte. Irgendwas rieselte auf ihn herab. Er fühlte, wie seine schmuddeligen Turnschuhe sich mit Wasser vollsogen. Er spürte seinen Schweiß, der seine Stirn hinunter ran und sein T-Shirt an ihm kleben ließ. Keuchend stieß Shikamaru seinen Atem aus. Sein Körper schmerzte, jede einzelne Faser schrie förmlich. Langsam hob er seinen Kopf. Seine Nase sog einen feuchten, nach Eisen riechenden Duft ein, doch da lag noch etwas anderes in der Luft. Ein Geruch, den Shikamaru noch nie zuvor gerochen hatte. Sein Klassenzimmer war kein Klassenzimmer mehr, es war ein einziger Schutthaufen. Vier Wände – nein – vier Überreste von Wänden bröckelten um ihn in sich zusammen. Ein Dach suchte man vergeblich. Die Staubwolke, die über diesem traurigen Szenario schwebte, sperrte kaltschnäuzig die Sonne aus. Shikamaru rieb sich fröstelnd die Arme, er ließ seinen Blick über seine persönliche Vorhölle schweifen. Noch vor einer Stunde, oder weniger, hatte er hier herumgelümmelt und gehofft, der Unterricht möge schnell vorübergehen. Doch im nächsten Augenblick krachte es ohrenbetäubend, und die Decke des Klassenzimmers begab sich zum Unglück aller auf den Boden. Shikamaru hatte noch immer die panischen Angstschreie seines Lehrers und seiner Mitschüler im Ohr. Das schmerzerfüllte Stöhnen, das darauf folgte, war noch viel schlimmer. Wie durch ein Wunder war die Decke direkt über Shikamaru gebrochen. Er saß genau dort, wo sich ein Spalt auftat, als hätte es der liebe Gott exakt ausgerechnet, wer begraben werden sollte und wer nicht. Wer leben durfte und wer sterben musste. Unter großen Schmerzen. Sein Lehrer Iruka war von der herabgestürzten Decke zerquetscht worden. Alles, was von ihm noch zu sehen war, waren seine Beine. Ab dem Unterleib verschwand sein bemitleidenswerter Körper unter dem schweren Beton. Eine dunkle Blutlache breitete sich um Iruka-sensei aus, Staub und Dreck sammelten sich in seinem herausströmenden Blut. Unaufhaltsam kroch der Schrecken in Shikamarus Innerstes, als er sah, dass viele seiner Mitschüler von der Decke bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht worden waren. Neben sich konnte er einen abgerissnen Arm sehen, und das, was er für Wasser gehalten hatte, das sein Turnschuh in sich aufnahm, war Blut. Schreiend sprang Shikamaru auf seine Beine und stolperte rückwärts weg. Er rumpelte gegen den Tisch seines Klassenkameraden, dessen Kopf von einem Felsen zertrümmert worden war. Shikamarus Hand landete bei dem Versuch, sich auf der Tischplatte abzustützen, mitten in der Hirnmasse, die sich auf den Überresten der Tischplatte verteilt hatte. Erneut aufschreiend hob Shikamaru seine Hand und schüttelte sie angewidert. „Was … Was soll denn das Geschrei … Shika … Shikamaru-kun? Bist du das? Was –“ Panisch drehte Shikamaru sich nach der Stimme um, die unvermittelt durch die elendige Verwüstung hallte. Eine seiner Mitschülerinnen hatte den Zusammensturz des Schulgebäudes ebenfalls überlebt und lag zusammengesunken in einer Ecke. Ihr Name war Ino. „Ino!“ Brüllend rannte Shikamaru auf sie zu, umgestürzten Tischen und Stühlen ausweichend und über Trümmer und Brocken springend. Er versuchte nicht auf die Leichen zu achten, die seinen Weg pflasterten. Shikamaru versuchte lediglich, nicht auf sie zu treten. Erleichtert stürzte er neben Ino auf die Knie, hartes Gestein und spitze Kanten bohrten sich in seine Haut, doch das war ihm egal. Der Schmerz bedeutete, dass er noch am Leben war. Und das war gut so. „Was schreist … du denn so?“, murmelte Ino schwach. Ihre Augenlider flatterten. Shikamarus Mitschülerin glich einer gebrochenen Puppe, die langsam zum Leben erwachte. Ino brauchte all ihre Kraft, um ihre Augen offen zu halten, um zu vermeiden, dass sie wieder in einen traumlosen Schlaf zurückglitt. Sie wusste nur noch, dass sie in die Ecke gehen sollte, weil sie schon wieder vergessen hatte, ihr Handy auszumachen und ihr Freund ihr eine SMS geschickt hatte. Ino war in der Ecke des Klassenzimmers geschlurft, in der sie stehen sollte. Plötzlich war da nur noch Geschrei und tosender Lärm. Erschrocken hatte sie sich die Ohren zugehalten und war in die Knie gegangen, als etwas Schweres ihren Rücken streifte. Jetzt erlangte sie Stück für Stück ihr Bewusstsein wieder. Nur allmählich nahm sie ihre Umgebung und ihren Klassenkameraden wahr. Als sich ihr Blick endgültig geklärt hatte, öffnete sie ihren schmutz- und blutverkrusteten Mund, und ein markerschütternder Schrei schallte über die Zerstörung. Zitternd und schluchzend brach Shikamaru neben ihr zusammen. Kapitel 1: Praying ------------------ ____________________________________________________ „Der Schlaf wiegt schwer, böse Träume lähmen unseren Geist und saugen alle Energie aus unserem Körper. Oder hast du dich nie gefragt, warum du so furchtbar müde und kaputt bist, wenn du aus einem Albtraum erwachst?“ - Sakura Haruno - ____________________________________________________ Widerwillig lösten sich Naruto und Sakura aus ihrer eng umschlungenen Umarmung. Zitternd holte Sakura tief Luft und strich sich hastig ihre widerspenstigen Haare hinter die Ohren. Sie fühlten sich fettig und staubig an. Ekel stieg in Sakura auf und rieb ihre Finger über ihre Kleidung. Doch diese sah genauso übel zugerichtet aus wie ihr Haar. Voll Blut, voller Schmutz und Dreck, eingerissen und nur noch ein Überbleibsel eines industriell hergestellten Stück Stoffes, das einmal ansprechend ausgesehen hatte. Seufzend blickte Sakura auf ihre verschmutzte Hand. Tränen bahnten sich brennend heiß und schneidend ihren Weg aus den Augen und tropften auf ihre aufgerissene, trockene Haut. Ihre Hand, ihre Arme; ihr ganzer Körper fühlte sich an wie eine Wüstenlandschaft. Ausgetrocknet, rissig, allem Leben beraubt und voller Sand. Verzweifelt versuchte Sakura ihre Tränen zurückzuhalten, doch sie durchbrachen spielend ihren geschwächten Willen und strömten frei über ihre aufgeschürften Wangen. Es brannte entsetzlich, aber Sakura empfand es als Wohltat. Schmerz. Er bewies ihr, dass sie am Leben war. Trotz allem lebte sie. Narutos Arme legten sich wieder schützend um sie, doch Sakura stieß sie bestimmt weg. Für so etwas hatten sie jetzt keine Zeit! Wütend wischte sie abfällig ihre verhassten Tränen von ihren Wangen. Traurig spritzten ihre Boten der Schwäche und des Verlusts auf den schuttbedeckten Boden. „Wir müssen … Wir müssen hier raus, wer weiß wie lange das Gebäude noch steht, Naruto!“ Sakuras Stimme kam noch lange nicht so stark aus ihr heraus, wie sie es gerne hätte. Sie schwankte und überschlug sich und wurde von Schluchzern gebeutelt. Eine neue Welle der Selbstverachtung zuckte durch ihren Kopf. Für Schwäche war jetzt kein Platz. Überrascht blickte Naruto zu ihr auf, sein Gesicht vor Sorge und Angst zerfurcht und voller schmutziger Schlieren. Sie erinnerten Sakura an eine Kriegsbemalung, doch den Krieg hatten sie scheinbar schon verloren, bevor er überhaupt begonnen hatte. Oder etwa doch nicht? „Komm jetzt, wir müssen alles Brauchbare zusammensammeln und dann aus dieser Bruchbude verschwinden“, forderte Sakura ihn herrisch auf. Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken, dass diese Bruchbude einst ihr Zuhause gewesen war. Ein Ort der Geborgenheit, an dem sie sich beruhigt zurückziehen konnte, aber dieser Ort existierte nicht mehr. Innerhalb von ein paar Minuten wurde er ausgelöscht und in ein Schlachtfeld der Angst verwandelt. Sakura war sich dessen bewusst, und sie wollte keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Dennoch flatterten sie wie wilde Schmetterlinge durch ihren Kopf und flüsterten ihr schreckliche Dinge zu, aber Sakura musste jetzt geradlinig und rational denken. Sie dufte sich jetzt keine Angst einjagen oder verrückt machen lassen. Innerlich fing sie ihre umherschwirrenden Gedanken mit einem Netz ein und sperrte sie unter ein Glas. Ein luftdichtes Glas. Während Sakura sich ruckartig umdrehte und anfing, den Schutt nach brauchbaren Gegenständen zu durchforsten, erstickten die Schmetterlinge in ihrem Gefängnis. Ihre Stimmen wurden immer leiser bis sie schließlich verstummten. Langsam stand Naruto auf. Er wankte leicht und musste sich an den Überresten ihrer Wohnzimmerwand abstützen. Der Wutanfall, der ihn noch vor kurzem mit aufwühlender Energie versorgt hatte, war völlig verschwunden. Zurück blieb ein gebrochener, junger Mann, der einfach nicht verstehen konnte, warum sein Zuhause wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt war. Sakura zog einen zerquetschten Rucksack unter einem Stahlträger hervor und klopfte notdürftig den Putz und die Betonbrösel ab. Ein schwaches Lächeln hielt Einzug auf ihrem erschöpften Gesicht, als sie sich zu ihrem müden Freund umdrehte, um ihm ihren Fund zu zeigen. Auch Naruto zwang sich ein gequältes Lächeln auf die Lippen, doch sie zitterten wie Espenlaub und die Verzweiflung, welche die beiden lauernd umschwelgte, wartete nur darauf, mit ihren tränenschweren Fängen zuzuschlagen. Behutsam legte Sakura den Rucksack auf die eingebrochene Couch und humpelte zum Kühlschrank. Sie war Gott sei Dank nur leicht verletzt, doch Sakura musste sich den Knöchel verstaucht haben. Er schwoll bereits an; bei jedem Schritt brandete eine beißende Welle aus Schmerz bis zu ihrem Knie hinauf. Mit zusammengebissenen Zähnen schleppte sie sich eisern zum Kühlschrank, der mit offener Tür schief über der Kante einer Klippe hing. Das Wohnzimmer des jungen Paares war von siebzehn Quadratmeter durch eine herabstürzende Decke, den darüber liegenden Stockwerken und Stahlträgern, auf zehn reduziert worden. Mitten im Wohnzimmer klaffte ein Loch, und über dessen Wundränder waren unzählige Habseligkeiten von Sakura und Naruto in ihr Verderben gestürzt und im Abgrund zerschellt. Schritt für Schritt tastete Sakura sich bedächtig am Rand des Loches entlang, den Kühlschrank fest im Blick. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und ihren Handinnenflächen. Ihr Herz trommelte drängend gegen ihre Rippen. Sakura hatte es fast geschafft. „Sei bitte vorsichtig! Soll ich das nicht lieber machen?“, zischte plötzlich Narutos raue Stimme in der Stille. Erschrocken zuckte Sakura heftig zusammen. Ihre Fäuste ballend, drehte sie sich zornig zu Naruto um. „Du hast mich zu Tode erschreckt! Ich bin jetzt fast da, such du lieber weiter nach anderen Sachen!“ Wieder setzte Sakura sich vorsichtig in Bewegung. Unschlüssig blickte Naruto zu ihr hinüber. Er wollte sie lieber nicht aus den Augen lassen. Zu groß war die Angst, sie könnte abrutschen und in die Tiefe stürzen. Ohne sie gäbe es für Naruto keinen Grund mehr, das alles hier durchzustehen. Sakura streckte ihre stark zitternde Hand nach dem Kühlschrank aus. Sie konnte ihn fast berühren, aber nur fast. Ein Schweißtropfen riss sich von ihrem Haaransatz los und rann ihre Stirn hinunter. Sakura musste heftig blinzeln, um zu vermeiden, dass er ihr ins Auge lief. Naruto hielt es nicht mehr aus. Viel zu hastig setzte er sich in Bewegung und stolperte auf Sakura zu. Der Boden knackte ächzend unter seinen schweren, plumpen Schritten, und tiefe Risse zogen sich stöhnend durch den Wohnzimmerboden. Abrupt blieb er wieder stehen und hielt den Atem an. Starr richteten sich Sakuras angstgeweitete Augen auf den Boden unter ihren Füßen. Ein sanftes Ruckeln ließ ihr Zuhause erbeben, als ob ein schlummernder Riese aus einem tiefen Schlaf erwachte. Der Boden zitterte und erschauerte grummelnd. Erst ganz sacht, doch dann immer stärker. Die Überreste ihrer Wohnzimmerwände kollabierten und stürzten geräuschvoll in sich zusammen. Panik fuhr wie ein elektrisierender Schlag durch Sakuras und Narutos Körper. Ohne nachzudenken, griff Sakura nach dem zerschlissenen Rucksack, bevor Narutos kräftige Hand sich wie ein Schraubstock um die ihre legte und sie unerbittlich aus der Wohnung zerrte. Das Loch im Wohnzimmer vergrößerte sich unaufhaltsam und fraß gierig die restliche Wohnung auf. Unser Zuhause ist dem Untergang geweiht, fuhr es Sakura traurig durch den Kopf. Ihre letzten Kraftreserven waren verbraucht. Angst und Panik hatten sie ihr kaltherzig entrissen und all die heißen Tränen, die sie für sich und vor allem für Naruto zurückhalten wollte, brachen ungehindert aus ihr heraus. Die Verzweiflung hatte gewonnen. Brüllend brach über Sakura und Naruto das Fundament ihres Lebens in sich zusammen und begrub ihre Gefühle wie Geborgenheit, Schutz und Sicherheit unaufhaltsam unter sich. Sakura ließ sich gehen und von ihrem starken Freund durch ein Treppenhaus ziehen, das an ein skurriles Kunstwerk erinnerte. Ein Gebilde, das den Verfall symbolisierte. Ob der Weg nun nach unten oder nach oben führte, ganz gleich in welche Richtung, er wies trotzige Lücken auf und machte einem das Weiterkommen so schwer wie möglich. Naruto sprang behände voraus, landete zielsicher und punktgenau auf den noch vorhandenen Treppenabsätzen. Sakura zögerte oft, ihm einfach so nachzuspringen. Viel zu kraftlos erschienen ihr ihre dünnen Beine und ihr verletzter Knöchel erschwerte jeden Schritt zusätzlich. „Sakura, beeil dich! Das Gebäude stürzt in sich zusammen! Spring einfach, ich fang dich auf!“, schrie Naruto panisch und winkte Sakura heftig zu. „Ich will ja“, flüsterte Sakura schwach. Sie konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie leicht in die Knie ging und sich träge vom Treppenabsatz hob. Naruto presste seine Lippen fest aufeinander, sein Blick starr und konzentriert auf Sakura gerichtet, und die Arme – bereit, Sakura aufzufangen oder wenn nötig, nach ihr zu greifen – weit ausgebreitet. Es schien, als würde die Zeit in einen zähen Fluss geraten und alle Aktionen unendlich verlangsamen. Unsicher hing Sakura mit rudernden Armen in der Luft. Staubwolken schwebten dicht vor ihren Augen und nahmen ihr die Sicht. Narutos Zunge fuhr angespannt über seine Oberlippe – ungeduldig zuckten seine Finger. Sie wollen zupacken, doch noch war Sakura nicht in Reichweite. Schreiend schoss sie auf Naruto zu; seine verwundeten, aber immer noch kräftigen Hände packten ohne zu Zögern zu und zogen Sakura kraftvoll hoch. Sofort griff Naruto wieder nach Sakuras schmaler Hand und zog sie hinter sich her. Die bröckelnden Treppen gaben immer wieder unter ihren donnernden Schritten nach und brachen unter ihnen weg. Naruto und Sakura sprangen wie junge Rehe über Klüften und Risse, wichen Betonbrocken aus und schlugen nach dem staubigen Nebel. Das ohrenbetäubende Krachen ihres in sich zusammenstürzenden Zuhauses wurde von ihrem erschöpften Husten begleitet. Noch nie hatte das Orchester der Zerstörung so laut über diese Stadt geschallt wie an diesem Tag. Ein herabstürzender Träger schrammte Narutos Schulter. Er zischte wütend, schlangenartig auf und griff kurz nach seiner Wunde, aber er ließ von diesem Vorhaben gleich wieder ab. Zuerst musste er Sakura und sich in Sicherheit bringen. Das Dröhnen und Donnern hinter ihnen verebbte allmählich und die beiden bremsten ihren Lauf ab. Keuchend drehten sie sich um, doch auf den ersten Blick konnte sie tatsächlich nicht sagen, welche der Ruinen ihre war. Welches der Häuser, die einst Häuser waren und nun mit aufgebrochenen Bäuchen sich krümmten, war ihres? Welches der Häuser, dessen Innereien sich in Form von Mobiliar, Schutt, Geröll und Habseligkeiten auf die aufgerissenen Straßen ergossen, war ihres gewesen? Welches?! Sakura konnte es nicht mehr sagen und wollte es auch nicht. Schluchzend ging sie in die Knie und schlang ihre Arme um sich selbst. Naruto beugte sich wehmütig zu ihr herunter und drückte sie fest an sich. „Schon gut … Ist schon gut, wir haben es geschafft. Wir leben und nur das allein zählt, Sakura, nur das zählt“, flüsterte er ihr beruhigend ins Ohr. Mit tränenüberströmtem Gesicht nickte Sakura wimmernd, Naruto streichelte ihr zärtlich über die Wangen, strich ihr die Strähnen aus dem Gesicht und rieb Schmutzflecken fort. --- Naruto hielt Sakuras Hand so fest wie er konnte. Er klammerte sich an sie, hoffte, dass sich seine Finger unwiederbringlich um die ihrigen schlossen. Seine Angst war einfach zu groß, er könnte Sakura plötzlich verlieren. Vielleicht tat sich ja von einer Sekunde auf die andere die Erde auf. Vielleicht kam aus heiterem Himmel ein Sturm, der Sakura in Stücke reißen könnte. Vielleicht … Naruto konnte sie nicht loslassen. Es mag irrational erscheinen, doch die Angst um Sakura hatte sich mit scharfen Zähnen fest in ihn verbissen. Flüsternd schlichen Böen über diese Hölle aus Schutt und Verwüstung. Mit kalten Fingern verteilten sie Staub und Schmutz wie einen widerwärtigen Segen auf Narutos und Sakuras Kleider. Noch immer saß Sakura schluchzend und gebrochen da, ihre verschmierten Hände auf ihr rußiges Gesicht gedrückt. Schweigend kniete Naruto neben ihr, hatte seine Arme wieder um sie gelegt und flüsterte beruhigend weiter auf sie ein. Wie ein Mantra sprach Naruto immer dieselben Worte: alles wird wieder gut, alles kann nur noch besser werden, wir schaffen das bestimmt. Als er glaubte, seine müden Beine vor lauter Knien nicht mehr zu spüren, zog er Sakura sanft zurück auf die Füße. Doch sie knickte wieder ein und schien jeglichem Lebenswillen beraubt. Stechender Schmerz raste durch Narutos Herz. Er fühlte sich so schrecklich hilflos. Er hatte das furchtbare Gefühl, Sakura einfach nicht helfen zu können. Ja, er konnte sie in den Arm nehmen und versuchen, Trost zu spenden, sie daran erinnern, dass sie so gut wie unverletzt überlebt hatten. Ja, er konnte ihr erzählen, was für ein Glück das für sie beide war, aber wenn Naruto seinen Blick über diese zerstörte Stadt schweifen ließ, war er sich nicht mehr sicher, ob es tatsächlich so ein Glück war oder ob ihr Leiden jetzt nur unnötig in die Länge gezogen wurde. Wie lange war es jetzt schon her, als ihre Welt in sich zusammengestürzt war? Zwei Tage, vielleicht sogar schon drei. Und trotz dieser relativ langen Zeit kamen keine Sanitäter, keine Hubschrauber, keine Reporter. Einfach niemand. War vielleicht die ganze Welt zerstört worden? War Narutos und Sakuras Heimatstadt vielleicht nur die Spitze des Eisberges? All diese Gedanken und Befürchtungen jagten sich gegenseitig in Narutos Kopf, griffen sich an den Händen und drehten sich lachend und kreischend im Kreis. Endlich hatte Naruto es geschafft, Sakura zurück auf die Beine zu ziehen – zitternd und schluchzend stand sie nun da; ihr Blick matt und leer auf den zerschundenen Boden gerichtet. Sakuras Lippen fingen plötzlich an zu beben. Ruckartig hob sie ihren Kopf und ihre smaragdgrünen Augen huschten hektisch hin und her. „Meine … Eltern! Ich –“, keuchte sie leise. Naruto verstand sie anfangs kaum, erst langsam dämmerte ihm, was Sakura ihm damit sagen wollte. Wieder ergriff ein heftiges Zittern Sakuras schmalen Körper und schüttelte ihn heftig durch. Ihre zerschlissenen und vor Dreck starrenden Schuhe schrappten über den Boden. Drängend entzog Sakura sich Narutos warmer Umarmung. „Ich muss meine Eltern finden!“, schrie sie unvermittelt auf. Naruto zuckte heftig zusammen. Doch anstatt wie von Sinnen davonzulaufen, brach Sakura schreiend und weinend erneut in sich zusammen und schlug mit ihren bereits blutigen Fäusten, wie vom Wahnsinn getrieben, auf die aufgebrochene Straße ein. Hilflos stand Naruto daneben. Er wusste einfach nicht was er tun sollte. So gern würde er Sakura sagen, ihren Eltern ginge es bestimmt gut, bald käme Hilfe und sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Doch diese offensichtliche Lüge brachte Naruto einfach nicht übers Herz. Wieder ging er in die Knie und verkniff sich mit zusammengebissenen Zähnen ein Aufstöhnen, als seine Gelenke schmerzhaft protestierten. Wieder legte Naruto erschöpft seine Arme um Sakura, doch dieses Mal stieß sie sie weg und schüttelte jammernd ihren Kopf. Ihre sonst glänzenden Haare, dessen Schimmer Naruto gern im Sonnenlicht bewunderte und bei ihrem ersten Treffen ihn in den Bann gezogen hatten, waren jetzt matt und stumpf. Ein schmutziger Vorhang, der vor Sakuras Gesicht hin und her schwang. Sie sank endgültig zu Boden und rollte sich ein. Ihre mit Schrammen übersäten Arme schlangen sich verkrampft um ihre Beine, die einfach nicht aufhören wollten zu zittern. Naruto saß neben ihr, seine Augen auf ein paar Putzkrümel geheftet und versuchte, alles auszublenden. Er dachte darüber nach, dass er keine Familie hatte, keine Eltern und so gut wie keine Freunde. Die einzig wichtige Person in seinem Leben war Sakura und der Gedanke, sie hier und jetzt zu verlieren … Naruto konnte nur erahnen, welch grausamen Schmerzen Sakura in diesem Augenblick ausgeliefert war. Was für ein Gefühl das sein musste, von seinem eigenen Herzen so zerrissen und gepeinigt zu werden. Die Zeit zog sich langsam dahin. Naruto blickte auf und betrachtete den verwaschenen Himmel. Schiefergraue Wolken schleppten sich über das Firmament. Die Sonne war in einen nebligen Schleier aus Ruß, Asche und Dunst gehüllt worden. Grau in Grau überlappte sich dort oben und reichte sich die Hand. Stille. Langsam senkte Naruto seinen Kopf. Sakura war verstummt. Mit ausgestreckten Armen und Beinen lag sie wie ein geschossenes Reh neben ihm. Sie atmete flach, ihr Brustkorb hob sich kaum merklich und Blut tropfte klagend aus ihrer blassen Nase. Seufzend wischte Naruto über ihr zartes Gesicht, dann versuchte er sie hochzuheben. Er brauchte mehrere Anläufe. Immer wieder kippte er nach hinten weg oder musste seine Freundin wieder behutsam auf den Boden zurückgleiten lassen und neu zupacken. Narutos Beine hatten schon genug damit zu kämpfen, sein eigenes Gewicht zu tragen. Sie weigerten sich schlicht, auch noch das seiner Freundin zu schultern. Als Sakura erneut auf den Boden abgelegt werden musste, nahm es Naruto schon ein Wunder, dass sie nicht einmal aufgewacht war. Die Erschöpfung hatte wohl ihre Seele mit ins Land der Träume genommen und hielt sie dort eisern gefangen. Sakuras Körper forderte die Ruhe, die er so dringend brauchte. Als Naruto es endlich geschafft hatte sie hochzuheben, stolperte er keuchend los; auf der Suche nach einem geeigneten Unterschlupf. Er musste höllisch aufpassen, nicht über irgendwelche Trümmer zu stolpern oder sich mit seinen Füßen in irgendwelchen Rissen im Boden zu verfangen. Schneller als gedacht, übersäuerten Narutos Armmuskeln und fingen an zu zittern. Seine Finger rutschten von Sakuras rissigem Stoff, und mit jedem Schritt, den Naruto hinter sich brachte, schien sich Sakuras Gewicht in seinen Armen zu verdoppeln. „Der Schlaf wiegt schwer, böse Träume lähmen unseren Geist und saugen alle Energie aus unserem Körper. Oder hast du dich nie gefragt, warum du so furchtbar müde und kaputt bist, wenn du aus einem Albtraum erwachst?“ Naruto erinnerte sich gut an diese Worte. Sakuras Worte. Aus einer Zeit in der sie sich mit Traumdeutung beschäftigt hatte. Sakura versuchte damals, ihn dafür zu begeistern, doch wirklich geklappt hatte das nicht. Narutos Atem rasselte, jeder Atemzug quälte sich in seine Lungen, um dann wieder missbilligend den Rückweg anzutreten. Stumm hing Sakura in seinen Armen. Kraftlos, leblos und kreidebleich. Naruto glaubte schon, nur noch Sakuras Hülle zu tragen und ihren Geist auf den kurzen Marsch – den er bereits bewältigt hatte – verloren zu haben, bis sie im Schlaf kurz aufstöhnte. Erleichtert schleppte Naruto sich weiter. Seine Augen – blaue, tränenschwere Seen – suchten lange nach einem Platz, an dem er sich ausruhen und Sakura in Ruhe schlafen lassen konnten. So viele Häuser waren nur noch Ruinen, ohne Dächer und ohne Wände. Ihnen wurde alles entrissen, was ein Haus ausmachte. Viele waren gar nicht mehr begehbar, ihre Eingänge waren verschüttet und unerreichbar gemacht worden. Keines besaß mehr Fensterscheiben, die das trübe Licht des Tages hätten einfangen könnten. Es waren nur noch leere Augenhöhlen, die Naruto dumpf entgegenstarrten. Endlich sprang ein kleines, einigermaßen intaktes Haus in Narutos Blickfeld. Er stöhnte erleichtert auf. Die Eingangstür bestand aus Holz, aber sie hing schief in den Angeln und würde bei der kleinsten Berührung sich wahrscheinlich endgültig losreißen. Auch hier waren die Fensterscheiben wie Seifenblasen zerplatzt, ihre Scherben und Splitter glitzerten höhnisch am Boden, immer ein neckisches Funkeln für jene über, die an ihnen vorübergingen. Immerhin standen die Wände noch und das Dach befand sich hier noch auf dem Haupt des Hauses und war nicht in das Innere seines Kameraden gestürzt. Narutos Arme schrien förmlich, Sakura ablegen zu dürfen, doch Naruto kämpfte sich weiter über Schutt und unebenen Boden. Sein Blick auf das Haus geheftet, kämpfte er sich Schritt für Schritt weiter. Er hatte es fast geschafft. Mit seinem Fuß trat Naruto die morsche Eingangstür aus den Angeln und schleppte sich hinein. Das angenehme Gefühl, das über Naruto kam, als er endlich dem beißenden Wind entkommen und sich in den kühlen Schatten des Hauses niederlassen konnte, war unbezahlbar. Vorsichtig legte er Sakura auf den Boden. Sie schlief noch immer tief und fest, zuckte lediglich ein wenig zusammen oder drehte sich auf die andere Seite. Sonst gab sie kein Lebenszeichen von sich. Bleischwer zogen Narutos Glieder ihn zu Boden, aber er quälte sich zurück auf seine matten Beine und schaute sich mit halb offenen Augen um. Es war so dunkel in diesem Haus, sodass er nicht viel erkennen konnte. Nur dass die Katastrophe, was auch immer es gewesen sein mag, auch hier wie ein tollwütiges Tier gewütet hatte. Ein Tisch und die dazugehörigen Stühle lagen zertrümmert herum. Ihre Beine waren ihnen entrissen worden und zersplittert. Schränke waren in sich zusammengebrochen und hatten ihren gesamten Inhalt ausgespuckt und im Raum verteilt. Vorsichtig schob Naruto den Plunder hin und her – auf der Suche nach Dingen, die ihm nutzen könnten. Unnatürlich lange brauchten Narutos Augen, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Doch als es so weit war, entdeckte er zu seinem Glück eine schmuddelige Decke. Sie war löchrig und völlig versifft, aber um das zugige Fenster abzudecken, welches – wie alle anderen Fenster – ihre Scheibe verloren hatte, reichte diese Decke aus. Nachdem Naruto das Fenster endlich abgedichtet hatte, schlich er sich auf Zehenspitzen die Treppe in den ersten Stock hinauf. Sakura mochte schlafen wie ein Stein, aber Naruto wollte es nicht riskieren, sie aufzuwecken. Oben herrschte das Chaos als wütender Regent – wie überall auch. Betten, Mobiliar, Schreibtische, Fensterscherben, zerrissene Vorhänge, Ordner, Bücher und viele andere Haushaltsgegenstände – alles lag durcheinander, ineinander verkeilt und übereinander geschmissen. Eine Orgie der Vernichtung, nichts war heil geblieben. Naruto machte sich nicht die Mühe, das Chaos nach brauchbaren Dingen zu durchwühlen. Hier würde er nichts finden, dass ihm nutzen könnte. So jedenfalls seine Meinung. Er suchte lieber nach der Küche, von der er sich intakte Nahrungsmittel erhoffte. Die fand er auch bald; von der Treppe aus lag sie am Ende des Ganges, dem er gefolgt war. Die Fließen waren aus ihren Fugen gesprungen und bei ihrem wilden Tanz zerschellt – Schränke, Geschirr, Besteck, Schüsseln, ein Mixer; alles hatte sich von seinem Platz losgerissen, als wäre eine Massenflucht ausgebrochen. Naruto beachtete das übliche Chaos nicht weiter. Seine Aufmerksamkeit galt dem Kühlschrank, der umgekippt mitten im Raum lag und mit seiner Präsenz den Küchentisch an die Wand geschoben hatte. Das Stromnetz war natürlich zusammengebrochen, von Nutzen war der Kühlschrank nicht mehr, aber vielleicht sein Inhalt. Sakura und Naruto mussten unbedingt etwas essen, wenn sie keinen Kollaps heraufbeschwören wollten. Narutos Arme protestierten schmerzhaft, als er den Kühlschrank umdrehte, um an die Tür zu kommen. Mit etwas Mühe gelang es ihm, den Kühlschrank zu öffnen. Seine Bewohner purzelten Naruto fröhlich entgegen. Eine Packung Salami – loser Käse, der schmatzend auf die zerbrochenen Fließen klatschte – Tomaten, deren Körper zerplatzt waren und sich nun zäh über die Tragflächen zogen – tropfender Joghurt, der seinem Plastikgefängnis entkommen war und noch viele andere, übel mitgenommene Lebensmittel begrüßten Naruto halb im Kühlschrank, halb am Boden liegend. Mit spitzen Fingern, zog Naruto die Packung Salami heraus und hoffte, hier in der Küche vielleicht noch etwas Brot ausfindig machen zu können. Er durchforstete Schränke, wobei er immer erst in Deckung gehen musste, um nicht vom Inhalt erschlagen zu werden. Er kramte sich halb durch die Küchenutensilien, doch einen Laib Brot suchte Naruto leider vergeblich. Da drang ein leises, wehleidiges Schluchzen an Narutos Ohren. Aufmerksam hob er den Kopf. Eine Weile saß er mucksmäuschenstill da – seine mit Joghurt verschmierten Hände, die Packung Salami umklammernd – und kaute nervös an seiner Unterlippe. Sakura! Wie konnte er das nur vergessen! Wo zur Hölle war er denn nur mit seinen Gedanken?! Naruto hastete mit ausladenen Schritten eilig aus der Küche den Gang entlang und … Bei der Treppe haute er dann doch lieber die Bremse rein – wer weiß, wie viel Gewicht sie noch tragen konnte, Naruto wollte sie nicht unbedingt auf die Probe stellen. Vorsichtig stieg er Stufe für Stufe hinunter. Mit laut klopfendem Herzen näherte er sich stetig dem Weinen und Flehen einer ihm nur allzu vertrauten Stimme. Endlich hatte Naruto das Erdgeschoss erreicht. Dort saß seine Freundin, auf den Knien halb eingerollt, die Hände betend vors Gesicht gepresst. „N-Neeein … Wiesoo … Lieber Gott, lass mich aufwachen! Das ist alles gar nicht wahr …!“ Naruto ließ die Salami achtlos fallen und beugte sich über Sakura, die erschrocken aufblickte. Die Augen vor Angst weit aufgerissen, wich sie panisch vor Naruto zurück, dann erkannte sie ihren eigenen Freund und schlang weinend ihre Arme um ihn. „Ich dachte, du wärst verschwunden, oder … Warum bist du einfach weggegangen?!“, knurrte sie Naruto verweint ins Ohr. Ungehalten stieß sie ihn wieder von sich und schaute ihn wütend an, doch die Wut war nur ein kurzer Besucher in ihrer Gefühlswelt. Ihre Verzweiflung war nun der Herrscher ihrer Emotionen und kostete seine Macht vollends aus. Wieder faltete Sakura ihre gebeutelten Hände. Blut tropfte von ihren Fingern, lief an ihren Handflächen hinunter und landete auf ihrer Kleidung. Auffordernd sah Sakura Naruto an. Doch Naruto war nicht gläubig. Er hielt von der Kirche nichts und wenn es etwas gab, was ihn an Sakura wirklich gestört hatte, dann war es ihre gottesfürchtige Ader. Doch in einer so unvorstellbar schrecklichen Situation konnte er ihren Wunsch, an einen barmherzigen Gott zu glauben, sogar nachvollziehen. Bereitwillig faltete jetzt auch Naruto seine Hände zum Gebet und lauschte Sakuras brüchiger Stimme, die um Gottes Gnade bat und darum, dass ihren Liebsten nichts geschehen sein mag. Naruto mochte ihren Glauben und ihre Überzeugungen nicht teilen, aber wenn es Sakura etwas bedeutete, wenn es ihr half, dass er auch mitbetete, dann tat er es. Naruto betete stumm für sich. Jeder betet doch, mehr als einmal im Leben. Wenn man einen Test schreibt, betet man für eine gute Note. Wer seinen Job verliert, betet, schnell einen neuen zu finden. Wer sein Kind vermisst melden muss, betet Tag und Nacht, damit es wohlbehalten zurückkehrt. Wir alle beten, vielleicht nicht unbedingt zu einem Gott. Wer weiß, zu was oder wen wir beten, aber wir tun es. Und Naruto betete zu dem üblichen, unsichtbaren allwissenden Etwas, welches ihnen vielleicht einen Ausweg aus diesem Albtraum weisen konnte. Sirren. Ein lautes, deutliches Sirren schallte bis zu Narutos und Sakuras Unterschlupf. Zuerst dachte Naruto an ein Insekt, aber ihm wurde schnell bewusst, dass es sich um ein von Menschenhand erzeugtes Geräusch handeln musste. Wankend kam er auf die Beine und stolperte auf das abgedeckte Fenster zu. Er riss hastig den provisorischen Vorhang zu Seite und spähte aufgeregt nach draußen. Ein Hubschrauber! Ein wahrhaftiger Hubschrauber! Konnte es sein, wurden Sakuras Gebete tatsächlich erhört? Oder seine? „Sakura, sieh dir das an! Schnell!“, rief Naruto aufgeregt seiner Freundin zu. Mühsam raffte sie sich auf und humpelte langsam zu ihm hinüber. Nun blickte auch sie mit zusammengekniffenen Augen nach draußen. Tatsächlich, da schwirrten Hubschrauber am Himmel. Aus ihren Bäuchen schlängelten sich Seile, an denen sich schwarze Punkte herabließen. „Wir müssen da sofort hin! Die helfen uns bestimmt und können uns sagen, was passiert ist! Los!“ Aufgeregt zog Naruto sich vom Fenster zurück, griff nach Sakuras Hand und wollte Hals über Kopf aus der Ruine stürzen. Doch sie kamen nur langsam voran, denn Sakuras Knöchel war schlimm angeschwollen und machte jeden Schritt zu einer Herausforderung für sich. Nachdem die beiden das Haus endlich verlassen hatten, dachte Naruto gerade darüber nach, Sakura zu schultern, als sie ein neues Geräusch hörten. Ein Geräusch, welches Naruto ebenfalls sehr vertraut war, weil er zwei Jahre lang Mitglied in einem Schützenverein war. Es waren Schüsse. Krachend zerrissen sie die Luft und drifteten an Narutos und Sakuras Gehör. Dann folgte noch etwas. Schreie. Laute, ängstliche, flehende, wütende und verzweifelte Schreie. Schüsse, Schreie, Schüsse und Schreie. Sie wechselten sich in einer Geschwindigkeit ab, die Naruto einen Schauer nach dem anderen über sein Rückgrat jagten. Da stimmte etwas nicht! Wer zum Teufel waren diese Menschen, die aus den Hubschraubern gekommen waren?! Naruto wich auch das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht. Sakuras jadegrüne Augen blickten verengt zum Horizont, wo noch immer die Hubschrauber am Himmel wie Geier kreisten. Die Menschen, die aus den Hubschraubern gekommen waren, marschierten direkt auf sie zu. Kapitel 2: Over the Hump ------------------------ ____________________________________________________ „Nein, schon gut. Man kann eben nicht alles im Leben haben und am allerwenigsten das Leben selbst. Es zerbricht … zu schnell. Man muss gut aufpassen, hat mein Meister immer gesagt. Und das hab ich nicht.“ - Rock Lee - ____________________________________________________ Flach atmend lag Sasuke leblos auf den Überresten einer Straße. Seine sonst blasse Haut war mit einer Schicht aus Staub und Dreck bedeckt. Seine Augenlider flatterten und seine Finger krampften sich um ein Stück Geröll. Heftig hustend wachte Sasuke auf und versuchte sich aufzurichten, doch die Erschöpfung zog ihn zurück auf den aufgerissenen Boden. Er hatte schreckliche Kopfschmerzen. Es fühlte sich an, als würden kleine Splitter in seinen Hirnwindungen umherwandern und sich hineinbohren. Sasuke war schwindelig und schlecht. Schon allein sich aufzurichten, ließ ihn würgend in die Knie gehen. Kläglich schnaufend dämmerte er lange Zeit vor sich hin. Rollte sich von einer Seite auf die andere und quälte sich von einem Albtraum zum nächsten. Schließlich schlug er irgendwann seine müden Augen wieder auf. Das Schwindelgefühl ließ allmählich nach. Die Kopfschmerzen zerrten zwar immer noch an seinen Nerven, aber sie waren bei weitem nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Unsicher richtete Sasuke sich auf seinen Knien auf, um seine Balance zurückzuerlangen. Stück für Stück stand er vorsichtig auf und fand Halt neben einer schiefen Laterne, die neben Sasuke aus einer Erdspalte ragte. Noch einmal sah er sich ungläubig um. Sein Zuhause … Ein Ödland aus Beton. Eine kaputte, zerstörte und zerstückelte Welt. Gebäude standen, wo sie nichts zu suchen hatten. Straßen bogen sich in die Luft und gaben den Blick auf ihre Eingeweide frei, die aus U-Bahnschächten bestanden. Eine Straßenbahn lag dampfend auf der Seite – da in ihrem Innern eine Totenstille herrschte, war es für Sasuke offensichtlich, dass er dort drinnen keine Hilfe erwarten konnte und im Gegenzug auch niemand mehr seine Hilfe brauchen würde. Sasuke hatte immer noch nicht richtig verarbeiten können, was eigentlich passiert war und das Schlimmste für Sasuke: er konnte sich noch immer nicht erinnern, wie es passiert war, was auch immer es gewesen sein mag. Doch das Ergebnis dieser Katastrophe war offensichtlich; noch immer war der Himmel mit grauen Regenwolken bedeckt und sperrte hartnäckig die Sonne aus. Fröstelnd rieb Sasuke sich über seine schmächtigen Arme, als eine kalte Brise über ihn hinwegstrich. Seine Blicke huschten hektisch und ängstlich umher. Was sollte er jetzt machen? Er wusste einfach nicht, wohin mit sich. Wie viele Stunden hatte er nur geschrien und geweint, um sich getreten und alles und jeden verflucht? Viel zu lange und er hatte unnötig Energie verbraucht, die er jetzt zum Überlegen benötigt hätte. Aber was sollte er jetzt tun? Die Verzweiflung hielt Sasuke in einen eisernen Griff. Sie schwoll in ihm an und ebbte wieder ab, gleich einer Springflut. Die Minuten vergingen, versammelten sich und verschmolzen zu Stunden. Und schließlich – nach und nach – lockerte sich die Verzweiflung und der rationale Teil Sasukes Selbst meldete sich. Ihm fiel ein, dass er nach seinen Eltern nicht zu suchen brauchte. Die befanden sich in einer anderen Stadt, einer vielleicht noch intakten Stadt und wenn dem so war, dann würden sie mit Sicherheit bald hierherkommen, um nach ihm und seinem Bruder Itachi zu suchen. Sein Bruder! Ich kann nach meinem Bruder suchen! Endlich hatte Sasuke ein Ziel, etwas, worauf er sich konzentrieren konnte, um nicht noch tiefer im Sumpf der Verzweiflung und Angst zu versinken. Sein Herz klopfte aufgeregt in seiner Brust und er spürte den Puls in seinem Kopf pochen – schwankend kam er wieder in Bewegung, hielt jedoch nach einigen wenigen Schritten wieder inne. Seine Zuversicht verschwand genauso schnell wie sie gekommen war. Sasuke hatte genau zwei Probleme, die ihm bei der Suche nach Itachi in die Quere kamen: erstens, er fand sich kaum mehr zurecht, die Stadt war fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört worden. Zweitens, er wusste nicht exakt, wo Itachi sich gerade aufhielt. Vermutlich war er im Büro gewesen, so wie fast jeden Tag. Aber wo genau war Itachis Büro? Und selbst wenn Sasuke das wüsste, wo stand das Büro jetzt?. Sasuke hatte also keinerlei Ortskenntnisse mehr, zudem kam, dass er ohnehin nicht genau wusste, wo sich der Arbeitsplatz seines großen Bruders befand – keine besonders guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Suche. Heiß und brennend bahnten sich neue Tränen ihren Weg über Sasukes schmutzige Wangen. Er wischte sie wütend weg und stapfte trotzig los. Gut. Dann blieb ihm eben nur eins; jammernd und ziellos in dieser Betonwüste herumirren und Itachis Namen rufen. Was blieb ihm denn sonst auch übrig?! Er wusste ja nicht, wo er suchen sollte. Schritt für Schritt tapste Sasuke durch die Straßen, stieg über all die Trümmer und vertraute Alltagsgegenstände wie Bügelbretter, Kühlschränke, Fahrräder, Ampeln, Autoteile, einem Kinderarm … und hoffte auf ein Gebäude, eine Straßenkreuzung, ein vielleicht noch intaktes Geschäft, das ihm bekannt vorkam. Tatsächlich, Sasuke musste nur genau hinsehen. Das Schild, welches sonst über dem einen Eisladen gehangen hatte, lag mitten auf der Straße. Dort oben im ersten Stock eines Gebäudes, das Sasuke nicht kannte, stand ein Auto, das immer an derselben Stelle einer Straße geparkt hatte. Weiß der Teufel, wie es da hinaufgekommen war. Sasukes Weltbild würde noch für lange Zeit in Trümmern liegen, wie alles andere um ihn herum auch, aber allmählich gelang es ihm, es zumindest wieder teilweise zusammenzusetzen. Der Wind frischte weiter auf. Anscheinend neigte sich die Sonne dem Untergang zu, doch Sasukes Kleidung war löchrig und viel zu dünn für eine Nacht im Freien. Er musste sich dringend andere Klamotten besorgen. Sein großer Bruder mochte von großer Priorität sein, aber nicht zu erfrieren, befand Sasuke im Moment ein klein wenig wichtiger. Da die Sonne jedoch bald verschwunden sein würde, hatte Sasuke keine Zeit mehr, sich nach einem passenden Geschäft umzusehen. Wenn er sich diese Nacht warm halten wollte, musste er sich ein einigermaßen stabiles Quartier aussuchen. Gebeugt trotte Sasuke am Gehweg entlang. Der Weg neben ihm war eingestürzt, eine bodenlose Tiefe lag grummelnd direkt neben ihm; lauernd – darauf bedacht, ihn zu sich hinabzuziehen, sollte er dem Rand des Abgrunds zu nahe kommen. Sasukes nachtschwarze Augen wanderten nervös über die eingestürzten Gebäude zu seiner rechten und linken – das Problem für ihn war nicht, etwas zu nehmen, das ihm nicht gehörte, sondern die Tatsache, dass das, was er brauchte, in Geschenke verpackt da stand und er nicht rankam. Die Eingänge waren verschüttet oder von Fahrzeugen und Straßenbahnwagons versperrt worden. Teilweise waren die Gebäude so stark beschädigt, dass Sasuke befürchten musste, ihm fiele die Decke auf den Kopf, sollte er sich doch in eine solche Mausefalle hineinwagen. Abgesehen von den offensichtlichen Gefahren, waren es vor allem auch die unzähligen Leichen, die Sasukes Weg sprichwörtlich pflasterten. Überall lagen sie verstreut, kaputten Puppen gleich, mit glasigen Augen, geöffneten Mündern, als staunten sie noch immer über das, was mit ihnen geschehen war. Sasuke tat sein bestes, sie nicht anzusehen. Lange Zeit blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter durch einigermaßen begehbare Gassen zu schleichen und weiterhin Ausschau zu halten. Ein gebrochenes, senfgelbes Einfamilienhaus krümmte sich leicht über den Gehweg, den Sasuke gerade einschlug. Die Fenster waren gesprungen und das Dach war eingestürzt. Die Wohnungstür war aus ihren Angeln gerissen worden und in einem gewaltigen Riss im Boden – der sich auch vor dem Haus entlang zog – verschwunden. Aufgeregt beschleunigte Sasuke seinen Fußmarsch. Die Trostlosigkeit, die sich bereits in seine Glieder einnisten wollte, verflüchtigte sich wieder. Endlich, ein Haus in das er einigermaßen gefahrlos einsteigen konnte! Sacht strichen seine blutigen Finger über den zersplitterten Türrahmen. Sasuke schaute sich neugierig im Eingang des Hauses um. Die Garderobe und der dazugehöre Schrank versperrten größtenteils den Weg, aber da konnte Sasuke problemlos drüberklettern. Das Parkett war aufgesprungen und die Treppe, die in den ersten Stock führte, war stellenweise eingebrochen. Es roch nach abgestandenem Wasser, Metall und feuchtem Beton. Es roch nach … Baustelle. Sasuke musste Vorsicht walten lassen, damit er sich nicht verletzte, aber dennoch; dieses Gebäude sah von allen am vielversprechendsten aus. Sofort machte er sich daran, über den Schrank und die Überreste der Garderobe zu klettern. Dabei fiel sein Blick auf gerahmte, zersplitterte Fotos, die wohl an der Wand gehangen haben mussten, doch nun lagen sie mit kaputten Bilderrahmen und gesprungenem Glas auf dem Boden verteilt. Sasuke konnte nicht anders, er wollte einfach wissen, wer in diesem Haus gewohnt hatte oder immer noch wohnt. Er griff nach dem erstbesten Bilderrahmen und drehte ihn um – auf dem zerknickten Bild war vor lauter Dreck nicht viel zu erkennen, also entfernte Sasuke mit spitzen Fingern die restlichen Glasscherben, die sich noch in ihrer Halterung klammerten und wischte das Bild an seiner ohnehin schon schmutzigen Kleidung wieder einigermaßen sauber. Auf dem Bild war ein Junge abgebildet, nicht älter als zehn oder elf. Er trug ein grünes T-Shirt und beige Hosen. Seine Haare ließen Sasuke die Stirn runzeln. Was war das denn für eine Frisur? Sie glänzte fettig und sah mehr wie ein Helm aus. Der Junge hatte ausdrucksstarke, große, runde Augen. Sasuke kann im Nachhinein nicht sagen, wie lange er das Bild angestarrt hatte, doch als er sich endlich davon losriss, konnte er dem Drang nicht widerstehen, sich auch die anderen Bilder anzusehen, die hier über dem Boden verstreut herumlagen. Fast auf jedem Bild war dieser Junge zu sehen. Er trug immer mindestens ein grünes Kleidungsstück – das schien seine absolute Lieblingsfarbe zu sein und da er auch fast immer bandagierte Hände hatte, ging Sasuke davon aus, dass er einen verletzungsbedürftigen Sport treiben musste. Auf allen Bildern zierte ein strahlendes Lächeln den Jungen, mal war er zehn, dann schon etwas älter. Einmal saß er zur Abwechslung mal, auf fast allen anderen Bildern stand er meist heroisch und mit vorgereckter Brust da, sein rechter Daumen nach oben gerichtet. Auf einem anderen Bild hatte er sich kämpferisch in Pose geworfen. Es waren ganz typische Bilder, wie sie Eltern an die Wand hängen, die stolz auf ihren Sohn waren. Waren – trifft es vermutlich sehr genau. Sasuke wusste nicht, wieso, aber er musste die Bilder einfach stapeln und in eine größtenteils unversehrte Ecke des Ganges legen. Sie bewiesen ihm nachhaltig, dass ein Leben – ein normales Leben – vor diesem Chaos existiert hatte. Seine vorherigen Erinnerungen nicht einfach nur ein Traum waren. Dass er sehr wohl einen großen Bruder hatte, der ihn – wenn er noch am Leben war – genauso verzweifelt suchte wie Sasuke ihn. Dass er Eltern hatte, die hoffentlich weit weg an einem sicheren Ort waren und darauf bauten, dass ihren Söhnen nichts zugestoßen war. All das war Wirklichkeit, all das musste mehr als nur ein Wunsch sein. Wehmütig schleppte Sasuke sich zur Treppe. Die Trauer über sein Leben, das von einer Sekunde auf die nächste ausgelöscht worden war, ließ sein Herz erkalten – schmerzhaft zog es sich zusammen. Eine Weile stand Sasuke gedankenverloren am Treppenabsatz. Was wollte er noch mal? Ach ja, richtig. Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg nach oben in den ersten Stock. Da die Decke heruntergekommen war, hatte er freien Blick auf den Himmel, doch er war immer noch trostlos grau. Nichts hatte sich dort oben verändert. Manchmal glaubte Sasuke einfach, dass die Zeit still stehen musste. Es war so still, er hörte so selten etwas und außer Leichen, die er versucht hatte nicht anzusehen, war er noch keiner Menschenseele begegnet. Wo die Treppe eigentlich geendet hätte, das konnte Sasuke nicht mehr sagen. Im Moment endete sie auf einem Sonnendach. Der erste Stock war dem Erdboden gleich gemacht worden und es war ein Wunder, dass nicht auch dieser endgültig in sich zusammengestürzt war. Unsicher tappte Sasuke auf dem Treppenabsatz herum. Er konnte überhaupt nicht sagen, ob diese Etage ihn noch als zusätzliches Gewicht tragen würde oder ob er der sprichwörtliche Tropfen war, der das Fass zum überlaufen brachte. Einmal tief durchatmen und durch! Mit geballten Fäusten ging Sasuke los, trat über Betonbrocken und Trümmer, schob zerbrochene Ziegelsteine zur Seite und befühlte sachte die halb eingestürzten Wände, die hier nun lose im Nichts standen. Sie wirkten so surreal, wie in einem Computerspiel, wo man durch Ruinen wanderte und das alles sogar noch als faszinierend oder schön empfindet, aber Sasukes Ruinen waren Wirklichkeit geworden und die Faszination war Angst und Schrecken gewichen. Auf dieser zerstörten Plattform machte Sasuke endlich einen umgefallenen Kleiderschrank aus. Er lag gar nicht so weit weg, direkt neben dem Zimmer, vor dem Sasuke im Moment stand, aber da ja die Hälfte des Gebäudes um und in das Haus gestürzt war, hatte Sasuke einen guten Überblick über die vier bis fünf Zimmer, die sich hier oben befanden. Er übersprang geschickt einen Mauerrest; na also, wenn er Glück hatte, würden in diesem Schrank die Kleidungsstücke von diesem Jungen auf den Fotos sein. Die Schranktüren waren gesplittert und hatten sich ineinander verkeilt. Obwohl sie so stark mitgenommen waren, hatte Sasuke große Mühe, die Schranktüren aufzustemmen. Sie waren immer noch sehr stabil und schützten verbissen den Inhalt ihres Herren, der wahrscheinlich nie mehr zurückkehren würde. Krachend gab eine der Türen nach. Hoffend steckte Sasuke seinen Kopf in den Schrank. Tatsächlich. Darin befanden sich die durcheinander geworfenen und ineinander verschlungenen Kleidungsstücke des Jungen, denn fast über die Hälfte des Inhalts war grün. „Ist Grün nicht die Farbe der Hoffnung?“, dachte Sasuke leicht amüsiert. Ja, hoffen. Diese Kleidung passte ihm wie die Faust aufs Auge, zumindest was die Bedeutung betraf. Größenmäßig sah es anders aus. Der grüne Junge musste älter gewesen sein als Sasuke. Die Ärmel und Hosenbeine waren etwas zu lang, aber Sasuke hatte weder die Zeit noch die Geduld, wählerisch zu sein. „Ist … da j-jemand?“ Erschrocken hielt Sasuke augenblicklich inne, als eine gebrochene Stimme an sein Ohr drang. Er ließ die Hose sofort fallen und drehte sich irritiert im Kreis. Hatte er sich das vielleicht nur eingebildet? „Hallo …?“ Schweiß bildete sich auf Sasukes Handflächen und auf seiner Stirn. Er hatte sich die Stimme also doch nicht eingebildet, aber wo kam sie nur her? Verdammt, wenn er nicht so nervös wäre, könnte er sie locker orten. „Ich … Ich bin hier!“, rief Sasuke schließlich. Er musste darauf setzen, dass ihm der andere antwortete, damit er herausfand, wo derjenige sich aufhielt. Hektisch suchte Sasuke die Zimmer ab. Wahrscheinlich war derjenige von den herabstürzenden Trümmern begraben worden, er musste gut hinhören, wenn er … Da! Zwei Zimmer von ihm entfernt konnte er eine Person ausmachen, die auf dem Boden lag. Der Oberkörper lag im Freien, aber der Unterleib war unter den eingestürzten Dachträgern begraben worden. Es sah fast schon ein bisschen so aus, als hätte das Haus versucht, seinen Bewohner zu fressen. Ein schrecklicher Gedanke, für den Sasuke sich sofort schämte. Adrenalin kribbelte durch Sasukes Körper, sein Herz schlug schneller, und seine Muskeln zuckten erwartungsvoll. Das sah nicht gut für denjenigen aus, der da halb verschüttet lag. Gar nicht gut. Schnellen Schritte ging Sasuke auf den Jemand zu. Als er bei ihm angekommen war, kniete er sich hin. „H-Hallo?“ Sasuke flüsterte mehr, als dass er sprach. Seine Stimme flatterte wie der Wind, der böenartig über den Schauplatz des Grauens zog, Sasuke befürchtete, dass der Verletzte ihn womöglich nicht hören konnte. Die Augen des Fremden waren geschlossen, seine Wangen blutig gerissen und seine Haare standen wild vom Kopf ab. Seine Schläfe hatte eine hässliche Platzwunde und das Blut wanderte träge über das schmutzverkrustete Gesicht. Sasuke brauchte eine Weile, um ihn wiederzuerkennen. Aber er war eindeutig der Junge auf den Fotos. Kein Zweifel. Langsam öffnete der Junge seine Augen, welche auf den Fotos so gestrahlt hatten, doch nun wirkten sie glasig und gequält. Fenster sind die Augen zur Seele – warum musste Sasuke ausgerechnet jetzt daran denken? Die Augen zu öffnen, schien den Jungen stark zu erschöpfen und viel Kraft zu kosten. Und Schmerzen, denn sein Gesicht wirkte gepeinigt. „H-Hey … Alles klar … Kleiner?“, nuschelte der Junge mit rauer Stimme. Geistesabwesend schüttelte Sasuke den Kopf. Wie sollte denn alles klar sein?! Er wusste nicht einmal, wo er sich befand und dieser Junge war halb unter seinem eigenen Haus begraben worden! „Sag mal … wie schlimm sieht es aus?“, fragte der Junge und kniff zischend die Augen zu. Mit zitternden Lippen blickte Sasuke flüchtig zu dem nicht vorhandenen Unterleib. Dann wanderten seine Augen traurig zurück zu ihm. „Nicht … so gut, hm? Okay, schon okay … Wie heißt du?“ Der Junge quälte sich ein Lächeln auf die Lippen. Sasuke verstand gar nicht, wie er sich nur so ruhig verhalten konnte. Er hatte ihm doch gerade versucht klar zu machen, dass man ihm vermutlich nicht mehr helfen konnte, dass er sterben würde! Wie konnte er da nur …! „Sasuke. Uchiha Sasuke“, antwortete Sasuke automatisch. „Lee, Rock Lee. Schön … dich kennenzulernen, Sasuke Uchiha.“ Lees Atem wurde immer flacher – das konnte Sasuke deutlich hören. Seine Brust hob sich mit jedem Atemzug etwas weniger. „Tut … Tut mir leid“, flüsterte Sasuke leise. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte, und es tat ihm wirklich leid. Es tat ihm leid, dass er Lee nicht helfen konnte. Es tat ihm leid, dass er bald sterben würde. Und Sasuke tat sich selbst leid, weil er nicht wusste, ob er selbst überleben würde. „Muss es nicht, wieso auch. Ist ja nicht … deine Schuld“, röchelte Lee leise. Seine Hände krampften sich schwach auf seiner Brust. „Ich wünschte, ich könnte etwas tun! Irgendwas!“, murmelte Sasuke leise und wiegte sich zitternd neben Lee auf den Knien. Er wollte nicht zusehen, wie ein anderer, der kaum älter war als er selbst, einfach so starb. Das konnte Sasuke einfach nicht, wie sollte er damit umgehen? „Nein, schon gut. Man kann eben nicht alles im Leben haben und am allerwenigsten das Leben selbst. Es zerbricht … zu schnell. Man muss gut aufpassen, hat mein Meister immer gesagt. Und das hab ich nicht.“ Sasuke schüttelte widerwillig den Kopf. Wie konnte Lee jetzt so dummes Zeug schwatzen, wo hatte er das denn her?! „Ich … glaube es kommt bald Hilfe. Es sieht bestimmt nur schlimmer aus als es ist“, versuchte Sasuke Lee aufzumuntern. Ein kehliges Lachen, das dann in einem Hustenanfall erstarb, brach aus Lees Kehle hervor. „Vergiss es, Sasuke. Bis endlich jemand kommt, bin ich längst – Gott, tut das weh! Geh!“, knurrte Lee plötzlich, seine Augen funkelten wild, seine Hand stieß Sasuke stärker als erwartet von sich. Überrascht sah Sasuke Lee an. Was meinte er mit „Geh!“? „Geh schon! Ich glaube nicht, dass ich länger … Geh einfach, ich meine … Das musst du dir nicht ansehen, wie ich … Das musst du wirklich nicht! das erwartet keiner von dir, ich am allerwenigsten.“ Dann schwieg Lee. Er schloss seine großen Augen und atmete stockend ein und aus. Sollte Sasuke wirklich gehen? Er gab zu, er wollte Lee nicht sterben sehen, das würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen können. Aber war das fair? War es fair, dass Lee ganz alleine starb statt im Kreise seiner Familie, wie es sich so viele wünschten? „Du bist … noch hier? Geh endlich …“, keuchte Lee so leise, dass Sasuke ihm kaum noch verstand. Schweren Herzens richtete Sasuke sich auf, drehte sich um, bevor er es sich anders überlegen konnte, und lief davon – zurück zum Schrank. Er stolperte mehr, als dass er ging. Am liebsten würde Sasuke sich weinend auf dem Boden zusammenrollen, seine Augen fest zusammenkneifen und sich die Ohren zuhalten. Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, aber was sich Sasuke in diesem Augenblick wirklich wünschte, war, nichts zu fühlen. Seine Sicht war tränenverschleiert. Wütend wischte er sich immer wieder übers Gesicht, griff in den Schrank und schnappte sich eine beliebige Hose, irgendein Hemd und ein paar Pullover. Er brauchte die Sachen und so grausam das auch klingen mochte, aber Lee brauchte sie nicht mehr. Nie mehr. Die Luft roch nach Regen, die Erde metallisch und staubig. Alles roch nach Unheil, nach Vergänglichkeit. Schweigsam saß Sasuke in irgendeinem eingestürzten Gebäude, die Knie an die Brust gezogen und den Kopf darauf gelegt. Seine Tränen waren versiegt. Er hatte sie vergossen, noch während er aus Lees Haus gerannt war. Den ganzen Weg, wie lange er auch gewesen sein mochte, bis zu diesem Haus und vor dem Haus selbst. Sasuke wusste gar nicht, dass man so viel weinen konnte. Doch jetzt konnte er nicht mehr weinen, er fühlte sich leer und verbraucht. Er hatte gehofft, es sei wie beim Erbrechen – nach dem Schmerz käme die Erleichterung, aber die blieb ihm kaltherzig versagt. Seine Finger zitterten, als sie das zerknickte Foto in seiner gestohlenen Hosentasche befühlten. Ein Foto von Lee. Wenn er ihm schon nicht helfen konnte, dann wollte er sich wenigstens an ihn erinnern können, damit sich irgendwer an ihn erinnerte. Sasukes großer Bruder Itachi hatte ihm erzählt, dass Menschen erst dann wirklich gestorben sind, wenn sich niemand mehr an sie erinnert. Und Sasuke wünschte sich, dass Lee weiterlebte. Völlig fertig blickte Sasuke wieder auf. Seine Augen waren rot gerädert und geschwollen. Seine salzigen Tränen hatten ihm den meisten Dreck von den Wangen gewaschen. Sasukes Hände zuckten und zitterten unwillkürlich, als er nach den Anziehsachen griff, die er achtlos neben sich hingeschmissen hatte. Aber die Nacht würde bald hereinbrechen und er musste sich dringend umziehen. Er fror bereits und er durfte nicht zulassen, dass sein Körper weiter an Energie und Wärme verlor. Sasuke hatte keine Ahnung, wo er etwas zu Essen und etwas zu Trinken finden konnte oder ob er so etwas noch finden würde. Also musste er sich seine Energiereserven gut einteilen. Wenn doch nur sein Bruder Itachi hier wäre, der wüsste garantiert, was zu tun wäre. Itachi wusste immer, was zu tun war. Träge streifte Sasuke die zerrissene Kleidung von seinem schmutzigen Körper ab, trat in die frisch gewaschene Hose, zog sich das Hemd über den Kopf und anschließend die zwei Pullover. Er hatte keine Decke und in dem Gebäude hinter ihm befand sich vermutlich auch keine. Noch während er sich den letzten Pullover über den Kopf zog, glaubte er, ein Sirren gehört zu haben, nicht weit weg von ihm. Gespannt hielt Sasuke im Umziehen inne. Konnte das sein? Waren das wirklich … Hubschrauber?! Hastig zog Sasuke sich den Pullover über den Kopf und blickte hoch in den Himmel, der Hubschrauber – nein, es waren sogar mehrere! – konnten nicht weit weg sein! Hubschrauber bedeuteten Menschen, Menschen bedeutete Hilfe. Er musste sie unbedingt finden, vielleicht konnten sie Lee doch noch helfen, vielleicht wussten sie, wo Itachi war und wie es seinen Eltern ging. Vielleicht …! Neue Hoffnung durchströmte Sasuke und gab ihm neue Kraft. Die Trauer war wie weggewischt, endlich ein Lichtblick in dieser lichtlosen Welt! Aufgekratzt rannte Sasuke los, ungefähr in die Richtung, aus der er glaubte, die Hubschrauber zu hören. Keuchend flitzte er von einer Gasse in die nächste, bemüht, einigermaßen geradeaus zu rennen. Da! Sasuke konnte einen, nein zwei, sogar drei Hubschrauber im Himmel ausmachen und Menschen, die sich aus ihnen heraus auf dem Weg zum Boden befanden. Obwohl die Erschöpfung an seinen Muskeln zerrte, gab er ungeachtet dessen weiter Gas. Er musste diese Menschen unbedingt erreichen, bevor sie vielleicht weiterflogen. Doch da türmte sich plötzlich vor ihm ein riesiger Trümmerhaufen auf; Autos, Häuser, Straßen, Straßenbahnen, einfach alles lag dort über, unter und ineinander da und versperrte Sasuke Weg zu seiner Rettung. Nervös und hektisch wuselte er mit wild schlagendem Herzen um den Haufen herum. Hatte er die Zeit, drum herum zu laufen? Nein, nicht wirklich, denn dieses sich selbst umarmende Chaos wurde von zwei brüchigen Hochhäusern eingeschlossen. Es war eine Schneise der Verwüstung, die sich in beide Richtungen meilenweit erstreckte. Wenn Sasuke diese Hubschrauber erreichen wollte, dann musste er über diesen Berg klettern, und das würde er auch tun. Am Fuß dieses Berges kam Sasuke noch gut voran. Er fand viel Halt, auch wenn er sich die Hände an kantigen Metallteilen aufschnitt und sich die Knie und Waden am Beton aufriss. Es war, als würde er den Berg der Dornen und Splitter besteigen, als würde er über sein eigenes Leben hinwegsteigen. Immer höher, bis er es überwunden hätte. Alles überwunden hätte; den Schmerz, die Angst, die Verzweiflung, dieses Chaos, diese kaputte Welt. Und wenn Sasuke das erst einmal geschafft hatte, dann würde auf der anderen Seite die Hilfe auf ihn warten, die er so dringend brauchte. Sasuke hatte nun ungefähr die Hälfte des Trümmerhaufens überwunden. Ab und zu hielt er inne, um zu lauschen, ob die Hubschrauber noch in der Nähe waren, aber glücklicherweise schienen sie sich nicht vom Fleck zu rühren und das spornte ihn weiter dazu an, noch schneller zu klettern. Bei jedem bisschen mehr, das er schaffte, konnte er sich sagen, dass er es gleich geschafft hatte. Dreiviertel des Berges lagen hinter ihm. Geröll rutschte unter seinen Füßen weg, Teile von Autos lösten sich unter seinem Gewicht und Sasuke wäre mehr als einmal beinahe wieder in die Tiefe gestürzt, doch das Glück war ihm hold und hatte ihm immer einen anderen Vorsprung zum Ausweichen bereitgestellt. Oben! Auf dem Dach eines zerkratzten, azurblauen Autos ruhte Sasuke sich ausgelaugt aus. Seine Muskeln schmerzten und zitterten unaufhörlich, das Schwindelgefühl kehrte wellenartig zurück, aber Sasuke wollte unbedingt einen Blick auf die Hubschrauber erhaschen und auf die Menschen, die sich jetzt in der Stadt befinden müssten. Er war nicht der Einzige, der sich auf den Weg zu den Hubschraubern gemacht hatte. Von überall her schleppten sich verletzte und hoffende Menschen aus den Überresten der Stadt zu den Hubschraubern und stiegen verzweifelt über jene, für die jedwede Hilfe zu spät kommt. Sasuke gönnte sich nicht viel Pause, er musste weiter. Behutsam tastete er sich vom Hügel wieder hinunter. Der Abstieg gestaltete sich als viel schwieriger und langwieriger als der Aufstieg. Sasuke hasste sich für jede Sekunde, die er brauchte, um wieder vom Berg herunterzukommen. Er musste sich doch beeilen, verdammt! Die pure Erleichterung durchflutete ihn, als seine Füße endlich den zerrissenen Beton berührten. Sofort rannte Sasuke los, der Blick fest auf die Menschen gerichtet, die bereits auf die Einwohner der Stadt zugingen und … Waffen auf ihren Rücken trugen? Verwirrt verfiel Sasuke vom Laufschritt ins Joggen. Wieso trugen diese Männer denn Waffen? War es etwa keine Naturkatastrophe gewesen, die seine Heimatstadt heimgesucht hatte, sondern eine Art Terroranschlag? Die Männer hielten etwas in der Hand: es sah nach einem Blatt Papier aus. Nun hielten sie es dem ersten Einwohner der Stadt vors Gesicht und schienen ihn etwas zu fragen. Langsam schüttelte der Mann den Kopf – was wollten diese Männer nur? Was sollte das denn für eine Erste Hilfe sein? Ein krachender Schuss zerriss die Luft um Sasuke. Entsetzt sah er, wie einer der Männer den Lauf seiner Waffe auf das Gesicht einer Frau gerichtet und abdrückte hatte. Wie versteinert blieb Sasuke abrupt stehen, sah zu, wie die Frau mit zerrissenem Gesicht nach hinten kippte und leblos auf dem Boden aufschlug. Der Mann, der sie kaltblütig erschossen hatte, wandte sich dem nächsten Hilfesuchenden zu und hielt demjenigen das Papier unter die Nase. Was war hier nur los? Wieso machten sie so etwas?! Immer mehr Männer zogen ihre Waffen und schossen auf die verwirrten und verletzten Überlebenden. Panische Schreie und Schüsse fegten über Sasuke hinweg. Es war, als wäre er von einem Albtraum in den nächsten getrudelt. Um ihn sirrten die Kugeln, spritzte Blut und lachten raue Stimmen. Diese Männer – sie waren keine Hilfe – sie wollten sie umbringen! Sie alle umbringen! Ängstlich legte Sasuke den Rückwärtsgang ein. Sie durften ihn keinesfalls sehen, bestimmt würden sie ihn auch erschießen, nachdem er ihre ihm unbekannte Frage beantwortet hatte. Erneut bahnte sich das Adrenalin ihren Weg durch Sasukes angeschlagene Venen. Seine schmerzenden Muskeln machten sich bereit, er musste so schnell und lange wie er konnte, fliehen. Sasuke verlor keine Zeit, die hatte er ohnehin nicht. Er dreht sich um und wetzte quer über den Schauplatz, suchte Schutz hinter Gebäuden und eingestürzten Mauern, versteckte sich hinter qualmenden und brennenden Autos und ignorierte den beißenden Gestank von verbranntem Gummi, ignorierte den brennenden Schmerz, den ihn der Qualm in die Augen trieb und ignorierte die gequälten und ängstlichen Schreie um sich. Nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen. Eine Kugel sauste knapp vor seiner Nase vorbei und bohrte sich berstend in eine Wand direkt hinter ihm. Weiter laufen, nicht stehen bleiben, nicht umschauen. Straße um Straße wurden die Schüsse und Schreie leiser. Hoffentlich hatten sie ihn nicht gesehen, doch die Männer sahen mit Fragen und Schießen so beschäftigt aus, dass Sasuke gute Chancen hatte, unentdeckt davonzukommen. Dennoch, er musste sich einen Unterschlupf suchen, einen Ort, an dem sie ihn nicht finden konnten. Systematisch suchten Sasukes Augen die Häuser um ihn herum ab. Doch erst einmal musste er sich vom Ort des Massakers so weit wie irgend möglich entfernen. Je größer die Entfernung, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn nicht finden würden. Keuchend blieb Sasuke endlich stehen. Er konnte keine Schüsse und auch keine Schreie mehr hören. Offensichtlich war er weit genug weggerannt. Seine blutverschmierten Hände stützen sich auf seinen aufgeschlagenen Knien ab. Der Schweiß tropfte von seiner Stirn und seine neue Kleidung klebte unangenehm an seinem Körper. Er musste sich ein wärmeres Plätzchen suchen. Die Nacht brach herein und die Stadt versank in tiefer Dunkelheit. Sasuke musste sich beeilen, sonst würde er in der sich ausbreitenden Finsternis noch in ein Loch fallen oder dumm stolpern und sich etwas brechen. Sein Blick fiel auf ein Gebäude, dessen vordere Front aus Schaufensterglas bestanden haben musste. Wahrscheinlich war das einmal ein Geschäft gewesen. Sich vor den spitzen Scherben duckend, die feindselig ihre scharfen Kanten in seine Richtung reckten, stieg Sasuke in den Laden ein. Ein Lebensmittelladen! Noch besser konnte es ja gar nicht laufen! Hier würde Sasuke auch etwas zu Essen haben, aber darum würde er sich erst am nächsten Morgen kümmern. Sein Magen fühlte sich an, als hätte sich darin ein gordischer Knoten gebildet – folglich würde er ohnehin nichts runter bringen. Lediglich etwas zu trinken sollte er sich suchen. Fast alle Regale waren umgestürzt, viele Lebensmittelverpackungen waren aufgeplatzt, hier eine Pfütze Milch, da erstreckte sich ein Teppich aus Cornflakes, dort war Essen aus der Dose alles andere als in der Dose. Aus einem umgestürzten, verglasten Schrank waren unzählige Getränkeflaschen in die Freiheit gerollt. Sasuke hob eine davon auf. Cola Light. Immerhin, etwas zu trinken. Weiter hinten, in einer Ecke des Ladens sah es noch recht ordentlich aus. Sasuke schnappte sich ein paar Regale und zog sie als Schutzwall vor die Ecke, damit ihn auch dann keiner sah oder fand, wenn er wert darauf legte. All das kostete Sasuke ebenfalls viel Kraft – zum einen war er schrecklich müde und zum anderen waren die Regale wesentlich schwerer als sie aussahen. Nachdem er diese endlich in die Position gezogen hatte, die Sasuke für angemessen hielt, plumpste er in der Ecke des Ladens in sich zusammen. Kraftlos schraubte er seine Cola vorsichtig auf und wartete, bis das bedrohliche Zischen der Flasche erstarb. Sasukes Getränk schäumte tollwütig in ihrem Innern und brodelte grummelnd vor sich hin. Als es endlich verstummt war, nahm Sasuke ein paar halbherzige Schlucke, anschließend schraubte er die Flasche wieder zu und stellte sie neben seinem auserkorenen Schlafplatz. Er legte sich geschafft hin und fiel sofort in einen von Albträumen gefüllten Schlaf. Immer wieder wachte er schreiend und um sich schlagend auf, weil ihn gesichtslose Männer mit Waffen verfolgten, sich Risse im Boden unter ihm auftaten und ihn verschluckten oder weil ein blutüberströmter Lee ihm vorwarf, ein elender Feigling zu sein, der ihn hatte allein sterben lassen. Und dennoch, endlich konnte Sasuke schlafen. Vielleicht nicht besonders gut, aber er schlief. Einen Tag hatte er geschafft – er hatte überlebt. Zumindest heute. Kapitel 3: Know your Enemy! --------------------------- ____________________________________________________ „Lass mich nicht darüber reden, lass mich dir nicht sagen müssen, dass du aus deinem Traum längst aufgewacht bist. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass du immer noch nur träumst. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass alles wieder gut wird. Ich wünschte, ich könnte es selbst glauben.“ - Shikamaru Nara - ____________________________________________________ „Ich sollte jetzt nach Hause gehen“, murmelte Ino leise. Sie hatte ihre Knie an ihre Brust gezogen und drückte sich mit glasigem Blick gegen die zerfallene, ehemalige Mauer ihres Klassenzimmers. Besorgt schaute Shikamaru immer wieder zu ihr hinüber. So hatte er seine Klassenkameradin Ino Yamanaka noch nie gesehen. Es war ein erschütternder Anblick. War das wirklich noch die Ino? Die arrogante, besserwisserische, hochnäsige und auf ihn, Shikamaru Nara, herabsehende Ino? Musste wohl, denn eine andere Ino gab es eindeutig nicht. Nachdem Shikamaru sich von seinem ersten, schweren Schock erholt hatte, war er durch das ehemalige Schulgebäude gestreift – hoffend darauf, auch noch andere Überlebende zu finden. Leider war seine Suche erfolglos geblieben. In der Zwischenzeit hatte Ino sich in ein Häufchen Elend verwandelt, das flüsternd und starrend einfach nur da saß. Shikamaru befürchtete, dass sie ihn gar nicht wahrnahm. Seufzend und über einen umgestürzten Tisch springend, kam er auf sie zu und beugte sich über sie. „Hey, das wird schon wieder, wirst schon sehen. Ino, hörst du mich?“ Stumm starrte Ino an ihm vorbei. Verzweifelt biss er sich auf seine Zunge, um nicht wieder los zu schreien. Diese Hilflosigkeit würde sich am liebsten lautstark bemerkbar machen. Er wusste einfach nicht, was er jetzt tun sollte. Am liebsten würde er sofort aus der Schule raus rennen und nach Hilfe rufen, aber er konnte Ino doch nicht einfach sitzen lassen. Was wäre er nur für ein Mensch, der den einzigen, ihm hier vertrauten Menschen zurückließe, um seine eigene Haut zu retten? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage! Und wenn Shikamaru eine Ewigkeit darauf warten musste, bis es Ino wieder besser ging. Doch im Moment blieb ihm vorerst keine andere Wahl, als hier auszuharren und zu hoffen. Er durfte Ino nicht aus den Augen lassen, weshalb er sich neben ihr hinsetzte und darüber nachdachte, was sie als nächstes tun sollten. Wenn Ino jemals wieder zu sich kam. Obwohl Shikamaru das jetzt sicher schon hunderte Male getan hatte, schaute er sich noch einmal das Klassenzimmer an. Betrachtete die halb herabgestürzte Decke, die Staubschwaden, die sich wie Bienenschwärme durch den Raum zogen, weil der Wind immer wieder böenartig hindurchfegte. Er betrachtete die Tische und Stühle, fast alle unbrauchbar zerstörte, ausgerissene Beine, eingedrückte Tischplatten, zerfetzte Schultaschen und deren Inhalt, der sich überall verteilt hatte. Hier lag ein Radiergummi, ertränkt in der Tinte und dem Blut seines Besitzers. Ja, das Einzige, was Shikamaru sich nicht mehr ansehen wollte, waren diese schrecklich zugerichteten Leichen – all die toten Körper, aufgeplatzt, eingedrückt, zerquetscht, zerrissen. Doch langsam konnte Shikamaru ihren toten Blicken nicht mehr ausweichen, denn ein widerlich süßlicher Geruch, breitete sich langsam im Klassenzimmer aus, wenn er nicht bald von hier verschwand dann … „Ich träume, richtig?“ Inos Frage traf Shikamaru völlig unerwartet. Gedanken versunken war er einfach nur da gesessen und hatte schließlich versucht, alles um ihn herum auszublenden. Nun schaute er überrascht zu Ino auf, die ihn mit großen, flehenden Augen ansah. „Das ist doch nur ein Traum. In ein paar Minuten wache ich auf und sitze in der Ecke im Klassenzimmer.“ Suchend blickte sie sich nach besagter Ecke um, aber in diesem Chaos aus Beton, Stahl und toten Leibern, konnte man nicht mehr sagen, wo das Zimmer jemals Ecken hatte. „Ino …“, stammelte Shikamaru. Wie sollte er ihr jetzt nur beibringen, dass dieser Albtraum leider Wirklichkeit war? Sie hörte auf, sich im zerstörten Klassenzimmer umzusehen und wandte sich wieder ihrem letzten verbliebenen Klassenkameraden zu. „Wann wach ich auf?“, flüsterte sie so leise, dass Shikamaru sie nur verstand, indem er näher zu ihr aufrückte. Er konnte nichts sagen, er wollte nichts sagen. Müde schüttelte er nur verneinend den Kopf. „Lass mich nicht darüber reden, lass mich dir nicht sagen müssen, dass du aus deinem Traum längst aufgewacht bist. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass du immer noch nur träumst. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass alles wieder gut wird. Ich wünschte, ich könnte es selbst glauben.“ Das ist es, was Shikamaru in diesem Augenblick dachte, aber seine Zunge fühlte sich so unendlich schwer an und Inos Blick konnte er kaum mehr ertragen. --- „Ganz ehrlich, dein Haus finden wir noch am ehesten, Ino“, versuchte Shikamaru seine Klassenkameradin zu überzeugen, die sich mit wackligen Beinen auf einen der heil gebliebenen Stühle niedergelassen hatte. „Ich will mein Haus nicht sehen, okay?! Es sieht bestimmt genauso aus wie …“ Krächzend brach ihre Stimme ab und sie legte ihre Hand auf ihre Stirn. Seufzend schüttelte sie den Kopf, das war einfach alles viel zu viel für sie und Shikamaru war keine große Hilfe – mit seinem konstruktivem Getue und seinem „logischen Denken“, wie er das so schön nannte. Der führte sich auf, als sei das schon sein zweiter Weltuntergang in diesem Leben und würde sich auskennen oder er hätte einen Selbst-Hilfe-Kurs besucht, der einem half damit klar zu kommen, dass gerade die Menschheit untergegangen war. „Ino, mein Haus finden wir nicht mehr, ich meine, sieh dich doch mal um! Hier ist echt alles in Schutt und Asche gelegt worden. Ich mache einen Schritt vor die Schule und hab das Gefühl, auf einem fremden Planeten zu sein. Wir müssen es wenigstens mit deinem Zuhause versuchen!“ Shikamaru gab nicht nach. Er wollte unbedingt dieses eine ihm greifbar scheinende Ziel erreichen, aber ohne Inos Führung würde er niemals dorthin finden. Wie er schon sagte: einen Schritt vor den Trümmern dieses Gebäudes und man verlor die Orientierung. Aber auch in Ino regte sich die Neugier. Lebten ihre Eltern noch? Und wenn ja, waren sie unverletzt? Könnte sie ihnen helfen, wenn sie jetzt loslief? Entschlossen stand sie wieder auf, es war an der Zeit, das Leben wieder an den Zügeln zu packen und das Pferd, das sich Apokalypse nannte, unter Kontrolle zu bekommen. „Gut. Dann versuchen wir es eben bei mir.“ Es kostete Ino viel Kraft, ihren Rücken zu straffen und sich gerade hinzustellen. Misstrauisch beäugte Shikamaru sie, anscheinend traute er ihr kein Selbstbewusstsein mehr zu, nachdem sie diesen Nervenzusammenbruch gehabt hatte, aber das war einmal. Hier war wieder die alte Ino, die starke Ino, die alles im Griff hatte und die ganz sicher keinen neunmal klugen Shikamaru brauchte, um nicht durchzudrehen. Sie versuchte die Blut tropfenden Leichen ihrer Klassenkameraden nicht anzusehen. Sie stellte sich vor, dass das Puppen seien, nichts weiter als ein paar makabere Puppen, die jemand mit Kunstblut vollgekleistert hatte. Kaltschnäuzig trat sie über den blutgetränkten Torso eines Jungen, den Ino Gott sei dank nicht wiedererkannte. Shikamaru würgte leise vor sich hin und als sie die Überreste ihres Klassenzimmer verlassen hatten, übergab er sich geräuschvoll ein Stück weit entfernt. „Ich muss nicht kotzen! Verstehst du jetzt, warum ich die Führung übernommen habe?!“, dachte Ino und ballte ihre Hände. Sie schaffte das! Ganz sicher, nichts und niemand konnte ihr jetzt noch etwas anhaben! Das war ihre Härteprüfung – davon war Ino überzeugt. Vorsichtig tasteten sich die beiden durch das ehemalige Schulhaus. Die Decke sah stellenweise aus wie ein Schweizerkäse – bröckelnd rieselte Beton und Putz herab. Staubregen waberte in der Luft, kroch in die Atemwege von Ino und Shikamaru und ließ sie husten und sich die Augen reiben. „Lästig …“, nuschelte Shikamaru leise und versuchte, sich den Putz vom Gesicht zu wischen. Ino erinnerte sich dunkel daran, dass er schon einmal im Schulhaus unterwegs gewesen sein musste, weil er nach Überlebenden gesucht hatte. Also drehte sie sich zu ihm um und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Shikamaru. Du warst doch schon mal hier unterwegs, gibt es einen einigermaßen sicheren Weg zum Ausgang des Schulhauses?“ Argwöhnisch schaute er Ino abschätzig an. Sie hasste diesen Blick. Er war so herablassend, genauso wie Shikamaru immer herablassend war. „Ja, Prinzessin. Warum müssen wir denn unbedingt zum Ausgang? Wenn wir hier raus wollten, hätten wir auch direkt aus unserer Klasse ins Freie spazieren können.“ Genervt stöhnte Ino auf und schloss kurz die Augen. Shikamaru musste man wirklich alles erklären. „Ich brauche den richtigen Ausgang, damit ich zumindest ungefähr weiß, wo mein Haus liegen könnte, kapiert?“, erklärte sie ihm zähneknirschend. Shikamaru zuckte nur gelassen mit den Schultern, murmelte wieder irgendwas von lästig und stapfte, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, voran. Nur widerwillig trat Ino ihre Führungsposition zeitweilig ab, aber Shikamaru war fast das gesamte Schulhaus abgelaufen und kannte sich hier schlichtweg besser aus. Wieder wanderte ihr Blick zur Decke und sie musste unwillkürlich an „Das große Krabbeln“ denken. Ein lächerlicher Animationsfilm mit Ameisen, deren Bau von Grashüpfern angegriffen wurde. Die Grashüpfer hatten die Decke des Baus durchbrochen und für Verwüstung und Chaos gesorgt. Genau, eine Horde Grashüpfer hatte sie alle angegriffen und … Blinzelnd blieb Ino kurz stehen – was dachte sie denn da für einen Schwachsinn?! „Wir sind bald da“, rief Shikamaru über seine Schulter Ino zu. Stumm nickte sie und trat über einen abgerissenen Arm, der mitten im Weg lag. Wenn sie nicht allzu genau hinsah, dann hätte es auch ein Ast sein können. Ein Ast, aus dessen Enden blutrotes Harz tropfte und dessen innerer Kern aus weißem, gebrochenem Holz bestand. Wenn man nicht so genau hinsah, dann war vieles einfacher. Ino hatte sich in vielerlei Hinsicht darauf spezialisiert, nicht genau hinzusehen und nicht allzu genau hinzuhören. Wer hört schon gern, wie jemand mit vorgehaltener Hand über die Ino lästerte. Diese E-Mail löscht du besser, den Link zu dieser Website klickst du besser erst gar nicht an und es liegt sicher nicht an dir, dass dieser eine Zettel, der durch die Klasse ging, nur nicht in deiner Hand gelandet ist. Du bist die Einzige, die nicht gesehen hat, was auf dem Zettel stand, aber das muss nicht heißen, dass es um dich ging, Ino. Was hatte das eigentlich zu bedeuten, als Shikamaru sich den Zettel schnappte, zerriss und im nächsten Mülleimer versenkte? Ino wusste es nicht, denn sie hatte nicht genau hingesehen. „Scheuklappen stehen dir nicht“, grunzte Shikamaru immer wieder. „Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“ Sie kümmerte sich doch auch um ihren eigenen Kram. Sie hatte ihre Clique, sie hatte viele Freunde und eben genauso viele Feinde, aber das gehörte einfach dazu. Ino hatte Verehrer, Ino hatte Neider, Ino verstand sich nicht sonderlich mit Shikamaru. Shikamaru sagte: „Du hast ein Problem mit mir, aber ich mach mir keins mit dir.“ Shikamaru … „Und, kennst du dich aus?“ Ino war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht richtig mitbekommen hatte, dass sie bereits das Schulhaus verlassen hatten und nun direkt davor standen. Die Augen zusammenkneifend, hob sie ihre Hand. Das helle Licht wirkte so scheußlich grell, dabei verbarg sich die Sonne scheu hinter dicken Regenwolken. Dennoch, hier war es so viel heller als im Schulgebäude, durch das sie gut eine halbe Stunde gewandert waren. Langsam gewöhnte sie sich an das Licht und schaute sich fröstelnd um. Wo war die Straße hin, die an der Schule vorbeiführte? War sie etwa dort gewesen, wo jetzt ein riesiger Spalt in der Erde klaffte? War dieses Haus schon immer dort gestanden oder fiel es ihr erst jetzt auf, weil sie es nicht wiedererkannte? Die Bäume, die die Schule umgeben hatten, sind aus dem Boden gerissen worden, als hätte ein Riese beschlossen, sie auszurupfen und dann achtlos zu Boden fallen zu lassen. „Ich …“, stotterte Ino; sie erkannte so gut wie nichts mehr, aber sie musste. Sie musste doch nach Hause und nach ihren Eltern sehen! Ihre Eltern waren berufstätig, aber sie wusste genau, dass sie diese Woche Urlaub hatten und wenn sie Urlaub haben, dann sind sie die meiste Zeit zu Hause, um sich auszuruhen. „Sieht voll übel aus“, schauderte Shikamaru und wandte gequält den Blick von diesem Höllenszenario ab, dann wanderten seine dunklen Augen zurück zu Ino. „Lass dir so viel Zeit wie du brauchst. Versuch dich daran zu erinnern, wie es hier sonst ausgesehen hat und dann konzentrierst du dich wieder auf … auf das hier“, versuchte er ihr unter die Arme zu greifen. Mit zugeschnürter Kehle nickte Ino. Sich erinnern, wie es einmal war. Das war doch noch gar nicht so lange her – erst diesen Morgen noch, war alles so gewesen, wie sie es gewohnt war – diesen Morgen erst. Diesen Morgen? „Shikamaru! Wie lange … Ich meine, wie viel Zeit ist vergangen, seit wir in der Schule …!“ Ihre Stimme überschlug sich aufgeregt. Sie wusste gar nicht, warum sie das so genau wissen wollte und gleichzeitig hatte sie zig Gründe dafür. „Äh, keine Ahnung. Vielleicht ist schon ein Tag vergangen … das kann ich nicht so genau sagen. Sekunde mal … Ich glaube, das ist gestern passiert! Ich war einige Zeit einfach weggetreten und du warst bewusstlos.“ Nervös sprang Ino von einem Bein aufs andere. Gestern also. Höchst wahrscheinlich, wer wusste das schon so genau. Shikamaru trug keine Armbanduhr, weil es ihn zu sehr hetzen würde, immer zu wissen, wie viel Uhr es war und wie viel Zeit ihm noch blieb. Für was auch immer, Ino fand, dass Shikamaru der entspannteste Typ war, den sie je kennengelernt hatte und vielleicht lag es auch wirklich daran, dass er nie genau wusste, wie viel Uhr es war. Und warum trug Ino keine Uhr? Weil es gerade eben nicht „in“ war, eine Armbanduhr zu tragen. So was schleppten nur Streber mit sich rum und Ino war keine Streberin. Sie war gut in der Schule, aber das ist was anderes. Glaubte sie. „Ich glaube, da lang!“, sagte sie und deutete mit zitterndem Finger inmitten des Chaos. Shikamaru warf seine Stirn in Falten. „Da lang? Bist du sicher? Es macht keinen Sinn, irgendwohin zu rennen. Ich weiß, du machst dir Sorgen um deine Eltern, ich mach mir auch Sorgen um meine. Aber du musst dir sicher sein!“, redete er Ino ins Gewissen. Enttäuscht ließ sie die Hand wieder sinken. Irgendwie hatte sie erwartet, dass er nicken würde und sie einfach losrennen konnte, aber Shikamaru war ein unverbesserlicher Skeptiker. Dennoch, er hatte recht, sie konnte nicht einfach lospreschen. Wenn die Straße doch nur da wäre, wo sie immer gewesen war – wenn sie doch nur dieses kaputte Haus wiedererkennen würde. Wenn es doch nur gestern wäre … Oder wenigstens ein Traum. --- Wieder hallte ein verzweifelter Schrei aus Inos Kehle über die verwüstete Stadt. Schweigend sah Shikamaru zu, wie sie im Kreis lief, sich die Haare raufte und sich für jede Entscheidung verfluchte, die sie getroffen hatte. „Beruhig dich endlich!“ Wütend trat er zu ihr, packte ihre schmalen Schultern und rüttelte sie. „Durchzudrehen hilft uns überhaupt nicht! Du hast es versucht, okay? Und damit müssen wir zufrieden sein. Dass es nicht leicht werden würde, hier überhaupt irgendwas zu finden, war von vornherein klar! Ich hab kein Wunder erwartet, du etwa?!“, brüllte er sie lautstark an. Aller Frust, der sich in Shikamaru gestaut hatte, brach nun Bahn und leider traf es Ino. Ein herber Schlag, auch wenn es die Wahrheit war. Zornig riss sie sich los und schubste Shikamaru von sich. Schwer atmend verschränkte er die Arme vor seiner Brust. Eigentlich standen sie nur hier mitten im Nirgendwo, weil Ino mal wieder alles besser gewusst hatte – so wie immer. „Shikamaru“, seufzte Ino und stemmte ihre Hände wieder in ihre Hüften. Gott, wie er das hasste, wenn sie das machte. Wie sie seinen Namen sagte, so besserwisserisch und so möchte-gern-erwachsen. Und wie sie ihre Hände in ihre schmalen Hüften drückte, schrecklich, dieses Getue. „Ja, Frau Lehrerin?!“, knurrte Shikamaru und funkelte sie genervt an. Lästig. Inos Getue war einfach nur lästig – das traf es wohl am Ehesten. „Lass den Quatsch!“, keifte sie ihn an. „Gut, ich gebe es zu, ich hab keine Ahnung mehr, wo wir sind. Tut mir leid, ich weiß es nicht. Darum frage ich dich, was du tolles vorzuschlagen hast, was wir denn jetzt machen sollen!“ Erschöpfte ließ Ino die Arme wieder sinken und auch Shikamaru hörte auf, sie vor seiner Brust zu verschränken. Was sollte das? Sie hatten doch nur noch sich! Das konnte es doch nicht sein, dass sie sich nur stritten! „Lassen wir es einfach.“ Ino öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wusste aber auf diesen lose stehenden Satz nichts zu antworten? Wie meinen?! „Lassen wir einfach, diese lästige Maskerade, Ino. Sei doch einfach mal nur du selbst. Hier ist niemand, der dich mehr bewertet und seine Gehässigkeiten auf Facebook postet, okay? Es gibt niemanden mehr, dem du etwas vorspielen musst. Schon gar nicht mir, das finde ich einfach nur lästig.“ Während Shikamaru das sagte, war er Ino wieder näher gekommen. Die echte Ino, die Ino aus dem Kindergarten, die normale Ino, die mit ihm im Sandkasten gespielt hatte und die Farbe Rosa doof fand. Wo war diese Ino vor sechs Jahren hin verschwunden? Es wurde Zeit, sie wieder zurückzuholen. Verwirrt schüttelte sie ihren Kopf und stolperte ein paar Schritte rückwärts, dann räusperte sie sich leise und senkte ihren Blick. „Du weißt nicht, wie das ist, wenn man ständig und jeden Tag von anderen bewertet wird. Meine Eltern bewerten meine Noten, meine Freunde mein Verhalten und meine Feinde mein Fehlverhalten. Du weißt nicht wie sich das anfühlt, wenn man jahrelang darauf achten muss, wer man ist!“ Inos Augen glühten, stöhnend schloss Shikamaru die seine. „Nein, ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung wie es ist, beliebt und berüchtigt zu sein. Und es ist mir auch egal, weil diese ganze Scharade nervt und unsinnig ist. Schön, dass wir das geklärt haben. Fühl dich doch einfach mal in diesem Punkt frei, Ino und lass uns nach anderen Leuten suchen, das ist es, was wir jetzt machen sollten. Das nötigste zusammenklauben und andere Leute finden, denn anscheinend hat sich noch niemand dazu bereiterklärt uns retten zu wollen, also bleibt uns nur noch eine Option.“ „Uns selbst zu retten“, beendete Ino mit festem Blick Shikamarus Ansage. Ein schmales Lächeln kroch über seine Lippen und er nickte anerkennend. Sie schafften das schon. Wäre doch gelacht, wenn sie ihre eigene Schule wortwörtlich überlebt hatten, nur um sich dann selbst an die Kehle zu fahren. Das war jetzt schon das zweite Haus, das die beiden dreckverschmiert und mit schmerzenden Muskeln nach brauchbaren Sachen durchforsteten; immer auf der Hut, um sich nicht die Hände aufzuschneiden oder sich unnötige Wunden zuzufügen – einen Verbandskasten hatten sie nämlich noch nicht ausfindig machen können. „Ich hab noch einen Rucksack gefunden.“ Enttäuscht warf Ino ihn hinter sich zurück in den Schutt. Man mochte es kaum glauben, aber sie hatten schon ganze vier Rucksäcke ausgebuddelt. Hatte diese Wohnung etwa einem Camper gehört? Shikamaru sagte zu Inos Ausruf gar nichts, das hatten sie schnell eingestellt. Es kostete zu viel Kraft, sich ständig zuzurufen oder mitzuteilen, was man gerade gefunden hatte, wenn es nicht etwas Nützliches war. „Lassen wir das, das bringt doch nichts. Wir haben zwei Rucksäcke, ein paar Decken und drei Flaschen Wasser gefunden. Vielleicht finden wir ja einen Lebensmittelladen, oder so was“, gab Shikamaru sich schließlich geschlagen. Aufgekratzt trat Ino die Überreste einer Kommode auf die Seite, darunter kam ein Bilderrahmen zum Vorschein. Neugierig bückte sie sich und hob ihn hoch. „Schau dir das mal an“, murmelte sie leise. Verträumte strich sie mit ihren wunden Fingern über das gesprungene Glas des Bildes. Fragend warf Shikamaru einen Blick darauf. Auf dem Bild war ein junger Mann zu sehen – kaum älter als sie. Er hatte blondes, verstrubbeltes Haar und aquamarinblaue Augen, die schelmisch in die Kamera schauten. Ein breites Grinsen umspielte seine Lippen. In seinen Armen drückte sich ein Mädchen, das genauso alt sein musste wie er. Ihr Haar war korallenrosa und ihre Augen jadegrün. Sie lachte ausgelassen in die Kamera und hatte ihre Arme um ihren Freund geschlungen. Sie waren auf diesem Bild geradezu schmerzhaft glücklich. Shikamaru schaute Ino irritiert dabei zu, wie sie das Bild in ihren Rucksack verfrachtete. „Was soll das, was willst du denn damit?!“, fragte er verwirrt. „Es den beiden zurückgeben, wenn wir sie gefunden haben“, antwortete Ino entschlossen. Shikamaru winkte ab. Wie abwegig ihre Gedanken doch manchmal waren, aber er verstand es auch ein wenig, allerdings nicht gut genug, um nachvollziehen zu können, warum Ino das Bild unbedingt behalten möchte. „Wir haben ihre Leichen hier nicht gefunden, die hätte ich gesehen. Vielleicht haben sie überlebt und sind woanders hingegangen“, versuchte Ino ihr Verhalten Shikamaru verständlich zu machen. Er rollte nur mit den Augen und murmelte, dass sie doch machen könne, wie sie meinte – seiner Meinung nach war das völliger Quatsch. Dass Ino so eine Träumerin sein konnte, hätte Shikamaru nun nicht erwartet. „Und dann … KABUMM, hm!“ Kalter Schreck jagte durch Shikamarus Blut wie Eiswasser. Ino sprang schreiend wie ein Katze in die Höhe; wer hatte da gesprochen?! Panisch blickten sie sich um. Shikamarus Herz klopfte aufgeregt in seiner Brust, seine Muskeln mochten müde und übersäuert sein, doch dank eines neuen Schubes Adrenalin, waren er sofort bereit, sich aus dem Staub zu machen. Aber Moment mal, war das nicht ihr Ziel? Andere Leute finden? Jetzt wegzulaufen wäre etwas suboptimal. „Habt ihr das gehört, hm?“ Ino machte Anstalten davonzulaufen, aber Shikamaru hielt sie schnell fest. Das war ihre Gelegenheit, einen anderen Überlebenden kennenzulernen. Derjenige wusste bestimmt mehr als sie und konnte ihnen sagen, was passiert war und wann mit Hilfe zu rechen wäre. Diese Chance ließ Shikamaru sich doch nicht entgehen! Keuchend blickte er sich in der eingestürzten Wohnung um. Alles lag übereinander verschachtelt, überall könnte sich ein Hohlraum gebildet haben, in dem ein Mensch eingeschlossen worden war. Geberstetes Mauerwerk ragte haltlos aus dem Schutt und beugte sich windschief über die Reste ihrer Kameraden. Ein Berg, ein Trümmerhaufen, der das Leben ihrer Bewohner aus ihnen herausgequetscht hatte. Und trotzdem, jemand muss überlebt haben. „Halloo? Wo sind sie?!“, schrie Shikamaru plötzlich los. Erschrocken sprang Ino erneut in die Luft. Ihre Augenlider flatterten. Sie war so nervös, dass sie nicht wusste, wo sie zuerst hinblicken sollte. „Ihr habt es also gehört, hm“, kicherte eine leise Stimme. Shikamaru hörte heraus, dass es sich wohl um einen Mann handelte. Shikamaru musste ihn dazu bringen, mehr zu sagen. Dann würde er denjenigen schneller finden. Was, wenn der Mann verletzt war?! Den Erste-Hilfe-Kurs hatte Shikamaru ausfallen lassen, das Helfen überließ er lieber den Leuten, die es wirklich konnten. Wieder eine Entscheidung, bei der er den Weltuntergang nicht berücksichtigt hatte. „Reden Sie mit uns, wir versuchen, Sie zu finden, okay?“, redete Shikamaru laut weiter. Er schaute hinter Stahlträger, lugte in kleine Luftkammern im Schutt, schob Schränke und Mobiliar so weit zur Seite wie er nur konnte und Ino tat ihr bestes, um Shikamaru dabei zu helfen. „Habt ihr auch verstanden, was ihr gehört habt?“ Lauschend richtete Shikamaru sich wieder auf. Hier war er also falsch. Der Mann musste weiter hinten in der Wohnung sein, dort, wo die Überreste des Daches gefährlich brüchig über das Chaos ragten. „Nein!“, zischte Ino und zog Shikamaru energisch zurück. „Das kann jeden Augenblick einstürzen!“ Ärgerlich schüttelte Shikamaru sie ab. Wenn sich der Mann in diesem Teil der Wohnung aufhielt, musste er ihn unbedingt rausholen. Er kam sich vor wie beim Topfschlagen – heiß, kalt, wärmer, ganz heiß. Nur, dass dieses Mal der Topf mit dem Löffel sprach und einem die Richtung wies. Vorsichtig wagte Shikamaru sich Stück für Stück in die einsturzgefährdete Höhle aus gebrochenem Beton und Eisen. Es erinnerte ihn an den Spruch – sich in die Höhle des Löwen wagen – nur dass nun die Höhle der Löwe war. Ino war nicht im Unrecht: jeden Augenblick konnte ihm die Decke auf dem Kopf fallen. „Sind Sie hier irgendwo?“, fragte Shikamaru etwas leiser. Wer weiß, vielleicht reichte schon der Schall seiner Stimme aus, um ihn vom Resthaus erschlagen zu lassen. „Bin ich hier irgendwo, hm?“ Die Stimme, der Shikamaru folgte, kicherte unentwegt und wirkte schrecklich amüsiert. Da! Hinter dem wackligen Stahlträger hockte jemand und wiegte sich sachte hin und her. So schnell Shikamaru konnte, kam er der Person näher. Auf den ersten Blick wirkte der junge Mann, der kaum älter sein konnte als er selbst, unverletzt. Das einzig verstörende, war sein irrer Gesichtsausdruck und dieses verzerrte Grinsen, das wie eingemeißelt in seinem Gesicht saß. Der junge Mann hatte strohblonde Haare und Augen, dessen tiefes Blau an ein aufgewühltes Meer erinnerte. Seine Haare hatte er sich teils zu einem Pferdeschwanz gebunden, teils hing ein langer Pony über seiner linken Gesichtshälfte. Er muss dunkle Kleidung getragen haben, doch sie war größtenteils zerfetzt; so hatte sein Hemd einen Ärmel verloren und war übersät mit Brandlöchern. Die Hose schwelte immer noch als würde sie brennen und Schuhe trug dieser seltsame Kerl gar nicht mehr. Shikamaru wollte keine Zeit verlieren. Er kniete sich vorsichtig neben ihn und stupste ihn an. „Hey, Sie. Kommen Sie schnell mit uns mit, wir helfen Ihnen!“, sprach er leise mit dem Mann. Er sah Shikamaru gar nicht an, seine wasserblauen Augen waren an die gegenüberliegende Mauer geheftet, als würde er auf etwas Bestimmtes warten. Shikamaru hatte aber keine Zeit, um auf „irgendwas“ zu warten und griff ungeduldig nach dem Arm des Mannes. „Darf ich fragen, wie Sie heißen?“ Aber er bekam keine Antwort, sondern eine gescheuert. „Was fällt dir ein, mich anzufassen?! Du widerliches Balg! Verschwinde!“, plärrte der Mann plötzlich los. Er hatte weit ausgeholt und Shikamaru seine Faust ins Gesicht gedonnert, dann trat er knurrend nach ihm. Erschrocken ging Shikamaru in Deckung und befühlte seine anschwellende Nase. Was war denn mit dem los?! „Shikamaru, was ist denn da los? Was schreit der so, ist er verletzt?“, rief Ino besorgt und tigerte aufgewühlt auf und ab. „Ja, vermutlich hat er wortwörtlich eine aufs Dach bekommen. Der will sich nicht helfen lassen und schreit sinnloses Zeug“, antwortete Shikamaru genervt. Toll, er konnte den armen Irren hier ja schlecht sitzen lassen. Er musste ihn irgendwie aus der Gefahrenzone bugsieren. „So was von lästig …“, murmelte Shikamaru und startete einen neuen Versuch, auf den Mann zuzugehen. Schreiend zog der sich wiederum zurück und rumpelte dabei gegen den Stahlträger. Jaulend bröckelte die Decke. Ein schlecht gelauntes Grollen raunte durch die restlichen Mauern und Risse in der Wand zogen sich knirschend weiter. Shikamaru musste dem Impuls, einfach wegzulaufen, mit aller Willenskraft unterdrücken – Ino gelang das nicht so gut. „Komm da endlich raus, Shikamaru! Das kracht gleich alles ein!“, kreischte sie panisch, schon gut einige Meter von ihm und dem Irren entfernt. Purer Stress schoss durch Shikamarus Adern. Wenn er sich nicht umbringen wollte, musste er wahrscheinlich ohne den Mann gehen und das wollte er auf keinen Fall. „Hören Sie, wenn Sie nicht mit rauskommen, dann werden Sie hier sterben!“, versuchte er dem Kerl verzweifelt klarzumachen. „Wo ist das mein Problem, hm?!“, antwortete der Blonde giftig. Verdattert glotzte Shikamaru ihn einfach nur an. Wo das sein Problem war? Hatte er das richtig verstanden? Shikamaru entschied, dass der Mann aber ordentlich am Kopf getroffen worden sein musste. „Mein Problem ist es jedenfalls nicht, wenn Sie jeden Augenblick von einem einstürzenden Gebäude erschlagen werden und weil das nicht mein Problem ist, gehe ich jetzt auch!“ Betont langsam schlenderte Shikamaru zurück in die trügerische Sicherheit der Außenwelt. Er hoffte inständig, dass der Mann ihm doch bitte folgen möge. Er hatte wirklich keine Lust, da wieder reinzurennen und ihn mit Gewalt herausholen zu müssen – wenn ihnen denn überhaupt die Zeit dazu blieb. Aber tatsächlich, zögerlich schlich der Irre Shikamaru gebeugt hinterher. Misstrauisch kam Ino langsam näher und beäugte den blonden Mann argwöhnisch. „Sei vorsichtig, der brabbelt wirres Zeug und will auf keinen Fall berührt werden“, warnte Shikamaru seine Klassenkameradin vor. „Wie heißen Sie?“, fragte Ino stattdessen aus sicherer Entfernung. Gemächlich blickte der Mann auf und taxierte sie von oben bis unten. „Und wer ist die, hm?“, fragte er abschätzig. Seufzend drehte Shikamaru sich zu ihm. Das konnte ja heiter werden, jetzt durfte er Babysitter für einen Twenty spielen. „Das sage ich Ihnen, wenn Sie uns Ihren Namen verraten haben.“ Sofort flitzten seine wilden, blauen Augen zurück zu Shikamaru. Er öffnete leicht den Mund, dann schloss er ihn wieder. Mit einem plötzlichen Satz stand er direkt vor ihm und beugte sich so weit vor, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Peinlich berührt, warf Shikamaru den Rückwärtsgang ein. „Dei-da-ra“, zischte der blonde Mann. Stumm nickte Shikamaru, dann setzte er dazu an, ihm zu erklären, wer sie waren, wohin sie mehr oder weniger wollten und fragte, ob er ihnen nicht Gesellschaft leisten wolle. Die ganze Zeit über hatte Deidara Geröll, Steine und anderen Unrat in die Hände genommen und sorgfältig begutachtet, als handle es sich um seltene Fundstücke. Doch kaum, dass er mit Betrachten fertig gewesen war, ließ er die Sachen achtlos fallen und wendete sich dem nächsten nutzlosen Drum zu. Anschließend versuchten Shikamaru und Ino aus Deidara herauszubekommen, was denn eigentlich passiert sei, ob es eine Naturkatastrophe gegeben hätte oder ähnliches. Aber alles, was aus sie aus Deidara herausbekamen, war ein irres Lachen, dass zeitweise abebbte, nur um dann wieder einzusetzen. Hilflos setzte Shikamaru seine Erklärungen fort: „Verstehen Sie? Wir sind auf der Suche nach Überlebenden, so lange keine Hilfe eintrifft. Wollen Sie uns begleiten, Deidara-san?“ hakte er noch einmal nach. Er hatte den Verdacht, dass der Irre ihnen gar nicht zugehört hatte, sondern viel lieber Steine betatschte. „Ich komme mit euch, hm“, entschied Deidara und ließ den nächsten Stein fasziniert zu Boden fallen. Ein Stich der Enttäuschung bohrte sich in Shikamarus Magen. Jetzt hatte er sozusagen die Verantwortung über den armen Irren. Ino schien von diesem Gedanken auch nicht wirklich begeistert zu sein und rümpfte abfällig die Nase. Deidara bekam das entweder nicht mit oder ignorierte es schlicht weg. „Im Moment durchforsten wir die einigermaßen intakten Gebäude nach Opfern und nach was zu Essen und anderen nützlichen Sachen.“ Shikamaru hatte sich dazu entschlossen, weiter auf Deidara einzuquatschen und versuchte weiterhin, Augenkontakt aufzubauen. Er konnte diesen komischen Kauz einfach nicht richtig einschätzen und Deidara machte auch keinen Hehl aus seinem Desinteresse. Nach einer Weile gab Shikamaru dann aber doch klein bei und blickte fragend zu Ino hinüber. Sie zuckte ratlos mit den Schultern. Wozu etwas erzählen, wenn das Gegenüber lieber eine Betonsäule streichelte? „Deidara-san. Wir können nicht bei jeder Kleinigkeit stehen bleiben, die Ihnen gefällt. Wir müssen nach anderen Überleben suchen und nach einem Unterschlupf für die Nacht Ausschau halten!“, redete Shikamaru dann doch wieder auf Deidara ein, nachdem sie 20 Minuten damit verplempert hatten, ihn beim Einsammeln von Gesteinsbröckchen zuzusehen. „Die brauch ich noch, sind wichtig, hm“, erklärte Deidara sparsam und stopfte weiter Steine in seine überquellenden Taschen. „Wichtig für was?!“, fauchte Ino ihn ungehalten an. „Brauch ich halt. Brauch ich für meine Kunst, hm“, nuschelte er und scheffelte munter weiter. Shikamaru zupfte an Inos Kleidung und deutete auf ein kleines Gebäude, das nicht weit von ihnen, halb zerteilt, auf der Straße lag. Dennoch war, dank einem Schild der im matten Tageslicht müde schimmerte, klar, um was für ein Geschäft es sich handelte. „Egal, lassen wir den Spinner weiter sammeln. Suchen wir lieber neue Kleidung für dich, die sieht echt übel aus“, flüsterte er ihr mit vorgehaltener Hand zu. Neugierig linste Deidara zu ihnen hinüber und ließ die Steine, die er in der Hand hielt, einfach fallen. „Ich mag Klamotten, ich helfe dir beim Suchen, hm.“ Ino schürzte die Lippen. „Nein, danke. Ich …“ Da legte Shikamaru sacht seine Hand auf ihre Schulter, um sie zum Schweigen zu bringen. Irritiert schaute Ino ihn an und schob seine Hand weg. „Na klar, wir suchen jetzt alle drei, also Ino, du und ich …“ “Wieso duzt du mich?!“, platzte Deidara plötzlich heraus und funkelte Shikamaru wütend an. „Äh, gut, dann duze – ich meine – sieze ich Sie eben wieder“, hob er beschwichtigend an. „Nein, hm, ist mir egal.“ Schweigend standen sich die drei gegenüber. Ino schüttelte genervt den Kopf, Shikamaru versuchte immer noch, aus Deidara schlau zu werden und Deidara warf nach und nach die Steine wieder aus seiner lädierten Hosentasche, die ohnehin ein Loch hatte. „Suchen wir jetzt nach Kleidung, oder nicht?“, fragte Deidara schließlich nach, nachdem alle Steine wieder auf dem Boden lagen und er sie gemächlich wegtrat. Shikamaru nickte knapp und alle drei liefen die restlichen Meter zu dem Modegeschäft hinüber. Dann schwärmten sie in dem halb zerfallenem Gebäude aus, dessen Schaufensterscheibe aufgesprungen war und die Kleidung des Ladens auf die Straße erbrochen hatte. Begeistert begann Deidara in den Klamotten zu wühlen, Sachen hochzuheben und dann wieder wegzuwerfen und redete ununterbrochen leise mit sich selbst. Eine Weile sah Shikamaru ihm dabei zu, aber als Deidara eine Leiche zwischen den Klamotten fand und diese fragte, ob ihm das Top, das er gerade hielt gut stehen würde, sah Shikamaru lieber weg und fing ebenfalls damit an, nach Kleidung für sich zu suchen. Eine Weile dachte er, wie seltsam das alles war. Gestern noch hatte er in seinen Kleiderschrank gegriffen, wenn er etwas Frisches zum Anziehen brauchte. Heute wühlte Shikamaru in aschebelegter Kleidung auf der Straße herum. Der Geruch von verbranntem Stoff hing ihm beißend in der Nase. Im und um das Geschäft schwelten kleine Brände und die orangeroten Flammen züngelten dem Himmel entgegen. Die graue, uneinnehmbare Wolkendecke riss über ihren Köpfen auf und die Sonne neigte sich blutend dem Horizont zu. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Plötzlich klatschte ein Kleidungsstück in Shikamarus Gesicht und er schaute sich verwirrt um. Deidara hatte ihm einen Rock an den Kopf geworfen, achtlos grub er sich durch die Kleidung und schmiss das, was er nicht brauchte, fröhlich trällernd um sich. Gedankenverloren zog Shikamaru das Stück Stoff wieder hinunter und hielt inne. Seit sie diesen seltsam, jungen Mann gefunden hatten, hatten sie gar keine Zeit mehr gehabt, sich Gedanken über all das hier zu machen. Er beanspruchte Shikamarus und Inos Aufmerksamkeit, ohne es wahrscheinlich selbst zu bemerken. Shikamaru hatte das Gefühl, Deidara nicht aus den Augen lassen zu können. Dabei konnte es ihm doch auch egal sein, wenn Deidara plötzlich Reißaus nahm. Er war weder sein Pfleger noch irgendein Verwandter und niemand könnte ihm einen Vorwurf machen und trotzdem würde Shikamaru sich schuldig fühlen, wenn diesem Verrückten irgendwas zustoßen würde. „Was sagst du dazu?“ Flatternd glitt der Rock zu Boden, als Shikamaru ihn losließ und zu Ino aufblickte. Sie hatte sich einen violetten Pullover übergestreift und feste, blaue Jeans angezogen. Das sich ihr Rucksack etwas ausbeulte, verriet Shikamaru, dass sie sich noch einige Kleidung mitgenommen – das sollte Shikamaru auch tun, statt hier herumzusitzen und sich schlecht zu fühlen. „Ist aber nicht sehr hübsch, hm“, stellte Deidara kaltschnäuzig fest, der hinter Ino aufgetaucht war. Seine goldblonden Haare glänzten im strahlenden Licht der untergehenden Sonne und seine Augen leuchteten funkelnd. Seine saphirblaue Iris fing das Licht ein und brachte es zum Schimmern. Inos aschblondes Haar war schmutzig und strähnig. Einzelne Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen traurig über ihre Schulter. Ihre sonst vor Trotz glühenden Augen waren nun matter, müder und leicht gebrochen. Irgendwas war anders an Deidara … Er sah so … Shikamaru konnte es noch nicht sagen, aber irgendwas stimmt nicht. „Um hübsch geht es jetzt nicht, sondern um praktisch! Was … was hast du denn da an?!“ Entgeistert zeigte Ino auf Deidaras rosa Bluse. „Wollte ich nur mal anprobieren … für dich, hm. Was mir steht, steht auch dir.“ Ino hob ihre Hände, als wolle sie beten, dann ließ sie sie wieder sinken und schloss tief einatmend die Augen. „Ich hasse Rosa, klar? Jetzt zieh dieses Ding aus und besorg dir anständige Klamotten! Es wird bald dunkel und wir müssen noch einen Unterschlupf suchen! Und …“, keifte sie Deidara wütend an, „… lass dieses nervige „Hm“ endlich sein, das bringt mich auf die Palme!“ Deidara zuckte nur mit den Schultern, zerriss beim Ausziehen die Bluse und stürzte sich wieder auf die Kleidung. --- Inos Beine brannten vor Schmerz. Obwohl sie gut Acht geben wollte, sich nicht zu verletzen, prangte nun ein langer, blutiger Schnitt auf ihrer Wade. Vom Wühlen im Schutt sahen ihre Hände dreckig und arg mitgenommen aus, als hätte sie einen Tag auf dem Bau gearbeitet und zwar ohne Handschuhe und wenn sie darüber nachdachte, traf das in gewisser Weise ja auch zu. Eine zerrende Müdigkeit machte sich in ihren erschöpften Gedanken breit; das wievielte Haus durchsuchten sie jetzt schon nach einem Schlafplatz? Nach dem dritten hatte sie aufgehört mitzuzählen. „Siehst müde aus, hm.“ Und das Schlimmste war, dass Deidara einfach nicht die Klappe halten konnte. Im Dauerlauf redete er irgendwas von Kunst, dem Moment in seinem Leben, auf den er schon sein ganzes Leben wartete und immer schien er sich selbst, Shikamaru und Ino zu fragen, ob der Tag, auf den er so sehnsüchtig wartete, wohl endlich gekommen sei. Noch viel nervtötender als sein Gefasel, war seine Angewohnheit bei allem stehen zu bleiben, dass seine künstlerische Seele berührte. Das letzte Mal war er bei einer halb eingefallenen Badewanne stehen geblieben und hatte irgendwas von Ironie gemurmelt. Da hatte Shikamaru die Geduld verloren und ihn angeschnauzt, dass er ja in der Badewannen pennen könne, er aber sicher nicht mehr seinetwegen stehen bleiben würde, weil sie endlich – verdammt noch mal – einen Unterschlupf brauchten. Herablassend hatte Deidara ihn von der Seite angesehen und gemeint, dass er keinen Sinn für Kunst hätte und dass das furchtbar schade wäre. Shikamaru war seitdem der Ansicht, dass Kunst nichts weiter als lästig sei. Ino war das alles herzlich egal, sie wollte endlich schlafen. Die Augen zu machen und vergessen, kein Gerede mehr vom Weltuntergang, kein Gerede mehr von Dingen, die lästig seien, kein Gerde mehr von Kunst. „Hier sieht es gut aus“, meinte Shikamaru und drehte sich in einem dunklen Raum voller Geröll um sich selbst. Das Gebäude, in dem sie sich befanden, musste einmal ein Friseursalon gewesen sein. Überall lagen Shampooflaschen, Scheren, Kämme und Chemikalien herum. Schmatzend platzte eine der Shampooflaschen auf, als Deidara kichernd darauf herumtrampelte. „Lass das!“, fauchte Shikamaru ihn an. „Mango, hm“, keckerte Deidara und beäugte neugierig die weiße Pampe, die sich nun zähflüssig in den Spalten der gebrochenen Kacheln sammelte. Mit letzter Kraft schob Ino alles Gerümpel aus dem Weg und achtete darauf, sich nicht in irgendeine Flüssigkeit zu legen. Einen kurzen Moment hatte sie die Befürchtung, Deidara könnte auf die dämliche Idee kommen, ihr Shampoo in die Haare zu reiben, aber da er schon schräg grinsend und schlafend auf dem Boden lag, verschwand dieser Gedanke schnell wieder. Gähnend rollte Ino sich in ihre Decke ein. Ihr Magen knurrte, bei ihrer Suche waren sie nicht einem Lebensmittelgeschäft begegnet oder hatten es übersehen, aber wer schläft, spürt keinen Hunger. Ino träumte vom Essen, sie träumte von Wildschweinbraten. --- So leise wie möglich richtete Deidara sich auf. Shikamaru und Ino schliefen tief und fest. Wahrscheinlich waren sie von ihrem ersten Tag im diesem herrlichen Chaos so geschafft, dass sie noch nicht einmal eine wunderschöne Explosion mitbekommen würden, die direkt neben ihnen zündete. Verkrampft musste er sich ein Kichern verkneifen – diese Idioten! Auf Zehenspitzen huschte er aus dem Friseursalon auf die Straße und dann noch etwas weiter weg. In einer halb eingebrochenen Gasse blieb er stehen. Die Nacht war angenehm kühl und es war auch nicht allzu dunkel, weil immer noch überall kleine Brände um Aufmerksamkeit haschten, ihre wilden Funken stoben wie glühende Käfer in der Dunkelheit umher. Deidara atmete tief ein und zog ein kleines Walkie Talkie aus seiner Hosentasche. „Hier Deidara! Ich habe zwei Zielobjekte erfasst, es sind Schüler, hm.“, flüsterte er ins Mikrofon. Die andere Leitung rauschte, leises Knacken sagte ihm, dass der andere zum Sprechen ansetze. „Sehr gut, Deidara. Damit locken wir den grauen Wolf aus seinem Versteck! Bleib bei den beiden und gib uns, so gut es geht, deine Position bekannt“, bröselte eine kaum verständliche Stimme an Deidaras Ohr. „Wir sind in der Nähe von Sharingan & Tsukuyomi Companies, hm.“ Boshaft grinsend ließ Deidara das Walkie Talkie sinken. Er war viel zu aufgeregt zum Schlafen! Es wurde Zeit, das Vertrauen dieser beiden Pappnasen zu gewinnen. Es wurde Zeit für einen Nachhilfekurs in Kunst! Kapitel 4: Art is a Bang! ------------------------- ____________________________________________________ „Wenn eine Seele zerbricht, dann kann man das hören. Es ist so ein leises, schmerzvolles Geräusch, als würde Glas zerbersten, das aus Tränen besteht. Diese Welt hat mir meine Tränen genommen, sie verachtet mich, aber ich habe einen Weg gefunden, mich an ihr zu rächen! Mit meiner Kunst werde ich sie in Flammen aufgehen lassen und alle Seelen dieser Welt werden brechen, damit ich sie neu formen kann! Das ist wahre Kunst!“ – Deidara – ____________________________________________________ Ein stechender Schmerz zog sich durch Shikamarus Körper, der schlimmste Muskelkater, den er jemals hatte, zerrte unerbittlich an seinen Nerven. Stöhnend öffnete er langsam seine Augen. Schwaches Sonnenlicht flutete den Raum und Shikamarus Blick hing dämmrig an der Decke. Dicke und dünne Risse zogen sich durch den Putz, der sich rieselnd löste und zu Boden segelte. „Seltsam, ist das mein Zimmer?“, dachte Shikamaru und fuhr sich mit seiner Hand übers Gesicht. Mit müden Bewegungen wischte er sich den Staub und den Putz herunter und rieb sich die Augen, wo war er hier nur? Warum sah es hier so verwüstet und … Schlagartig fiel Shikamaru wieder alles ein. Aber seine Gedanken wirbelten wie in einem Karussell durcheinander, Gefühle, Bilder und Eindrücke huschten an seinem inneren Auge vorbei. Er sah seine Schule, er sah Ino, die zitternd am Boden lag, dann sah er sich selbst, einen Weg aus diesem Chaos suchend, nur um dann erneut in neues Chaos zu geraten. Er wühlte in zerstörten Gebäuden, er suchte etwas, etwas Wichtiges und dann … „Ino?“, krächzte Shikamaru und richtete sich ächzend auf. Seine Muskeln protestierten schmerzhaft gegen diese ruckartige Bewegung. Gerändert sank er wieder zurück zu Boden. Shikamarus Sicht verschwamm leicht, wahrscheinlich war das etwas zu viel und zu schnell für seinen Kreislauf. Zwei blaue Augen tauchten über ihm auf und schauten besorgt auf ihn herab. „Mach langsam, Shikamaru. Wie fühlst du dich?“ Er erkannte diese Stimme sofort, Ino! Erneut rieb er sich seine Augen und versuchte, die Schleier der Müdigkeit wegzublinzeln. Der Weltuntergang, wie konnte er den nur vergessen?! „Mir geht es gut so weit. Kannst du mir mal bitte das Wasser geben?“, murmelte er und richtete sich noch einmal vorsichtig auf. Immerhin, der Schwindel ließ wieder etwas nach. Ino schraubte derweil eine der Wasserflaschen auf und reichte sie Shikamaru. Mit gierigen Schlucken jagte er sich das lauwarme, frische Wasser in seine ausgedörrte Kehle. Gut möglich, dass er aufgewacht war, weil er solchen Durst hatte. Sein Körper war nichts weiter als ein großer, schmerzender Klumpen, wahrscheinlich hätte Shikamaru den ganzen Tag verschlafen, wenn er nicht etwas zu Trinken und zu Essen brauchen würde. Hustend setzte er die Flasche wieder ab, er hatte sich etwas verschluckt, die Gier bekam ihm nicht besonders und die Hast noch weniger. „Wie lange bist du schon wach?“, fragte er Ino, die ihm kräftig auf den Rücken klopfte. „Noch nicht sehr lange. Deidara ist übrigens nicht mehr hier“, erzählte sie, nahm Shikamaru die halbleere Flasche aus der Hand und schraubte sie wieder zu. „Was, Deidara ist abgehauen?“ Jetzt war Shikamaru endgültig wach, knurrend rieb er sich die Schläfe, ein leichter Kopfschmerz bohrte in seinem Hirn und machte ihm das Denken schwer. „Ja, ich bin heute Morgen aufgewacht und er war nicht mehr hier und nicht nur das: dein Rucksack fehlt, den muss er mitgenommen haben. Mir ist es recht, der hatte sie ja nicht mehr alle, wahrscheinlich wollte er uns nur beklauen, oder so!“, entrüstete Ino sich Schulter zuckend und zog Shikamaru mit einem Ruck auf die Füße. Der Schwindel kehrte kurz zurück, aber da Ino ihn stützte, hatte er so keine Chance, Shikamaru erneut in die Knie zu zwingen. Sein Blick wanderte durch das Gebäude, dass sie gestern im Dämmerlicht als Schlafstätte auserkoren hatten. Die Wände sahen gar nicht gut aus. Sie waren übersät mit Rissen und Löchern, Stahlträger und roher Backstein waren aus dem Mauerwerk zu Tage getreten, und breite Spalten ließen einen Ausblick auf die äußere Umgebung. Hätte Shikamaru das gestern gesehen, hätte er das Gebäude erst gar nicht betreten. Dank der um sich greifenden Dunkelheit hatte er sich in Sicherheit geglaubt. Die Decke sah genauso übel aus, sie könnte jeden Augenblick herunterkrachen, denn das, was die Decke hätte stützen sollen, lag größtenteils auf dem Boden, oder lehnte an den bröseligen Wänden. Jetzt erst stieg Shikamaru auch der beißende Geruch nicht nur in die Nase, sondern auch ins Bewusstsein. Es roch schwer nach Chemikalien, altem Eisen und trockenem Staub und nach einem üblen Gemisch vieler Shampoosorten, die ineinander geflossen und zu einer graubraunen Masse verschmolzen waren, da sich der Dreck gleich dort niedergelassen hatte. Deidara musste gestern noch einige seiner künstlerischen Favoriten geöffnet und auf dem Boden verteilt haben. Sein Glück, dass er nicht mehr hier war, Shikamaru hätte ihm dafür gerne eine verpasst, da er bereits nach dem ersten Schritt in der nächsten Shampoolache stand. Mit leicht rudernden Armen, versuchte Shikamaru auf der glitschigen Masse sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ino griff schnell nach seinem Arm und krallte sich an ihm fest. „Pass bloß auf, keine Ahnung wann, aber anscheinend hat Deidara seine Lieblingssorten ausgekippt. Als ich einmal kurz aufgewacht bin, hab ich ihn irgendwas brabbeln hören. Er meinte irgendwie, dass Cocos und Mango bestimmt zusammenpassen, wenn ich das gewusst hätte, aber ich war so müde …!“, regte Ino sich Zähne knirschend auf. Sie war wirklich kein Fan von Deidara. Stolpernd kam Shikamaru ins Laufen und zog Ino mit sich, die seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Er steuerte im Eilschritt den Ausgang des Gebäudes an. „Was hast du denn auf einmal?“, fragte sie verdutzt und wäre beinahe auf eine von Deidaras eingetretenen Shampooflaschen ausgerutscht. „Siehst du das nicht?! Dieser Bau kann jeden Augenblick den Geist aufgeben und wir hocken mitten drin! Wir können froh sein, dass uns gestern nicht das Dach runtergekommen ist!“ Kaum war Shikamaru ins Sonnenlicht getreten, hob er die Hände, um das blendende Licht abzuschirmen – Ino ging es nicht anders. Vermutlich hatte sie das Gebäude noch nicht verlassen und darauf gewartet, dass Shikamaru aufwachte. „Wieso hast du mich nicht eher geweckt?!“, zischte er sie wütend an. „Entschuldige mal, du hast geschlafen wie ein Stein. Du warst völlig fertig, ich dachte, wenn ich dich ausschlafen lasse, wäre es das Beste für dich!“, verteidigte Ino sich beleidigt und trat einen Schritt von ihrem ehemaligen Klassenkameraden zurück. „Ja, unter einem Friseursalon begraben zu werden, ist das Beste für mich, ganz sicher“, murmelte Shikamaru leise und blinzelte in die Sonne. Trübe Nebelschleier umwaberten den hellen Stern und nahm ihr die Wärme, die sie der Erde hätte schenken sollen. Nun strahlte sie nur blendend hell und so kalt wie eine klinische Deckenlampe im Krankenhaus auf Shikamaru und Ino herab. Nichts hatte sich verändert, noch immer lag Shikamarus Welt in Trümmern, und all die Trauer, all die Verzweiflung meldete sich wellenartig zurück. Es fiel ihm schwer, seine impulsiven Gefühle unter Kontrolle zu halten, einfach alles hier, nur das Ansehen all dieser Vernichtung, ließ ihn einknicken. Er merkte gar nicht, wie seine Knie hart auf dem spröden Teer aufschlugen. Ino griff erschrocken nach seiner Schulter und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, oder ob er sich nicht wohl fühle. Schwach schüttelte Shikamaru den Kopf, nichts war in Ordnung, und wohl fühlen wird er sich lange Zeit nicht mehr können. „Das ist … Shikamaru, ich weiß. Es ist so schrecklich, aber wir dürfen nicht aufgeben und …“ „Deidara ist einfach davon gelaufen, weiß der Teufel wohin und bringt sich wahrscheinlich grade selbst um! Und das nur, weil ich nicht aufgepasst habe!“, brüllte Shikamaru sie unvermittelt an. Verschreckt wich Ino ein paar Schritte zurück. Nun war sie es, die leicht den Kopf schüttelte und legte ihre Hand wieder auf Shikamarus bebende Schulter. „Was redest du denn da für einen Mist?! Du warst am Ende all deiner Kräfte, du musstest schlafen! Keiner konnte ahnen, dass dieser Spinner einfach davonläuft“, beruhigte sie ihn und bot ihm an, ihn wieder auf die Füße zu helfen. Dankbar nahm Shikamaru ihr Angebot an, er sollte sich entschuldigen, sein Verhalten war nicht fair, Ino wollte ihm nur helfen und er fuhr sie mies gelaunt, weil die Welt noch nicht heil war und sein Magen knurrte. „Okay, wir sollten weiter nach was zu Essen suchen, noch einen Tag ohne was zu beißen, halt' ich einfach nicht aus“, entschied Shikamaru schließlich. Obwohl es ihm in tiefster Seele schmerzte, schaute er sich jetzt noch einmal genauer in der Umgebung um. Diese Stadt war riesig, sie waren mit Sicherheit an einem Lebensmittelgeschäft vorbeigelaufen. Das konnte doch nicht sein, dass sie hier nicht einem einzigen Tante-Emma-Laden über den Weg liefen. „Sieh doch, Shikamaru!“, quietsche Ino und rüttelte ihn, dann wies sie mit strahlenden Augen in den Himmel. Shikamaru runzelte verwirrt die Stirn und folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Hoch oben segelten drei Tauben über ihre Köpfte hinweg. Ihr Gefieder war schneeweiß und Shikamaru war sich absolut sicher, ihre kohlschwarzen Augen sehen zu können, die prüfend auf sie hinunter blickten. Weiße Tauben, Tauben des Friedens. Bei ihrem Anblick sprang ein Funken aus Shikamarus Herz und entflammte seine unterkühlte Seele. Endlich konnte er wieder lächeln, sie waren doch nicht allein! Verträumt folgte er ihren gleichmäßigen Flügelschlägen und wünschte sich für einen Augenblick, ebenfalls fliegen zu können. Wie gut musste es sich anfühlen, vom Wind getragen zu werden, denn die Erde auf der Shikamaru stand, trug noch nicht einmal mehr sich selbst. Zapp! Entgeistert riss er die Augen auf und sein Kiefer klappte haltlos nach unten. War das gerade wirklich passiert?! Eine der drei Tauben war einfach geplatzt, wie eine Seifenblase. Schneeflocken gleich, trudelte ihr Gefieder langsam vom Himmel und näherte sich dem toten Grund dieser Welt. Einfach geplatzt, einfach nicht mehr da. Einfach so. „D-Das … Nein, nein! Wieso ist die denn einfach …!“, stotterte Ino perplex und schüttelte mit großen Augen den Kopf. Shikamaru konnte nichts sagen, seine Zunge war wie gelähmt. Die beiden anderen Tauben hatten sich erschreckt und stoben in verschiedene Richtungen davon, doch dann sammelten sie sich scheinbar wieder, rafften sich zusammen und flatterten aufgeregt weiter. Es war, als hätte Shikamaru die Metapher seines Lebens am Himmel beobachtet und ein eisiger Schauer kletterte seinen Rücken hinab. „Wir sind wach, stimmt’s?“, fragte Ino Shikamaru blass. Er schluckte schwer und nickte. Zerplatzten sie vielleicht auch? Genauso unvorbereitet und plötzlich wie diese kleine Taube? Konnte das alles immer noch ein Albtraum sein? So etwas Unwirkliches hatte Shikamaru sein Lebtag noch nicht gesehen. Sie behielten die beiden verbliebenen Tauben, die über den Himmel fegten, genau im Auge. Sie konzentrierten sich voll und ganz auf das Spektakel über ihren Köpfen, deswegen hörten sie nicht, wie sich ihnen jemand mit schnellen Schritten näherte. „Was gibt’s denn da oben zu sehen, hm?“ Die beiden zuckten heftig zusammen, drehten sich blitzschnell um, und stolperten ein paar Schritte zurück. Fragend schaute Deidara sie mit neugierigen Auge und irren Grinsen an, seine Arme umklammerten einen schwarzen, lädierten Rucksack. Shikamaru begriff für einige Sekunden die Gesamtsituation nicht, tiefste Verzweiflung, platzende Tauben und ein Deidara, der aus dem Nichts erschien. „Wo … Wo warst du gewesen?!“, schnauzte Ino den Blondschopf an und ballte ihre Hände zu Fäusten. Deidaras Grinsen blieb, wo es war. Shikamaru hatte es gestern kaum verblassen sehen, es sei denn, der Irre war wütend geworden. Ansonsten trug er unbeeindruckt dieses grässliche Dauerlächeln im Gesicht. Immer und immer und immer. „Ihr habt geschlafen, tief und fest, hm. Mir ist langweilig geworden und da hab ich nach Sachen gesucht, die ich vielleicht mag. Dabei hab ich was gefunden, was ihr vielleicht mögt, hm“, erklärte Deidara seelenruhig und setzte den Rucksack ab. Leise surrte der Reisverschluss, als er den Rucksack gemächlich öffnete, dann griff er hinein und zog einen verpackten Laib Brot heraus. Ungläubig sah Shikamaru ihm dabei zu und konnte es einfach nicht glauben. Deidara hatte, trotz eines offensichtlichen Hirnschadens, tatsächlich was zu essen gefunden. Er spürte augenblicklich den nagenden Schmerz des Hungers, der in ihm rumorte, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Am liebsten hätte Shikamaru sich ungehalten auf das Essen gestürzt, aber noch war er weit davon entfernt, sich wie ein Tier zu benehmen. Während er und Ino aufgeregt vor Deidara auf und ab liefen, kramte dieser breit lächelnd immer mehr Lebensmittel aus seiner Wundertüte. „Ich hab ja keinen Hunger, hab schon was gegessen, hm. Darum hab ich so viel mitgenommen, wie ich in den Rucksack bekommen hab'. Was zu trinken hat dann nicht mehr reingepasst und ich hatte keine Lust mehr, den Rucksack noch mal auszuleeren, hm“, plapperte Deidara fröhlich und begutachtete eine Ringwurst. Shikamaru war das herzlich egal, ob Deidara nun etwas zu trinken mitgebracht hatte oder nicht, er war einfach nur heilfroh, endlich etwas zu essen zu haben. Als er nach dem Brot griff, packte Deidara plötzlich seine Hand und hielt sie fest wie ein Schraubstock. „Was hast du denn vor, hm?“, fragte er Shikamaru lauernd. „Essen?!“, antwortete Shikamaru verdutzt. „Du kannst doch nicht meine Kunst essen! Das hab' ich mitgenommen, weil es Kunst ist, hm! Fass mir das ja nicht an, ich arrangier' noch!“ Deidara hatte Shikamarus Hand wieder losgelassen und versuchte, ein Stück Käse dazu zu bringen, auf den unausgepackten Laib Brot zu stellen, ohne dass dieser wieder runterfiel. Zischend beugte Ino sich zu Shikamaru hinüber und flüsterte angespannt: „Wenn der Kerl mir nicht sofort was von dem Essen gibt, pack' ich einen Stein und schlag' ihm den Schädel ein!“ „Ganz ruhig, der verliert sowieso gleich das Interesse an seiner ›Kunst‹. Wir müssen nur warten“, beruhigte Shikamaru ihr explosives Gemüt, obwohl ihm sein eigener Magen bereits in den Kniekehlen hing. Deidara fing derweil an zu pfeifen und überlegte mit ernstem Gesichtsausdruck, ob er den Frischkäse aufmachen sollte. „Was meint ihr? Soll ich den Frischkäse auf den Stein da schmieren, hm? Das sähe sicher hübsch aus!“ „Nein!“, kreischten Ino und Shikamaru unisono und streckten ihre Hände nach dem Frischkäse aus. Deidaras blaue Augen funkelten begeistert. „Ihr habt recht, hm! Wie absurd, wie komm' ich nur auf so was. Ich nehm' die Marmelade!“ Leise flüsternd schraubte er auch sofort an einem Marmeladenglas herum, während Shikamaru und Ino klammheimlich sich den Frischkäse klauten und ein Laib Brot entführten und alles hinter ein paar Trümmern versteckten. Suchend schaute Deidara sich um, nachdem er die Marmelade auf dem Stein ausgeleert hatte. „Habt ihr vielleicht die Wurst gesehen, hm?“ Verneinend schüttelte Shikamaru den Kopf und verbarg die Wurst hinter seinem Rücken, Ino riss unterdessen hinter dem Trümmerhaufen das Brot in Stücke und drückte es in den Frischkäse. „Der Käse stinkt irgendwie. Haben wir noch Shampoo?“, fragte Deidara, der eine Packung Emmentaler aufgerissen hatte. „Nee“, rief Ino und stopfte sich ein Stück Brot in den Mund. Leider blickte Deidara gerade genau in diesem Augenblick zu ihr hinüber. „Du ISST meine Kunst??!!“ --- „Sei doch nicht sauer, wir hatten solchen Hunger, verstehst du das denn nicht?“, seufzte Ino entnervt. „Nein!“, blökte Deidara sie beleidigt an. Er war fuchsteufelswild geworden, als Shikamaru und Ino endgültig die Geduld verloren und ihm seine ›Kunst‹ weggenommen hatten. Der Anblick wäre ein Foto wert gewesen, wie zwei Teenager auf dem Rücken eines Twenty sitzen, sich mit Essen voll stopfen, und dieser kreischt, dass sie Ketzer und Verräter seien. Nachdem die beiden sich den Magen vollgeschlagen hatten, musste Shikamaru einen Weg finden, Deidara zu beruhigen. Wirklich geklappt hatte das nicht. Es war nicht einfach gewesen, ihn für einen verbogenen Wasserhahn zu begeistern, aber wenigstens trug Deidara diesen jetzt einigermaßen beruhigt bei sich, streichelte ihn und versuchte Ino, wenn er nicht gerade einen wellenartigen Wutanfall hatte, zu erklären, was Formvollendung ist. „Ihr seid … böse, hm!“, knurrte Deidara abwechselnd Ino und Shikamaru an. Shikamaru murmelte, dass Deidara lästig sei, und Ino zuckte gelangweilt mit den Schultern. Nach dem ganzen Heckmeck streiften sie weiter durch die Wüstenei. Der dichte Nebel hing weiterhin hartnäckig auf den Straßen und waberte geisterhaft durch die Ruinen. Die neuen Klamotten der drei sogen sich langsam mit der kompakten Feuchtigkeit voll, es fühlte sich an, als ob der Nebel in ihre Körper zu kriechen versuchte. Die Straße, auf der die drei dahinwanderten, war wie leergefegt. Nichts rührte sich dort und auch die meisten kleinen Brände, die gestern noch geschwelt hatten, waren nun erloschen und hinterließen verkohlte Brandstellen. Ino rieb sich fröstelnd über ihre Arme, dabei war ihr Pulli doch so dick. Ihr Atem stieg vor ihr auf und verlor sich im dichten Nebel und die Sohlen ihrer neuen Schuhe waren so dünn, dass sie jeden Stein, jedes Trümmerteil und jeden Riss im Boden durch sie hindurch spüren konnte. „Wie schön, hm!“ Deidara war abrupt stehen geblieben, sodass Ino fluchend in ihn hineingelaufen war. Genervt schubste sie ihn von sich und funkelte ihn zornig an. „Was?! Was ist schon wieder sooo schön?“, knurrte sie. „Na, dass!“ Er bedachte sie mit einem Blick, als sei sie begriffsstutzig, und deutete mit ausgestreckter Hand auf eine der Laternen. Dabei fiel Shikamarus Blick auf Deidaras Hand und er legte seine Stirn in Falten. Ino hatte nicht aufgepasst, wüsste aber nun doch zu gern, worüber Shikamaru sich wunderte. Doch vorerst musste sie sich dem Kleinkind Deidara annehmen, wenn sie heute noch weiter wollten. „Toll, und was ist so schön an einer Straßenlaterne?“ „Kennt ihr das nicht, hm? Sie sind die Inseln in der Nacht, wenn die Dunkelheit sich über die Stadt gelegt hat. Nachts bin ich immer von einer Straßenlaterne zu einer anderen gesprungen, damit mich die Monster der Dunkelheit nicht erwischen konnten, hm.“ Deidaras sturmblaue Augen wirkten verklärt, und Ino schwenkte langsam ihre Hand vor seinem Gesicht auf und ab, aber er reagierte nicht. Bis er ruckartig wieder breit grinsend aufblickte, sich plötzlich zu Boden fallen lies und im Schneidersitz einfach nur da saß. „Und was soll das jetzt? Wir müssen weiter, Deidara! Warum setzt du dich hin?“, fragte Ino und stupste ihn mit ihrer Schuhspitze an. „Ich will warten, bis die Straßenlaternen angehen und gucken, ob es die Monster wirklich gibt, hm!“ „Wie jetzt?!“, entfuhr es Shikamaru verwirrt. „Nein, es gibt keine Monster, wenn es dunkel wird. Außerdem ist das Stromnetz zusammengebrochen, Deidara. Die Straßenlaternen leuchten bestimmt die nächsten zehn Jahre nicht mehr, also komm jetzt!“, fauchte sie ihn an, der immer noch erwartungsvoll mit großem Auge die Laterne anstarrte. Ganz langsam wanderte sein Blick zu ihr, die über ihm stand und wieder ihre Hände in ihre Hüften gestemmt hatte. „Ich will kein Strom, ich will, dass die Laterne leuchtet!“, antwortet Deidara trotzig. „Die wird nicht leuchten, wie oft noch! Kein Strom, kein Leuchten, kapiert?“, wiederholt Shikamaru. „Laterne, Laterne. Sonne, Mond und …“ Ino hatte wirklich keine Geduld mehr. Ohne weiter darüber nachzudenken, schubste sie ihn mit einem Aufschrei an den Schultern, sodass er umkippte und unsanft auf der Seite landete. Ihr war kalt, diese ewige Sucherei nach anderen Überlebenden zerrte an ihren Nerven, und Deidara zupfte schon seit längerem an ihrem instabilen Nervenkostüm. Erschrocken schaute Deidara zu ihr auf und nicht nur er sah reichlich überrascht aus, auch Shikamaru stand mit offenem Mund da. „Komm mal wieder runter! Ich hab ihn nicht gerettet, damit du ihn jetzt umbringst!“, zischte er Ino an, packte sie am Arm und drängte sie von Deidara weg, der sich jammernd aufrichtete. „Sie ist das Monster, dass nachts durch die Straßen streift, hm! Ich wusste, dass es das Monster gibt!“ Kreischend wand Ino sich in Shikamarus Griff. „Ich zeig' dir gleich, wer hier alles ein Monster ist, du … du … Vollidiot! Deinetwegen kommen wir kaum voran, Shikamaru hätte dich erst gar nicht retten sollen, du irrer …“ Shikamaru drückte seine Hand auf Inos Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Deidara starrte Ino ausdruckslos an. „Beruhig dich, verdammt! Deine Wut an ihm auszulassen, bringt uns überhaupt nichts!“ Shikamaru war überrascht, er brauchte ganz schön viel Kraft, um Ino festzuhalten. Sie zappelte und knurrte immer noch, aber ihre Gegenwehr erstarb alsbald und sie wischte sich fluchend ein paar Tränen aus den Augen, die die Wut in ihnen gesät hatte. „Alles wieder gut?“, fragte Shikamaru und keuchte leise. „Nein! So lange dieser Trottel bei uns ist, ist gar nichts gut, der macht mich wahnsinnig!“, keifte sie und stieß Shikamarus Hände von sich, als er ihr wieder aufhelfen wollte. Deidara befühlte ein paar Schrammen auf seiner Schulter und seinem Oberarm, die er sich beim Sturz zugezogen hatte. Shikamaru zog sich von Ino zurück und ging neben ihm in die Hocke. „Sag mal, was ist eigentlich mit deinen Händen passiert?“ Vorsichtig griff er nach Deidaras rechter Hand und drehte sie um, argwöhnisch blickte Ino zu ihnen hinüber. Jetzt sah auch sie die auffälligen Narben, die sich über Deidaras innere Handfläche zogen. Mit der linken Hand verhielt es sich genauso. „Das sind meine Hände, hm“, meinte Deidara und drückte sie Shikamaru plötzlich ins Gesicht. Angewidert schob er sie zurück. „Ja, schon klar. Aber was sind das für Narben?“, hakte Shikamaru nach. „Ich weiß nicht, aber …“ Deidara griff in seine Hosentasche und zog einen dicken Edding hervor. Er zog die Kappe ab und fing an, auf seiner Handinnenfläche herumzukritzeln. Allmählich erkannte Ino, was er da malte. Er malte einen Mund auf seine Handfläche, einen Mund, der die Zunge herausstreckte. Das selbe machte er auf seiner anderen Hand. „Und was soll das jetzt wieder?“, murmelte Ino und kam müde näher. „Wäre es nicht cool, Münder an seinen Händen zu haben, hm?“, kicherte Deidara und steckte den Edding wieder weg. „Nein“, antwortete Shikamaru platt. Die drei standen wieder auf und Deidara schien die Straßenlaterne komplett vergessen zu haben, stattdessen starrte er jetzt begeistert auf seine Hände. Auffordernd rempelte Shikamaru Ino an. Sie presste die Lippen zusammen und trat widerwillig an den entrückten Blondschopf heran. Tief Luft holend, machte sie sich dazu bereit, sich zerknirscht bei ihm zu entschuldigend. Deidara sah sie noch nicht einmal an, obwohl sie praktisch neben ihm stand. „Tut mir … Tut mir leid, dass ich dich geschubst hab'.“ Stumm stand er weiter neben Ino, rieb seine Hände aneinander, blickte in den Himmel und dann endlich zu ihr. Sein gruseliges Grinsen war zurückgekehrt und weder Wut noch Verwirrung sprach aus seinen wirren, blauen Augen. „Was meinst du?“ --- Ino atmete noch einmal tief, sie bebte immer noch vor Zorn. Shikamaru klopfte ihr mitleidig auf die Schulter und setzte zum Sprechen an. „Das hätten wir also auch geklärt. Wir müssen endlich mal in Bewegung kommen! Wir vergeuden Tageslicht und haben noch keinen Schlafplatz gefunden, wer weiß, wie spät es schon ist …“ „Ist schon zwei Uhr nachmittags, hm“, fiel Deidara ihm ins Worte. Überrascht blickte Shikamaru zu ihm auf. „Woher weißt du das so genau?“ Stumm stand Deidara da, als hätte er Shikamarus Frage gar nicht gehört. Er schaute abrupt wieder auf, dann senkte Deidara seinen Blick und hob einen glänzenden Gegenstand vom Boden auf. Es war eine Armbanduhr, die aus verrußtem Metall bestand und das kalte Sonnenlicht spiegelte. „Lass mich mal sehen“, sagte Ino und zog ihm die Uhr aus den erstaunlich sauberen Fingern. Die Uhr tickte nicht mehr, das Zifferblatt war gebrochen und das Glas halb erblindet und gesprungen, sie war kaputt. „Vielleicht war das die Uhrzeit, als das hier alles passiert ist“, vermutete Shikamaru, der über Inos Schulter linste. „Ja, nein. Ist zwei Uhr, könnt ihr nicht gucken?“, widersprach Deidara und deutete energisch auf die Uhr. „Ist schon gut, lass gut sein. Ja, es ist zwei Uhr, lasst uns endlich losgehen“, beschwichtigte Shikamaru ihn und lief langsam voraus. Da sie bereits eine Weile auf der noch einigermaßen begehbaren Straße unterwegs waren, marschierte Shikamaru allen einfach weiter geradeaus, während Deidara die Uhr einsteckte. „Das war er, der Augenblick, sag ich dir, der Augenblick war das, hm! Dieser Moment, das ist die wahre Kunst, da ist die Zeit stehen geblieben, verstehst du? Das war die Kunst, hm!“, redete er aufgeregt auf Ino ein und gestikulierte wild mit den Armen in der Luft herum. Als Shikamaru vorsichtshalber nach hinten blickten, sah er nur, wie Ino ihm gezwungen anlächelte. Möglichst unauffällig ließ er sich ein Stück zu ihr zurückfallen. „Lass ihn einfach reden, du musst noch nicht mal reagieren, er quatscht nur gern“, flüsterte Shikamaru Ino leise zu. Sie nickte nur müde und musterte eingehend den zerrissenen Boden unter ihren Füßen, während sie weitergingen. Shikamaru wandte sich Deidara zu, der seine Uhr wieder herausgeholt hatte und liebevoll über das kaputte Zifferblatt strich. Die Stirn runzelnd, ließ er die Uhr plötzlich fallen und trat drauf. Knirschend zerplatzte das Gehäuse unter seinem Gewicht. Verwundert schaute Shikamaru ihm dabei zu, gerade eben war er doch noch so begeistert von seiner Uhr? „Was … sollte das?“, fragte er vorsichtig nach. Deidaras wirrer Blick richtete sich bohrend auf sie. „Kunst ist der Augenblick, hm! Jetzt ist er vorbei.“ „Was du nicht sagst. Sag mal, Deidara. Wo war denn noch mal dieses Geschäft, wo du das Essen gefunden hast?“, versuchte Shikamaru sein eigentliches Anliegen vorzubringen. Immer noch auf der Uhr herumtrampelnd, schüttelte Deidara Schulter zuckend den Kopf. „Weiß nicht mehr, nicht weit von hier, hm, vielleicht doch weiter, weiß nicht mehr“, brummte er, dann hörte er auf, vor sich hin zu treten und setzte sich auf einen Betonbrocken. „Großartig, das hätte ich eigentlich wissen müssen“, nuschelte Shikamaru. Deidara beobachtete sie, griff nach einem kleinen Stein und schmiss ihn hoch in die Luft. „Einen Foto bräucht' ich jetzt, hm.“ „Vielleicht hab' ich einen Foto, aber nur, wenn du dich erinnerst, wo du das ganze Essen gefunden hast, Deidara.“ Shikamaru witterte eine Chance, Deidaras müde Erinnerung wieder in Gang zu bekommen. Er hatte das Gefühl, dass der Irre vielleicht schon immer leicht gestört war. Deidara bückte sich, sein Lächeln war verschwunden und er wirkte ein wenig traurig. Er strich mit seinen Fingern über die Überreste der jetzt endgültig kaputten Uhr. „Das ist so traurig, warum musste sie kaputt gehen …“ „Du hast sie doch kaputt gemacht!“, blaffte Ino ihn an. „Nein, ich hab sie nur zertreten, kaputt hab ich sie nicht gemacht, hm“, widersprach er schniefend. Ino raufte sich stöhnend die Haare. „Das ist doch …! Das kann doch nicht wahr sein, ach … vergiss es!“ Genervt winkte sie ab. „Deidara, der Lebensmittelladen. Weißt du, da sind auch jede Menge Kunstwerke, die könnten dich doch interessieren, oder?“, versuchte Shikamaru Deidaras Interesse erneut auf sein Ziel zu richten. Nachdenklich richtete der wirre Blondschopf sich wieder auf und betrachtete die grinsenden Münder auf seinen Händen. „Meine Hand streckt mir die Zunge raus!“, jammerte er angewidert und zeigte sie Shikamaru. Jetzt hob auch er seufzend die Hände und wandte sich von Deidara ab, der nun damit beschäftigt war, seinen eigenen Händen die Zunge rauszustrecken. Als die Sonne bald ihren Zenit erreichte, verflüchtigte sich der Nebel endlich, und Shikamaru, Ino und Deidara kamen etwas schneller voran, zumindest rein theoretisch. Deidara war wieder eingefallen, dass er ja die leuchtenden Straßenlaternen sehen wollte. Nachdem Shikamaru im Schutt eine kaputte Taschenlampe gefunden hatte, machte er ihm weiß, dass das eine Straßenlaterne zum Tragen sei, und Deidara gab, seine Taschenlampe bedutzelnd, endlich Ruhe. „Sollten wir nicht wieder in einem der Häuser nachsehen, was es so gibt?“, fragte Ino Shikamaru und trat ein Stück verbogenes Metall vor sich her. „Na ja, du hast ja gesehen, was man da so findet. Und hier scheint es besonders schlimm gewesen zu sein, da steht kein Stein mehr auf dem anderen. Wir verletzen uns nur für nichts, wenn Deidara uns doch nur verraten würde, wo dieser Laden ist!“, seufzte Shikamaru und trat für Ino das Stück Metall weiter. Schabend schlitterte es über den verkohlten Asphalt und holperte ächzend über die Risse. Ein trauriges Geräusch in dieser erstaunlich stillen Umgebung. Irgendwie hatte Shikamaru weinende und um Hilfe flehende Menschen bei einer Apokalypse erwartet, Feuersäulen und vielleicht sogar mutierte Drachen, weiß der Teufel, alles Mögliche kam ihm Moment in den Sinn. Was Shikamaru aber wirklich am wenigsten erwartet hätte war, dass er mit einer Mitschülerin und einem geisteskranken Künstler durch eine stumme, zerstörte Welt wandern würde. Deidara … Dieser Kerl war wahnsinnig anstrengend, man konnte ihn nicht aus den Augen lassen, mit ihm etwas anfangen konnten sie aber auch nicht. Da war ja schon ein Dreijähriger noch eher von Begriff als er. Shikamaru war tief in seinen Gedanken und Überlegungen versunken. Nachdem er sich erneut über seine derzeitige Situation in gewisser Weise amüsiert hatte, dachte er angestrengt darüber nach, was sie als nächstes tun sollten, und schlenderte neben seiner Kameradin über die Straße. Vor ihm hatte Deidara die Führung übernommen. Er hüpfte, ein seltsames Lied singend, über Gesteinsbrocken und fand großen Gefallen an den zerstörten Ruinen der Häuser. Ab und zu musste Shikamaru ihm Recht geben, das eine oder andere Haus stand wirklich auf eine noch wundersame Weise, statt in sich einzustürzen. Gebeugt standen manche da, als versuchten sie, den Boden zu berühren. Er erinnerte an Sportler, die sich aufwärmen und zu ihren Zehen hinuntergreifen. Manche Häuser stützen sich auf so wenig Mauern oder nur noch auf eine, als versuchten sie, sich in ihren Balanceakten gegenseitig zu übertrumpfen. Ein ums andere Mal erwischte Shikamaru bei solchen Gedankengängen, wunderte sich darüber, wie er nur über so seltsames Zeugs, Überlegungen anstellen konnte, aber das war wohl seine Art, nicht selbst dem Wahnsinn zu verfallen. Ino nahm von dem Ganzen nicht allzu viel wahr, ihr Blick blieb verklärt und in sich gekehrt, sie schirmte sich einfach von der Welt ab. Als Shikamaru versuchte, sie ein wenig auf die obskure Umgebung aufmerksam zu machen, um sie aus ihrer trostlosen Gedankewelt zu holen, schüttelte sie nur missmutig den Kopf. Die Sonne wanderte weiter über den dunstigen Himmel, dieser Schleiertanz dieses Sterns hatte etwas Mystisches und Schönes, aber niemand beachtete ihn. Shikamaru konnte nur schätzen, dass sie jetzt seit zwei Stunden unterwegs waren, leider hatten sie immer noch keinen Anhaltspunkt, wo sie sich denn nun eigentlich befanden. Shikamaru nahm die Gebäude um sie herum genauer in Augenschein – und nach und nach, auch wenn das schwer einzuschätzen waren, weil sie fast komplett zerstört waren, wurde ihm klar, dass sie in einer sehr ungünstigen Gegend herumliefen. Als er das Schild: „Sharingan & Tsukuyomi Companies“, las, war er sich absolut sicher. Schweren Herzens stupste er Ino an, die stumm vor sich hin trottete. „Ino … Das ist Industriegebiet.“ „Was?“, nuschelte sie und blickte verklärt auf. „Industriegebiet! Wir sind voll ins Nichts gelaufen, wir sollten zurück zu den Wohngegenden kommen, hier finden wir sicher nicht mehr viele Überlebende! Jetzt weiß ich auch, warum die meisten Gebäude hier so übel aussehen, weil die Hälfte bei was-auch-immer-passiert ist, in die Luft geflogen sind!“ Entsetzt blickte Ino zu ihm auf, er nickte ihr ernst zu und sie ließ die Schultern wieder hängen. „Ach, so ein Mist! Na gut, dann laufen wir den Weg einfach wieder zurück?“, schlug sie halbherzig vor. „Erst mal müssen wir Deidara dazu bringen, uns zu folgen. Dem gefällt es hier und du weißt ja, was das heißt“, seufzte Shikamaru. Das bedeutete Arbeit, mit Deidara hatte man nur Arbeit. Der Blondschopf versuchte gerade über einen Stacheldrahtzaun zu klettern, dann gab er es genauso schnell wieder auf, wie er es versucht hatte und machte sich daran, zwei verbogene Stücke Metall aneinanderzufügen. Bis er auch diese achtlos fallen ließ und plötzlich auf ein rußgeschwärztes Gebäude zutigerte. „Das ist perfekt, hm!“, kicherte Deidara leise und schlich auf Zehenspitze weiter auf das Gebäude zu. Misstrauisch behielt Shikamaru ihn im Auge, Ino kümmerte das weniger. Sie wirkte schon wieder geistig abwesend und schlenderte, Arme schwenkend und auf den Boden starrend, neben Shikamaru her. Er hatte das Gefühl, dass Ino sich ganz darauf verließ, dass er das Deidara-Problem löste. „Was hast du vor, Deidara?!“ Der gab Shikamaru natürlich keine Antwort, er schlich weiterhin geduckt auf die Eingangstür des Hauses zu, dass sich nur noch an einem Scharnier an den gesplitterten Holzrahmen klammerte. Das Gebäude beugte sich nach vorn, als müsse es sich übergeben. Vereinzelte messerscharfe Scherben steckten noch in den Fensterrahmen, das Dach war überwiegend eingestürzt und die rechte Hausmauer kollabiert, aber Deidara schlich genau auf die Eingangstür zu, als sei das der einzige Weg in das Gebäude. Shikamaru hielt das nicht mehr aus, er konnte einfach nicht sagen, was Deidara sich dabei schon wieder dachte, oder eben nicht dachte; er kam ihm hinterher gehastet und packte ihn an der Schulter. „Deidara! Komm schon wir müssen von hier verschwinden, weil …“ „Ssscht! Du erschreckst es noch, hm!“, zischte er Shikamaru an und löste sich aus seinem Griff. Nervös folgte Shikamaru ihm. „Was erschrecken, hier ist doch nichts, oder?“ „Ssssscht!“ „Was ist denn jetzt wieder?!“, rief Ino den beiden ungeduldig zu und trat von einem Fuß auf den anderen, als wäre ihr kalt. „Nichts er … Deidara sieht wieder Sachen, die nicht da sind und …“, setzte Shikamaru zu einer Antwort an, als Ino laut zu schreien anfing: „Er haut ab! Er haut ab!!“ Erschrocken drehte Shikamaru sich sofort wieder zu Deidara um, aber der raste bereits mit einem Affenzahn auf das verkohlte Gebäude zu. Er ruderte dabei ausgelassen mit den Armen und schrie: „Es ist so weit, es ist so weit!!“ Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, setzte Shikamaru ihm fluchend nach. Seine Füße knallten über den brüchigen Asphalt, mit wachsender Sorge sah er noch, wie Deidara im Gebäude von der staubigen Dunkelheit verschluckt wurde. Er musste ihn um jeden Preis einholen! --- Wie angewurzelt stand Ino noch wenige Sekunden da und sah zu, wie Deidara und Shikamaru in dem finsteren und ruinenartigen Gebäude verschwanden. Dann setzte auch sie sich hektisch in Bewegung, der Gedanke hier draußen komplett allein zu sein, versetzte sie in Angst und Schrecken. Wer wusste schon, wie weit und lang Deidara rennen konnte und wie weit und lang Shikamaru ihm folgen würde?! Am Ende würden sie sich in diesem Chaos verlaufen und einander nicht mehr wieder finden, das durfte Ino auf keinen Fall riskieren. Das Adrenalin kochte in ihr auf und schoss durch ihre Venen, alle ihre Muskeln spannten sich an, als sie über Geröll hinweg ebenfalls auf den gähnenden Eingang des Gebäudes zujagte. Sie trat über die Schwelle und ihre Welt wurde von jäher Finsternis verschluckt. Staub drang in ihre Atemwege und versuchte, sich zu ihrer Lunge vorzukämpfen, sie hustete und verlangsamte ihren Laufschritt. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, wenn das Gebäude unterkellert war, konnte es gut sein, dass sie nach wenigen Metern in einen halsbrecherischen Abgrund stürzte. Die Arme von sich gestreckt, musste sie schließlich ganz stehen bleiben. Sie wischte sich über ihre Augen und versuchte, den Staub aus ihnen zu blinzeln. „Shikamaru? Deidara?“, rief sie laut und wartete mit laut schlagendem Herzen eine Antwort ab. Doch alles, was sie hören konnte, waren ferne Rufe und Fußgetrappelt. Die beiden waren also ein gutes Stück voraus, Ino war es ein Rätsel, wie sie in völliger Dunkelheit einfach so drauflos rennen konnten. Vorsichtig ging sie weiter, allmählich konnte sie zumindest Schemen und Konturen wahrnehmen und sie stellte erleichtert fest, dass der Boden vor ihr nicht in einem Abgrund mündete. Erneutes Husten schüttelte ihren Körper und der Staub setzte sich auf ihrer Kleidung ab wie ein zweites Kleid. Die Eingangshalle dieses Gebäude war sicher einmal sehr schön gewesen, aber die verzierten Säulen waren geborsten und lagen, in Stücke gebrochen, über der Halle verteilt. Die Decke war abgesackt und hing gefährlich tief. Einen Tresen konnte Ino nirgends mehr entdecken, vermutlich war er von herunterkommenden Trümmerteilen verschüttet worden. Sie konnte nur einen lichtlosen Gang entdecken, also mussten die beiden den gefolgt sein und sie musste sich beeilen, um nicht endgültig den Anschluss zu verlieren. Als sie durch die Eingangshalle lief, fiel ihr Blick auf eine der rissigen Wände und ruhte dort für kurze Zeit. Sie hatte ein schief hängendes, aber noch intaktes Bild entdeckt, auf der eine schöne Graslandschaft, ein kleiner Wald und ein See zu sehen waren. „Ha, ha. Der Sarkasmus dieser Zeit“, murmelte Ino leise und marschierte in den dunklen Gang hinein. Knarzend schaukelte das Bild sacht an der Wand, der Nagel löste sich aus dem rissigen Putz, Glas splitterte, Dreck und Staub legte sich auf das gestürzte Bild und machte es unsichtbar zwischen all den kalten Schatten. Ino hatte Hemmungen davor, schneller zu laufen, weil sie immer noch nicht richtig sehen konnte, was da alles im Weg lag oder von der Decke hing, andererseits hatte sie nicht alle Zeit der Welt. Anscheinend war Deidara verdammt gut zu Fuße, denn wenn Shikamaru wollte, war er sehr schnell. Und wenn selbst er Schwierigkeiten hatte, Deidara wieder einzufangen, dann musste der wirklich einen Zahn drauf haben. Inos Keuchen wurde von den rudimentären Wänden zurückgeworfen, es klang wie in einem dieser Horrorfilme, bei denen jeden Augenblick jemand aus den abzweigenden Türen stürzte und sein Opfer – Verbissen schüttelte sie den Kopf, an so einen Quatsch durfte sie erst gar nicht denken, dafür hatte sie gar keine Zeit! Sie konzentrierte sich auf den Lichtschimmer, der sich am Ende des Ganges, wo auch immer das sein mochte, befand, und umso besser sie sehen konnte, umso schneller traute sie sich zu laufen, bis sie ins Joggen und schließlich zurück ins Rennen verfiel. „Und das soll noch einer sagen: ‚Geh nicht ins Licht!’“, schnaubte Ino und musste unwillkürlich grinsen. Die bleiche Sonne blendete sie, obwohl sie nicht lange in der Dunkelheit gewesen war. Aber es war wohl lange genug, damit Ino sich jetzt wieder ans Tageslicht gewöhnen musste. Der Gang endete unvermittelt im Freien, dort wo er aufhörte, hätte wohl der Rest des Gebäudes stehen müssen, doch außer der Überreste der Grundmauern war davon gar nichts mehr übrig. Selbst der Boden war größtenteils weggeplatzt, Marmorplatten lagen verstreut und zerbrochen herum, und Ino entdeckte bei ihrem flüchtigen Blick einen halben Tisch, der ganz schwarz war. „Shikamaruuuu?“, brüllte Ino und legte ihre Hände um ihren Mund. Gebannt lauschend stand sie da, wie weit waren sie schon gekommen, konnten sie Ino überhaupt noch hören und schaffte sie es noch die beiden einzuholen? Aber sie brauchte gar nicht auf eine Antwort zu warten, sie konnte ihren Gefährten gerade noch so sehen, wie er über Zäune und um zerbeulte Autos flitzte. Ein gutes Stück vor Shikamaru sah Ino einen flinken Blondschopf davon rennen. Deidara! Ino verlor keine Zeit, sie rannte sofort weiter, es schien schon jetzt für sie unmöglich, die beiden noch zu erreichen. Immer wieder geriet sie ins Straucheln, weil ihre Augen auf ihre beiden Gefährten geheftet waren, ihre Füße blieben an den Marmorplatten hängen, die teilweise schräg und spitz aus der aufgeworfenen Erde ragten, der Boden war übersät mit Brandlöchern und Mulden. Wenn Ino jetzt stürzte, dann war’s das! Sie würde Shikamaru und Deidara nur noch im Traum einholen können, und hier und jetzt sich so derartig zu verletzen, glich in Inos Augen einem Todesurteil. Trotzdem beschleunigte sie, statt langsamer zu machen, sie hatte den Rest des Gebäudes hinter sich gelassen, vor ihr lag ein alter, verbogener Maschendrahtzaun. Hektisch rannte sie, am Zaun angekommen, hin und her, wo waren die beiden hier durch geschlüpft?! Drüber geklettert waren sie sicher nicht, also mussten sie … Da! Ino entdeckte einen schrägen Riss im Zaun, sofort versuchte sie, sich dort hindurchzuzwängen. Ihr Pullover blieb an den spitzen Drähten hängen und riss ihr kleine Wunden im Gesicht und auf ihren Armen. Endlich war sie durch, sie konnte Shikamaru kaum noch sehen, gleich würde er zwischen den Überresten der Häuser, die vor ihr aufragten, verschwunden sein. Inos Lungen fühlten sich an, als wollten sie bersten, sie brannten schrecklich, ihre Beine übersäuerten, aber sie ignorierte die Signale ihres Körpers, der um Ruhe schrie; jetzt nicht! Der Zaun war passiert, eine schmale Straße führte um das Gebäude, aus dem sie gekommen waren herum, sie lag teils unversehrt vor ihr, ein Auto lag auf dem spröden Teer auf dem Dach, und kleine Brände schwelten in ihm. Ino warf nur einen kurzen Blick in das Autowrack und wünschte, sie hätte es nicht getan. Viel hatte sie nicht gesehen, aber der blutüberströmte Körper, der sich in einer absolut unnatürlichen Position in dem Wrack krümmte, reichte ihr vollkommen. Ein Kokon aus Eisen, ein Sarg aus Benzin Feuer und in seinem Innern verrottet ein Schmetterling, der zu einer Raupe zusammengepresst wurde. Übelkeit stieg in ihr auf und sie musste dem Drang, sich zu übergeben, mit aller Kraft unterbinden. Sie rannte um das Auto herum und tauchte zwischen den großen, bröckelnden Gebäude, die sich links und rechts von ihr noch halbwegs in die Höhe wagten, ab. Ino hatte Shikamarus Rücken wieder ins Visier genommen und heftete ihre Augen auf den sich bewegenden Fleck vor ihr, sie keuchte heftig und ihre Beine schlackerten unkontrolliert. Urplötzlich rumpelte der ganze Boden, als würde ein Erdbeben ausbrechen, und ein ohrenbetäubendes Krachen hallte so laut, dass Ino glaubte, dass es die ganze zerstörte Stadt gehört haben musste. Die Erde schwankte wie in einem Karussell, Ino landete mit einem erschrockenem Aufschrei auf allen Vieren, ihre Hände und Knie schrappten über den zerrissenen Asphalt, deutlich spürte sie ihr warmes Blut sich ihren Weg aus ihren frischen Wunden bahnen. Sich ängstlich auf dem Boden kauernd, sah sie, als sie panisch nach vorn blickte, dass auch Shikamaru das Gleichgewicht verloren hatte und zu Boden gegangen war. Die Erde bebte, aber allzu stark war es gar nicht, wie Ino erst dachte. Ein gleißendes Licht flutete die Gasse, durch die sie gerade eben noch gerannt war, und ein beißender Geruch von Feuer und Rauch zwickte in ihrer Nase. Ihre Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, als wären sie ein Schwarm wilder Vögel. Nicht in der Lage, auch nur einen davon zu greifen, lag Ino, sich vor Verzweiflung krümmend, da. Das, was sie gerade eben gehört, gerochen und deutlich gespürt hatte, war eine Explosion gewesen, die nicht weit von ihr hochgegangen war. Sie fuhr mit ihren Händen über ihre Ohren, aber alles hörte sich dumpf und verwaschen an, als wäre ihr Kopf unter Wasser, und als sie wieder aufblickte, schauten ihre entsetzten Augen auf einen großen, orangenen Feuerball, der direkt vor ihr aus den aufgebrochenen Körper eines Hauses stieg. Ino schaute wieder zu Shikamaru hinüber, der sich langsam auf seine Beine kämpfte und wankend dastand. Sie machte es ihm gleich, Schritt für Schritt kämpfte Ino sich wieder vorwärts, sie musste Shikamaru unbedingt einholen! Ihr Gesicht war voller Schlieren aus Staub und Schmutz. Als sie sich fahrig mit ihrer lädierten Hand über die Augen fuhr, gesellte sich ein kupferfarbener Strich zu all den Grautönen. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis Ino Shikamaru erreicht hatte. Sie stolperte über Trümmerteile und wankte von einer Seite auf die andere, ihr angeschlagenes Gehör war nicht das einzige Problem, anscheinend hatte ihr Gleichgewichtssinn auch etwas abbekommen. „Shika … maru …“ Langsam drehte Shikamaru sich um, als Ino ihn an die Schulter griff und kraftlos daran rüttelte. Anscheinend hatte er sie nicht kommen hören. Seine Ohren hörten im Moment wohl genauso viel wie ihre, nämlich fast nichts. Ino schaute sich um, aber sie konnte Deidara nirgends sehen, Shikamaru muss ihn aus den Augen verloren haben. „Deidara … er ist …!“, krächzte er und deutete mit entsetztem, aber auch sehr erschöpftem Gesicht auf den Feuerball, der sich bereits in ein wallendes Kleid aus giftigem Rauch schmiegte. Zitternd hielten die beiden einander fest, und gerade, als sie ihre Arme umeinander legen wollten, um sich gegenseitig zu halten, krachte die nächste Explosion los und ein zweites Gebäude, dass direkt hinter dem stand, das vorhin explodiert war, zerbarst in all seine Einzelteile. Schreiend hielten Ino und Shikamaru sich die Ohren zu und gingen aneinander gedrängt in die Knie. Sie spürten, wie Trümmerteile auf sie nieder regneten und neben ihnen auf die Straße donnerten oder in Gebäude hinein flogen, wie Gewehrkugeln. Ein Glassplitter bohrte sich brennend heiß in Shikamarus Arm und ein Metallteil knallte Ino auf den Kopf. Ihr Schädel dröhnte, sie sah nur noch rote und orangene Funken vor ihren Augen tanzen und dichten schwarzen Rauch. Shikamaru beugte sich tief über sie und redete panisch auf sie ein, ja nicht einzuschlafen, aber sie verstand kein Wort. Inos Augenlieder flatterten, die Dunkelheit, die sie Stück für Stück einholte, fühlte sich gut an, unwiderstehlich friedlich wirkte sie im Gegensatz zu all dem Chaos, das gerade auf sie einstürzte. Sie schloss ihre Augen und verlor das Bewusstsein. --- Schreiend schüttelte Shikamaru Ino – auf ihrer Stirn prangte eine blutige Platzwunde, ihr Gesicht war kreidebleich unter all dem Schmutz und Blut, und ganz gleich, wie laut Shikamaru schrie oder wie heftig er seine Schulfreundin schüttelte, sie regte sich nicht. Schließlich gab Shikamaru auf, er zog Ino in eine feste Umarmung und legte ihren Kopf auf seinen Schoß. Er schaute sich um, seine Augen suchten nach etwas, mit dem er das Blut wegwischen konnte, irgendwas, womit er Ino helfen konnte, aber alles, was hier herumlag, waren die Trümmerteile des Hauses. Glassplitter, Eisenteile, Betonbrocken, ein Knauf, sogar die Tür eines Kühlschranks war aus dem explodierenden Gebäude geschleudert worden und ein verkohlte Kinderwagen krümmte sich zerknautscht an einer Wand. Langsam wurde Shikamaru bewusst, dass er mit dem Splitter in seinem Arm – den er lieber dort ließ, wo er gerade war – auch wenn das schrecklich schmerzte, noch gut davon gekommen war. Die Betonbrocken, die hier große und kleine Krater in die Gasse geschlagen hatten, hätten ihn und Ino mit Leichtigkeit töten können. Glas knirschte und Shikamaru konnte lässige Schritte hören, die gemächlich näher kamen, keuchend drehte er sich um. Hinter ihm war … Deidara aufgetaucht, sei Gesicht mit dem üblichen, grässlichen Grinsen geschmückt. „Da hat wohl ein Geschoss deine Geliebte außer Gefecht gesetzt, hm?“, höhnte er frohlockend, während seine sturmblauen Augen sich kalt auf Ino richteten. Shikamaru blieb der Mund offen stehen, er hatte den Verrückten doch in das Gebäude rennen sehen und wenige Minuten danach, war es mit einem großen Rums in die Luft geflogen! Aber irgendwas stimmte mit Deidara nicht, sein Gesicht war nicht so eigentümlich entrückt wie sonst, es wirkte plötzlich … so rational und zurechnungsfähig. Shikamaru blinzelte verwirrt und schüttelte den Kopf, was war hier nur los?! „Du kapierst es einfach nicht! Du und deine bescheuerte Freundin“, spuckte Deidara mit bebender Stimme aus, „seid mir wie dämliche Karnickel in die Falle gelaufen, hm!“ „Was … Was meinst du, was ist denn los mit dir, Deidara. Du bist doch sonst …“, stotterte Shikamaru, das überforderte ihn maßlos, er begriff einfach nicht, was passiert war und weshalb Deidara sich so gar nicht wie er selbst benahm. „Ich bin doch sonst, hm …? Verrückt, geisteskrank? Ich sag dir mal, was ich bin, hm!“ Mit wutverzerrtem Gesicht beugte Deidara sich zu Shikamaru hinunter und seine Nasenspitze berührte beinahe die des völlig konfusen Jungen. „Ich bin ein Künstler! Aber diese Welt schätzt meine Kunst einfach nicht! Diese Welt ist dem Untergang geweiht, unsere Gesellschaft schert sich um keinen mehr, wir sind alle Egoisten, voller Habgier und …“ Er klappte seinen Mund wieder zu und richtete sich bebend auf. „Aber wem erzähle ich das, das ist doch Zeitverschwendung, hm!“ Deidaras Augen glühten mit solch einer Intensität, die Shikamaru eisige Schauer über den Rücken jagten. Und wovon redete dieser Spinner da zum Teufel nur? Die Welt stand am Abgrund, gerade eben waren ihnen zwei Gebäude um die Ohren geflogen und Deidara faselte von Kunst und einer gebrochenen Gesellschaft, die im Moment nun wirklich nicht an erster Stelle von Shikamarus Sorgenliste stand! Misstrauisch behielt er Deidara im Auge, während er Ino sanft in seinen Armen wiegte; mehr konnte er im Moment leider nicht für sie tun. Shikamaru strich ihr die Haare aus dem Gesicht und versuchte, zumindest mit seinem fledderigem Jackenärmel etwas Ruß und Blut von ihrem Gesicht zu wischen. Seine Gedanken kehrten für einen kurzen Augenblick zurück zu den Explosionen, er hatte noch nie eine solche Katastrophe so nah erlebt, die Hitze war schier unerträglich gewesen, dabei war er noch Meilen vom Ort des Geschehens gewesen und das Beben, wie der Boden gegrollt hatte, als würde sich jeden Augenblick die Erde auftun und sie alle verschlingen. Die Angst, die sich in Shikamarus Brust gestaut hatte, war unerträglich und hatte sein Herz zum Bersten gefüllt, und obwohl diese Angst immer noch nicht ganz aus ihm verschwunden war, durfte er jetzt auf keinen Fall einknicken, das hatte Ino schon getan. Er musste stark bleiben. Für sie, für sich, für sie beide. „Sie kommen, hm.“ Hastig wischte Shikamaru sich die Tränen aus den Augenwinkeln und schaute zu Deidara hinüber, dessen eisiger und zugleich glühender Blick auf den Horizont gerichtet war. Erst jetzt hörte Shikamaru das kaum hörbare Sirren eines Hubschraubers. „Hilfe??“, fragte er hoffnungsvoll. Deidara grinste nur boshaft und Shikamarus Herz zog sich zusammen und fühlte sich an, wie ein kleiner, klopfender Knoten in seiner Brust. War Deidara vielleicht gar nicht so verrückt, wie er die ganze Zeit vorgab zu sein? „Ich habe sie gerufen, endlich sind sie da, hm!“ Gerufen? Was meinte er mit gerufen? „Ich versteh dich nicht, was meinst du denn? Wer sind diese Leute?“ Hilflosigkeit brandete durch seinen Körper, seine Arme schlangen sich eng um Ino, die immer noch regungslos und schlaff auf seinem Schoß lag. „Es sind meine Leute. Ich habe sie gerufen, und zwar damit, hm!“, antwortete Deidara kaltschnäuzig, dann klatschte er seine Hände zusammen, in denen er etwas hielt, das Shikamaru kaum erkennen konnte. Das Krachen, das die Luft zerriss, war ohrenbetäubend, panisch beugte Shikamaru sich über Ino, als erneut Trümmerteile auf ihn herab regneten und ein grelles Licht, nicht weit von ihnen den Horizont überflutete. Noch eine Explosion erschütterte das Stadtviertel, noch eine giftige Rauchwolke des Todes schwelgte aus einem gebrochenem Haus, noch mehr Feuer brach durch die Wände unzähliger Häuser, noch mehr Zerstörung, noch mehr Leichen, noch mehr von allem, was Shikamaru kaum noch ertrug. Gehässig kichernd beugte Deidara sich tief über ihn, der Ino fest umklammert hielt. Schreiend wich Shikamaru vor ihm zurück, vor diesen eisblauen Augen, in denen der Wahnsinn funkelte wie ein geschliffener Diamant, geschliffen vom Teufel höchst selbst. Zwischen den Häusern und den vielen Trümmern bewegte sich etwas, anfangs konnte Shikamaru nur Schemen und Schatten ausmachen, die sich wieselflink hin und her bewegte. Die Schatten gingen leicht geduckt und waren dennoch sehr schnell. Sie kesselten Shikamaru und Deidara ein, und als sie nahe genug herangekommen waren, erkannte Shikamaru sie als Männer in schwarzer Kleidung. Spiegelnde Helme verdeckten ihre Gesichter und in ihren Händen hielten sie Schusswaffen. Der Blondschopf richtete sich wieder und brach in schallendes Gelächter aus, Shikamaru starrte ihn aus entsetzten Augen an, sein Verstand strauchelte bei jedem Versuch, sich darüber klar zu werden, dass Deidara ihn die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hatte. Was geschah nur mit ihnen, wer war Deidara wirklich, warum tat er ihnen das an, hatte er wirklich diese Explosionen gezündet? Alle Explosionen?! Ungläubig schüttelte Shikamaru den Kopf, das war mehr als ein Albtraum, das war die Hölle auf Erden, wie hatte er glauben können, sie bereits zu kennen, wie hatte er annehmen können, dass es schon gar nicht mehr schlimmer ging?! „Aber ich komme ins Plaudern … Wir haben ja noch etwas vor“, trällerte Deidara plötzlich wieder fröhlich und klatschte in die Hände. „Ich … versteh nicht …“, murmelte Shikamaru und legte seine Arme schützend um Ino. „Pass auf, ich zeig' es dir!“ Deidara ging neben Shikamaru in die Knie und deutete auf ein Gebäude, das von hier aus kaum zu erkennen war. „Siehst du das? Jetzt schau gut hin …“, flüsterte der Blondschopf ihm aufgeregt zu, und seine blauen Augen glitzerten voller Vorfreude. Erschöpft blinzelnd blickte Shikamaru weiter auf das Gebäude, Deidara klatschte neben ihm fest in die Hände und plötzlich überschwemmte ein grelles Licht die Umgebung, die Shikamaru dazu zwang, seine Augen zu schließen. Erneut hallte der Knall einer großen Explosion in der Gasse wieder, und Shikamaru legte stöhnend seine Hände über seine Ohren. „Das ist Kunst, hm! Das ist mein Werk, Junge! Ich war das, das war alles ich!!“, brüstete Deidara sich stolz und richtete sich schallend lachend auf. „Du … hast diese Gebäude …“ „Ja, natürlich! Ich und mein neu entwickelter Sprengstoff, hm! Jahre und Jahre habe ich daran gearbeitet! Sieh dir das nur mal an, hm!“ Deidara streckte Shikamaru seine Hände entgegen, der Edding war fast vollständig verblasst und die Narben traten wieder sichtbar hervor. „Tage und Nächte habe ich an dem Sprengstoff gearbeitet, meine Hände hat es mir verätzt, ich wollte den ultimativen Sprengstoff schaffen – für meine Kunst! Und wer hat sich am Ende nur für meine Kunst interessiert, hm?! Das Militär! Stell dir vor, meine Kunst wollten sie für ihre lächerlichen Kriege missbrauchen, hm! Unverschämtheit, aber jetzt … Jetzt kriegen sie alles zurück!“ Shikamaru rieb sich die Schläfe, sein Kopf schmerzte und Deidara redete nur wirres Zeug. War er etwa dafür verantwortlich, dass diese Welt am Abgrund stand, war er einer derjenigen, die für dieses Chaos und diese Vernichtung gesorgt hatten? „Der Tag meiner Rache ist gekommen, schon bald werden alle wissen, wer Deidara ist und seine Kunst würdigen und schätzen, hm“, säuselte er verträumt und musterte liebevoll seine Hände. „Ich zeig ihn dir.“ Deidara drehte sich erschreckend schnell wieder zu Shikamaru um und griff sich an seinen Gürtel. Jetzt erst fiel Shikamaru der breite Gürtel auf, den sich Deidara um die Hüfte geschnallt hatte, links und rechts hingen zwei Taschen daran. Diesen Gürtel hatte er noch vor kurzem nicht getragen, da war Shikamaru sich absolut sicher. Deidara öffnete eine der beiden Taschen und griff hinein. Als er seine Hand wieder herauszog, befand sich darin eine weiße Masse, die wie Knete oder Lehm aussah. „Jetzt wirst du gleich staunen, hm!“ Deidara holte aus und warf ein kleines Stück der Knetmasse von sich, sie prallte an einer Wand ab und explodierte mit einem lauten Knall. Obwohl es nicht viel Masse war, sprengte sie jedoch ein beeindruckendes Loch in die Wand. „Deidara-sama!“ Shikamaru blickte sich um, überall standen jetzt diese Männer in schwarz und sie alle hielten Schusswaffen in ihren Händen, ihre Körper waren bestückt mit unzähligen Waffen und das waren sicherlich nur jene, die Shikamaru auf den ersten Blick sehen konnte. Anscheinend gehörten sie zu dem verrückten Blondschopf, der noch voller Begeisterung das Loch in der Wand begutachtete. „Ja, ja, hm! Wir gehen, wir gehen ja schon!“, blaffte Deidara den Mann hinter ihm verächtlich an. Ein leises Stöhnen ließ Shikamaru wieder nach unten blicken, Ino kam langsam wieder zu sich und blickte benommen zu Shikamaru auf. „Hm …“ „Scht … Schon gut! Bleib ruhig liegen“, flüsterte Shikamru ihr leise zu. „Nein, bleibt sie nicht, hm!“, keckerte Deidara und tippte einen der Männer auf die Schultern, dann deute er auf Ino. Der Mann wandte sich den beiden zu, beugte sich über Ino, packte sie um die Hüfte, und warf sie sich mit Leichtigkeit über die Schulter. „Was tun Sie denn da?! Sie hat bestimmt eine Gehirnerschütterung, sie machen alles nur noch schlimmer! Sie müssen …!“ Brennender Schmerz brandete in Shikamarus Kopf auf, jemand hatte ihm von hinten auf den Kopf geschlagen und er ging taumelnd zu Boden. „Halt die Klappe, hm!“, knurrte Deidara und beugte sich gehässig grinsend über ihn. „Diese Welt gehört nun mir, sieh dir mein Kunstwerk genau an! Versteh das doch, um etwas Neues zu schaffen, muss das Alte verschwinden, ist doch logisch, hm? Und das haben ich und Danna gemacht, wir haben die alte, schlechte Welt zerstört, um eine neue, bessere Welt zu erschaffen! Und wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt brav machen, was wir sagen, hm! Aber … Ich werd' dir was erzählen, was ich nur wenigen erzähle, es ist wichtig, also hör gut zu!“, sprach er mit gesenkter und verschwörerischer Stimme. „Wenn eine Seele zerbricht, dann kann man das hören. Es ist so ein leises, schmerzvolles Geräusch, als würde Glas zerbersten, das aus Tränen besteht. Diese Welt hat mir meine Tränen genommen, sie verachtet mich, aber ich habe einen Weg gefunden, mich an sie zu rächen! Mit meiner Kunst werde ich sie in Flammen aufgehen lassen und alle Seelen dieser Welt werden brechen, damit ich sie neu formen kann! Das ist wahre Kunst!“ Deidara richtete sich wieder auf und lachte erneut aus voller Kehle, Shikamaru wusste nicht, was er tun sollte. Was geschah nur mit ihnen, wer war Deidara wirklich, warum tat er ihnen das an, hatte er wirklich Anteil an dieser zerstörten Welt? Ungläubig schüttelte Shikamaru den Kopf. Einer der Männer stieß seine Waffe in Shikamarus Seite und schnauzte eisig: „Aufstehen! Mitkommen! Los, Beeilung!!“ Als er nicht sofort in Bewegung kam, schlug der Mann die Waffe gegen seinen Kopf. Der Hieb war kein leichter gewesen, Sterne blitzten vor Shikamarus Augen auf und er fühlte etwas Warmes seine Schläfe hinab rinnen. Blut. „Lasst sie gefälligst am Leben, wir brauchen sie noch, hm!“, keifte Deidara den Mann an und verpasste ihm einen Kinnhaken. Torkelnd drehte er sich um seine eigene Achse und Shikamaru staunte nicht schlecht. Wie viel Kraft hatte dieser Irre denn?! Zwei Männer griffen unter Shikamarus Arme und zogen ihn mit Gewalt auf die Füße. „W-Wer seid ihr?! Was wollt ihr von uns??“, schrie Shikamaru mit zitternder Stimme und wandte dich halbherzig im schraubstockartigen Griff der beiden Männer. „Von dir?!“, prustete Deidara herablassend. „Von dir wollen wir gar nichts, wir brauchen euch nur. Einmal in eurem erbärmlichen Leben seid ihr zu etwas Nütze, freu dich drüber, hm!“ Hoch erhobenem Hauptes machte Deidara auf dem Absatz kehrt und marschierte voran. Die Männer hatten in der Zwischenzeit Shikamaru Handschnellen angelegt, die unangenehm in seine Handgelenke schnitten, und stießen ihn vorwärts. „Beweg dich, Sasori-sama wartet nicht gern. Glaub mir, den willst du nicht wütend erleben!“, knurrte der Mann rechts neben Shikamaru ihm bedrohlich ins Ohr. Sasori? Wer war denn das jetzt schon wieder …? Als der Mann ihn weiter vorwärts schubste, schoss ein gleißender Schmerz durch seinen Körper, der Splitter befand sich immer noch in Shikamarus Arm, aber es schien niemanden zu stören, außer Shikamarus Nervensystem, das stur seinem Gehirn meldete, dass ein schmerzhafter Fremdkörper in seinem Arm sein Unwesen trieb. Shikamaru wandte mit zusammen gebissenen Zähnen seinen Blick von seinem verletzten Arm ab und schaute zu Ino hinüber, die ihn aus glasigen Augen anstarrte, während sie schlaff wie eine Puppe über der Schulter einer der Männer hing. „Ino! Alles wird wieder gut, ich … hol uns da schon irgendwie wieder raus …!“ „Alles wird wieder gut, ha! Alles wird wieder … Red' dir das nur weiter ein, Junge, hm! Aber du hast recht, es wird tatsächlich alles wieder gut; nämlich spätestens dann, wenn Danna und ich diese Welt aufpoliert haben, hm!“, erklärte Deidara großzügig und sprang flink wie eine Gazelle über einen großen Felsen. Inos Kopf sank mit flatternden Liedern wieder nach unten und in Shikamaru tobte eine mit Krallen und Zähnen bewährte Mischung aus Wut, Verzweiflung und Trostlosigkeit. Alles wird wieder gut … Daran kann Shikamaru selbst nicht glauben, egal wie sehr er es gerade versuchte. Unweit von ihnen starrten zwei nachtschwarze Augen zu ihnen hinüber. Er versteckte sich geschickt hinter den zerklüfteten Überresten eines gekrümmten Bürogebäudes, seine Augen suchten hektisch die Männer ab. Als der finstere Trupp sich langsam zwischen den kränkelnden Gassen verlor, verließ er sein Versteck und folgte ihnen unauffällig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)