Fünf Sekunden von Sethan ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Nur einen Moment noch, war der Gedanke. Nur noch ein wenig länger. Den Augenblick so lange wie möglich aufrechterhalten, den Abschied etwas hinauszögern – das war alles, was er wollte. Fünf Sekunden. Zögernd strecke er die Hand aus, langsam, als würde eine zu schnelle Bewegung ironischerweise das Zeitfenster verkleinern. Alles, nur das nicht. Es war doch so schon so wenig Zeit. Vier Sekunden, bevor… Die Berührung war nicht mehr als ein Hauch, ein Flüstern seiner Finger in ihrem Haar. Haar, das so viel weicher war, hier, jetzt, als dort, auf der anderen Seite. So wie er es in Erinnerung hatte, von all den Tagen, Nächten. Wie es flog: Ein sich stetig bewegender Schleier, der jede ihrer Kampfbewegungen begleitete. So anders als dort drüben, wo ihr Haar nicht mehr war als eine eingefrorene Kaskade, leblose Zweige von Kastanie, die nicht einmal der Wind mehr begrüßte. Drei Sekunden, bis er… Sie sagte nichts, sah ihn nur an. Mit ihren warmen Augen, dem kleinen Lächeln. So gütig. Als gäbe es kein Leid auf der Welt, irgendeiner Welt. Keine Fehler, keine Schuld. Als wäre dies der Ort, an den sie gehörte; als hätten sie die Ewigkeit vor sich, dieses Mal wirklich. Als hätte es das Ende nicht gegeben. Als gäbe es keinen Grund, zu verzweifeln, die Sekunden im Kopf zu zählen und die verbleibende Zeit zu kalkulieren – ähnlich wie damals, als er die Attacken still zuließ und Ergebnis war, dass seine HP sich schneller regenerierten als er Schaden nahm. Jedoch nicht dieses Mal. Es gab keinen Skill, der die Zeit anhielt; er war ihr hilflos ausgeliefert. (Gäbe es ihn, was würde er nicht alles dafür tun!) Zwei Sekunden, und sie… Seine Hand griff nach der ihren, die so warm schien. Eine Lüge, diese Wärme, doch so viel schöner als die betrügende auf der anderen Seite. Hier reagierte sie. Hier konnte er sehen, wie sich ihre Finger mit seinen verflochten, so wunderbar, so beinahe real. Nicht wie dort, wo nichts, aber auch gar nichts sie aus ihrer Stille reißen konnte. Kein Wort. Keine Bewegungen. Kein Gebet. Nicht mal die Drohung dieses Mannes, der ihn zweifeln ließ, der ihn so höhnisch in die Klinge laufen ließ; die Klinge, die so viel schärfer war als alle anderen je sein könnten. Schärfer noch als die, die er sich selbst gewünscht hatte. Um ihn in Stücke zu schneiden, dort, in diesem Moment. In so kleine Stücke, dass auch weiße Halbgötter ihn nicht mehr hätten flicken können. Doch was konnte er schon tun, in dieser Welt, in der Worte die schärfsten Schwerter waren und seine Taten so ohne Sinn? Wer zusammengeflickt werden musste, war nicht dieser Mann. Sondern er selbst. Eine Sekunde, ehe beide… Er hatte nicht gewusst, wohin. Wusste nicht, wie er heimgekommen war, wie Suguha in sein Zimmer gekommen war; nicht einmal richtig, wie er auf den Gedanken kam, es anzuschließen. „Aufgeben ist nicht erlaubt.“ Er hatte es immer wieder versucht. So oft. Immer wieder diesen Satz vor sich hingemurmelt. Jedes Mal, wenn ein und dieselbe Fehlermeldung ihm entgegenleuchtete. So oft flüsterte er diesen einen Satz, wenn das System ihm ein weiteres Mal mitteilte: „Error. Could not connect to server.“ Es war verrückt, doch ihm war nichts anderes eingefallen. Es musste doch einen Weg geben… Bis die Nachricht das erste Mal ausblieb. Er hatte keine Ahnung, was anders war als sonst, fand sich nur plötzlich in einem endlosen Himmel wieder. Jenem Himmel, in genau demselben Zwielicht, in dem es endete; und da war sie, saß sie, mitten im Nichts; da waren ihren Augen, nicht im Schlaf geschlossen. So verwundert, als hätte sie gewartet und selbst beinahe aufgegeben. Er wollte sie ansprechen, ihren Namen rufen, doch das System reagierte nicht; er wollte zu ihr gehen, doch es war so schwer, die Beine auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Es dauerte lange, so lange, den Meter zu ihr zu überwinden, und er hoffte, sie sah seine Bemühungen, spürte, wie er kämpfte. So nah dran war er, sie zu berühren, direkt neben ihr zu stehen, als das Bild begann zu flacken, Störgeräusche sich durch die Stille fraßen, die verhasste Meldung wieder auftauchte. Er wollte schreien. Als er auf der anderen Seite aufwachte, tat er es. Null. Von da an versuchte er es wieder und wieder. Ignorierte die Bitten, das Flehen seiner Familie. Manchmal vergingen Wochen, ehe er wieder durchkam, manchmal nur wenige Tage. Immer blieb ihnen nur so wenig Zeit. Nie schafften sie es, ein Wort herauszubringen. Nur die Bewegungen fielen manchmal leichter. Wie heute, wo es so einfach war. Dann erschien es ihm, als hätte er mehr Zeit, als dauerten die anderen Male nur Zehntel einer Sekunde, einen Atemzug, einen Wimpernschlag. Doch die 24 Sekunden waren immer genau das. Er versuchte zu lächeln, für sie, nur für sie, während das Bild flackerte, die Stille zerfressen wurde. Error. Could not connect to server. „Aufgeben ist nicht erlaubt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)