Stille Wasser von Ixtli ================================================================================ brb --- Zum hundertsten Mal schon sah Henrik auf die große Bahnhofsuhr, deren Minutenzeiger sich seit seinem Eintreffen gerade anschickte, die zweite Runde über das Zifferblatt zu drehen. Über eine Stunde Verspätung. Das passte nicht zu Norman, dem schon ein abgerissener Knopf schlaflose Nächte bereiten konnte. Seitdem kaufte er sich nichts mehr, woran sich Knöpfe befanden, nicht einmal Bettwäsche. Henrik unterbrach seine nervöse Wanderung am Bahnsteig entlang. Er hatte Hunger. Nach drei Stunden Zugfahrt und einer Stunde Warten auf seinen Bruder, der ihn eigentlich, wie es an ihren gemeinsamen Wochenenden so üblich war, abholen wollte, hatte er sogar verdammt großen Hunger. Den winzigen Hot-Dog in dem matschigen Brötchen, den er sich am Kiosk gekauft hatte, hatte Henrik nach dem ersten misstrauischen Blick mit nur drei Bissen verschlungen und war für exakt eine viertel Stunde tatsächlich satt gewesen. Wieder wählte Henrik Normans Nummer. Sein Daumen drückte zweimal auf den grünen Hörer. Der Speicher der zuletzt gewählten Rufnummer erweiterte sich auf Neun und wie die acht Male zuvor, ging auch jetzt die Mailbox dran und predigte mit seliger Stimme, dass die gewählte Nummer zur Zeit nicht erreichbar sei. Ach was?! Henrik würgte die monotone Stimme mitten im Satz ab und schob das Smartphone in seine Hosentasche. Norman und Telefone waren wie Norman und Knöpfe. Unvereinbar. Norman, sein uncooler großer Bruder, der es so eilig gehabt hatte, von zu Hause wegzukommen, dass er nicht viel mehr als eine Tasche mit Kleidern mitgenommen hatte. Raus aus dem Kuhkaff, das er seitdem keines Blickes mehr gewürdigt hatte, und rein in die Stadt, deren Lebensfreude versprühende und Begeisterungsfunken schlagende Frohlockungen Henrik von seiner momentanen mit Taubenkot gefleckten Position heraus leider nur erahnen konnte. Seufzend ließ sich Henrik auf eine der Bänke nieder. Er beugte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zur Glasdecke, in deren eisernem Geäst die gurrenden Verursacher der grau-weißen Anzug und Denkmäler zerstörenden Fliegerbomben hin und her tippelten. Norman war froh über seinen Auszug gewesen. Wie sehr, war Henrik so richtig klar geworden, als sich Norman erst nach über einem halben Jahr Funkstille endlich wieder gemeldet hatte. Nicht einmal die Lethargie, mit der ihre Eltern die Nachricht ihres Ältesten aufgenommen hatten, hatte Henrik erschüttern können. Es schien, als wäre ihren Eltern schlichtweg alles egal, was Norman betraf. Oder sie waren ihm böse, weil keine der Horrorvorstellungen eingetroffen waren, mit denen sie Henrik einzuschüchtern versucht hatten. Darüber, was in dem halben Jahr passiert war, hatte er nie ein Wort verloren und Henrik hatte nicht nachgefragt, weil er es seinem Bruder hatte nachfühlen können, wie es sein musste, alles hinter sich zu lassen und irgendwo neu zu beginnen. Da hatte man wahrscheinlich andere Dinge im Kopf als kleine Brüder, die sich langweilten. Es ging Norman gut, das war der Punkt. Das musste er nicht erst beteuern, man hörte es und man sah es ihm an, wovon sich Henrik kurz darauf selbst überzeugen konnte, als Norman ihn zum ersten Mal zu sich eingeladen hatte. Von da an hatte sich etwas in Henrik, der schon immer der Bequemere von ihnen beiden gewesen war, angefangen zu regen. Ganz sachte hatte es an die Tür geklopft, hinter der sich Henriks Kommandozentrale zur Steuerung seines Lebens befand. Und er hatte diese Tür aufgerissen und den Besuch davor mit offenen Armen empfangen und hereingebeten, als wären es lange vermisste Freunde, die er vor zwanzig Jahren aus den Augen verloren hatte. Und genau darüber wollte er mit Norman sprechen. Über das Ausziehen. Und darüber, wo er hin sollte, bis sich der erste Sturm gelegt hatte, den er damit heraufbeschwören würde, wenn herauskam, zu wem er wollte: zu dem einzigen Menschen in Henriks Leben, der keine tollen Sprüche drauf hatte und der sich einen Scheiß darum kümmerte, wo er auf der Coolness-Skala stand. Der einzige, der ihn noch nie belogen hatte. Der, der bisher auch nie zu spät gekommen war... "Hey, tut mir leid." Norman. Ein Schatten fiel auf Henrik, der sofort die Augen aufschlug. "Mann, wo warst du?" Henrik setzte sich auf und streckte sich ausgiebig. "Ich bin kurz vorm Verhungern." Er sah seinen Bruder vorwurfsvoll an, der ihm nervös auswich. "Hat etwas gedauert, war keine Absicht. Wo ist dein Gepäck?" Norman sah sich auf dem Bahnsteig um. "Oh... Moment... Hier unter der Bank." Henrik beugte sich vor und warf einen Blick unter die Bank, auf der er saß. Keine Tasche. Irritiert versuchte Henrik, sich auf dem Bahnsteig zu orientieren, den er eineinhalb Stunden lang wie ein Wachsoldat auf und ab geschritten war. Er hatte seine Tasche unter eine Bank gestellt. Unter eine von fünfzehn. "Ist es die hier?" Norman zog Henriks Tasche unter einer Bank schräg gegenüber hervor. "Danke." Henrik nahm die Tasche entgegen und warf sie sich über die Schulter. "Zum Glück ist dein Kopf angewachsen, was?" Die Fingerknöchel von Normans rechter Hand trafen Henriks Stirn. "He, lass das!" Unwirsch schlug Henrik Normans Hand weg, der seinem kleinen Bruder einfach mit der anderen Hand eine zweite Kopfnuss verpasste. Henrik gab Norman einen Stoß, der diesen Straucheln ließ. Einen Moment lang war Henrik irritiert, wie leicht das ging. "Was ist denn mit dir los?", lachte er seinen Bruder aus, der Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. "Ist dir dein kleiner Bruder endgültig über den Kopf gewachsen?" "Du wolltest doch was essen, richtig? Und nach Hause laufen möchtest du doch auch nicht", zischelte Norman Henrik verärgert zu, der triumphierend neben ihm her stolziert, Norman nachäffte und sich plötzlich unglaublich stark fühlte. Ungehalten stieß Norman die Luft aus und überholte Henrik mit langen Schritten. Nachdenklich sah Henrik Norman nach. Wenn ihn nicht alles täuschte, war Norman bereits lange aus dem Wachstum heraus und trotzdem sah es aus, als wären ihm die Kleider zu groß geworden. Und eben, als er ihn gestoßen hatte, hatte Norman ziemlich schnell das Gleichgewicht verloren. "Hast du abgenommen?" Norman tat, als hätte er nichts gehört. "Machst du eine Diät?" "Gott, Henrik, du gehst mir schon nach fünf Minuten das erste Mal auf die Nerven." Henriks Augen verfinsterten sich. Und er hatte recht, da konnte sich Norman von ihm aus auf den Kopf stellen und die Kleine Nachtmusik rückwärts pfeifen. "Das sind mindestens zehn Kilo weniger." "Ich mache ein bisschen Sport, habe meine Ernährung umgestellt. Wo ist das Problem?" "Das Problem läuft zwei Meter vor mir her und hat wortwörtlich keinen Hintern mehr in seiner Hose", grummelte Henrik beleidigt und betrachtete sich die verdächtig um die Beine flatternde Jeans seines ohnehin nie besonders kräftig gewesenen Bruders. Welche Sportart bescherte einem eine Silhouette, mit der man sich hinter einem Laternenmast verstecken konnte? Und überhaupt – Ernährungsumstellung? "Auf was hast du deine Ernährung denn umgestellt? Auf Photosynthese?" Norman drehte sich so schnell zu Henrik um, dass der erschrocken innehielt. "Schön, du Klugscheißer, du hast die Wahl", Normans Zeigefinger bohrte sich in Henriks Brustbein und seine Stimme klang drohend, "entweder hältst du ab sofort deine Klappe darüber, wieviel ich wiege oder ich setze dich in den nächsten Zug zurück. Was ist dir lieber?" "Das ist aber eine ganz schön beschissene Wahl", begann Henrik aufmüpfig, ehe er sich unter Normans grimmigen Blicken selbst unterbrach. Normans Augen scannten jeden Zentimeter in Henriks Gesicht ab, der seine Lippen fest zusammengekniffen hatte. Ein Wort und er flippte aus, dachte Henrik geknickt. "Freut mich, dass du dich fürs Hierbleiben entschieden hast. Bist du noch hungrig?" Eine in Normans Augen unglaubliche Menge gebratener Nudeln später war Henrik endlich satt und sie hatten es ohne Unterbrechung bis zu Normans winziger 1-Zimmer-Wohnung geschafft. Henrik ließ seine Tasche auf Normans Bett fallen und sich selbst gleich daneben. "Und was machen wir jetzt?" "Ich gehe duschen", sagte Norman und öffnete den schmalen Kleiderschrank. Er nahm frische Kleidung heraus und warf sie neben Henriks Kopf auf das Bett. "Wie unterhaltsam..." Henrik gähnte demonstrativ. Norman versuchte, ihn zu ignorieren. Was nicht leicht war. "Auf dem Tisch", Norman nickte in die entsprechende Richtung. "Lies es dir durch." Und dann war er auch schon zur Zimmertür hinaus verschwunden. Schwerfällig erhob sich Henrik von dem viel zu bequemen Bett. Er beugte sich gerade so weit vor, dass er mit den Fingerspitzen den giftgrünen Flyer erreichen konnte, der vor ihm auf dem niedrigen quadratischen Tisch lag. WRECK THE HALLS lautete die Überschrift in Großbuchstaben, von denen jeder einzelne ein einstürzendes Gebäude darstellen sollte. Was zur Hölle war eine Abrissparty? Musste man dort arbeiten, um einen Drink zu bekommen? War das gefährlich? So richtig mit Mörtel im Bier und Rostbröseln im Vodka? Klang gut. Gedankenverloren faltete Henrik den grünen Zettel und warf ihn zurück auf den Tisch. Als Norman zwanzig Minuten später wieder erschien, saß Henrik noch immer auf dem Bett und tippte eifrig auf der Tastatur des kleinen Netbook herum, das vor ihm auf der Bettdecke stand. "Du kannst gehen, das Bad ist frei." Norman stopfte seine getragene Kleidung in einen Hocker, der gleichzeitig als Wäschekorb diente. "Kein Bedarf, ich bin schon fertig." Mit in die Hüften gestützten Händen sah Norman auf Henrik hinab, der ihm schon keine Beachtung mehr schenkte und weiter auf die Tastatur eindrosch. "Was machst du da?" "Ich habe dir einen Messenger installiert." Stolz drehte Henrik das Netbook so herum, dass Norman einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte. Mitten auf dem Display prangte ein geöffnetes Fenster, in welchem sich zwei sich anschauende Smileys miteinander unterhielten, in dem sie sich gegenseitig wellenförmige Linien zuschickten. Darunter war ein leeres Eingabefeld. "Danke – brauche ich nicht", murmelte Norman unbeeindruckt. "Und ob du den brauchst", widersprach Henrik eifrig. "Ich bin übrigens der Erste in der Liste." "Welche Liste?" "Die Kontaktliste." Henrik sah Norman an, als käme er geradewegs aus einem vergangenen Jahrhundert. "Ich stehe unter H." "H wie Henrik? Wie originell." Henrik lächelte milde. "Nein, H wie herzallerliebster Bruder, den du in Zukunft mindestens alle zwei Tage mal nudgest." "Den ich was?" "Anstupst. Von wo hinter dem Mond kommst du eigentlich her?" "Du spinnst..." Norman konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Er nahm Henrik das Netbook weg, ehe er noch mehr unverständliche Sachen damit anstellen konnte, und klappte es zu. "Los, zieh dich um, wir gehen jetzt." "Ich bin umgezogen", erklärte Henrik und deutete auf seinen Oberkörper. Statt eines blauen T-Shirts trug er nun ein schwarzes. "Hauptsache, wir können endlich los." "Wie ist die Adresse?" "Moment." Henrik kramte in seiner Jackentasche nach dem giftgrünen Flyer. "Die Adresse-" Papier knisterte. "Die -ähm- Adresse ist-" Es raschelte. Norman bremste das Auto vor einem Zebrastreifen ab, um die wartenden Fußgänger über die Straße zu lassen. Ungeduldig sah er zu seinem Bruder hinüber, der den zu einem Papierboot gefalteten Flyer mühselig auseinander zupfte. "Was hast du mit dem Zettel gemacht?" "Mir war langweilig." Endlich hatte es Henrik geschafft, das Papier zu entfalten. Er las Norman die Adresse vor, verglich sie einem der Straßenschilder, an dem sie gerade vorüber fuhren, und blickte seinen Bruder ratlos an. "Sind wir hier nicht falsch?" "Wir müssen noch jemanden abholen", klärte Norman Henrik auf. "Oh", begann Henrik und nickte verstehend. "Dann hättest du ja schon zwei Leute in deiner Kontaktliste." "Fang bloß nicht wieder damit an." Henrik lachte schadenfroh. "Und wer ist es?", setzte er versöhnlicher hinzu. "Das kannst du ihn gleich selbst fragen." Das Auto kam in zweiter Reihe zum Stehen und Norman hupte einmal kurz. Ein junger Mann, der mit einer Schulter gegen das Schaufenster eines Second Hand-Ladens lehnte, hob den Blick von seinem Handy und winkte ihnen zu, als er das Auto erkannte. Er löste sich von seinem Platz und schlenderte in aller Seelenruhe zum Auto, das zum Ärger der übrigen Verkehrsteilnehmer die rechte Fahrspur blockierte. Henrik konnte nicht anders als dem Fremden, der gerade die Tür hinter Norman öffnete, neugierig entgegen zu starren. "Atmen nicht vergessen", erinnerte ihn Norman amüsiert. "Hallo", begrüßte der Fremde sie mit einem breiten Lächeln, als er auf die Rückbank sank. "Das ist Denny", stellte Norman den jungen Mann vor, der Henrik freundlich zunickte. "Und der Stummfisch hier neben mir ist mein kleiner Bruder Henrik." "Kleiner Bruder ist gut, ich bin einen Kopf größer als er." "Einen halben!", protestierte Norman verstimmt. Artig gab Henrik Denny die Hand, die dieser, wenn auch etwas erstaunt über diese förmliche Höflichkeit, schüttelte. Henrik sah von Denny zu Norman hin, der wohl darauf wartete, wie Henrik nun reagierte. "Siehst du, dafür gibt es Messenger..." Zwanzigtausend Fragen --------------------- "Hallo und Herzlich Willkommen! Wenn ihr kein eigenes Werkzeug habt, nehmt euch was mit. Aber bitte nur im vorgesehenen Bereich benutzen." Mit glänzenden Augen sah Henrik auf den Schraubenschlüsssel und die Schutzbrille in seinen Händen hinab, die man ihnen am Eingang des Clubs gegeben hatte. "Viel Spaß und vergesst nicht, euch ein paar Erinnerungsstücke mitzunehmen", war der letzte Ratschlag, den sie bekamen. Henrik konnte es nicht fassen - es war tatsächlich eine Abrissparty und es war nicht einmal sarkastisch gemeint. Überall liefen Leute herum und trugen entweder Werkzeug oder einen Teil der Einrichtung mit sich herum. Gerade lief jemand mit einem Clubsessel an ihnen vorbei. In vier Wochen war Neueröffnung und das hier schien wohl eine unkonventionelle Art zu sein, die Sperrmüllgebühren zu sparen. Sie folgten den stampfenden Bässen, kreischenden Elektroklängen und den weißglühenden Stroboskoplichtern, die an und aus und hin und her kreiselten, dass einem beim Zuschauen schwindelig werden konnte. ALLES MUSS RAUS! und MITNEHMEN WAS GEFÄLLT!, skandierten die großen Plakate, die den Weg zu den Bereichen säumten, in denen man nach Lust und Laune die Einrichtung rausreißen und mitnehmen durfte. So etwas gab es wohl nur in Städten, dachte Henrik staunend, was ihn wiederum darin bestärkte, Norman unbedingt fragen zu müssen, was er davon hielt, wenn er ebenfalls hierher zog. LETZTE CHANCE!, schrie das Plakat, das die gleiche giftgrüne Farbe wie ihr Flyer besaß, Henrik an. JA!, schrie es in Henrik zurück. ICH HABS KAPIERT! Henrik hielt Norman am Ärmel fest und zog ihn zu sich, damit er in dem Höllenlärm auch bloß jedes Wort verstand, was Henrik die ganze Zeit schon auf der Seele brannte. Die Frage aller Fragen, die man großen Brüdern stellen konnte, die eigenständig in der lässigsten Stadt der Welt wohnten: Kann ich 'ne Weile bei dir wohnen? "Was möchtest du trinken?", brüllte Norman Henrik ins Ohr. Nichts! Ich will bloß hier wohnen!, hätte Henrik am liebsten geantwortet. "Bauarbeiterschorle", sagte er stattdessen. "Was?" "Bier", half Denny Norman großzügig auf die Sprünge, ehe er und Henrik über Normans entgeisterten Gesichtsausdruck lachten. "Na, hast du dich ausgetobt?" Henrik nickte, als er eine dreiviertel Stunde später wieder zu Norman und Denny zurückkehrte, die beide ihren Platz an der Bar nicht verlassen hatten. Stolz präsentierte Henrik ihnen seine Ausbeute: eine mit knallrotem Plüsch bezogene etwa 40x40 cm große Wandkachel. "Schau mal, was ich dir mitgebracht habe." "Das wäre doch nicht nötig gewesen." Mit spitzen Fingern nahm Norman sein Geschenk entgegen und sah es sich von allen zerzausten Seiten an. "Wäre wirklich nicht nötig gewesen..." "Passt doch perfekt zu deinem Solarbetriebenen Wackeldackel auf der Hutablage", kam Denny Henrik zu Hilfe. Norman sah Denny strafend an, der, um nicht laut loszulachen, den Kopf von Norman wegdrehen musste und schnell einen Schluck aus seiner Flasche nahm. "Du also auch, Brutus?", zitierte Norman möglichst ernst. Denny, der vergeblich versuchte, sich zu beherrschen, lachte nun doch laut los, während Henrik vor den Beiden stand und den Kopf schüttelte. Brutus-wer? Norman hatte Humor? Und er hatte jemanden gefunden, der ihn auch noch teilte? Das waren zu viele Paradoxe an einem einzigen Tag. Henrik hob die Hand, um sich ein neues Bier zu bestellen. Gerade als der Barkeeper sich zu ihm beugte, fiel ihm Norman ins Wort und bestellte für Henrik etwas, von dem er noch nie gehört hatte. Kurz darauf hielt Henrik ein Glas mit einer pinkfarbenen Flüssigkeit in seiner Hand. "Wow, ich bin beeindruckt", witzelte Henrik. "Aber warum gibt es dazu kein Papierschirmchen?" "Probier erst mal." Henrik sah seinen Bruder an, als wäre er dem Wahnsinn verfallen. Weil Denny ihm aber ebenfalls ermutigend zunickte, trank Henrik tatsächlich einen Schluck des Bonbonfarbenen Cocktails und hätte ihn fast wieder ausgespuckt. So ähnlich musste Lava schmecken. "Ich glaube, ich habe mir meine Speiseröhre verätzt", krächzte Henrik heiser, nachdem die Hitze in seiner Kehle soweit abgeklungen war, dass er wieder Luft holen konnte. Jetzt wusste er, warum kein Schirmchen zum Cocktail geliefert wurde – es hätte sich in dieser Flüssigkeit schlichtweg aufgelöst. "Was ist das für ein Zeug?" Norman grinste breit. "Es heißt Rrroar." "Ja, so fühlte es sich auch an..." Henrik biss sich probehalber leicht auf die Zunge, die sich seltsam taub anfühlte. "Wann geht das wieder weg?" "Mit dem nächsten Schluck." Denny prostete Henrik zu, der das pinkfarbene Unschuldslamm mit dem verteufelten Geschmack, misstrauisch beäugte. Das Rrroar machte seinem Namen alle Ehre, aber nach einiger Überwindung hatte es Henrik irgendwann bezwungen. Denny hatte recht behalten. Nach dem zweiten Schluck merkte man nichts mehr von dem pelzigen Gefühl auf der Zunge. Man merkte eigentlich gar nichts mehr, als hätte man seinen Mundraum mit einem Narkotikum ausgespült. Und dann spendierte ihm Denny ein Getränk, von dem Henrik zuerst nicht wusste, ob er sich damit über ihn lustig machen wollte. Es nannte sich Meeeow und war das genaue Gegenteil des Rrroar. Wie es direkt schmeckte, ahnte Henrik nicht einmal, weil sich seine Mundhöhle noch immer anfühlte als wäre etwas beim Feuerspucken schief gegangen, aber statt eines Brennens hinterließ das Meeeow nun eine wohltuende Kühle, die Henriks in Aufruhr geratenen Geschmackssinn wieder besänftigte. "Die beiden gehören zusammen", erklärte ihm Denny. "Offensichtlich. Ich frage mich nur, warum mir Norman das nicht gesagt hat." Henrik warf seinem Bruder, der sich zu einer anderen Gruppe gesellt und ihnen den Rücken zugedreht hatte, einen giftigen Blick zu. Er bestellte sich eine Cola und wandte sich Denny zu, der neben ihm stand und ihn belustigt musterte. Scheinbar konzentriert zupfte Henrik das Flaschenetikett in länglichen Streifen ab. "Wie lange kennt ihr euch überhaupt schon?" Dennys Blicke gingen unwillkürlich zu Norman hinüber, der in diesem Moment irgendwo in der Menschenmenge verschwand. "Anderthalb Jahre", antwortete Denny schließlich. Trotz einiger Promille schaltete Henrik sofort. Vor anderthalb Jahren war Norman hierher gezogen und davon war er das erste halbe Jahr für seine Familie völlig unerreichbar gewesen. Für Denny, den er seit der Zeit, in der sie wieder Kontakt hatten, nicht einmal erwähnt hatte, scheinbar nicht. Denny schien Henriks Gedanken an dessen niedergeschlagenem Gesichtsausdruck abgelesen zu haben. Er beugte sich zu Henrik hinüber, damit der ihn besser verstehen konnte. "Er hat mir zuerst auch nichts über euch erzählt." Euch? Henrik versetzte diese Bezeichnung einen weiteren Schlag in die Magengrube. So weit hatte sich Norman also von seiner Familie entfernt, dass er, gleich nachdem er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, sich nicht mehr als Teil davon sah. Bei seinen Eltern konnte er das ja noch verstehen – aber auch seinem kleinen Bruder gegenüber? Denny bemerkte seinen Fehler. "Von dir hat er mir ziemlich früh erzählt und von da an warst du sein einziges Thema." "Klar." Henrik lächelte schief. "Doch", beharrte Denny. "Ich glaube, ich weiß so ziemlich alles über dich." Er bedeutete Henrik, sich noch näher zu ihm zu beugen. Denny schwieg eine Weile, in der er zu überlegen schien. Als er endlich zu sprechen anfing, verstand Henrik trotz des Trubels um sie herum alles, was Denny sagte. Und jedes einzelne Wort davon hatte die zehnfache Wirkung eines einzigen Rrroar. Henrik war plötzlich wieder Vier und saß in seinem Kinderzimmer, das er sich mit Norman geteilt hatte, auf dem Bett. Er hörte Normans dumpfen Herzschlag auf seinem rechten Ohr und sein eigenes rauschendes Blut auf dem linken, das Norman mit seiner Hand zudeckte. Irgendwo hinter diesen ganzen Geräuschen brüllten sich ihre Eltern an. Seine Hände gruben sich haltsuchend in den Pullover seines Bruders, der neben ihm auf dem Bett saß, den jüngeren Henrik im Arm hatte und ihm die Ohren zuhielt, damit er nicht mitanhören musste, was sich ihre Eltern alles an den Kopf warfen, seien es Worte oder Gegenstände. Denny, der schon längst zu erzählen aufgehört hatte, betrachtete sich den abwesend schweigenden Henrik genau. Vielleicht war es doch nicht das optimalste Gesprächsthema gewesen, für das er sich entschieden hatte, aber jetzt waren sie schon einmal dabei. "Weißt du, wie oft er schon unterwegs war, um dich zu bitten, zu Hause auszuziehen und zu ihm zu kommen?" Henriks Kopf schnellte zu Denny hinüber. Seine Augen schimmerten glasig, was an dem Zigarettenrauch, dem Alkohol oder der Tatsache liegen mochte, dass er an so etwas noch nie gedachte hatte. Henrik musste sich beherrschen, um nicht gleich aufzuspringen, Norman zu suchen, ihn am Kragen zu packen und zu fragen, warum zur Hölle er nicht genau das getan hatte. "Wusste ich nicht", antwortete Henrik schließlich mit schwerer Zunge und noch viel schwererem Herzen. Er wollte Denny noch viel mehr fragen. Er wollte alles wissen, worüber Norman nie mit ihm sprach. Er wollte auf jede seiner zwanzigtausend Fragen mindestens zwanzigtausend Antworten haben. Henrik öffnete gerade den Mund, um irgendwas zu fragen, was ihm in diesem Augenblick unglaublich wichtig erschien, als Norman wieder auftauchte, ihm einen brüderlich groben, aber nicht weniger liebevoll gemeinten Schlag gegen den Hinterkopf verpasste und Henrik sich dabei Cola über die Hose schüttete. Vergessen waren die Zwanzigtausend. Norman legte seinen Arm um Dennys Schultern und gab ihm einen Kuss. Henrik stellte seine Cola auf dem Tresen ab und erhob sich von seinem Sitzplatz. "Ihr braucht unbedingt noch eine Plüschkachel", verkündete er tatendurstig und schnappte sich seine gegen den Schraubenschlüssel eingetauschte Spachtel. "Bloß nicht", widersprach Norman entsetzt, doch Henrik war schon auf und davon. Er sah Denny strafend an. "War das deine Idee?" "Dein Bruder eben." Denny zuckte mit den Schultern und lachte über Norman. Umständlich kroch Henrik auf die Rückbank in Normans Auto. Er legte die beiden Plüschkacheln auf die Hutablage und platzierte den Wackeldackel sorgfältig in die Mitte darauf. "So", murmelte er nach getaner Arbeit zufrieden und schnallte sich an. Dass Norman losfuhr, merkte er schon nicht mehr, so schnell schlief Henrik ein. Er erwachte erst wieder als der Motor erstarb. "Bin gleich wieder hier", sagte Norman zu Henrik, der sich ausgiebig streckte. "Rühr dich nicht vom Fleck." "Er ist doch keine Fünf", wurde Norman prompt von Denny gerügt, der sich zwischen den Vordersitzen etwas nach hinten lehnte und Henrik die Hand entgegenstreckte, wie der es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Er lächelte Henrik an. "Hat mich gefreut, dich endlich mal getroffen zu haben." "Danke gleichfalls." Henrik sah zu, wie Norman und Denny das Auto verließen. Er quetschte sich zwischen den beiden Sitzen nach vorne und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Dann griff er nach dem Rückspiegel und drehte ihn so zu sich, dass er Norman und Denny darin sehen konnte, die auf dem Bürgersteig neben einer Bushaltestelle standen und sich miteinander unterhielten. "Wir sehen uns morgen, ja?" Norman beugte den Kopf zu Denny hinab und küsste sachte dessen Stirn, die trotz der warmen Temperaturen mit einem dünnen kalten Film bedeckt war. "Um wie viel Uhr ist der Termin?" "Um Zwei." Dennys Blicke gingen unwillkürlich zu Normans Auto hinüber, wo sie Henriks schattenhafte Konturen auf dem Beifahrersitz erkennen konnten. "Er versteht das." "Muss er aber nicht; ich schaffe das alleine." Denny versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, was Norman mit einem kaum merklichen Kopfschütteln quittierte. "Ich bin um halb Zwei hier, okay?" "Gut", erwiderte Denny. Er lächelte erschöpft. "Viel Spaß noch euch beiden." Norman verzog das Gesicht leidvoll. "Ja, Hurra. Was für ein Spaß, dass ich meinen angetrunkenen Bruder die Treppe hoch tragen darf. Hoffentlich übergibt er sich nicht wieder auf die Badematte." "Daran bist du selbst schuld." Zwei Scheinwerfer krochen um die Straßenecke und hielten auf das Acrylglashäuschen zu, neben dem Norman und Denny standen. "Bis morgen." "Warum fährt er mit dem Bus?", war die erste Frage, die Henrik seinem Bruder stellte, als der auf den Fahrersitz glitt. Norman ließ die Frage unbeantwortet. "Sag zu Hause nichts davon." "Wovon?", wollte Henrik geistesabwesend wissen, als er in der gleichen Sekunde verstand. Er sah wieder in den Rückspiegel, der ihm noch immer zugewandt war und schwieg. Das Davon stieg gerade in den haltenden Bus ein, der sich gleich darauf schnaufend in Bewegung setzte. Denny winkte ihnen zu, als der Bus mit ihm an Normans Auto vorüber fuhr und Henrik hob automatisch die Hand und winkte zurück. "Ich glaube nicht, dass es sie interessiert." Der Bus verschwand aus seinem Sichtfeld und Henriks Blicke schweiften von der Straße zu seinem Bruder hinüber, der ihn abwartend beobachtete. Normans Augen wirkten wie zwei tiefe, dunkle Seen, deren Oberfläche bei Henriks letztem Satz leicht in Bewegung versetzt worden waren. "Das weiß ich und es ist mir auch egal", sagte Norman leise. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Lüge glaubhaft klingen zu lassen. Henrik sah in die Richtung, in die der Bus mit Denny gefahren war. Wem wollte Norman hier was vormachen? Sich selbst oder seinem Bruder? "Du sollst nur keinen Stress bekommen, sonst nichts." "Bekomme ich nicht", versicherte Henrik Norman, dessen Mund sich zu einem Lächeln bog, das so schnell wieder verschwand, wie es erschienen war. "Dann lass es auch dabei", fügte Norman hinzu. Er drehte den Rückspiegel zu sich und startete das Auto. "Anschnallen", wies er Henrik knapp an, der ihm prompt mit Dennys vorletztem mit ihm gewechselten Satz antwortete. "Ich bin keine Fünf!" Norman grinste schwach, ganz so, wie man kleine Brüder eben belächelte, wenn sie von etwas völlig überzeugt waren, obwohl es von vorneherein zu nichts als zum Scheitern verurteilt war. "Denk dran, wenn du morgen früh mit einem Kater aufwachst." Und denke daran, wenn ich dir sagen muss, dass sich die versprochene Woche auf nur zwei Tage verkürzt, ergänzte Norman seinen Rat in Gedanken. "Der Kater kann mich mal", tönte Henrik überheblich und kurbelte im gleichen Moment das Fenster auf. "Henrik!", schrie Norman entsetzt auf und hätte dem Jüngeren, der sich während der Fahrt aus dem geöffneten Fenster beugte, am liebsten eine ordentliche Kopfnuss verpasst. "Na wenigstens war es nicht die Badematte..." Bruderherzen ------------ "Brauchst du einen Eimer?" Henrik verdrehte die Augen. Norman konnte vielleicht Fragen stellen. Alles, was nach so einem Abend in einen Eimer gehörte, hatte er auf der Straße gelassen. Irgendwo zwischen diesem Club Soundso und Normans Wohnung. "Mir geht’s gut." "Freut mich." Mit einer Ermahnung auf den Lippen sah Norman Henriks in die Ecke gefeuerten Schuhen nach, denen gleich darauf 80% seiner Kleidung folgten, ehe sich der dazugehörige Bruder auf das Bett schmiss und den Großteil davon wie selbstverständlich für sich beanspruchte. "Rück rüber, du Walross." Widerwillig machte Henrik Norman Platz. "Wie wär's mit einem größeren Bett?", knurrte er genervt. "Wie wär's mit dem Boden?", entgegnete Norman spitzzüngig. Henrik brummelte etwas unverständlich in Richtung der Wand, so dass nicht völlig klar war, ob er schimpfte oder sich über Norman amüsierte. Norman beschloss, Henriks Anwesenheit auszublenden. Was die letzten 19 Jahre funktioniert hatte, klappte heute allerdings nur so lange, wie Henrik sich nicht auf dem schmalen Bett bewegte oder sich, wie gerade jetzt, zu Norman umdrehte und diesem die Knie in die Seite stieß. "Henrik, du Esel, mach Platz!" "Ich habe Platz, danke", murmelte Henrik mehr schlafend als wach, der anders als Norman offensichtlich keine Probleme mit dem Einschlafen hatte. "Dreh dich um!" Norman stieß Henrik gegen die Schulter, der das schnaufend hinnahm und die fünf Zentimeter, die Norman ihn bewegt hatte, wieder zurücklegte, als zöge ihn sein Bruder magnetisch an. "Henrik, du atmest mir ins Ohr." "Und du schnarchst", murmelte Henrik im Halbschlaf. "Ich habe noch gar nicht geschlafen", zischte Norman, dem mittlerweile so einiges durch den Kopf ging, wie man nervige Brüder entnervte. Und gerade, als ihm eine Idee kam, musste Norman an ein Erlebnis denken, das bereits gefühlte hundert Jahre zurückliegen musste. Damals, als Henrik noch platzsparender gewesen war. "Unser Hochbett – weißt du noch?", sagte Norman in die Stille hinein. Er bekam keine Antwort, was ihn allerdings nicht daran hinderte, weiter in ihrer vergangenen Kindheit zu schwelgen. Sie hatten ein Hochbett bekommen, nachdem Henrik zu groß für sein erstes Kinderbett geworden war. Und kaum war das Bett aufgebaut, hatten sich Norman und Henrik pausenlos darüber gestritten, wer oben schlafen durfte. Norman, der es als sein gegebenes Recht als Erstgeborener angesehen hatte, den oberen Platz darin zu bekommen, hatte nicht mit dem lautstarken Protest des jüngeren Henriks gerechnet, der sich das nicht hatte bieten lassen. Irgendwann hatte ihre dauergestresste Mutter den Streit beendet und den Vorschlag gemacht, dass sie alle paar Wochen abwechselten. Damit waren die beiden vorerst besänftigt. Großzügig – und weil er wusste, dass sein kleiner Hosenscheißer-Bruder sowieso nichts mit Daten anfangen konnte – hatte Norman Henrik die erste Runde in ihrem Schlafplatz-wechsel-dich-Rhythmus überlassen. Stolz wie der erste Mensch, der einen fremden Planeten betrat, hatte Henrik mitsamt seinem lächerlichen dreibeinigen Stoffhund sein Nachtquartier bezogen, während Norman unten lag und sich ausmalte, dem Kindergartenbaby Henrik in ein paar Tagen weiszumachen, die abgemachten vier Wochen seien bereits vergangen. Norman musste nicht einmal vier Stunden warten. Kaum war das Licht aus, da hörte Norman auch schon, wie die Matratze über ihm knarrte. Ein Fuß erschien, der blind nach der oberen Leitersprosse suchte und sie auch fand, ehe sich der zweite Fuß hinzugesellte. Sekunden später baumelte der Stoffhund kopfüber aus der oberen Etage, um dann, die verbliebenen drei Beine wie gerissene Fallschirmschnüre hinter sich her wedelnd, zu Boden zu fallen. Und so begann Henriks Abstieg aus dem hart erkämpften zweiten Stock, der damit endete, dass er unter Normans Decke kroch, ihm die Knie in den Rücken drückte und, den Hund im Arm haltend, seelenruhig einschlief. Von da an war das Thema, wer wo wie lange schlafen durfte, erledigt und Norman hatte seinen neuen Schlafplatz nie mehr wieder vor seinem kleinen nervigen Bruder verteidigen müssen. Norman lachte leise. Henrik war zeitweise wirklich schrecklich nervig gewesen, aber immer für Unsinn zu haben, was der größte Vorteil von kleinen Geschwistern war, die alles, was die Großen sagten oder taten für anbetungswürdig hielten – und denen man nebenbei auch schon mal die Schuld für etwas unterjubeln konnte, für das man als älterer und vernünftigerer Bruder sonst gleich irgendwelche Arreste oder Verbote bekommen hätte. Das hatte zumindest so lange funktioniert, bis Henrik irgendwann die Taktik dahinter durchschaut hatte. Danach hatte er es gerne mal für sich selbst genutzt. Dafür hatte Norman auch so einiges auf seine Kappe genommen, weil ihre Eltern manchmal nicht gerade wählerisch gewesen waren, wenn es um den Unterschied zwischen Es war keine Absicht und Okay, das war Absicht ging. "Bist du noch wach?" Norman hörte seiner eigenen Stimme zu, die in dem ruhigen Zimmer verklang, ohne dass sich Henrik rührte. Norman hob den Kopf, aber alles, was er aus seiner Position heraus von Henriks Gesicht sehen konnte, waren die Konturen seiner geschlossenen Augen, seiner Wange, des Kinns und die Spitze seiner Nase. Langsam öffneten sich Henriks Augenlider. "Wir haben mal eine Decke an die Vorderseite gehängt und so getan, als schliefen wir im Zelt." Henrik drehte sich auf den Rücken. Vor dem geschlossenen Fenster summte leise der nie endende Stadtverkehr. Er dachte an das erste Mal, dass er Norman hier besucht hatte und daran, ihm damals schreckliche Schlafstörungen wegen der Lage an der Hauptstraße prophezeit zu haben. Was sich nicht bewahrheitet hatte. Norman betrachtete sich das im Halbdunkel liegende Profil seines Bruders, der nach diesem einen Satz schwieg und an die Decke starrte. "Du hast das Fenster geöffnet, damit es echter wirkt", sagte Henrik nach einer Weile und drehte sein Gesicht zu Norman hin, der einen Punkt an der Wand hinter Henrik fixierte. "Draußen hat es gestürmt und geregnet und ich hatte echt Schiss, aber es war wirklich sehr authentisch." Henriks Lachen ließ Norman den Gedanken verlieren, der sich gerade am Aufbauen gewesen war. Und wie er sich daran erinnerte! An alles. Den krachenden Donner, die Blitze, deren kurzes Aufleuchten sie durch das Gewebe der Decke hindurch hatten sehen können. Er erinnerte sich an den Regen, der in Traubengroßen Tropfen vom Himmel fiel und auf die Fensterbank prasselte, und an den Wind, der durchweichte Blätter gegen die klappernden Fenster klatschte. Mit wütendem Getöse hatten die Böen von draußen an der Decke vor dem Bett gezerrt, aber sie hatten sie so fest in die Matratze geklemmt, dass sie sich lediglich aufbauschte, ohne jedoch weggerissen zu werden. Mit Taschenlampen hatten sie in Henriks unterer Etage gesessen und Norman hatten dem gebannt lauschenden Henrik, der mit offenstehendem Mund und an die Brust gedrücktem Stoffhund vor ihm gesessen hatte, Gruselgeschichten erzählt, bis sich Henrik vor Angst fast in die Hose gemacht hatte. Und dann war ihr Vater ins Zimmer gekommen, hatte die Decke weggerissen und sie hatten ordentlich Prügel bezogen. Alles nur, weil es auf die Fensterbank und den Boden darunter geregnet hatte. Normans Magen machte eine 180°-Drehung. Eigentlich hatte nur er die Prügel bekommen, aber Henrik hatte es mitansehen müssen. Unbewusst fuhr er sich durch das Haar an seinem Hinterkopf, weil er im ersten Moment sicher gewesen war, dass er dort ein Büschel herausgerissener Haare finden würde. Henrik, der sich wieder zur Wand hinüber gedreht hatte, gab vor zu schlafen. Er spürte an der nachgebenden Matratze, wie sich Norman ihm zuwandte, kurz innehielt, als wolle er noch etwas sagen oder fragen, und Henrik dann den Rücken zudrehte, als der nicht reagierte. Erleichtert öffnete Henrik seine geschlossenen Augen. Seine Blicke fielen auf ein Bild, das in Augenhöhe an der Wand hing. Er konnte zwar weder alle Details noch die Farben darauf erkennen, doch die beiden Gesichter waren unverkennbar. Norman und Denny. Beide lachten glücklich und Henrik erwiderte ihr Lächeln unwillkürlich. Norman hatte Recht, Henrik besaß genau ein einziges Talent, das er voller Hingabe hegte und pflegte: das Talent, immer den falschen Augenblick zu erwischen... Henriks Lächeln verschwand. In dem Moment, in dem er das authentisch ausgesprochen hatte, war Henrik wieder eingefallen, wie das Erlebnis mit ihrem selbst gebauten Zelt geendet hatte – nicht für ihn, für Norman – und er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Und da war auch wieder der Punkt, weswegen er sich von Norman vor Denny bloßgestellt gefühlt hatte, weil er ihm von den Streitereien ihrer Eltern erzählt hatte, von den unzähligen Stunden, die sie in ihrem Zimmer hatten verbringen müssen, und den Ängsten, die sie währenddessen ausgestanden hatten. Ausgerechnet davon. Das Meiste wusste er nicht einmal mehr. Von vielem waren nicht mehr als ein paar schemenhafte Erinnerungen zurückgeblieben, die wie im Sonnenlicht verblasste Fotos wirkten, und Norman hätte es vielleicht auch besser dabei belassen. Aber stattdessen hatte er Henrik dazu verdammt, diese Stunden, die wie zähes Karamell dahingeflossen waren, wieder zu durchleben, in denen ihm Norman die Ohren zugehalten hatte. Immer wieder das gleiche. Normans dumpfer Herzschlag, der sich – wie Henrik erst später herausgefunden hatte – je nach Heftigkeit der Streitereien ihrer Eltern beschleunigt hatte. Der rauschende Atem seines Bruders, der seine Brust mit Henriks dagegen gepresstem Kopf wie ein auf den Wellen eines Sturmgepeitschten Ozeans treibendes Boot auf und nieder geschaukelt hatte. Und das erstickte Flüstern, das in seinem Brustkorb nachgehallt hatte und von dem Henrik noch immer nicht wusste, ob es ihm gegolten hatte, oder ob Norman sich damit hatte selbst beruhigen wollen. Aber vor allem hatte sich seine eigene Panik tief eingebrannt. Nicht, weil ihre Eltern laut geworden waren. Spielende Kinder waren auch laut. Startende Flugzeuge waren sogar unheimlich laut. Norman war der Auslöser für diese Panik gewesen, weil er sich selbst gefürchtet hatte, obwohl Henrik bisher fest davon überzeugt gewesen war, dass Norman sich vor nichts fürchtete, weil große Brüder nun mal alles konnten. Dass sein großer Bruder eigentlich machtlos war, war eine Erkenntnis gewesen, die Henrik tief getroffen und im ersten Augenblick gelähmt hatte. Doch irgendwann zwischen diesem Erlebnis und Normans Auszug musste etwas passiert sein, dass Normans Hilflosigkeit sich hatte in Luft auflösen lassen. Auf einmal war Norman nicht mehr schwach gewesen und Henrik wollte wissen, warum. Morgen würde er ihn fragen. Und Henrik wusste auch, was. Das, was ihm im Club dank Normans Kopfnuss und der Cola auf der Hose im Hals stecken geblieben war: ob er für ein paar Wochen bei ihm unterkommen könne, oder zumindest so lange, bis er etwas eigenes gefunden hatte. Unterstützung hatte er auch, da war sich Henrik absolut sicher, immerhin war es Denny gewesen, der ihm davon erzählt hatte, dass Norman schon so einige Male unterwegs gewesen wäre, um seinen Bruder zu bitten, zu Hause auszuziehen. Denny war also auf seiner Seite und Norman war praktisch überstimmt, noch ehe es zu einer Abstimmung kommen konnte. Und so wie er sich angestellt hatte, als es um Denny ging, würde er ihm doch niemals einen Wunsch ausschlagen. Henriks Lächeln wurde von Denny und Norman auf dem Foto erwidert, ehe er die Augen schloss und zufrieden einschlief. Er war ja so clever! Mit einem schmerzenden Kopf, der sich anfühlte, als versuche er eine zentnerschwere Granitkugel auf seinem Hals zu balancieren, saß Norman am nächsten Morgen am Frühstückstisch und stocherte lustlos in einem ebenso lustlos schmeckenden Joghurt. Nebenan im Bad hört er das Rauschen der Dusche und Henrik, der fröhlich vor sich hin pfiff. Was gab es da zu pfeifen? Und wieso hatte ausgerechnet er einen Kater, obwohl er, anders als Henrik, nicht einen einzigen Tropfen Alkohol getrunken hatte? Es war Norman völlig schleierhaft. Er hatte nicht geschlafen, das war alles. Oder kaum. Eine halbe Stunde, um genau zu sein. Eine lausige halbe Stunde. Norman schob den Joghurt beiseite, verschränkte die Arme vor sich auf der Tischplatte und ließ seinen Granit-Kopf darauf sinken. Vielleicht gönnte ihm sein Bruder, der ihm die ganze Nacht lang ins Ohr geatmet hatte, ja wenigstens jetzt noch ein paar Minuten Ruhe. Prompt klirrte irgendetwas nebenan und Norman fuhr erschrocken auf. Henrik fluchte und Norman tat es ihm in der Küche gleich, wenn auch aus einem anderen Grund. Aus kleinen nervigen Brüdern wurden scheinbar keine vernünftigen kleinen Brüder. Sie wurden zwar älter und meistens auch größer, blieben aber nervig. Lebenslang. "Morgen!", begrüßte Henrik Norman gut gelaunt. Er plumpste wie ein nasser Mehlsack auf den Stuhl gegenüber seines Bruders, reckte die Arme in die Luft, um sich zu strecken und gähnte gleichzeitig ausgiebig. "Erzähl mir bitte nicht, du bist noch müde", brummelte Norman schläfrig. "Ich hätte besser geschlafen, wenn du mir Platz gemacht hättest." "Ich habe dir keinen Platz gelassen?" Norman konnte es nicht fassen. Henrik besaß tatsächlich die Frechheit, die Fakten zu verdrehen und ihn dabei auch noch unschuldig anzulächeln. "Kaffee ist leer", eröffnete Norman seinem furchtbar vergnügt vor sich hin summenden Bruder, der sich gerade beschwingt ein Brötchen aufschnitt. So, dem hatte er es gegeben! "Mag ich eh nicht." Seelenruhig bestrich Henrik die beiden Brötchenhälften mit Butter und quetschte Honig aus einer mit Wabenmuster verzierten Plastikflasche darauf. Er nahm eines der beiden Honigbrötchen und biss mit solchem Genuss davon ab, dass Norman kurz am Verstand seines Bruders zu zweifeln begann. Wie konnte man sich sonst so dermaßen über ein Honigbrötchen freuen? Vielleicht waren der Raubtier-Cocktail und seine nette Schwester doch zu viel gewesen? "Wasgibbsnsons?", nuschelte Henrik mit vollem Mund. Seufzend erhob sich Norman. Eigentlich gab es genug. Zum Beispiel das Thema, dass Henrik früher abreisen musste und das Norman noch ein bisschen hinauszögern wollte, weil er es nicht einfach so fertig brachte, seinem sich über ein Honigbrötchen freuenden Bruder das Herz zu brechen. "Hier." Henrik sah die dampfende Tasse mit großen Augen an. "Kakao?", hauchte er ehrfürchtig. "Fang jetzt nicht an zu heulen", unterbrach Norman Henrik belustigt, der sich über die Tasse beugte und den aufsteigenden Kakaodunst einatmete. "Das muss ewig her sein, dass ich das letzte Mal einen heißen Kakao getrunken habe. Ich liebe heißen Kakao." "Ist das so?" Norman hob verwirrt die Schultern. Manchmal wusste er einfach nicht, ob es Henrik ernst meinte, oder sich über etwas lustig machte. Da er den Kakao aber anstandslos trank, schien er es ernst gemeint zu haben. "Henrik?" Norman wartete, bis der Angesprochene damit aufhörte, in die Tasse zu pusten und ihn ansah. "Wir müssten über etwas reden." Nur widerwillig ließ sich Henrik von seinem Frühstück abhalten, aber Wir müssten über etwas reden klang so... förmlich. So Norman-untypisch, der, seit sich Henrik erinnern konnte, zur Untermalung seines Gesagten gerne Kopfnüsse verteilte, statt großartige Erklärungen abzugeben. "Über was denn?" Norman sah auf die dampfende Kakaotasse hinab, die zwischen ihnen stand. Wie eine Barriere aus Kindheit und erwachsener Realität, die Norman nun im Begriff einzureißen war. Er fühlte sich schlechter, als an dem Tag, an dem er zu Hause ausgezogen war und Henrik, der gerade erst angefangen hatte, die Welt außerhalb seiner eingeschränkten Kindheit zu entdecken, ihn beim Abschied so abgeklärt angesehen hatte, dass Norman gemeint hatte, Henrik wüsste, was der Auszug für seinen Bruder bedeutete. Er hatte es nicht gewusst. Dafür hatte Norman gesorgt. "Mir ist was dazwischen gekommen", begann Norman bedächtig und hoffte auf das Verständnis seines jüngeren Bruders. Henriks Mimik wechselte von fragend zu verstehend. Was dazwischen gekommen. Was konnte schon viel dazwischen kommen, wenn man wie Norman keinem Beruf nachging, der Wochenendarbeit bedeutete und andererseits auch kein Hobby besaß, für das man sich weiter als die Wohnung wegbewegen musste? "Geht's um Denny?" Norman atmete tief ein und aus. Wem hatte er hier etwas vormachen wollen? Henrik? Henrik, der die Adresse seines Bruders innerhalb kurzer Zeit herausgefunden hatte, nachdem der sich umgemeldet hatte? Henrik, der Normans Briefkasten so dermaßen überschwemmt hatte, dass Norman persönlich auf dem Postamt antanzen musste, um den Rest der Briefe und Päckchen abzuholen, die nicht mehr in den Briefkasten gepasst hatten? Norman hatte nur einer einzigen Person versucht, etwas vorzumachen: sich selbst. "Ja, es geht um Denny." Henriks besorgter Blick wandelte sich in einen verständnisvollen. "Du kannst ruhig gehen, ich werde mich schon nicht langweilen." "Ich glaube, du hast das falsch verstanden. Es geht um was Privates." "Soll ich gehen und euch eine Weile alleine lassen?" Henrik klimperte unschuldig mit den Wimpern. "Kein Problem, sag mir nur, wie lange und schon bin ich weg." Norman schwankte zwischen laut loslachen und den Kopf auf die Tischplatte zu hauen. Er sich nicht sicher, was angemessener wäre und ließ beides sein. "Tut mir ja leid, Henrik, aber könnten wir das verschieben?" "Was?" Henrik ließ die Hand, in der er sein halbaufgegessenes Brötchen hielt, sinken, als hätte das Brötchen plötzlich enorm an Gewicht gewonnen. "Was willst du verschieben? Unser langes Wochenende?" Norman biss sich auf die Unterlippe und nickte. "Oh." Mit einer unbeholfen wirkenden Geste wischte Henrik ein paar Krümel vom Tisch. "Klar." "Klar?" Norman horchte auf. Kein Drama? Keine Vorwürfe? War Henrik etwa wirklich keine Fünf mehr? "Ja, klar." Henrik lächelte seinen überrumpelt dreinguckenden Bruder an. "Wenn es um Denny geht, ist es in Ordnung." Jetzt war Norman richtig verblüfft. "Wieso?" "Ich brauche ihn noch", antwortete Henrik so beiläufig, als unterhielten sie sich über eine geplante Feier, bei der nur noch zu entscheiden war, welche Getränke man noch besorgen musste. "Aha." Hinter Normans Stirn begann es zu arbeiten. Das Gespräch verlief nicht ganz so, wie ursprünglich geplant und er hatte keine Ahnung, wo er die Spur wieder wechseln konnte. "Wann genau kommt dir denn was dazwischen?", unterbrach Henrik Normans Spurensuche. Normans Blicke gingen zu der digitalen Uhr am Backofen hin. "Um halb zwei." In zwei Stunden schon? Jetzt sah Henrik doch überrascht drein. Wenn er das gewusst hätte, hätte er nicht so lange geschlafen. "Wir müssten aber jetzt schon losfahren, sonst komme ich zu spät." Henriks Mund formte ein stummes Oh, das er sich instinktiv verkniff, als er sah, wie Norman bei der Bewegung kurz die Augenbrauen hob. Eine unbewusste Geste, aber da, noch ehe Norman sie wieder unter Kontrolle hatte. "Gibst du mir Dennys Nummer?" Schneller als Norman antworten konnte, hatte Henrik sein Handy gezückt. Die linke Hand tippbereit über dem Display schwebend sah er seinen Bruder abwartend an. "Ich gebe ihm deine", schlug Norman Henrik vor, der seufzend sein Handy einsteckte und den Rest seines kaltgewordenen Kakaos trank. "Na schön." Henrik stand auf und stellte nach einem tadelnden Blick seines Bruders artig sein Geschirr in die Spüle. "Fahren wir?!" 23'58''31 --------- ~ Seit sie losgefahren waren, versuchte Norman krampfhaft, das immer wieder ins Stocken geratene Gespräch am Laufen zu halten. Das und die Tatsache, dass Norman einen längeren Umweg zum Bahnhof genommen hatte, ließ in Henrik irgendwann den Verdacht reifen, dass das nur eines bedeuten konnte: sein Bruder fürchtete sich davor, dass Henrik tatsächlich in Tränen ausbrechen würde, nur, weil er mal früher nach Hause sollte. "Lass gut sein." Henrik klopfte Norman beruhigend auf die Schulter, der den Blick schnell von der Straße ließ und seinen Nebenmann fragend ansah. "Was gut sein lassen?" Die Konzentrationslosigkeit. Die fahrigen Bewegungen. Die wie gehetzt von Henrik zur Straße und wieder zurück zu Henrik huschenden Blicke. "Du brauchst 'nen Kaffee", stellte Henrik fachmännisch fest. Norman stieß ein verblüfftes Lachen aus. "Hast du einen Fernkurs in Menschenkenntnis belegt, oder wie kommst du auf diesen Unsinn?" Sie hielten an einer roten Ampel und Norman nutzte die Zeit, seinem Bruder einen längeren Blick zuzuwerfen. Ehe er etwas sagen konnte, hatte Henrik das Wort ergriffen. "Ich bin kein Kleinkind mehr." Henrik seufzte schwer. "Es ist in Ordnung, wenn du mal keine Zeit für mich hast." Er sah zu Norman hinüber, der ihn noch immer stumm beobachtete und abzuwägen schien, ob Henrik auch meinte, was er sagte. "Gut", antwortete Norman dann knapp, obwohl er wirkte, als hätte er noch etwas hinzuzufügen. Er sah erleichtert aus. "So lange du nicht vergisst, Denny meine Nummer zu geben", ermahnte Henrik Norman, der sich die spitze Antwort verkniff, die ihm auf der Zunge lag, und losfuhr. Anstatt wie von Henrik befürchtet, diesen vor dem Bahnhof aus dem Auto zu lassen, suchte Norman einen Parkplatz und wartete zu Henriks Erstaunen geduldig, bis eine Lücke frei wurde. "Ich komme noch mit zum Bahnsteig." Ohne ein Okay abzuwarten, stieg Norman aus dem Auto. "Willst du dir sicher gehen, dass ich auch in den Zug steige?", neckte Henrik seinen Bruder, der ihm ohne Worte seine Reisetasche in die Hände drückte, die er noch nicht mal hatte auspacken können, so kurz war sein Aufenthalt dieses Mal gewesen. "Nächstes Mal bleibst du länger." Normans Mundwinkel verzogen sich zu einem minimalen Lächeln, das allerdings nicht seine Augen erreichte. "Das will ich hoffen." Henrik schwang die Tasche auf den Rücken und machte sich auf den Weg zur Unterführung. Norman kam tatsächlich mit, wenn auch zwei Meter hinter Henrik. Ihre Schritte klangen hohl von den Gewölbeartigen Wänden des Tunnels wider und verloren sich in der Menge der Geräusche der anderen Menschen, die ihnen entgegen kamen oder mit ihnen durch den flackernd beleuchteten Tunnel geschwemmt wurden, wie Treibholz. Es roch säuerlich nach Dingen, über die Henrik lieber nicht nachdenken wollte, und die zersprungenen Fliesen an den Wänden und dem Boden hatten auch schon bessere Tage gesehen. Und trotzdem schien das hier der schönste Platz zu sein, den Henrik sich gerade vorstellen konnte. Na gut, nicht unbedingt der Bahnhof oder seine schmutzige Unterführung, aber die Stadt im Allgemeinen. Denk an die Nummer, hatte Henrik gerade sagen wollen, als sich Normans Hand auf seine Schulter legte und er angeschoben wurde, als wäre Henrik ein liegengebliebenes Auto. "Was denn?", protestierte Henrik verblüfft. "Dein Zug fährt in fünf Minuten ab." "Dann nehme ich eben den nächsten." Norman schob ihn nur noch fester. "Der nächste kommt erst in zwei Stunden. Willst du so lange hier alleine herumsitzen?" "Ja und? Spielt es für dich eine Rolle, ob ich hier sitze?" Im gleichen Moment, in dem er diese Sätze von sich gegeben hatte, hätte Henrik sie am liebsten wieder ungeschehen gemacht. Gut, er war schon enttäuscht, dass er so früh gehen musste. Ausgerechnet jetzt, wo er sich ernsthaft Gedanken über das zu machen begann, was vor ihm lag und das, was vor ihm liegen könnte. Ausgerechnet jetzt, wo er sich sicher war, wirklich nichts anderes zu wollen. Ausgerechnet jetzt kam die Durchsage mit der Aufforderung, in den Zug einzusteigen. "Ich gebe Denny deine Nummer, keine Sorge." Dieses Mal drang Normans Lächeln bis in seine Augen vor, und Henrik fühlte sich wie der letzte Arsch. Er nickte schuldbewusst. Norman hob die Hand und Henrik wartete auf die obligatorische Kopfnuss, doch die blieb aus und wurde stattdessen zu einer Umarmung, die Henrik kurz irritierte. "Komm gut nach Hause. Und-" Henrik spürte Normans stockenden Atem an seinem Ohr. Und? Und was? "Und steig jetzt endlich ein, sonst ist der Zug weg", beendete Norman seinen Satz. Er gab Henrik frei, der ihn mit offenem Mund anstarrte. Da hatte Henrik nach dem unterbrochenen Und und der für Norman untypischen herzlichen Umarmung auf die Offenbarung gewartet und dann kam so etwas dabei heraus... Norman amüsierte sich über Henriks Mimik, die zwischen Lachen und beleidigt sein schwankte. "Du machst es mir echt nicht leicht", seufzte Norman immer noch lächelnd. "Gut so", entgegnete Henrik, nachdem er endlich wieder seine Fassung zurückgewonnen hatte. "Sag Denny einen schönen Gruß." Norman nickte. Henrik warf Norman einen letzten Blick zu und quetschte sich dann mitsamt seiner Reisetasche durch die Zugtür, die eben im Begriff war, sich zu schließen. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben stand Norman auf dem Bahnsteig und sah von draußen zu, wie Henrik drinnen hinter dem leicht verdunkelten Fenster nach einem freien Sitzplatz suchte. Er fand einen auf Höhe von seinem wartenden Bruder und wuchtete ungeschickt seine Reisetasche in die Gepäckablage. Dann überlegte er es sich wohl anders, denn er nahm die Tasche wieder runter, kramte darin herum und wuchtete sie schließlich ein zweites Mal nach oben. Erleichtert ließ sich Henrik auf den Sitz am Fenster fallen und winkte Norman mit seinem Handy zu, der draußen stand und mit dem Kopf schüttelte. Typisch Henrik, dachte Norman amüsiert. Verplant wie immer. Henrik hielt sich sein Handy ans Ohr und deutete mit dem Zeigefinger seiner freien Hand auf Norman. Norman verdrehte die Augen, nickte dann aber. Er sah, wie Henriks Lippen sich bewegten. "Himmel, Henrik, mach doch das Fenster auf", rief Norman von draußen. Henrik zuckte mit den Schultern. Was sagte Norman da? Das Fenster war zu und er verstand kein Wort. "Egal." Norman winkte ab. Noch einmal hielt Henrik sein Handy hoch und winkte damit. Norman kam sich vor wie in einer Comedyserie. Wie schaffte es sein Bruder nur alleine im richtigen Bahnhof ein und am gewünschten Ziel wieder auszusteigen? Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr Normans Magengegend, als hätte er einen heftigen Faustschlag hinein bekommen. Seine Hände waren mit einem Mal eiskalt, obwohl sein Puls wie nach einem hundert Meter Sprint raste. Sein Hals war wie zugeschnürt und Norman räusperte sich, was es nicht besser machte. Jetzt saß Henrik für drei Stunden im Zug. Ein kurzer Impuls ließ Norman darüber nachdenken, zum Auto zu rennen, sein Handy aus dem Handschuhfach zu holen und Henrik anzurufen, um ihm zu sagen, dass er im nächsten Bahnhof aussteigen solle. Er käme ihn abholen und dann würden sie über alles reden. Henrik dürfte fragen, was er wollte und Norman würde alles beantworten, egal, wie schwer ihm das auch fiele. Auch über das halbe Jahr, über das Henrik gerne Bescheid wüsste, und über das Norman endlich reden wollte. Auch Henrik, der in diesem Moment aufsah, entging nicht der sich rapide wandelnde Gesichtsausdruck seines Bruders. Er setzte sich alarmiert auf und hätte wohl den Zug verlassen, wenn der sich nicht ausgerechnet in diesem Augenblick in Bewegung gesetzt hätte. Henrik setzte sich auf den freien Platz gegenüber, damit er Norman länger im Blick hatte, während der Zug langsam aus dem Bahnhof rollte und sich der Abstand zwischen ihnen unweigerlich zu vergrößern begann. Er hielt sich die Hand mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger wie einen Telefonhörer ans Ohr. Es wirkte wie eine Mahnung. Norman lächelte etwas gequält. Er zwang sich, eine seiner eiskalten Hände hochzuheben und zu winken. Zu spät, dachte Norman resigniert, während er kaum noch Henriks Gesicht in dem immer kleiner werdenden Zugfenster erkennen konnte. Was soll's, sein Handy war vermutlich sowieso leer. Und das fehlte noch, dass sich sein kleiner Bruder um ihn kümmern musste. Das wäre dann die Krönung dieses ganzen Theaters... Als der Zug um die letzte sichtbare Biegung fuhr und endgültig aus Normans Blickfeld verschwand, setzte der sich in Bewegung. Henriks Augen brannten, so lange hatte er den sich verkleinernden Punkt, der sein Bruder war, im Blick behalten. Irgendetwas war mit Norman los. Er hatte auf einmal ausgesehen, als wäre er am liebsten mitgefahren. Henrik sah auf sein Handy hinab und wartete darauf, dass ein Anruf einging. Von Norman. Wem sonst?! "Wartest du schon lange?" "Schon Okay." Denny ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und erwiderte Normans Kuss. "Ich kenne ja den Grund." Seine Hand strich sachte über Normans Wange, der ihn zerknirscht ansah. "War es schlimm?" Norman zuckte leicht mit den Schultern und seufzte. "Eigentlich nicht. Ich schätze, er ist jetzt wirklich auf dem Weg zum normalen Menschen..." Denny lachte. "Hier, das soll ich dir geben." Denny nahm den Zettel entgegen, den Norman ihm in die Hand drückte, und faltete ihn auseinander. Henrik stand dort in Normans Handschrift notiert und dahinter eine Telefonnummer. Ein leichtes Lächeln huschte über Dennys Gesicht. Er nahm sein Handy und speicherte Henriks Nummer. "Das war die einzige Bedingung, damit er fährt." Norman ließ das Auto an und fädelte sich in den Verkehr ein. "Hast du es eilig?" "Nein, heute nicht." Denny wartete, bis die Nachricht als 'empfangen' gekennzeichnet wurde. Er hob den Blick und ließ ihn nachdenklich über die Menschen, Maschinen und Häuser gleiten, die draußen vorüberzogen. Die hatten es eilig. Er nicht. Er hatte alle Zeit der Welt. Von jetzt an bestimmte er seine Zeit alleine und nichts und niemand konnte daran etwas ändern. "Hunger?" Normans Frage ließ Denny wie aus einem Traum erwachen. Und genau wie nach einem Traum, musste er sich kurz orientieren. "Nein, nein danke. Oder, doch." "Denny?" Die Frage kam zögernd, unsicher. "Ja?" Kontrollierend sah Norman sah seinen Nebenmann von oben bis unten an. "Einen Moment dachte ich, Henrik sitzt wieder hier neben mir." Er lachte über Denny, der zuerst irritiert dreingesehen hatte und nach dem letzten Satz, die Augen verdrehte. "Du hast jeden Wurm und jeden Käfer, den er dir früher ins Bett gelegt hat, verdient", entgegnete Denny tadelnd und versuchte gleichzeitig, sich das Lachen zu verkneifen. "Jeden einzelnen davon..." Norman lachte nur noch lauter. Norman hatte Mühe, mit Denny Schritt zu halten, der die Treppe des Mehrfamilienhauses hinauf eilte und dabei immer zwei Stufen auf einmal nahm. Irgendwie schaffte er es die letzte Zeit, ständig zu spät zu kommen. Zuerst zum Bahnhof, dann zu Denny und jetzt hier. Mit dem Unterschied, dass sie hier richtig spät waren. Einen halben Tag, um genau zu sein. Es war kurz vor Mitternacht. Laute Musik dröhnte durch das Treppenhaus zu ihnen hinab. Der Lärm aus Musik und lachenden Menschen wurde immer wieder mal kurz lauter, wenn die Tür zur Dachterrasse geöffnet wurde. "René sitzt wegen euch schon auf glühenden Kohlen", rief eine junge Frau ihnen zu, die ihnen von oben entgegen kam. Sie hielt kurz an, um Denny und Norman zu begrüßen. "Leo ist auch schon da." "Hallo, Marie." Denny erwiderte die Umarmung. "Der sitzt vermutlich nicht wie auf glühenden Kohlen, oder?!" "Du kennst ihn ja." Marie zuckte kurz mit den Schultern und versuchte ein Lächeln. Sie gab Denny einen schnellen Kuss auf die Wange und machte sich wieder auf den Weg die Treppe hinab. "Wir sehen uns!" Dennys Blicke streiften Norman, der die Szene stumm beobachtet hatte. "Wie sie so schön sagte: ich kenne ihn ja." Denny beugte sich etwas zu Norman hinab, der eine Stufe tiefer stand als er. Sein Mund strich sachte über Normans Lippen, die sich unter der Berührung langsam zu einem verhaltenen Lächeln bogen. Norman seufzte leise. Er sah an Denny vorbei nach oben. Noch zwei Etagen. "Komm schon", Denny nahm Normans freie Hand in seine und drückte dessen kalte Finger, "es wird nur halb so schlimm. Wir sagen nur schnell Hallo und Auf Wiedersehen und das war's." Norman lächelte schief. "Klar", murmelte er leise. "Das Beste kommt zum Schluss!", empfing sie ein breit grinsender junger Mann, der im gleichen Atemzug Norman die Flasche aus der Hand riss. "Vorsichtig", protestierte Norman atemlos. "Das Teil hat gerade einen Marathon von sieben Etagen hinter sich." "Ja, ja, und drei Etagen mehr und ihr wärt zu spät gekommen." René machte sich daran, die Folie um den Verschluss der Sektflasche zu entfernen. "Warum seid ihr so spät? Es ist zwanzig vor Zwölf!" "Als ob du nächstes Jahr nicht auch noch Geburtstag hättest...", wandte Denny schmunzelnd ein. "Ach ja, stimmt ja. Alles Gute." Norman musste über Renés geschocktes Gesicht lachen. "Jetzt doch noch nicht, bist du verrückt? Das bringt Unglück!" Der Korken aus der Flasche in Renés Händen löste sich mit einem laute Plopp und eine Fontäne Sektschaum schoss in die Höhe. "Bedient euch. Ihr wisst ja, wo alles ist." "Ich werde mal schauen, was ich finde", witzelte Denny und ließ Norman und René stehen. Leo lächelte den jungen Mann vor sich an. "Kann man dich irgendwie erreichen?" "Tag und Nacht", war die knappe Antwort. "Nur wenn du nichts dagegen hast, die Nummer Zwei zu sein." Der junge Mann neigte sein Gesicht bis zu Leos Ohr hinab. "Hier, damit du nachher was zum Anstoßen hast." Mit tauben Fingern nahm Norman den Plastikbecher, den ihm René in die Hand drückte. Atemlos sah er, wie Leo, der sich mit jemandem unterhielt, den er noch nie gesehen hatte, aufstand und mit eben diesem wegging. "Bist du eingeschlafen?" Der leichte Schlag gegen seine Schulter ließ Norman das erste Mal wieder Atem holen. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. "Wo ist Denny?", fragte er mit rauer Stimme. René sah Norman irritiert an. "Keine Ahnung. Warum?" "Nur so." Norman hob den Becher an die Lippen und trank ihn leer. "So ist es brav", kommentierte René den leeren Becher, während er nachfüllte. "Da ist ja mein Nummer Eins-Mann!" Leo legte seinen Arm um Dennys Schultern, der ihnen gerade über den Weg lief. "Wo warst du denn so lange? Ich bin schon seit zwei Stunden hier und langweile mich zu Tode." "Kann ich mir nicht vorstellen", entgegnete Denny leicht lächelnd, während er dem jungen Mann an Leos Seite zunickte. "Ich bin Denny", stellte er sich ihm vor, "vielleicht sehen wir uns ja später noch." "Wieso denn später?" Leo blinzelte unschuldig. "Wir wollten gerade gehen." "Da hätte ich ja beinahe das Beste verpasst", witzelte Denny. "Aber ganz knapp. Moment", Leo nahm seinen Arm von Dennys Schultern. Er griff in seine Gesäßtasche und holte ein Smartphone hervor, das er seinem Begleiter in die Hand drückte. "Hier, Großer, speicher dich mal unter Nummer Zwei-Mann, für den Fall, das Nummer Eins andere Pläne hat. Ich habe noch Verpflichtungen, wenn du verstehst..." Der Fremde neben Leo grinste und fing an, seine Nummer einzutippen. Leo legte wieder seinen Arm um Dennys Schultern. "Und jetzt? Was tun wir, bevor uns René wieder mit seinem Geburtstag auf die Nerven geht?" "Ich habe leider keine Zeit", lehnte Denny betont freundlich ab. "Keine Zeit? Für mich?" Verblüfft nahm Leo den hastigen Kuss entgegen, den ihm Denny gab. "Wo willst du denn hin?" "Ich habe auch Verpflichtungen, wenn du verstehst", antwortete Denny gelassen und winkte Leo im Weggehen knapp zu. "Ist das zu fassen?" Leo lachte und sah Denny nach, wie der zu René hinüber schlenderte. Oder wohl eher zu dem Typen neben René, der schon die ganze Zeit zu ihnen hinübergesehen hatte, und dessen dunkle Augen etwas von ihrer Traurigkeit verloren, als Denny sich ihm näherte. Hübsches Kerlchen, dachte Leo amüsiert. Ein bisschen mager. Den musste man wohl noch etwas füttern, damit er nicht in der Mitte auseinander brach. Vielleicht ja eine potentielle Nummer Drei? Denny und der Dünne verschwanden in der Menge, ohne dass sich Denny noch einmal zu Leo umgedreht hätte. "Ich würde sagen, du hast heute den Jackpot gewonnen, Großer", wandte sich Leo an seinen neuen Bekannten. "Ich bin ein echter Glückspilz", lachte der. "Dann warte mal ab, es wird noch besser." Unsicher sah Norman Denny entgegen, der lächelnd auf ihn zu kam, seine Hand nahm und ihn ohne anzuhalten mit sich zog. "Wer ist der Typ da bei Denny?" René drückte Leo einen Plastikbecher in die Hand. "Welcher Typ?" Die Zigarette in Renés Mundwinkel tanzte auf und ab, als er sprach. "Na der, der die ganze Zeit bei dir stand." Leo trank einen Schluck aus dem Becher. "Seit wann hast du so guten Sekt?" "Den hat Norman mitgebracht", antwortete René und goss den Rest aus der Flasche in Leos Becher. "Norman?" Ungeduldig sah Leo an René vorbei. Mist, jetzt hatte er sie aus den Augen verloren. "Ja, Norman, der, mit dem Denny gerade weg ist", René sah auf seine Uhr hinab. "Wo sind sie hin? In sechs Minuten bin ich ein Jahr älter." Leo ließ seine Blicke über die Tanzenden und Feiernden gleiten. Irgendwo dazwischen mussten Denny und Norman wieder auftauchen. "Siehst du, ich habe es dir doch gesagt, wir sagen Hallo und Auf Wiedersehen und dann gehen wir." Norman erwiderte Dennys Lächeln. Die ganze Zeit, während Denny bei Leo gestanden hatte, hatte er sich Mühe geben müssen, seinen panisch rasenden Puls einigermaßen zu beruhigen. Er hatte sich erst wieder normalisiert, als er Dennys Hand in seiner gespürt hatte. Und seitdem waren sämtliche Zweifel wie weggefegt. In Dennys Augen hatte eine Ruhe gelegen, die Norman nur von den Momenten kannte, in denen sie alleine waren, und eben diese Ruhe übertrug sich nun auch auf Norman. Norman legte seinen Arm um Dennys Taille und folgte ihm zum Rand des Daches. Hinter ihnen rief René irgendwas wegen Mitternacht, aber Norman hört nur das, was Denny zu ihm sagte. "Ich liebe dich." Norman legte beide Arme um Dennys Taille und neigte den Kopf zu diesem hinab. Dennys Kuss war wie Balsam und seine Hände in Normans Nacken waren der Halt, den Norman 23 Jahre vermisst hatte. Im Haus gegenüber ging ein Licht an. Ein Schemen lief an dem beleuchteten Fenster vorbei, ehe das Licht wieder erlosch. Hinter ihnen zählte René seinen dämlichen Geburtstags-Countdown, während die warme Sommerluft über ihre Gesichter strich und nach blühenden Bäumen und dem baldigen Regen roch, der noch weit hinter ihnen am Horizont hing. Norman sah in Dennys Augen, die genau das widerspiegelten, was Norman fühlte. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, Henriks Fragen zu beantworten. "Ich liebe dich auch", sagte Norman und verstärkte seinen Griff um Dennys Taille. Denny schloss die Augen. Er lächelte und in dem Moment, in dem Normans Lippen seine berührten, kippte er nach hinten weg und Norman mit ihm mit. Die Lichter der Häuser gegenüber wurden zu langen glühenden Schlieren, während sie fielen. Der scharfe Luftzug trieb Norman die Tränen in die Augen, doch er hielt sie tapfer offen und auf Denny gerichtet. Sein Herz hämmerte wie verrückt gegen seine Brust und Normans Finger verkrampften sich im Stoff von Dennys T-Shirt. Er würde ihn nicht loslassen. Keinen Millimeter würden seine Finger freigeben. Keinen einzigen. Und dann, kurz vor der Erde, auf die sie beide zurasten und taumelten wie zwei Papierflieger, die in einen Orkan geraten waren, da öffnete Denny die Augen und blickte Norman an und für den Bruchteil dieses Augenblicks war Norman erleichtert. * Stille Wasser ------------- René drückte ihm schon wieder einen dieser dämlichen Pappbecher in die Hand, obwohl Leo seinen alten gerade erst losgeworden war. Ohne Leo zu fragen, füllte René den Becher bis oben hin mit Sekt. Etwas davon sprudelte schäumend über den Rand und tropfte auf Leos Hand. "Wie war sein Name?" Himmel, er hatte heute Abend ein Gedächtnis wie ein Sieb. Leo nahm den Becher in die andere Hand und wischte die nasse an seiner Hose trocken. Der Sekt war echt gut. Er klebte kaum. "Wer?" René war viel zu sehr damit beschäftigt, Leo dazu zu bringen, endlich den Becher leerzutrinken, damit er ihm wieder neu einschenken konnte. Er kippte nach, kaum dass Leo einen Schluck davon getrunken hatte. "Der Typ da bei Denny." Leo zeigte zu einem Punkt hinter René und ließ seine Hand dann langsam wieder sinken. Wo waren Denny und der Dünne? "Wen meinst du?" René war nun doch neugierig geworden und reckte den Hals, um zwischen den Tanzenden und den andere Gästen, die um sie herum standen, Denny zu finden. "Wo denn?" "Er hat eben noch bei dir gestanden und die ganze Zeit zu Denny und mir herüber geschaut." Leo klang ungeduldig. René war manchmal ganz schön schwer von Begriff und das Traurige daran war, dass es nicht, wie gerade jetzt, nur am Alkohol lag. "So ein großer Dünner, dunkle Haare, dunkle Augen, hübsches Gesicht. Gerade waren sie noch da." "Du hast ihn dir aber gut gemerkt", stichelte René belustigt, aber mit vorsichtigem Unterton in der Stimme. "Was willst du denn von ihm?" Er grinste breit. Als ob er die Antwort darauf nicht kannte... "Soll ich ihm deine Nummer geben oder fragst du Denny, ob er es tun könnte?" "Du bist ein Arsch", war Leos unbeeindruckte Antwort. "Ich gebe meine Nummer nicht her, ich bekomme die Nummern von anderen." "Oh entschuldige vielmals. Wie konnte ich das nur vergessen?!" René verbeugte sich theatralisch vor Leo, der davon nichts mitbekam. Seine Blicke suchten noch immer in der Menge der Feiernden nach Denny und seiner Begleitung. Er wollte wissen, ob der Typ wirklich eine potentielle Nummer Drei war. Der Abend war schließlich bald vorüber und er wollte etwas, worauf er sich schon mal freuen konnte. Normalerweise steuerte Denny keine Bekanntschaften bei, das tat nur Leo. Bis heute, wie es aussah. Da waren sie! Am Rand des Daches. René hatte angefangen, die verbleibenden Sekunden bis Mitternacht herunter zu zählen. Was taten sie da? Leo reckte den Hals. Küssten die sich? Also tatsächlich eine Nummer Drei? Leo blieb der Mund offen stehen. Das musste er jetzt genau wissen! Im gleichen Moment, in dem Leo sich auf den Weg zu Denny und dem anderen machen wollte, um wie zufällig auf sie zu treffen und die kommende Nacht zu planen, endete Renés Countdown. René packte Leos Arm und riss ihn zu sich herum, so dass die Hälfte des Sekts aus dem Becher schwappte und sich über Leos T-Shirt verteilte. Leo öffnete gerade den Mund, um René wissen zu lassen, was für ein Idiot er war, als er auch schon dessen Lippen auf seinen spürte. Renés Zunge schob sich forsch hinterher und Leo vergaß einen Moment, was er seinem Gegenüber eigentlich an den Kopf werfen wollte. Er redete vielleicht die meiste Zeit nur Mist, aber küssen konnte René - nicht sein einziges Talent, wozu er mit seinem Mund so im Stande war. "Wann bekomme ich mein Geburtstagsgeschenk?", fragte René nach einer Weile, als sich sein Mund kurz von Leos löste. Stattdessen drückte er nun seinen Körper herausfordernd eng an Leo, der aus amüsiert zusammengekniffenen Augen auf ihn hinabsah. "Welches Geschenk?", stellte sich Leo dumm. Er blinzelte unschuldig und erwiderte Renés Grinsen scheinheilig. "Keine Ausreden, ich habe es sogar schriftlich von dir bekommen", wehrte René jeden Versuch ab, ihn weiter aufzuziehen. Seine freie Hand strich langsam Leos Brust hinauf und wieder hinab, um kurz über seinem Hosenbund zu stoppen. "Warten wir, bis alle weg sind, oder gehen wir schon mal vor?" "Bist du sicher, dass ich es war, der dir ein Geschenk versprochen hat? Ich kann mich an nichts mehr erinnern", alberte Leo. Und ob er das konnte. An jedes einzelne Wort, das er vor drei Jahren unter Renés Argusaugen aufgeschrieben hatte, weil er damals dessen Geburtstag vergessen hatte. Er hatte mit dem Einlösen ausgerechnet bis heute gewartet. Warum, wusste nur er. Und wenn er jetzt noch einmal wie unabsichtlich mit seinen Hüften gegen Leos stieß, dann könnte Leo sogar Denny und seinen hübschen Schatten vergessen, und sich René schnappen und mit ihm zwei Stockwerke tiefer in dessen Wohnung verziehen. Leo stellte seinen Pappbecher auf einen Tisch neben sich. Er musste die Hände freihaben – für alle Fälle. René sah kurz an Leo vorbei. Etwas im Hintergrund hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Seine Augen weiteten sich und seine Hand, die schon auf Wanderschaft über eine von Leos besten Seiten war, hielt abrupt inne. "Fuck", stieß René heiser aus. "Darauf wäre ich jetzt auch von alleine gekommen", witzelte Leo und versuchte, Renés Mund zu erreichen, um ihn erneut zu küssen, doch Réne machte keinerlei Anstalten, den Kuss zu erwidern, obwohl er normalerweise keine solche Gelegenheit ungenutzt lassen würde. Hastig befreite er sich aus Leos Umarmung. "Ist das ein Korb oder ein Spiel?" Leo tat entsetzt. Er streckte die Hand aus, um René wieder zu sich zu ziehen. Und schaffte es sogar kurzzeitig. Er packte Renés Taille und presste ihn grob an sich. Sein Grinsen wurde breiter, je mehr sich René gegen seine Umarmung wehrte. "Dein Spiel gefällt mir", raunte Leo und ließ seine Hände auf Renés Rücken unter dessen T-Shirt verschwinden. Eine Hand rutschte hinten in Renés Hose und tastete gierig über die beiden Rundungen, die er hoffentlich gleich unbekleidet vor sich hatte. Oder unter sich. Oder über sich. Egal wo, so lange sie nur unbekleidet waren. "Los, wir gehen runter und dann packst du dein Geschenk aus. Na?" Leo musste sich mittlerweile echt zusammenreißen, René hier nicht vor allen Leuten die Klamotten vom Leib zu reißen. René konnte manchmal echt ein Miststück sein, wenn er sich so anstellte wie jetzt. "Komm schon, dein Geschenk passt langsam nicht mehr in seine Verpackung..." Leos Atem strich heiß und schwer über Renés Halsseite. Seine Hand rutschte immer weiter in seine Hose, aber Renés Fluchtreflex, der alleine schon wegen dem ganzen Publikum hier einsetzen musste, war weg. Weg wie die beiden Silhouetten, die eben noch am Dachrand gestanden und sich geküsst hatten. "Denny und Norman-", keuchte René gegen Leos Mund, der sich fordernd auf seine Lippen presste. "Norman! So heißt der Typ!", freute sich Leo. Wie hatte er den Namen vergessen können?! Aber was interessierten ihn schon Namen? Er hielt René, der in seinem Griff mittlerweile so schlaff wie eine weiche Stoffpuppe wirkte, auf Armlänge von sich und augenblicklich verschwand seine Freude darüber, endlich wieder den Namen von Dennys ansehnlicher Begleitung zu wissen. Er wusste nicht, ob er René loslassen konnte und er dann auf eigenen Beinen stehen konnte. Er sah aus, als wäre er gerade Zeuge einer Naturkatastrophe geworden. René war totenbleich geworden. Seine Arme und Beine fühlten sich an wie abgestorben und ihm wurde zuerst heiß und dann kalt. Ein heftiger Schwindelanfall braute sich gerade in seinem Kopf zusammen und betäubte alles, was über seinen Schultern lag. Sein Herz – schlug sein Herz überhaupt noch? Was war da gerade passiert? Das, wovon ihn sein Verstand gerade abzulenken versuchte, weil es einfach zu unglaublich war? Endlich ließ Leo los und René konnte wieder atmen. Seine Beine waren doch nicht abgestorben. Sie gehorchten ihm sogar, als er sich in Bewegung setzte, um zu denen zu gelangen, die auf die Dachbrüstung zugerannt waren. Leos irritierte Blicke folgten René, der wie ein Schlafwandler von ihm weg zum Dachrand hinwankte. Er sah aus wie ein kleines Kind, das gerade erst laufen lernte und Leo lag ein entsprechender Witz auf den Lippen, den er aber sofort wieder verwarf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum rannten so viele zum Dachrand, schauten hinunter und stoben dann wie ein erschrockener Vogelschwarm panisch auseinander. Leo sah zu der Stelle hinüber. Er konnte nicht erkennen, was es dort zu sehen geben sollte. Aber irgendetwas musste dort sein. Etwas, das einige der Gäste den gleichen schockierten Gesichtsausdruck bescherte, den René auch gehabt hatte. Andere weinten und irgendjemand telefonierte. Leos Füße setzten sich nahezu automatisch in Bewegung. Er ging den gleichen Weg wie René, der mittlerweile angehalten hatte, ohne den Rand des Daches erreicht zu haben. Leo kam sich vor, als ginge er unter Wasser. Seine Schritte waren schwer und langsam, als hätte er Bleigewichte an den Schuhen. Die vereinzelten Schreie der Partygäste drangen seltsam verwaschen an seine Ohren, ganz so als befände sich sein Kopf unter Wasser. Sämtliche Geräusche vermischten sich zu einem einzigen Rauschen, das an- und abschwoll, je nachdem, ob sich Leo gerade einem Gast näherte oder sich von einem entfernte. Jemand, der plötzlich am Rande seines Blickfeldes auftauchte, gestikulierte hastig und sprach auf ihn ein. Leo traute sich nicht, den Mund zu öffnen, um dem jungen Mann vor sich zu antworten. Wahrscheinlich würden sich seine Lungen augenblicklich mit Meerwasser füllen und er müsste ertrinken. Ein Gewicht zog Leos linken Arm nach unten. Irgendjemand hielt ihn fest. Der, der so heftig gestikuliert hatte, telefonierte jetzt auch. Seine Stimme klang dumpf, leiernd wie ein alter Plattenspieler, der nicht mehr richtig die Geschwindigkeit halten konnte. Oder lag das an Leos Ohren? "Bleib hier", hörte Leo nun deutlich die Worte, die das Gewicht an seinem Arm begleiteten. Jetzt erst registrierte Leo, wer ihn da festhielt. Es war Marie. Marie, die einzige aus seinem Freundeskreis, die bereits Mutter war. Wo war ihr Baby? Sie hatte es doch sonst immer dabei. "Ich bin gleich wieder hier." Leo versuchte, sich aus Maries Griff zu befreien, doch sie ließ nicht los. Dieser entsetzte Gesichtsausdruck passte nicht zu ihr. Ihre Blicke huschten nervös hin und her. Sie rief jemandem etwas zu und wandte sich dann wieder Leo zu. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die ihr jetzt über die Wangen strömten. Leo hob die Hand und wischte damit über Maries nasse Wangen, doch gegen die Tränenfluten, die unaufhörlich weiter flossen, hatte er keine Chance. Er lächelte ihr ermutigend zu und dachte darüber nach, sie in den Arm zu nehmen. Es wäre ja nicht das erste Mal. Jedenfalls war Marie die einzige seiner hin-und-wieder-mal Freundinnen, die nicht nur eine Nummer gewesen waren. Die einzige, mit der Leo sich hatte vorstellen können, länger zusammen zu bleiben – und die ihn dann plötzlich abserviert hatte, als Leo gedachte hatte, dass es fester zwischen ihnen würde. So nett wie sie war, hatte sie ihm aber immerhin noch René dagelassen. Und dann war noch Denny dazu gekommen. Leo besann sich wieder auf sein ursprüngliches Vorhaben. Sanft entzog er Marie seinen Arm und ließ die junge Frau stehen. Ein paar Leute stürzten an ihm vorbei. Einer ließ einen Pappbecher fallen und das Getränk darin spritzte an Leos Hosenbein hoch. "-noch etwas zu machen", hörte Leo den halben Satz, den einer derjenigen ausstieß, der auf die Tür zum Treppenhaus zu hastete. Im Augenwinkel sah Leo, dass René jetzt bei Marie stand und sie im Arm hielt. Marie hatte ihr Gesicht gegen Renés Brust gedrückt. Ihre Schultern zuckten. Leo drehte sich um. Der Dachrand lag noch zwei Meter vor ihm. Jetzt nur noch einen. Er legte die Hände auf die etwa hüfthohe Umrandung und beugte sich nach vorne, um über den Rand hinweg nach unten schauen zu können. Einsam saß Leo auf einem der Klappstühle, die noch zwischen dem Partymüll auf dem Dach standen, und sah nachdenklich zum Dachrand hinüber. Die Gäste waren mittlerweile alle nach Hause gegangen und die Musik, die bis vor zehn Minuten noch aus den Lautsprechern geschallt hatte, ohne dass es jemandem aufgefallen war, war nun auch endlich verstummt. Alle waren mit anderem beschäftigt gewesen. Mit dem Thema, das Renés Geburtstag von einer Sekunde auf die andere überlagert hatte: Denny und Norman. Ein Nachtfalter fiel brummend in die große Glasschale voll mit rotem Punsch, die auf dem Tisch neben Leo stand und in der schon andere ertrunkene Insekten an der Oberfläche des Getränks schwammen. Unbeeindruckt sah Leo dem Todeskampf des Falters zu, der panisch mit dem Flügel flatterte, der noch aus dem Getränk ragte. Er machte eine kurze Pause, als wolle er seine letzten Kräfte sammeln, und flatterte dann erneut. Ob er damit aufhören würde, wenn er wüsste, wie sinnlos das ist? Leo strich sich müde über seine brennenden Augen. Wieso saß er eigentlich noch hier? Gedankenverloren streckte Leo die Hand aus und tauchte sie in den roten Punsch. Der nasse Falter zuckte in seiner Handfläche und dann auf der Tischplatte, wo ihn Leo abgelegt hatte. Er spreizte die Flügel und man konnte sehen, wie hübsch er eigentlich war. Das vordere Flügelpaar war schwarz-weiß gestreift und das das hintere orange mit kleinen schwarzen Flecken. Eine hellrote Pfütze hatte sich um den Falter herum gebildet, der nur noch schwach die Fühler bewegte. Leo wischte seine Hand mit einer Papierserviette ab, die er zwischen überfüllten Aschenbechern und Tellern mit Essensresten, in denen bunte Cocktailpfützen schimmerten, gefunden hatte. Wie der Tisch aussah! Irgendjemand musste dagegen gestoßen sein. Schnell wischte er den Gedanken wieder weg. Leo versuchte, an nichts mehr zu denken. Weder an die Party, noch an Norman und Denny, die am Rand des Daches gestanden hatten, nicht an die mit einem Mal aufkommende Unruhe unter den Gästen und erst recht wollte er nicht über den Moment nachdenken, als er sich über den Dachrand gebeugt hatte, um in die Tiefe zu sehen. Doch er tat genau das. Sofort tauchten wieder die beiden Körper vor seinen Augen auf. Denny, der auf dem Rücken gelegen hatte und das Gesicht dem Himmel und dem Dach des Mehrfamilienhauses zugewandt hatte, von wo aus ihm Leo entgegen sah. Und Norman, der Dennys Körper halb unter sich begraben hatte und in Dennys ausgestreckten Armen lag, als hätte der ihn aufgefangen. Leos Mundwinkel bogen sich unwillkürlich etwas nach oben. Wären die Blutlachen unter Denny und Norman nicht gewesen, hätte es ein fast tragisch-poetisches Bild sein können. Die beiden Gäste, die nach unten gelaufen waren, hatten sich neben Denny und Norman auf den Boden gekniet und nachgeschaut, ob es noch was zu helfen gab. Jede Sekunde davon hatte sich in Leos Erinnerung gebrannt. Wie sie nach Dennys Handgelenk gegriffen und auch über Normans Hals gestrichen hatten. Und dann hatten sie Norman umgedreht. "Komm, wir gehen runter." Renés Hand legte sich auf Leos Schulter, der das erste Mal von dem nassen Falter auf der Tischplatte aufsah, seit er ihn aus dem Punsch gerettet hatte. Er war noch über und über mit dem rotem Getränk benetzt. Wie winzige Perlen säumten sie den länglichen Leib, dessen Härchen nass an dem braunen Körper klebten. Die Flügel waren an den Rändern an einigen Stellen zerfleddert, wahrscheinlich dort, wo sie Leos Finger berührt hatten. Die Beinchen hatte er wie im Krampf an sich gezogen und seine Fühler bewegten sich auch nicht mehr. Das arme Ding hatte es doch nicht geschafft. Mit kalten Fingern strich René über Leos Wange, der unter der Berührung kurz wieder an Norman denken musste. Normans Finger – der rechten oder der linken Hand? Leo konnte es nicht mehr genau sagen – hatten sich etwas gekrümmt und wieder geöffnet, als er neben Denny auf dem Rücken dalag und nun ebenfalls zu Leo hinauf sah. Wahrscheinlich waren das nur irgendwelche letzten Reflexe gewesen, aber Leo, der die Szene von oben so deutlich gesehen hatte, als hätte er gleich daneben gestanden, hatte kurz die Hoffnung gehabt, dass wenigstens einer der Beiden den Sturz überlebt hatte. Aber so war es dann doch nicht. Kommentarlos stand Leo von seinem Klappstuhl auf und ließ sich widerstandslos von René an die Hand nehmen und Richtung Treppenhaus führen. "Bist du sicher, dass es eine gute Idee war, nicht mit jemandem zu reden?" Leo drehte sich auf die Seite. Im Halbdunkel sah er Renés Silhouette, der neben ihm im Bett lag und Leo genau beobachtete. Seine Augen scannten jeden Zentimeter in Leos Gesicht ab, was Leo langsam zu ärgern begann. "Du laberst mich doch schon die ganze Zeit zu, ist das nicht das gleiche?" "Ich meinte jemand professionellen", wandte René ein. Genervt stieß Leo die Luft aus. "Das haben ungefähr fünfundzwanzig Leute gesehen, gehen die jetzt alle zum Psychologen?" Stumm ruhten Renés nachdenkliche Blicke auf Leo. Am liebsten hätte er Leos Frage mit Ja beantwortet, aber er senkte nur die Lider, als er die steile Falte bemerkte, die sich zwischen Leos Augenbrauen bildete. "Ok", gab René schließlich nach, "wenn irgendwas ist, machst du mich wach." "Klar", antwortete Leo und wusste, dass er das nicht tun würde. René hatte sich von ihm weggedreht und schwieg endlich mal. Das würde er doch nicht riskieren. Als Leo das nächste Mal die Augen aufschlug, war es noch immer dunkel draußen und sein Arm kribbelte wie verrückt. Schuld war René, der zu Leo hinüber gerückt war und auf Leos Arm lag. Möglichst vorsichtig zog Leo seinen Arm unter René hervor, der etwas vor sich hinmurmelte, aber weiter schlief. Nachdem er sich aus der unbequemen Lage befreit hatte, lag Leo auf dem Rücken, schloss die Augen und versuchte erfolglos, wieder einzuschlafen. Entnervt rückte er nach einer halben Minute so nahe es ging zu René hinüber, legte einen Arm um dessen Taille und wartete darauf, dass ihn die Monotonie der Atemgeräusche seines Nebenmannes endlich wieder einschlafen ließen. Selbst das versagte. Wie schaffte es René nur, selig zu schlafen? Leo gab auf. Er rollte sich zum Bettrand und tastete nach seiner Hose, die neben dem Bett auf dem Boden lag. Er zog ein Zigarettenpäckchen und ein Feuerzeug daraus hervor und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil. Durch die Schlitze der Jalousie fiel künstlich kaltes Licht von draußen herein, das alles, was es beleuchtete, wie Stein wirken ließ. Die Hände auf dem Bauch verschränkt, sah Leo dem einzigen Punkt in dieser totenstillen und starren Umgebung zu, wie er zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger schwach pochend vor sich hin glühte und tapfer die wenigen Zentimeter um sich herum mit seinem Leuchten wenigstens etwas lebendig wirken ließ. Was war mit Denny losgewesen? Und mit diesem Norman, dem er heute das erste – und letzte Mal – begegnet war? Wer war er? Was hatte er mit Denny zu tun gehabt? So wie es ausgesehen hatte, hatten sich beide besser gekannt. Aber warum hatten sich beide dazu entschlossen, sich von einem Dach zu stürzen? Ausgerechnet von dem Haus, in dem René wohnte? An dessen Geburtstag... Leo schrak auf, als ihm etwas auf den Bauch fiel. Die Asche seiner Zigarette, die er zwar angezündet, aber von der er keinen Zug genommen hatte, war zu einem länglichen grauen Wurm verglüht, der herabgefallen war und nun auf Leos Magengegend lag. Leo wischte die Asche weg und verteilte dabei etwas davon auf seinem Bauch und dem Laken. Grau-schwarze Schlieren zogen sich über den hellen Stoff. René würde ihm den Kopf abreißen. Leise fluchend drückte er den leicht glimmenden Zigarettenstummel auf dem Unterteller aus, der auf dem Nachttisch neben ihm stand. René hatte ihm eine Tasse Tee gemacht. Pfefferminztee. Ihm. Wie in aller Welt war René auf diese Idee gekommen? In seinem ganzen Leben als einigermaßen mündiger Mensch hatte Leo noch nie Tee getrunken. Geschweige denn Cappuccino oder ähnliches schreckliches, heißes Zeug. Er trank nicht einmal Kaffee. "Hast du geraucht?" Leo sah neben sich, wo René gerade wach wurde, sich streckte und zu Leo herumdrehte. "Wie kommst du darauf?", entgegnete Leo scheinheilig und entgegnete die vorwurfsvollen Blicke ohne mit der Wimper zu zucken. "Weil man es riecht", war die verärgerte Antwort. "Du weißt doch, dass im Schlafzimmer nicht geraucht wird." "Warum nicht?" Herausfordernd sah Leo zu René, der sich von seiner Decke befreit hatte und sich zu Leo gesellte. Er lehnte seinen Kopf gegen Leos Schulter, der das amüsiert hinnahm. Renés Hand machte sich daran, Leos Brust hinabzufahren. "Die einzige Zigarette, die hier erlaubt ist, ist die danach." "Dann hast du ja deine Antwort darauf, warum ich geraucht habe." Leo hielt Renés Hand davon ab, unter seine Decke zu schlüpfen. Lächelnd befreite René seine Hand aus Leos Griff. "Wie gemein, mich einfach schlafen zu lassen." "Selbst Schuld." Leo beugte sich zu Renés Gesicht hinab, der grinsend zu ihm hinaufsah, und küsste ihn. Renés Hand hatte in der Zwischenzeit ihr Ziel erreicht. Sollte er eben denken, dass er gewonnen hatte. Leo griff nach seinem Zigarettenpäckchen und nahm sich eine weitere aus der halbleeren zerdrückten Packung. Neben ihm lag René und schlief schon wieder tief und fest. Er hatte völlig vergessen, ihn etwas zu fragen. Wer dieser Norman eigentlich war. Leo steckte sich die Zigarette zwischen seine Lippen, aber noch bevor er sie hatte anzünden können, war auch er eingeschlafen. Henrik verstand seine Eltern nicht. Nachdem sie die Nachricht über Normans Tod bekommen hatten, war zuerst alles aus dem Ruder gelaufen. Ihre Mutter war fast durchgedreht und hatte mehrmals kurz davor gestanden, dass Henrik sie ins Krankenhaus fuhr. Sein Vater hatte das alles mit – tatsächlich anwesender oder erzwungener – Unnahbarkeit über sich ergehen lassen. Er hatte kein Wort über Norman verloren. Und irgendwann hatte es seine Mutter ihm gleich getan. Sie hatten Henrik vergessen. Ihn alleine gelassen mit seinen Vorstellungen, was passiert war. Er hatte sie so oft gebeten, den Polizeibericht sehen zu dürfen, damit er verstand, was passiert war, aber nicht einmal das hatten sie noch getan. Norman war nicht tot. Er existierte überhaupt nicht mehr und hatte es davor auch nicht. Henrik merkte, wie sich wieder die Panik in ihm zu sammeln begann, als er an den Moment denken musste, der ihm in ungefähr zwei Minuten bevorstand. Das erste Mal würde er die Stadt erreichen und den Bahnhof mit dem Wissen betreten, dass er ab sofort alleine dort war. Dass ihn keine Kopfnuss erwartete. Keine Nacht, die er zusammen mit seinem Bruder in einem Bett für eine Person verbringen musste. Und keine Diskussionen, die sich darum drehten, wer wem ins Ohr atmete. Niemand erwartete ihn mehr hier. Er war alleine mit dem, was er sich, seit er wusste, wie Norman gestorben war, vorstellte. Wie lange dauerte ein Fall aus dem siebten Stockwerk? Welche Geräusche machten Körper beim Aufprall? Als der Zug hielt, hatte sich Henrik nicht dazu durchringen können, seine verkrampfte Hand, die sich in das Polster des Sitzes gekrallt hatte, zu lösen. Er konnte sich nicht einmal dazu zwingen, den Kopf nach links zu drehen und einen Blick aus dem Fenster auf den Bahnhof zu werfen. Er saß wie angewurzelt da und das einzige, das wirklich zuverlässig funktionierte, war sein Magen, der sich gerade wieder um seine eigene Achse zu drehen begann. Das schrille Pfeifen, das Zischen der sich schließenden Türen und die Kraft, die ihn in das Sitzpolster drückte, ließen Henrik das erste Mal wieder seine Lungen bis in die letzten Ecken mit Luft füllen. Der Bahnhof wurde kleiner und als er aus dem Blickfeld des Zuges verschwunden war, reagierten Henriks Beine wieder und er sprang auf. Wreck The Halls --------------- Henrik hatte zwei weitere Stationen und einen von seinem Magen diktierten Aufenthalt in der Sardinenbüchsenartigen Zugtoilette benötigt, bis er in der Lage gewesen war, den Zug endgültig zu verlassen. Auf dem Bahnhof hatte es ihn dann beinahe noch auf der Treppe der versifften Unterführung hingehauen, als ein kurzer Schwächeanfall ihn unangenehm daran erinnert hatte, dass er bis auf das Abendessen von vor über zwölf Stunden, das er in der schimmernden Edelstahlschüssel der Zugtoilette gelassen hatte, absolut nichts mehr im Magen hatte. Es war ja auch nicht so, dass er überhaupt etwas herunter bekommen hätte, was über die Konsistenz eines Milchshakes hinausging, aber sein Körper war da anderer Meinung und machte ihm das regelmäßig klar. Die Erinnerung an eine Unterhaltung zwischen ihm und Norman bescherte Henrik den zweiten Schwächeanfall dieses Tages. Glücklicherweise stand er dieses Mal nicht auf einer Treppe, sondern war auf dem Weg zu einer Bushaltestelle vor dem Bahnhof, was ihm zwar einige verhaltene Blicke der anderen Passanten bescherte, aber immerhin lief er dabei nicht Gefahr, zu stürzen. Er hatte Norman verspottet, als ihm bei seinem letzten Besuch aufgefallen war, wie sehr sein Bruder innerhalb kurzer Zeit an Gewicht verloren hatte. Von Photosynthese als neue Nahrungsaufnahme war die Rede gewesen und das, was für einen Außenstehenden wie ein Scherz klingen mochte, war echte Besorgnis gewesen, die Henrik Norman mit brüderlicher Ruppigkeit versucht hatte, klarzumachen. Es war keine Frage gewesen, sondern seine Art, Norman mitzuteilen, dass er etwas tat, was nicht gut war. Henriks Wangenmuskulatur schmerzte, weil er seit dem Gedanken an ihr letztes Treffen die Zähne fest aufeinander presste. Normans Schlüsselbund stach ihm unangenehm in die Handfläche, während sich seine linke Hand langsam zur Faust ballte. Warum nur war er nicht auch da gewesen, um Norman zu sagen, er solle den Scheiß lassen, als er auf dem Dach gestanden hatte? Und warum war ihren Eltern ausgerechnet dann wieder Henriks Existenz eingefallen, als es darum gegangen war, Normans Wohnung auszuräumen? Der Krampf in seiner Faust ließ erst nach, als ihm der ungeduldig wartende Busfahrer ein 'Was ist jetzt?' an den Kopf warf. Hastig suchte Henrik nach Kleingeld, löste den Fahrschein und fuhr dann den Weg zurück, den er mit dem Zug nicht hatte bewältigen können. Jetzt stand er hier in Normans Wohnung, die einen so harmlosen Eindruck machte, als käme ihr Bewohner gleich wieder zurück, und zum ersten Mal fühlte sich Henrik damit konfrontiert, dass er hier war, um genau diese Illusion, Norman könne doch auf einmal wieder zurückkommen, die Tür öffnen und sich müde von der Arbeit auf das Schlafsofa werfen, sich und jedem anderen endgültig zu nehmen. Die Ruhe machte René fast wahnsinnig. Er kam sich vor als säße er auf einem Vulkan, der sich kurz vor dem Ausbruch befand. Er wusste, dass die Erde unter seinen Füßen bereits am Sieden war, er fühlte das Brodeln, das den Boden ahnungsvoll zum Zittern brachte wie den Deckel auf einem Topf, in dem etwas auf voller Flamme kochte. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis die erste Eruption den Deckel sprengte und es Feuer und Asche regnete. Leos stoische Gelassenheit brachte ihn fast um den Verstand. Als er am Morgen nach Dennys und Normans Tod wachgeworden war, hatte er Leos Gleichmut noch für eine Auswirkung des Schocks gehalten, aber jetzt war es eine Woche her, seit er Leo mit einer Zigarette im Mundwinkel schlafend neben sich im Bett vorgefunden hatte. Dass Leo die Zigarette nicht mehr hatte anzünden können, war nicht das eigentlich Erschreckende gewesen, sondern dass seit jenem Morgen alles lief, als wäre nie etwas passiert. Als wären Denny und Norman nicht vor ihrer aller Augen vom Dach gesprungen. Leo, der sich weiterhin vehement dagegen wehrte, sich krank schreiben zu lassen, ging zur Arbeit, kam heim und schlief dann bei René. Und jeden Morgen wiederholte sich dieses Ritual. Etwas, über das sich René in jeder anderen Situation gefreut hätte. Die ersten Tage hatte er sich sogar noch getraut, ein wenig nachzuhaken, um vielleicht herauszufinden, was Leo denn nun wirklich fühlte und wie es ihm ging, wenn er an den Abend von Renés Geburtstag dachte. Leo hatte ihn lediglich finster angesehen, aber das hatte er mit einer solchen inneren Ungerührtheit getan, ohne dabei zu verheimlichen, was ihn René gerade mal konnte, dass der seither lieber schwieg. Eigentlich war es genau das, was ihn an Leos Benehmen so störte. Nicht die Ruhe. Es waren die Blicke. Sie schluckten sämtliches Licht, das auf sie traf wie zwei düstere Abgründe, die sich vor einem auftaten und deren steile Wände schon nach den ersten Metern alle Farben und Konturen verloren und in undurchdringliche Schwärze getaucht wurden, die in den Augen schmerzte, wenn man zu lange hinein sah, weil man einfach nicht mehr klar unterscheiden konnte, ob man nun erblindet war, oder ob der Rest der Welt noch sichtbar sein würde, wenn man den Blick wieder hob. Man verlor sämtliche Sicherheit gegenüber diesen beiden kalten Schluchten, die einem mit ihrer Leere begegneten. Aber statt sich umzudrehen und einen anderen Weg auf die gegenüberliegende Seite zu suchen, wurde man von ihnen angezogen, immer näher heranzutreten und selbst nachzuschauen, wie tief es wirklich hinab ging. Wie weit einen der Abgrund in sich hineinschauen ließ, bevor man in seiner formlosen Existenz, für die der menschliche Verstand einfach keine Erklärung fand, eben jenen verlor. Niemand, wirklich niemand, der noch klar bei Sinnen war, tat das freiwillig. Und dennoch konnte sich René nicht dagegen wehren, ein paar Schritte auf diesen Abgrund hin zu tun. "Ich habe eine Überraschung." René erschauerte unwillkürlich als Leo den Kopf hob und ihn seine Blicke trafen. Wie Tinte, die auf Löschpapier tropfte, wurde in Sekundenschnelle das bisschen Tatendrang verschluckt, das René extra für diesen Moment mühsam angesammelt hatte. Abwartend beobachtete Leo René. Er hatte nur Sekunden Zeit, den Satz heraus zu bringen, den er hatte sagen wollen, und den ihm seine ausgedörrte Kehle gerade verweigerte. Als René nichts sagte, fuhr Leo fort, die Knopfleiste seiner Arbeitsjacke zu öffnen, die mit Putz in sämtlichen Farben überdeckt war. Leos eigentlich rote Haare überzog ein leichter grauer Schleier, genau wie sein Gesicht bis hin zum Halsausschnitt seines T-Shirts. Er sah aus wie eine große verstaubte Schaufensterpuppe. "Marie und Mariechen kommen später noch vorbei." René hatte nicht gewusst, dass es regelrecht schmerzen konnte, etwas zu sagen, wenn der Angesprochene nicht den Eindruck machte, überhaupt noch irgendetwas hören zu wollen. "Okay." Leo öffnete seine Hose und streifte sie sich von den Beinen. René wartete ein paar Wimpernschläge lang und versuchte herauszufinden, ob Leos Okay ein positives oder ein negatives Okay war. Eine Hilfe war ihm Leo dabei nicht, der sich einfach weiter auszog, bis er vollständig entkleidet war, und seine schmutzige Arbeitskleidung auf dem Schlafzimmerboden liegen ließ, während er sich auf den Weg ins Bad machte. Das eiskalte Wasser traf ihn mit solcher Wucht, dass es Leo einen Moment unwillkürlich den Atem verschlug, bis er sich daran gewöhnt hatte. Das Wasser, das seinen Kopf hinablief schmeckte bitter von dem feinen Staub, dem er den ganzen Tag lang ausgesetzt gewesen war und von dem er es nicht abwarten konnte, bis er ihn endlich los war. Nach fünf Minuten eiskalt duschen und nachdem der erste Staub endgültig abgespült war, drehte Leo den Regler schließlich auf angenehmere Temperaturen. Er griff nach einer Plastikflasche, die neben Shampoo, einem Rasierer und einem Ding, das wohl etwas ähnliches wie ein Schwamm sein sollte, in einem Metallkorb unter der Armatur hing. Er nahm die Flasche, auf der ein Bild von einem aufgewühlten Meer aufgedruckt war. Belebend versprach ein roter Schriftzug auf der Flasche mit dem Duschgel, deren Verschluss Leo nun aufklappte und über seine Hand hielt. Vielleicht half es ja, dachte er, während er eine Portion glänzend blaues Duschgel in seine geöffnete Handfläche drückte. Das Gel fing sofort zu schäumen an, als Leo es über seinen Körper zu verteilen begann. Noch fühlte er sich nicht belebt. Im Gegenteil. Alles nur leere Versprechungen... Seine Hände rieben eine weitere Portion des Gels in seine Haare. Zum ersten Mal fiel ihm der penetrante Geruch auf. Er war nahezu unerträglich. So roch doch niemals das Leben. Zugegeben, sein eigenes Duschgel roch auch nicht viel anders. Bei Gelegenheit musste er sich mal neues besorgen. Eines, das einem vielleicht sogar praktischerweise tatsächlich Lust aufs Leben machte. Leo hielt seinen Kopf unter die Brause. Das unaufhörlich hinab strömende Wasser bildete lange Fäden, die von seiner Nase und seinem Kinn rannen, als wäre er die Figur eines Springbrunnens. Der Gefühlstote, oder so ähnlich. Oder noch zutreffender: das größte Arschloch aller Zeiten, das seinem Freund, der sich das Leben nahm, keine einzige Träne nachgeweint hatte. Mit gesenktem Blick sah Leo den hellblauen Schaumkrönchen zu, die an seinem Körper hinabliefen. Es schien ein Wettrennen unter den kleinen Schaumbergen ausgebrochen zu sein. Sieger war, wer es am schnellsten Leos eigentlich ganz ordentlich definierte Brust- und Bauchmuskulatur hinab schaffte, möglichst ohne viel an Geschwindigkeit in der Schikane seiner ebenfalls nicht schlecht ausgefallenen Männlichkeit einzubüßen. Dann noch auf der Zielgeraden die Beine hinab und in der Duschwanne landen, um dann im finalen Lauf wirbelnd im Abfluss zu verschwinden. Großzügig half Leo einigen langsameren Teilnehmern nach. Er rieb sich über die Brust, wo sich noch Schaum befand, und bugsierte das Zeug mit Meeresmineralien - was immer damit auch gemeint sein sollte und was immer das in Duschgel nutzen sollte - in Richtung Duschwanne. Unter seinen Fingerspitzen spürte Leo die kaum sichtbaren Härchen, die sich unter seinem Bauchnabel in einer wie mit dem Lineal gezogenen geraden Linie zu seinem Schritt hinab zogen. Er dachte einige Sekunden nach, ob er den Härchen bis zum Ende folgen sollte - und tat genau das. Unbewusst hielt Leo im ersten Moment die Luft an, als seine Hand die Stelle erreichte, von wo ihn normalerweise bereits seit dem Gedanken daran eine Erektion erwarten sollte. Dieses Mal nicht. Genauso wenig wie die Male davor auch nichts die Berührung seiner oder Renés Hand - oder wahlweise anderer zur Verfügung stehender Alternativen - erwartet hatte. Mit sachtem Druck strich Leos Hand über sein unwilliges Körperteil. War das zu sachte? Etwas fester. Gleiches Ergebnis wie davor. Sein Schwanz fühlte sich in seiner Hand wie der sprichwörtliche Fremdkörper an. Vielleicht half es, wenn er an etwas schöneres dachte, außer an seine eigene Hand? Wie wär's mit dem Langen, der ihm auf Renés Party seine Nummer gegeben hatte. Der war doch mal ein verdammt heißes Teil gewesen. Und er war wohl auch noch ein Dreckstück obendrein, hatte er Leo doch noch am gleichen Abend ein Bild von seinem Schwanz geschickt, nachdem Leo die Nummer auf Richtigkeit überprüft hatte. Nicht einmal das half, dabei hatte es doch schon einmal funktioniert, als er das Bild bekommen hatte. René konnte ein Lied davon singen. Verdammt, er schweifte ab! Und geholfen hatte es auch nicht. Kein Grund zur Panik, oder? Kann ja mal passieren. Auch knapp eine Woche lang. Nach so einem Erlebnis immerhin... Und wenn es noch länger dauerte? Irgendwann ließ sich René sicher nicht mehr abwimmeln und Leo gingen so langsam die Ausreden aus. Was sollte er dann sagen? Tut mir echt leid, aber vögeln fällt flach, weil mein Schwanz plötzlich keinen Bock mehr auf so etwas banales hat? Das glaubte ihm nicht mal René, selbst wenn es die Wahrheit war. Und René schien nur auf etwas ähnliches zu warten, weil es ihm die Bestätigung frei Haus lieferte, die er Leo seit seinem Geburtstag aufzudrängen versuchte. Leo sah auf seine Finger hinab, die sich noch immer hoffnungsvoll um den Körperteil schlossen, der ihn bisher außer im Vollrausch noch nie im Stich gelassen hatte, und versuchten, ihn mit allen möglichen Arten aus seinem Tiefschlaf zu locken. Nichts half. Absolut nichts. Kein noch zehnmaliges darüber reiben, kein sachtes Streicheln über die glänzende Spitze. Leo lachte heiser auf. Schön, er gab auf. Sollte sein Schwanz doch ab jetzt ungevögelt glücklich werden, wenn das sein Wunsch war. Der Temperaturregler wurde ungehalten auf die kälteste Stellung gedreht und dieses Mal blieb er länger in dieser Stellung als bloß fünf Minuten. Noch ehe Leo Marie begrüßen konnte, die mit zappelndem Kind auf dem Arm und vollgestopfter Wickeltasche über der Schulter vor ihrer Wohnungstür stand, hatte er auch schon das fröhlich krähende Mariechen in seinen eigenen Armen. "Warum sagst du nichts?" Neugierige kleine Finger zwickten Leo in die Wange. Schweigend gab Marie René die Wickeltasche, der sie ins Wohnzimmer trug. "Was willst du denn hören?" Herausfordernd sah Marie ihr Gegenüber an. Leo warf ihr einen schnellen Blick aus dem Augenwinkel zu, ehe ihn wieder die zwei Kinderhändchen ablenkten, die nach seinen Haaren packten. Leo zuckte kurz mit den Schultern. Er tat, als schnappe er nach Mariechens Hand, die gerade dabei war, eine von Leos Haarsträhnen so lang wie möglich zu ziehen. Mariechen lachte glucksend auf und griff gleich noch einmal nach Leos Haar. Sie bekam eine der Locken zu fassen, zog daran und sah dann mit erstaunt offenstehendem Mund zu, wie die gerade gezogene Haarsträhne wieder in ihre gelockte Form zurücksprang. "Hat dich René überredet herzukommen?" Maries Augen verfinsterten sich und kurz tat Leo leid, was er da gerade gesagt hatte. "Nein, auf die Idee bin ich ganz alleine gekommen, weil du dich schon seit Tagen nicht mehr meldest." Marie ging an Leo vorbei und gesellte sich zu René ins Wohnzimmer, der bereits Gläser und Getränke brachte. Leo folgte ihr mit Mariechen, die ihn aufmerksam studierte. Irgendetwas an seiner Stirn schien sie zu faszinieren, jedenfalls starrte sie die ganze Zeit dorthin. "Ich-" lebe noch hatte Leo sagen wollen, als ihm Mariechen ihren Schnuller in den Mund schob. Leo sah so entsetzt drein, dass Marie lachen musste. Mit einer Hand befreite sich Leo von dem Schnuller, den er leicht angewidert anschaute. Hatten Babys nicht ständig irgendwelche seltsamen Bazillen in sich? Irgendwas, was sie wie tollwütige Tiere sabbern und dummes Zeug vor sich hin brabbeln ließ? Hoffentlich hatte er sich nichts davon eingefangen. Mit spitzen Fingern ließ Leo den Schnuller auf den Wohnzimmertisch fallen, was Mariechen überhaupt nicht passte. Sie wand sich so lange auf seinem Arm, bis Leo sich erbarmte und sie zu Boden ließ. Leo griff nach einem Glas Apfelschorle und trank einen großen Schluck daraus. "Ich glaube, ich kriege den Fenchelteegeschmack nie wieder aus dem Mund", murmelte er mit mitleiderregender Miene und trank das Glas leer. "Stell dich nicht so an", spottete Marie. Sie tauschte das verdorrte Blumenblatt, das Mariechen gerade unter der Couch hervor zog, gegen einen Butterkeks. "Nur weil du dich schon mit angelutschten Keksen zufrieden gibst..." René öffnete gerade den Mund, um etwas blödes zu sagen, aber Leo war schneller. Zumindest seine giftigen Blicke waren schneller, die er dem grinsenden René zuwarf. "Er hat einen Namen", erklärte Marie geduldig. Sie warf Leo einen bösen Blick zu, der sich über die Empörung seiner eigentlich besten Freundin herrlich amüsierte. "Dann hat der angelutschte Keks halt einen Namen", alberte Leo, ohne die Blicke von Marie, die zwischen Wut und Lachen schwankte, noch großartig zu beachten. Mariechen war zu ihm hingekrabbelt und hatte sich an Leos Hosenbein hochgezogen. Mit wackeligen Beinchen stand sie da, krallte sich mit der einen Faust in den Jeansstoff und hielt die andere Hand auffordernd zu Leo empor. "Siehst du, deine Tochter hat schon einen ausgezeichneten Männergeschmack." Leo hob Mariechen auf seinen Arm und ignorierte tapfer die aufgeweichten Kekskrümel, die sie ihm ins Gesicht malte. "Bis sie merkt, was für Schwachköpfe es auf der Welt gibt." Marie drückte Leo einen giftgrünen Plastiklöffel in die Hand. Sie kramte in der Wickeltasche und zog ein Lätzchen daraus hervor, das sie Mariechen umband. Der Deckel des Breigläschens knackte, als Marie ihn öffnete. "Bitte schön", sagte sie an Leo gewandt, "jetzt kannst du zeigen, ob du besser als der angelutschte Keks bist." "Schaffe ich mit links." Leo zog eine Augenbraue skeptisch in die Höhe. Er sollte Mariechen füttern? Na, wenn das mal keine Toten gab... Nach den ersten fünf Löffeln machte es Leo tatsächlich so etwas wie Spaß, die Kleine zu füttern. Gut, am meisten Spaß machte ihm dabei Renés entsetzte Mimik, weil Mariechen es unglaublich lustig fand, mit Leo einen Wettstreit um den Brei auszutragen. Schaffte er es, ihr einen Löffel davon in den Mund zu schieben, bevor sie den Brei laut lachend vom Löffel schlug? Zu Leos und Mariechens Freude gewann die Kleine meistens. René hatte sprachlos zusehen müssen, wie die Hälfte der Portion sich auf seiner Couch und dem Teppich verteilten. Bis ihn Marie endlich erlöste und ihn mit in die Küche schleppte. "Hast du schon mit ihm darüber geredet?" Marie und René standen am geöffneten Küchenfenster. Marie blies den Zigarettenrauch nach draußen in den wolkenlosen Sommerhimmel. Im Hinterhof rannten ein paar Kinder um die dort stehenden Bäume und spielten Verstecken. René hatte das Kinn auf eine Hand gestützt und sah nach unten. Das Kind, das gerade mit Suchen an der Reihe war, stand mit dem Gesicht einem Holzschuppen zugewandt da und zählte laut vor sich hin, während die anderen Kinder sich nach Verstecken umsahen. "Noch nicht", beantwortete René Maries Frage. "Soll ich es tun? Die Beerdigung ist in vier Tagen." Marie schnippte die Asche von ihrer Zigarette nach draußen. Sie beobachtete René genau. Er tat ihr leid. Ja, doch, auch wenn es ihr nicht gefallen hatte, wie verworren die Beziehungen unter René, Leo und Denny verlaufen waren. Sie mochte jeden von ihnen, aber sie hatte lieber klare Verhältnisse. "Ich frage ihn nachher, wenn es dir nichts ausmacht", bot sie René an, der sie dankbar anlächelte. "Er ist komisch", sagte René nach einer Weile. Im Hof rannten das suchende Kind und eines der entdeckten um die Wette zu dem alten Holzschuppen. "Komischer als sonst, meine ich", fügte René hinzu. Marie wartete geduldig und René versuchte das, was ihn an Leo im Moment so irritierte, in möglichst schonende Worte zu fassen. Er wusste, dass Marie Leo sehr mochte. "Er hat kein Wort darüber verloren und-" René dachte kurz nach. "Ich glaube auch nicht, dass er hingeht." Marie nickte langsam. Sie hatte nichts anderes von Leo erwartet. "Du gehst doch hin, oder?" "Ja, schon." René drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, der zwischen zwei Blumentöpfen mit undefinierbarem Grünzeug darin stand. "Ich glaube, ich könnte jemanden zum Händchen halten gebrauchen..." Er sah Marie fragend an, die ihn verständnisvoll anlächelte. Sie griff nach Renés eiskalter Hand und drückte sie zuversichtlich. "Ich bin dabei." René nickte erleichtert. "Kommst du am Samstag mit?" Marie vermied es, Leo anzusehen, der mit Mariechen auf dem Arm die Treppe neben ihr hinunter ging. Im Augenwinkel sah sie, dass er ihr das Gesicht kurz zuwandte, aber weiter schwieg. Marie war froh darüber. Immerhin dachte Leo darüber nach. Erst als sie unten im Flur angekommen waren, antwortete Leo ihr. "Ich muss arbeiten", verneinte Leo wie von René vorhergesehen. Marie kniff die Lippen zusammen. "Verstehe", sagte sie leise. Es war keine Floskel, sie verstand es wirklich. Geduldig wartete sie, bis Leo seine Aufmerksamkeit von Mariechen ließ, die völlig erschöpft auf seinem Arm eingeschlafen war, und sie ansah. Natürlich hätte er freibekommen, stand in seinem Gesicht geschrieben. Er hätte nur fragen müssen. Marie konnte ihm noch nicht einmal böse sein. Sie hielt Leo die Tür auf und hakte sich dann draußen bei ihm unter. "Dein angelutschter Keks", begann Leo nach einigen Metern unvermittelt und Marie sah schockiert zu Leo auf. Leo warf ihr einen schnellen Blick zu. Ihr Griff um seinen Arm hatte sich unbewusst gelockert. "Hat er dich schon gefragt, ob du ihn heiraten möchtest?" "Leo!" Marie klang böse, auch wenn sie eher erschrocken aussah. "Was geht das dich an?" "Ich meine ja nur wegen Mariechen und-" "Du verspielst dir gerade alle Sympathien, du Spinner!", fuhr sie ihn verärgert an. Tat er nicht. Leo lachte vor sich hin. "Was für eine Zeitverschwendung", murmelte Leo gerade so laut, dass Marie ihn trotz des Straßenlärms noch gut verstehen konnte. Marie schwieg beleidigt. Sie sah auf ihre Schuhspitzen hinab. "Er ist ein Idiot." Leo hatte beschlossen, nicht locker zu lassen. Entweder redete Marie danach nie wieder ein Wort mit ihm oder sie nahm es locker. "Ich hätte dich schon längst gefragt." Maries Magen machte einen Salto. Stur sah sie weiter zu Boden. Achtlos weggeworfene Werbezettel und Generationen von zertretenem Kaugummi waren die beste Ablenkung von dem, was sie fürchtete, was gleich folgen würde. Sie wusste, wenn sie Leo jetzt ansah, würde er das als Bestätigung sehen. "Klar, ich tausche einfach den einen Idioten gegen den anderen Idioten aus..." Leo sah auf Mariechen hinab, die, das kleine runde Gesicht gegen seine Brust gelehnt, friedlich schlief. Er strich vorsichtig über das Köpfchen mit den dunklen Haaren, die so zart wie Daunen waren. "Ich meinte das ernst", begann Leo wieder. "Ich weiß", fuhr Marie dazwischen. Sie klammerte sich fester an seinen Arm. Wenn sie losließ, würde sie wahrscheinlich weglaufen und das konnte sie Mariechen nicht antun... Leo blieb stehen und Marie, die noch bei ihm untergehakt war, tat es ihm zwangsläufig gleich. Seine Blicke ruhten ruhig auf ihrem Gesicht. Sein Mund öffnete sich und Marie, die alles nur noch wie in Zeitlupe wahrnahm, fühlte wie ihre Knie weich wurden. Und dann sprach er es aus. "Würdest du mich heiraten wollen?" xox --- "Wenn wir uns nicht schon so lange kennen würden, wäre das jetzt das Ende..." Marie sah ihn von unten herauf finster an. Sie war zwei Köpfe kleiner als Leo, hatte aber überhaupt keine Probleme, ihm aus dem Stand an den Hals zu springen, um ihn zu würgen oder vermutlich die Hauptschlagader durchzubeißen. Jedenfalls wirkten ihre giftigen Blicke gerade so. "Ich meine das wirklich so", fügte sie mit lauernder Stimme hinzu. "Ist das ein Ja?" Grinsend forderte Leo sein Glück weiter heraus, das seit seiner Frage, ob Marie ihn heiraten würde, auf wankender Spitze stand und nur ein einziges falsches Wort benötigte, um entweder in die eine oder die andere Richtung zu kippen. Egal, wohin er fiel, er war gut auf den Sturz vorbereitet. Das hätte er jetzt nicht denken sollen, oder? Zynismus war nicht sein Ding. Das war was für Menschen, die Angst vor den Konsequenzen ihrer geäußerten Meinung hatten. Hatte er nicht. Brauchte er auch nicht. Warum also hatte er sich gerade diese Frage gestellt? War der Rest von ihm jetzt auch zum Würstchen geworden? Erleichtert nahm Marie Leos nachdenkliche Mimik wahr. Nicht, dass sie tatsächlich darüber nachdachte, ihre Freundschaft wegen so einer Lappalie zu beenden, aber das musste Leo ja nicht wissen. Wer wusste, auf was für idiotische Ideen er sonst noch kam?! Wegen Mariechen wollte er sie heiraten? Marie hätte beleidigt sein können. Stattdessen kam sie sich ertappt vor, weil sie selbst schon am Überlegen gewesen war, warum sie und Torsten - laut Leo der angelutschte Keks - nicht endlich heirateten. Ihm müsste sie böse sein, weil er nicht derjenige war, der sich Gedanken machte, die weiter als bis zur nächsten Woche reichten. Auf einmal fand sie Leos Frage nicht mehr so furchtbar taktlos, auch wenn sie sie nie bejahen würde. Sie ärgerte sich nur darüber, dass sie nun nie mehr so unbefangen mit Torsten am Tisch sitzen oder im Bett liegen konnte, ohne sich zu fragen, warum ausgerechnet Leo, der noch weniger von Beziehungen verstand als Torsten, nun dessen eigentliche Verpflichtungen einfach so übernehmen würde. "Wir hatten unsere Chance, meinst du nicht?" Um Leo nicht ansehen zu müssen sah Marie zu Mariechen, die noch immer, das Gesichtchen gegen Leos Brust gelehnt, selig schlief. Ihren Schnuller, der die Form einer Katzenschnauze samt rosafarbener Nase und aufgemalten Schnurrhaaren hatte, hielt sie in ihrer kleinen geballten Faust. Sie seufzte leise und rieb sich mit ihrer Hand die Augen. "Hatten wir", erwiderte Leo vernünftiger als es Marie von ihm gewohnt war. "Dann frag mich so etwas bitte nicht mehr, gut?" Leo rang sich zu einem Lächeln durch, das nicht nur Marie galt, sondern vor allem ihm selbst. Er musste sich selbst zuerst davon überzeugen, dass es vernünftig war, was Marie da sagte, auch wenn es ihm schwer fiel, sich damit zu belügen. "Ich tu's nicht mehr, versprochen." Henrik zog vorsichtig die Tür zu Normans Wohnung auf und betrat die Zeitkapsel, zu der die Räume darin geworden waren. Er war der erste, der die Tür öffnete und einen Fuß in die Wohnung setzte, seit sein Bruder die Tür hinter sich geschlossen hatte, mit der Absicht, nicht mehr zurückzukommen. Der erste Atemzug, den Henrik nun nahm, war für ihn also mehr als die bloße Aufnahme von Sauerstoff. Er beinhaltete alles, was in Henriks Augen eigentlich seinem Bruder zustand. Nicht er hätte den überquellenden Briefkasten unten im Hausflur leeren sollen. Er war es auch nicht, der den Schlüssel in das Wohnungstürschloss stecken sollte. Die Glühlampe im winzigen Flur war kaputt, aber wessen Aufgabe war es, sie zu wechseln? Seine sicher nicht. Henrik atmete tief ein und wieder aus. Er schloss die Wohnungstür hinter sich und wartete noch ein paar Herzschläge ab, wie ihn das Reich seines Bruders empfangen würde. Hier ist er, liebes Volk, Henrik I., euer neuer Herrscher - oder eher: Plünderer. Aus reiner, innerhalb einer Woche antrainierter Gewohnheit, sah Henrik zur Badezimmertür hinüber. Sie war nur angelehnt. Die beiden anderen Türen, die vom Flur abgingen, waren geschlossen. Ob das was zu heißen hatte? War das das letzte Zimmer, das Norman betreten hatte? Er war danach zu dieser Party gegangen, möglich wäre es also. Möglich wäre aber auch, dass ein Luftzug die Tür geöffnet hatte. Oder ein Windstoß die anderen Türen geschlossen hatte, die in die Küche und das Wohnzimmer führten. Absolut möglich wäre aber auch, dass er sich gerade mit lächerlichen Dingen abgab, auf die er sowieso nie eine Antwort bekommen würde, statt sich einzugestehen, dass er gerade kurz davor war, die Wohnungstür zu öffnen, hinaus ins Treppenhaus zu gehen, die Tür hinter sich zu schließen und heim zu seinen Eltern zu fahren, um ihnen zu sagen, dass es verdammt noch mal nicht seine Angelegenheit war, das Leben seines Bruders in Umzugskartons zu packen und zu entsorgen. Seine Aufgabe war, anständig um seinen Bruder trauern zu dürfen. In Ruhe, bitteschön. Er wollte keine Sekunde davon verpassen. Er wollte jetzt gerade nicht mehr daran denken müssen, was Norman getan hatte, als er vom Bahnhof nach Hause kam. Er wollte nicht Gefahr laufen, den einen entscheidenden Augenblick in dieser ihm unbekannten Zeitspanne kurz vor seinem Tod zu erwischen, an dem man alles, was danach kam, noch hätte verhindern können. Und diesen einen Augenblick gab es, musste es geben. Der alles entscheidende Moment, der wichtig gewesen wäre. Dessen rechtzeitiges Entdecken Normans Tod verhindert hätte. Der, den Henrik um gerade mal zehn Stunden verpasst hatte und der ihm wieder einmal den Magen umdrehte. Irgendwo steckte er. Irgendwo zwischen dieser Haustür und dem Haus, auf dessen Dach Norman einen Atemzug getan hatte, der vielleicht so wichtig gewesen war, wie derjenige, den Henrik hier getan hatte. Kalter Schweiß brach auf Henriks Stirn aus. Die Briefe und Werbezettel glitten aus seiner Hand und fielen raschelnd zu Boden, der vor seinen Augen verschwamm. Henrik fluchte leise und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Dieser verdammte Arsch! Was hatte er sich nur dabei gedacht? Mit einem Ruck an der Zugschnur riss Henrik die Jalousie im Wohnzimmer hoch. Der Staub, der eine Woche lang Zeit gehabt hatte, sich auf den Lamellen niederzulassen, wurde durch die plötzliche Bewegung aufgewirbelt und segelte träge in winzigen Partikeln durch die abgestandene Luft. Henrik öffnete das Fenster. Die frische Luft von draußen schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben. Ein erster Stoß bauschte die Vorhänge wie Segel auf und ließ den Staub, der sich gerade wieder am Legen war, wild umher tanzen. Der Straßenlärm, der Henrik die erste Zeit, die er hier verbracht hatte, mehrmals um den Schlaf gebracht hatte, drang zu ihm wie eh und je. Mittags ging es ja noch, aber wenn am späten Nachmittag die ersten Bistros und das Kino öffneten, wurde es deutlich lebhafter. Erst recht an den Wochenenden. Norman schien dafür wie gemacht zu sein. Er hatte auch bei offenem Fenster ohne Probleme schlafen können. Er hätte wahrscheinlich auch unten auf dem Bürgersteig direkt neben der Straße schlafen können. Hupende Autos, Fahrradklingeln, kläffende Hunde und umher hetzende Passanten? Kleinigkeit. Norman war hier zu Hause gewesen - mehr als in seinem früheren Zuhause bei Henrik und ihren Eltern. Gedankenverloren lauschte Henrik dem Straßenverkehr, der sich im Takt der umschaltenden Ampeln mal beschleunigte und dann wieder stoppte. Er hätte sich hier auch wohlgefühlt. Jetzt vermutlich nicht mehr so unbefangen wie er sich das ausgemalt hatte. Henrik ließ sich auf dem Sofa nieder. Er nahm sein Handy und rief die Nachrichten auf. Er musste etwas weiter nach unten zu den älteren Mitteilungen scrollen, vorbei an den zahlreichen, die ihn nach Normans Tod erreicht hatten. Bei Dennys Namen stoppte er. Warum hatte Norman Denny seine Nummer noch gegeben? War der Sprung nicht geplant gewesen? Machte man so etwas spontan? Henriks Zeigefinger schwebte bewegungslos über Denny, bis das Display sich verdunkelte. Er wartete einige Augenblicke und steckte sein Handy wieder zurück in die Hosentasche. Als ob er lesen müsste, um zu wissen, was drin stand?! Er kannte jedes Detail der Nachricht, die er, auf der Suche nach dem winzigsten Hinweis auf den Sprung vom Dach, gefühlte dreitausend Mal gelesen hatte. Das Datum und die Uhrzeit, die gleichzeitig auch das letzte Mal waren, dass Denny online gewesen war. Die Begrüßung, die so freundlich und selbstverständlich klang wie an dem Abend, als er zu Norman ins Auto gestiegen war und Henrik begrüßt hatte. Die eigentliche Nachricht, bei der sich Henrik unglaublich geschmeichelt gefühlt hatte, und die Verabschiedung, die nicht nach Auf Nimmerwiedersehen klang. Wie konnte an einem einzigen Tag ein riesiges Universum entstehen? Henriks erschöpfte Blicke fielen auf das Foto von Norman und Denny, das neben ihm an der Wand hing. Es hing ziemlich niedrig - der untere Rand verschwand sogar etwas unter der Rückenlehne - aber das wirkte nur so, so lange sich die Schlafcouch in dieser Position befand. Hatte man sie zum Bett ausgezogen, war das Foto in der richtigen Höhe, um es, den Kopf auf dem Kissen liegend, genau vor Augen zu haben. Es war normantypisch ungerahmt und mit einer simplen Reißzwecke befestigt. Das Loch, das die Reißzwecke in das glänzende Papier gestochen hatte, wirkte etwas geweitet und an den Rändern leicht ausgefranst, ganz so, als hätte das Foto öfter mal den Platz gewechselt. Sachte strich Henrik über das Foto. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie es sich tatsächlich angefühlt hatte, Norman zu berühren. Wann war das letzte Mal gewesen? Die Kopfnuss am Bahnhof bei Henriks Anreise? Hätte er es doch nur geahnt, wie alles enden würde - er hätte sich alles besser eingeprägt, wenn er es schon nicht mehr rückgängig machen konnte. Norman hatte das nicht geplant. Mit Sicherheit nicht. Vielleicht war es doch nur ein dummer Unfall gewesen. Norman sprang nicht einfach von irgendwo runter. Erst recht nicht, wenn er Gefahr lief, dabei sterben oder sich schwer verletzen zu können. Norman, der in einem Park saß, einen Arm über Dennys Schultern liegen hatte und glücklich in die Kamera lachte, tat so etwas nicht. Er hätte Henrik doch nie alleine gelassen. Und wenn er es getan hätte, absichtlich, hätten es ihre Eltern ihm gesagt, alleine schon wegen der Lektion, die Henrik daraus lernen sollte. Aber niemand sagte etwas. Er hatte noch so sehr darum betteln können, den Bericht sehen zu dürfen, ihre Eltern blieben stur bei ihrem Nein. Sie gaben sich damit zufrieden, was man ihnen gesagt hatte und ließen Henrik lieber alleine mit seinen Vorstellungen über jenen Abend. Und hier saß er nun inmitten von Normans Leben und die einzigen Gesprächspartner, die er hatte, waren die Geister dieses Lebens, die in den paar Habseligkeiten schlummerten, die von Norman übrig geblieben waren. Sie waren die einzigen, die ihm Antworten gaben, die seine Vorstellung in Bilder umwandelte. Frisches Blut auf dem gelben T-Shirt, das Norman getragen hatte, als er Henrik zum Zug gebracht hatte. Das war das klarste Bild unter den vielen, die sich mittlerweile angehäuft hatten. Henrik zupfte und drehte an der Reißzwecke, bis sie sich endlich aus der Wand löste. Er nahm das Foto und schob es in seine hintere Hosentasche. Wenn nichts von Normans Geistern übrig bleiben sollte, diese festgehaltene Erinnerung blieb bei ihm, bis es nur noch dieses eine Bild gab und die anderen, die Geister, verschwunden waren und die Fragen, wie etwa die, ob Norman und Denny sofort tot gewesen waren, sich mit ihnen verflüchtigten. Irgendwann musste es soweit sein. Das hoffte er. Zwei Kisten standen bereits gepackt im Flur und Henrik war gerade dabei, die dritte und letzte zu packen. Es war die, in die er die Dinge tat, die er mit zu ihren Eltern nehmen wollte, damit sie entschieden, was damit passieren sollte. Dazu gehörte auch Normans Notebook, das Henrik einige Augenblicke nachdenklich in der Hand hielt. Norman hatte den Messenger wirklich nicht gebraucht - weil er Henrik nichts zu sagen gehabt hatte? Henrik beschloss, das Notebook selbst zu behalten und legte es zurück auf den Schreibtisch. Ihren Eltern war zuzutrauen, dass sie es sowieso einfach wegwarfen. Seufzend ließ sich Henrik im Schreibtischstuhl nieder. Er verschränkte die Hände im Nacken und starrte vor sich auf die Tischplatte. Hier lag so vieles, was Norman irgendwann einmal wichtig gewesen sein musste, aber Henrik hatte keine Ahnung davon. Kinokarten, die ihren Weg in den Mülleimer noch nicht gefunden hatten, zum Teil unbeschriftete CDs, ein paar Postkarten, die ihm Leute geschickt hatten, deren Namen Henrik nichts sagten. Henrik schmunzelte über eine Postkarte. Der Verfasser berichtete irgendetwas über eine veraltete Straßenkarte, die in die Irre geführt hatte und einen abgeschleppten Mietwagen, in dem sich ausgerechnet sämtliche Papiere und Geldbörsen befunden hatten. Die Karte endete mit xox René. Henrik legte sie zu den anderen. Es waren nicht gerade wenige Karten und soweit er das überblicken konnte, kamen neun verschiedene Leute zusammen, die alle an Norman geschrieben hatten. Witzige Sachen wie die mit dem Mietwagen oder normales, was man eben so aus dem Urlaub berichtete. Alle hatten nur liebe Worte gefunden. Und trotzdem hatte niemand, wirklich niemand ihn dazu bringen können, sich alles noch einmal zu überlegen? Auch nicht xox-René, den er, wenn er sich die Verabschiedungsfloskel so betrachtete, besser gekannt haben musste? Normans Warum musste wohl ziemlich groß gewesen sein, dachte Henrik traurig. Ohne die Papiere weiter durchzusehen und zu sortieren, schob Henrik sie auf einem Haufen zusammen, den er dann in die Tüte neben dem Schreibtisch beförderte. Als er sich von seinem Sitzplatz erhob, sah er Normans Jeansjacke, die auf einem niedrigen Hocker lag. Henrik konnte nicht anders, als die Jacke anzuziehen. Sofort als er sie überstreifte fiel ihm Normans Geruch auf, der in jeder Faser zu sitzen schien. Henrik versetzte das einen unangenehmen Stich in die Magengrube. An dem Tag, als Norman sprang, war es warm gewesen. Nur deshalb lag die Jacke noch hier. Wäre es kälter gewesen, läge sie jetzt im Müll bei den anderen Kleidern, von denen man ihnen abgeraten hatte, sie zurückzunehmen. Da hatte Henrik das erste Mal die blanke Angst gepackt und das Bild von Normans gelbem T-Shirt mit den Blutflecken hatte seine ersten Konturen bekommen. Henrik rückte die Jacke zurecht. Sie passte nicht richtig. Die Ärmel waren zu kurz und um die Schultern spannte sie. Was auch kein Wunder war, da er seit einem guten Jahr größer als Norman war. So oft hatte er seinen großen Bruder damit aufgezogen, der ihn dennoch immer weiter als seinen kleinen Bruder vorgestellt hatte. Auch Denny. Ob Denny auch einen kleinen Bruder hatte? Oder eine Schwester? Henrik schob die Hände in die Taschen. Sie waren leer. Er zog die Jacke wieder aus und warf sie über die Rückenlehne des Schreibtischstuhls. Ganz egal, ob sie passte, die Jacke behielt er. Henrik wandte sich dem Hocker zu, der neben dem Sofa stand, und hob den Deckel hoch. Der Hocker war innen hohl und Norman hatte ihn als Stauraum für die Kleider benutzt, die gewaschen werden sollten. Das Zeug konnte weg und für den Hocker ließ sich sicher jemand finden, der ihn gebrauchen konnte. Genau wie für die ganzen anderen Möbel. Ohne allzu viel zu erwarten griff Henrik in das Innere des Hockers, um ihn auszuräumen. Das erste, was er zu fassen bekam, war ein T-Shirt und in dem Moment, in dem er es vor sich hielt, lachte Henrik das erste Mal seit Normans Tod. Das T-Shirt war gelb. Das verdammte T-Shirt war gelb. Dunkler Fluss -------------   Die Arme hinter dem Kopf verschränkt lag Henrik auf Normans Bettcouch und hörte dem Straßenlärm vor dem Fenster zu. Das letzte, was er wahrnahm, bevor er endgültig einschlief, war das kleine Loch in der Wand, das von der Reißzwecke stammte, die Norman und Dennys Bild gehalten hatte.   Der schrille Alarm, der Henrik abrupt aus dem Schlaf riss, ließ ihn auf seinem Nachtlager auffahren. Orientierungslos tastete er mit geschlossenen Augen nach seinem Handy, das diesen nervtötenden Höllenlärm von sich gab, bis er es neben sich auf dem Hocker zu greifen bekam. War es wirklich schon Morgen? Henrik blinzelte verschlafen auf das Display und schloss gleich darauf geblendet die Augen. Seufzend ließ er sich wieder zurück ins Kissen fallen. Er war todmüde, obwohl er laut Uhr neun Stunden geschlafen hatte. Henrik drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen, doch als ihm bewusst wurde, wo er tatsächlich lag, schrak er auf. Jetzt war Henrik hellwach. Er schwang die Beine von der Couch und fuhr sich schnell mit den Fingern durch die Haare. Vorsichtig hob er den Blick. Wenn man nicht gerade die leeren Regale oder den Schreibtisch betrachtete, konnte man meinen, alles wäre beim Alten. Es fehlte eigentlich nur Norman. Henriks Blick streifte das gelbe T-Shirt, das er im Hocker gefunden hatte und das jetzt über dem Schreibtischstuhl hing. Wieder spürte er die Erleichterung darüber, dass es völlig sauber war. Keine Blutflecken, wie in seiner Vorstellung. Es war so, wie Norman es an ihrem letzten gemeinsamen Morgen hier angezogen und dann irgendwann nach Henriks Abreise wieder ausgezogen hatte. Es war das letzte, an das er sich erinnern konnte, was mit Norman zusammenhing. Norman, wie er am Bahnhof stand und dem Zug, in dem Henrik saß, nachwinkte. Genauso würde er ihn in Erinnerung behalten. Schnell fuhr sich Henrik mit einer Hand über seine Augen. Diese dämlichen Dinger waren neuerdings nicht mehr ganz dicht... Möglichst ohne noch weiter in seiner Erinnerung nach allen hätte er doch nur's zu kramen, ging Henrik ins Bad. Er benutzte sogar die einsame Flasche Duschgel, die in der Dusche gestanden hatte, und das sogar fast ohne wieder zu weinen.   Eine halbe Stunde später starrte Henrik mit knurrendem Magen in den leise vor sich hin brummenden Kühlschrank. Die kleine Lampe erhellte das milchweiße Innere des nahezu klinisch reinen Kühlschranks. Henrik zog die Gemüseschublade auf. Nichts. Nicht einmal eine welke Möhre lag darin. Noch nicht einmal ein winziges Blättchen einer verwelkten Möhre. Absolut nichts. Und das kleine Gefrierfach obendrüber hatte außer einer dünnen Eiskruste an den Seitenwänden ebenfalls nichts zu bieten. Anklagend gab Henriks Magen ein erneutes Knurren von sich. "Ja, sorry, ich kann auch nix dafür", entschuldigte sich Henrik bei seinem Magen. Es war ja nicht geplant gewesen, dass er hier blieb. Henrik fiel das letzte Frühstück hier ein. Norman hatte sich dafür entschuldigt, dass er keinen Kaffee gehabt hatte. Aber Honig hatte er gehabt. Und Kakao. Nacheinander öffnete Henrik alle Schranktüren, doch bis auf ein bisschen Geschirr befand sich dort das gleiche darin, wie im Kühlschrank. Was gäbe er jetzt für eine Tasse verhassten Kaffee... Die letzte Schranktür fiel leise zu und Henrik nahm schwerfällig auf dem Küchenstuhl Platz. Es passte schon wieder alles besser zusammen, als ihm lieb war. Er ging sogar jede Wette ein, dass, wenn er den Mülleimer öffnen würde, nichts darin fände. Nicht einmal eine Mülltüte. Und er musste noch nicht einmal hinein schauen, um zu wissen, dass es so war. Schon gut, er hatte verstanden. Er packte die Kisten ein und verschwand endgültig von hier.   Ein leises Schnappen begleitete den Schlüssel, mit dem Henrik zum letzten Mal die Tür absperrte. Bitte weitergehen, hier gibt es nichts mehr zu sehen, sagte das Schnappen. Es gibt hier auch keinen warmen Kakao mehr für kleine, sentimentale Brüder. Honigbrötchen auch nicht. Kindheitserinnerungen sind erst recht verboten. Zeit, erwachsen zu werden. Jetzt nimm deine dämlichen Kisten und hau ab. Und dreh dich bloß nicht noch mal um!   Der Kofferraum von Normans kleinem schwarzen Auto fiel dumpf über den Umzugskisten zu. Der Wackeldackel auf der Hutablage, der noch immer auf der knallroten Plüschkachel von der Abrissparty thronte, nickte verstehend. Er hatte tatsächlich alle Kisten in dem Kofferraum untergebracht. Nicht, dass es besonders viele waren – Norman hatte schon dafür gesorgt, dass nicht mehr allzu viel von seinem Besitz übrig war –, aber es war noch genug, um es zuhause ihren Eltern vor die Füße zu werfen, damit sie sich ab jetzt selbst um den Scheiß kümmerten. Das letzte, was er noch tun würde, wäre, die Wohnungsschlüssel beim Hausverwalter abzugeben. Was der mit den Möbeln machte, war Henrik egal. Er fand, dass er seine Pflicht getan hatte. Er durfte gehen. Und komm bloß nicht mehr zurück!     Hör auf zu flennen, ermahnte sich Henrik zwei Stunden später selbst. Wie kann man nur flennen, wenn man 'ne Tür aufsperrt? Du bist echt das Letzte... Jetzt mach dir mal 'nen Kakao und iss was. Wie wär's mit 'nem Honigbrötchen? Gut, dass du die Möbel nicht rausgestellt hast. Stell dir mal vor, du müsstest die jetzt alle wieder nach oben tragen. Was für eine Schande. Mit zitternden Händen räumte Henrik den immer noch leise vor sich hin brummenden Kühlschrank ein. Die kleine Lampe darin schien ab jetzt auf eine Packung Milch, Butter und Eier. Honig und Marmelade kamen samt einem Päckchen Brötchen zum Aufbacken in den leeren Vorratsschrank, der jetzt nicht mehr ganz so leer aussah. Er hatte sogar an Mülltüten gedacht, die er sorgfältig in den Schrank unter der Spüle räumte, ganz so, als wäre er schon ewig verantwortungsvoller Mieter einer Wohnung und nicht erst seit zweieinhalb Stunden. Ganz genau, du bist ab jetzt selbst für alles verantwortlich, Holzkopf. Abgesehen davon, dass er nach seinem ungeplanten kleinen Einkauf nun nicht mehr viel Geld bei sich hatte, hatte er immerhin eine Wohnung, die bereits im Voraus für das kommende halbe Jahr bezahlt war. Von Norman. Und vermutlich auch von Denny, der garantiert mit in der Sache hing. Zumindest deutete das die letzte Nachricht an, die er Henrik geschickt hatte, und die jetzt endlich einen Sinn ergab: Nächstes Mal bleibst du länger. Im Prinzip war es das gleiche, was Norman zu ihm gesagt hatte und bis jetzt hatte er sich nichts großartig darunter vorstellen können; nach Normans Tod war es sogar mehr als absurd gewesen, aber Denny hatte recht behalten. Henriks Knie wurden langsam weich und seine Augen schimmerten schon wieder verdächtig feucht. Aber er lachte. Mann, wie er sich darauf freute, ihren Eltern die wunderbare Nachricht zu überbringen. Die würden ausflippen!     So leise es ging zog Leo die Tür hinter sich zu. René war gerade am Duschen und das Letzte, was Leo jetzt ertragen konnte, waren weitere Fragen von ihm. Er würde sicher nicht zu Dennys Beerdigung gehen, die morgen stattfinden sollte. Das hatte er René mindestens fünf Mal gesagt. Bei den letzten beiden Male sogar garniert mit Tipps, wo er sich diese verdammte Beerdigung gefälligst hinstecken sollte. Er konnte auf Dennys Familie verzichten. Und auf den scheiß Sarg. Und erst recht auf die Tränen und die Blicke. Er wollte nichts davon sehen oder hören. Nicht einmal Marie, die in einer halben Stunde hier auftauchen wollte, um mit René zu Normans Beisetzung zu fahren. Anscheinend hatten sie ihn gut genug gekannt, um jetzt dorthin zu fahren. Im Gegensatz zu Leo, der scheinbar nicht einmal Denny gut genug gekannt hatte... Leos Finger flog flink über das Display seines Handys. Bei der Nummer von dem Typen, den er auf Renés Geburtstagsparty kennengelernt hatte, blieb er hängen. Er hatte sich tatsächlich als Nummer-2-Mann in Leos Kontakte eingetragen. Und jetzt gab es noch nicht einmal mehr einen Nummer-1-Mann. Leo lachte trocken auf. Ohne den grünen Hörer neben seinem neuesten Kontakt gedrückt zu haben, ließ er sein Handy zurück in seine Hosentasche gleiten und machte sich auf den Weg zur nächsten S-Bahn-Haltestelle.   "Leonid, wie schön, dass du hier bist!" Leo beugte sich zu seiner Mutter hinab, die ihm die Tür geöffnet hatte, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Hinter ihr bellte Bonny, die sich nach elf Jahren noch immer nicht entschieden hatte, ob sie Leo mochte oder nicht. Der kleine Malteser wuselte möglichst dicht um Leos Beine, der die Wohnung betrat, und knurrte den jungen Mann an, während sie gleichzeitig mit dem Schwanz wedelte. "Teppichratte", säuselte Leo dem Hund so nett er konnte zu, der prompt damit begann, sich kläffend im Kreis zu drehen. "Beschwer' dich nicht, wenn er dich wieder beißt", tadelte Leos Mutter. "Keine Angst, ich beiße sie nicht mehr." Leo nahm Bonny auf den Arm, die nun knurrend die Zähne zeigte, nur um im nächsten Augenblick Leos Kinn abzulecken. "Ja, du kleine Töle, du weißt, dass ich Frauen mit Temperament mag, nicht wahr?" "Hast du Hunger?", rief Leos Mutter aus der Küche. "Nein, danke." Mit Bonny auf dem Arm warf Leo einen schnellen Blick ins Wohnzimmer. "Wo ist Papa?" "Vorstellungsgespräch", kam die Antwort. "Das fünfte in dieser Woche..." Leo sah seine Mutter verständnisvoll an, die ihn am Ellenbogen packte, und in ein angrenzendes Zimmer führte.   "Braucht ihr irgendwas?" Leo setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Schreibtisch seiner Mutter stand. Nur knapp entging er der Hand seiner Mutter, die nach seinem Kopf schlug. Nicht, dass sie ihn tatsächlich geschlagen hätte, aber alleine diese Geste reichte schon aus, dass er Bescheid wusste. Er lachte. Genau wie seine Mutter, die ihn nun in den Arm nahm. "Wir haben alles, keine Sorge." Sie drückte Leo noch einmal schnell an sich und nahm dann auf dem Stuhl Platz, der vor dem Schreibtisch stand. Ihre Hand griff nach ihrer Brille, die auf einer Büste von Virginia Woolf ihren Platz hatte. Leo achtete auf jede Bewegung, die seine Mutter tat. Er liebte seine Mutter. Und er liebte das Arbeitszimmer seiner Mutter, das wie eine räumliche Erweiterung all dessen war, was seine Mutter verkörperte. Dieser lichtdurchflutete Raum mit den riesigen Altbaufenstern war schon immer sein Rückzugsort gewesen, seit er denken konnte. Hier zwischen den zuckenden Lichtflecken, die die Sonne durch die Blätterkrone der Kastanie vor dem Fenster ins Zimmer warf, hatte er schon so manchen Tag verbracht. Als Kind meistens mit seinem Spielzeug auf dem Boden, während seine Mutter am Schreibtisch saß und Schulhefte kontrollierte. Später dann war er an viel zu vielen verkaterten Morgen auf der Recamiere aufgewacht, die an einer Wand zwischen zwei hohen Bücherregalen stand. Und immer hatte ein Glas Wasser daneben gestanden, wenn er seine geschwollenen Augenlider geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen hatte, weil der Restalkohol in seinem Kopf noch eine After-Show-Party feierte. Das schien alles schon so ewig her zu sein, noch lange bevor er Denny kennengelernt hatte. Lange bevor das alles zur Katastrophe geworden war. Leo seufzte, ohne den Blick seiner Mutter zu bemerken, die ihren Sohn aufmerksam beobachtete.   Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Schulhefte, von denen das oberste aufgeschlagen war. Leo betrachtete sich die wenigen Korrekturen mit roter Tinte. Darunter stand wie immer die Note und ein zweizeiliger persönlicher Text. Seine Mutter tat es immer noch. Schon seit er sich erinnern konnte, schrieb sie unter jede korrigierte Arbeit ein paar Sätze, die sich an den jeweiligen Schüler richteten. Und es war immer etwas motivierendes, was ihre Schüler scheinbar auch zu schätzen wussten, wie man an den wenigen Korrekturen sehen konnte, die nötig waren. Sachte strich Leo über das weiße Fell des Hundes, der auf seinem Schoß eingeschlafen war. René hatte ihm noch immer nicht verraten, woher genau er Norman kannte. Leo schätzte, dass er das auch nicht so schnell vorhatte. Irgendwo war ein Haken. Das leise Scharren von vier Stuhlbeinen auf Parkett ließ Leo aufsehen. Erschrocken stellte er fest, dass seine Mutter mit dem Korrigieren aller Arbeiten fertig war, ohne dass er es bewusst mitbekommen hatte. "Entschuldige, ich war wohl kurz in Gedanken." Bonny blinzelte ihn träge an, als Leo sich erhob und den Hund auf dem Boden absetzte. Er folgte seiner Mutter in die Küche und schwang sich auf die Arbeitsplatte. Bonny tapste zu ihrer Wasserschüssel und trank geräuschvoll daraus. "Möchtest du einen Tee?" Leo verdrehte die Augen. "Jetzt fängst du auch noch damit an..." Er dachte an die Tasse Tee, die ihm René in der Nacht nach Dennys Tod ans Bett gestellt hatte. Scheinbar machte Tee alles besser. Nur Tote weckte er nicht auf. "Dann warte wenigstens, bis meiner fertig ist." Seine Mutter füllte ihren alten roten Teekessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Die Gasflamme zuckte auf und schmiegte sich lodernd an den Boden des Kessels.   "Denny ist tot", sagte Leo. Unbeeindruckt nahm seine Mutter eine Porzellankanne vom Regal über dem Herd. Sie stellte sie neben Leo auf die Arbeitsfläche und streckte sich nach einer bunten Blechdose, in der sie den Tee aufbewahrte. "Denny ist tot und ich bin daran schuld", fügte Leo abgeklärt hinzu. Seine Mutter kippte den losen Tee in einen langen silbernen Filter aus Metall, den sie in die Kanne hing. Aus der Spitze des Teekessels stiegen Kringel aus Wasserdampf empor. Kurz darauf begann das Wasser blubbernd zu kochen und aus den Wasserdampfkringeln wurde eine stetige Säule, die nach oben stieg und sich in der Abzugshaube verlor. "Ich musste komischerweise noch kein einziges mal deswegen weinen." Leo sah mit schiefgelegtem Kopf seiner Mutter zu, die das kochende Wasser aus dem Kessel in die Teekanne goss. Sie platzierte die Kanne mitsamt zwei Tassen, einer Zuckerdose und einer kleinen Kanne Sahne auf einem Tablett und brachte alles zum Küchentisch hinüber. Leo glitt von der Arbeitsplatte und setzte sich zu seiner Mutter an den Küchentisch. "Eigentlich denke ich, dass ich hätte tot sein sollen." Leo erwiderte den Blick seiner Mutter, der forschend auf ihm ruhte. Sie streckte die Hand nach ihm aus und strich sachte über seine Wange. "Du bist heute so still, Leonid, was ist los?" Sie klang besorgt. Kein Wunder. Er wäre es auch. Vor allem da er wusste, dass das einzige mal, dass er Dennys Tod und seine eigene Schuld daran erwähnt hatte, in seinen eigenen Gedanken stattgefunden hatte. Unhörbar für seine Mutter und all die anderen, aber immer und immer wieder in Endlosschleife in seinem Kopf, seit er an jenem Abend über das Dach nach unten geblickt hatte. "Nichts, alles okay."   Unendlich unumkehrbar ---------------------     An jeder roten Ampel warf Henrik einen schnellen Blick neben sich auf das Handy, das, am Zigarettenanzünder angeschlossen, auf dem Beifahrersitz lag und sich auflud. Es war Normans Handy, das Henrik mit leerem Akku im Handschuhfach gefunden hatte. Norman hatte sein Handy gehasst, und damit meinte er, wirklich gehasst. Henrik hatte das zum ersten Mal zu spüren bekommen, nachdem er sich endlich die Telefonnummer seines Bruders erbettelt hatte. Wie oft hatte er ihm damals geschrieben und versucht, ihn anzurufen. Alle paar Wochen war dann mal eine kurze Antwort gekommen. Ein ok hier und da, oder sonst was, was höchstens vier Buchstaben beinhaltet hatte. Mehr nicht. Große Worte waren halt nie Normans Ding gewesen. Außer- Das winzige rote Lämpchen am oberen dunklen Displayrand wurde grün, als Henrik vor ihrem Elternhaus anhielt. Henriks Herz machte einen aufgeregten Satz. Er zog das Kabel aus dem Zigarettenanzünder und sah mit klopfendem Herzen hinab auf das kleine rechteckige Gerät in seiner Hand. Er musste es wissen. Er musste einfach wissen, was er finden würde, wenn er es einschaltete.   Henriks Blicke gingen hinüber zu ihrem Elternhaus hin, das still dastand. Wie unbewohnt, dachte Henrik bedrückt. In jeder normalen Familie würden sich jetzt alle für die Beerdigung fertig machen. Vor dem Haus stünden die Autos der Verwandtschaft und von engen Freunden, die vorbeigekommen waren, um den Hinterbliebenen beizustehen. Nicht bei ihnen. Hier war alles so verwaist, wie er es sein Leben lang gewohnt war. Und er hatte nie großartig darüber nachgedacht, weshalb das bei ihnen so war. Es war auf eine seltsame Art und Weise normal gewesen. Wie ein Geheimnis, von dem sie zwar alle wussten, das sich aber niemand anzusprechen traute. Warum hatten seine Eltern keinen Freundeskreis? Warum kam so selten mal Besuch? Und wenn, dann kam jemand aus der Verwandtschaft und immer wirkte alles so erzwungen und steif. Henrik sah auf das schwarze Display von Normans Handy hinab. Sein Daumen drückte auf eine Taste an der Seite und gleich darauf erwachte das Handy mit einem verhaltenen Vibrieren aus seinem Dornröschenschlaf. Bitte PIN eingeben, bat ihn das Handy formal. Henrik musste nicht lange nachdenken. Er gab einfach das erste ein, was zu Norman passen würde. 0000. Prompt verkündete das Handy mit fröhlicher Melodie, dass es nun bereit war. Typisch Norman, dachte Henrik und musste unwillkürlich über die PIN und den Hintergrund des Displays schmunzeln, der einfach nur aus dem üblichen 0815-Hintergrund bestand, womit man solche Handys eben auslieferte. Bloß nicht zu kompliziert. Das Handy begann, erneut zu vibrieren und begleitet von einem hellen Ton, der sich mehrmals wiederholte, gingen nacheinander diverse Nachrichten ein. Henriks Herz schlug ihm mit einem Mal bis zum Hals, je weiter die Zahl in dem roten Punkt neben dem Telefonhörer anstieg. Verpasster Anruf. Und noch einer. Noch einer. Noch zwei. Der SMS-Speicher tat es dem Telefonsymbol gleich. Beinahe wäre Henrik das Handy aus seinen plötzlich eiskalt gewordenen Händen gerutscht. Sein enger werdender Hals machte ihm das Atmen immer schwerer. Was für eine dumme Idee, Normans Handy einzuschalten und zu denken, nur weil er es kaum benutzt hatte, hätte niemand seine Nummer gehabt... Schnell drückte Henrik wieder die Taste an der Seite. Ausschalten - Neu starten - Flugmodus Ausschalten bitte, dachte Henrik und tippte auf die erste Auswahlmöglichkeit. Telefon herunterfahren? - Abbrechen - Ok Himmel, was war an Ausschalten so schwer zu verstehen? Henrik biss die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kieferknochen zu schmerzen begannen. Endlich wurde das Display wieder schwarz und Henrik pfefferte das kleine Gerät zurück ins Handschuhfach, wo es verdammt noch mal still sein sollte. Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss, startete den Wagen und fuhr los.   Schockiert sah René von seinem Handy hoch zu Marie, die neben ihm auf dem ausgefransten Sitz des Zuges saß und seine Blicke fragend erwiderte. Der Zug schaukelte sanft hin und her und ließ ihre Schultern gegeneinander stoßen. René brachte kein Wort hervor. In seiner Hand erlosch das Display seines Handys, das ihm gerade per SMS verkündet hatte, dass Norman wieder erreichbar sei. Maries Hand schob sich in seine. Ohne die Frage, die ihre Blicke stellten, auszusprechen, saß sie einfach da und drückte weiter seine Hand.     Norman wurde in seinem verhassten Heimatdorf beerdigt, was wie ein Triumph für ihre Eltern sein musste, die so ihrem ältesten Sohn noch einmal zeigen konnten, was wirklich wichtig war. Überraschung – er war es nicht. Henrik war deshalb wütend gewesen. Woraus er auch keinen Hehl gemacht hatte. Nicht einmal jetzt wo er tot war, konnten sie Normans Entscheidungen respektieren. Und ausgerechnet dieses Detail hatte Norman wohl nicht bedacht. Oder doch? War es Absicht, dass er hier begraben werden wollte? Warum war er sich so sicher gewesen, dass Henrik tatsächlich in die Stadt zog? Wenn er es sich jetzt doch überlegte, was dann? Jetzt, wo sein großer Bruder wieder zuhause war, konnte er ja auch hier bleiben. Doch das sachte Knistern eines Bildes, das in der Brusttasche seines Hemdes stach, sagte ihm was anderes, während Henrik aus dem Auto stieg und zur Aussegnungshalle ging.   Nach dem Gottesdienst stand Henrik bei seinen Großeltern, die er zwar nur noch selten sah, die ihn aber dennoch nicht weniger liebevoll begrüßten. Das erste Mal, seit die Trauerfeier begonnen hatte, fühlte Henrik so etwas wie Geborgenheit, als er so umrahmt von zwei Omas und seinem einen verbliebenen Opa vor dem rechteckigen, mit Kunstrasen umgebenen Abgrund stand, über dem Normans Sarg aufgebahrt thronte. Langsam ließ auch das bedrückende Gefühl in seinem Magen nach und Henrik konnte länger als zwei Sekunden zu dem ausgehobenen Grab hinsehen, in dem sein Bruder bald für immer verschwinden würde. Er hatte bis jetzt zu diesem Moment hier gebraucht, bis er begriffen hatte, dass nicht erst mit der Beerdigung alles vorbei sein würde, sondern dass schon lange davor alles vorbei gewesen war. Nicht, dass er den Tod nicht ernst genommen hätte, schon als Norman endgültig in seinen Sarg gelegt worden war, hatte Henrik eine erste Ahnung von Endlichkeit bekommen. Und wie er nun auch tatsächlich hier über dem für ihn vorgesehenen Rechteck in der Erde schwebte, da wusste Henrik, was nie mehr wieder hieß. Sein Schlimmstes nie-mehr-wieder lag in diesem Holzkasten, der noch heute in der Erde verschwinden würde, ohne dass man es sich noch einmal hätte überlegen können. Es gab keine Zugabe. Das hier war unendlich unumkehrbar. Henrik sah zu seinen Eltern. Sein Vater wirkte nicht als trauere er. Er schaute eher aus, als sei er wütend. Seine Mutter schien auch nicht sonderlich in irgendeiner Weise an dem beteiligt zu sein, was hier stattfand. Ungerührt war ihr Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet, so, wie sie auch während der Trauerfeier dagestanden hatte. Lediglich die Blumen in ihrer Hand waren kurz davor, zu Boden zu fallen. Henrik fragte sich, was ihr wohl gerade durch den Kopf ging? Wann der beste Zeitpunkt gewesen wäre, all das abzuwenden? Fühlte sie die gleiche Angst wie Henrik vor diesem Punkt? Mit dem Unterschied, dass ihrer noch weiter zurück liegen musste, damals, als Norman und Henrik noch Kinder gewesen waren. Vielleicht sogar noch weiter davor. Nur seiner lag in der Gegenwart wie ein Fixpunkt, um den sich ab jetzt alles drehen würde.   Die Schlange der zum größten Teil dunkel gekleideten Trauergäste, die zwischen den Grabreihen zu dem ausgehobenen Grab wanderte, wirkte wie ein schwarzer, aufgewühlter Fluss. Beklommen sah Henrik zu, wie sich der Fluss durch die Schluchten der Gedenksteine wand und zu ihnen floss. Ihm wurde schwummerig, weil es doch mehr Leute waren, als er gedacht hätte. Kurz bevor er den Eindruck hat, der dunkle Fluss aus Menschen könne über ihm zusammenschlagen, ihn mitreißen und ertränken, verlief er sich und bildete nun einen ruhigen See, der das Grab und Henrik umgab. Hier und da wogte die Trauer wie windbewegte Wellen über sich senkende Köpfe und zittrige Hände, die hastig aufkommende Tränen wegwischten, doch alles in allem hatte der Fluss seinen ersten Schrecken verloren. Henrik atmete auf. Es waren so viele Freunde von Norman gekommen, von denen er nur einen Bruchteil kannte. Wie viele darunter wohl an jenem Abend auf der Party dabei gewesen waren? Henrik meinte, sie daran zu erkennen, dass sie den gleichen gehetzten Blick hatten, den er bei sich selbst gesehen hatte, nachdem er die Nachricht von Normans Tod bekommen hatte. In vielen Gesichtern spiegelte sich der gleiche Ausdruck des Unglaubens über das, was man gerade zu hören bekommen hatte. Was sie wohl alles gesehen hatten? War es das gleiche, was er sich ständig vorstellte? Henrik wandte den Blick von Normans Sarg ab. Er kannte mittlerweile sowieso jede einzelne Maserung in dem Holz, hatte er das Gefühl, so lange hatte er den Sarg in der Halle und hier schon angestarrt. Und trotzdem konnte er den Blick nicht lange von dem Holz lassen. Er musste so viel davon behalten, wie nur möglich, bevor das alles nachher für immer mit Erde bedeckt wurde. Es waren die letzten Sonnenstrahlen, die auf Norman schienen. Die letzten Windzüge, die darüber strichen. Der letzte Vogelgesang. Du Idiot, verdammter.     Der Großteil der Trauergäste verabschiedete sich direkt nach der Beisetzung und der winzige Rest, der noch geblieben war, befand sich jetzt in der kleinen Kneipe ihres Dorfs, um dort Kuchen zu essen und Kaffee zu trinken. Henrik hatte sich schon früher entschuldigt und sich unter einem Vorwand davongeschlichen. Er hatte keine Lust auf Kuchen oder den anderen Schnickschnack, der seinen Bruder auch nicht mehr lebendig machte. Er saß wieder in Normans Auto und hielt das Handy seines Bruders in der Hand. Der 0815-Hintergrund tauchte auf und mit ihm die Nachrichten über 17 verpasste Anrufe und doppelt so viele Mitteilungen. Schnell schluckte Henrik die Tränen runter, die in seinen Augen brannten. Er dachte nach. Wie immer seit dem Tag am Bahnhof, an dem Norman ihm nachgewunken hatte. Henrik konnte sich nicht überwinden, die Liste der verpassten Anrufe durchzugehen. Er wusste, dass dort mindestens vier von ihm selbst darunter waren. Und einer davon war der Anruf, weil sein Zug Verspätung gehabt hatte. Alle anderen waren erst nach der Nachricht über Normans Tod gemacht worden, als ob er noch die Hoffnung gehabt hätte, dass Norman doch irgendwie noch ans Telefon gehen und sagen würde, dass das alles ein dummer makaberer Witz war. Ich tu's auch nie wieder. Versprochen, du Baby - hör auf zu flennen, sonst gibt es 'ne Kopfnuss. Es war kein Witz gewesen. Die Inschrift über dem steinernen Bogen über dem Eingang des Friedhofs kam Henrik in den Sinn. Memento Mori hatte dort auf einem Banner gestanden, das links von einer jungen und rechts von einer alten Frau gehalten wurde. Jede der Frauen hielt eine Sanduhr in der freien Hand und zu ihren Füßen lagen Totenschädel. Wie banal, hatte er da noch gedacht. Als ob nicht jedem bewusst war, dass er irgendwann sterben musste... Doch nach der Beerdigung hatte Henrik beim Verlassen des Friedhofs wieder auf den Steinbogen gesehen, auf die Rückseite davon. Und dort hatte etwas anderes gestanden. Memento vivere. Umrahmt von Früchten und Blumen. Und dazwischen wieder die beiden Sanduhren. Vergiss nicht zu leben - das hatte Norman wohl damit sagen wollen, als er keinen anderen Wunsch wegen des Orts seiner Bestattung geäußert hatte. Er war hier und wenn Henrik wollte, konnte er vorbeikommen und den sicher winzig kleinen Grabstein betrachten, zu dem sich ihre Eltern durchringen würden. Aber wehe, du bringst Blumen mit...   Entschlossen drückte Henriks Daumen auf den Telefonspeicher. Nach kurzem Zögern sah er alle Nummern durch, bis ihm eine davon regelrecht ins Auge sprang: René. Henrik sog die Luft lautstark ein und unterdrückte die aufkommende Panikattacke. xox-René? Schneller als sein Verstand schaltete, hatte Henrik sein eigenes Handy in der Hand und noch schneller, als sein Verstand endlich protestieren konnte, hatte er die Nummer von xox-René in die Suchmaschine eingegeben. Bingo – ein breites Grinsen bog Henriks Mundwinkel nach oben. Sollten die drinnen Kuchen essen, er selbst hatte noch etwas zu erledigen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)