Stille Wasser von Ixtli ================================================================================ Unendlich unumkehrbar ---------------------     An jeder roten Ampel warf Henrik einen schnellen Blick neben sich auf das Handy, das, am Zigarettenanzünder angeschlossen, auf dem Beifahrersitz lag und sich auflud. Es war Normans Handy, das Henrik mit leerem Akku im Handschuhfach gefunden hatte. Norman hatte sein Handy gehasst, und damit meinte er, wirklich gehasst. Henrik hatte das zum ersten Mal zu spüren bekommen, nachdem er sich endlich die Telefonnummer seines Bruders erbettelt hatte. Wie oft hatte er ihm damals geschrieben und versucht, ihn anzurufen. Alle paar Wochen war dann mal eine kurze Antwort gekommen. Ein ok hier und da, oder sonst was, was höchstens vier Buchstaben beinhaltet hatte. Mehr nicht. Große Worte waren halt nie Normans Ding gewesen. Außer- Das winzige rote Lämpchen am oberen dunklen Displayrand wurde grün, als Henrik vor ihrem Elternhaus anhielt. Henriks Herz machte einen aufgeregten Satz. Er zog das Kabel aus dem Zigarettenanzünder und sah mit klopfendem Herzen hinab auf das kleine rechteckige Gerät in seiner Hand. Er musste es wissen. Er musste einfach wissen, was er finden würde, wenn er es einschaltete.   Henriks Blicke gingen hinüber zu ihrem Elternhaus hin, das still dastand. Wie unbewohnt, dachte Henrik bedrückt. In jeder normalen Familie würden sich jetzt alle für die Beerdigung fertig machen. Vor dem Haus stünden die Autos der Verwandtschaft und von engen Freunden, die vorbeigekommen waren, um den Hinterbliebenen beizustehen. Nicht bei ihnen. Hier war alles so verwaist, wie er es sein Leben lang gewohnt war. Und er hatte nie großartig darüber nachgedacht, weshalb das bei ihnen so war. Es war auf eine seltsame Art und Weise normal gewesen. Wie ein Geheimnis, von dem sie zwar alle wussten, das sich aber niemand anzusprechen traute. Warum hatten seine Eltern keinen Freundeskreis? Warum kam so selten mal Besuch? Und wenn, dann kam jemand aus der Verwandtschaft und immer wirkte alles so erzwungen und steif. Henrik sah auf das schwarze Display von Normans Handy hinab. Sein Daumen drückte auf eine Taste an der Seite und gleich darauf erwachte das Handy mit einem verhaltenen Vibrieren aus seinem Dornröschenschlaf. Bitte PIN eingeben, bat ihn das Handy formal. Henrik musste nicht lange nachdenken. Er gab einfach das erste ein, was zu Norman passen würde. 0000. Prompt verkündete das Handy mit fröhlicher Melodie, dass es nun bereit war. Typisch Norman, dachte Henrik und musste unwillkürlich über die PIN und den Hintergrund des Displays schmunzeln, der einfach nur aus dem üblichen 0815-Hintergrund bestand, womit man solche Handys eben auslieferte. Bloß nicht zu kompliziert. Das Handy begann, erneut zu vibrieren und begleitet von einem hellen Ton, der sich mehrmals wiederholte, gingen nacheinander diverse Nachrichten ein. Henriks Herz schlug ihm mit einem Mal bis zum Hals, je weiter die Zahl in dem roten Punkt neben dem Telefonhörer anstieg. Verpasster Anruf. Und noch einer. Noch einer. Noch zwei. Der SMS-Speicher tat es dem Telefonsymbol gleich. Beinahe wäre Henrik das Handy aus seinen plötzlich eiskalt gewordenen Händen gerutscht. Sein enger werdender Hals machte ihm das Atmen immer schwerer. Was für eine dumme Idee, Normans Handy einzuschalten und zu denken, nur weil er es kaum benutzt hatte, hätte niemand seine Nummer gehabt... Schnell drückte Henrik wieder die Taste an der Seite. Ausschalten - Neu starten - Flugmodus Ausschalten bitte, dachte Henrik und tippte auf die erste Auswahlmöglichkeit. Telefon herunterfahren? - Abbrechen - Ok Himmel, was war an Ausschalten so schwer zu verstehen? Henrik biss die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kieferknochen zu schmerzen begannen. Endlich wurde das Display wieder schwarz und Henrik pfefferte das kleine Gerät zurück ins Handschuhfach, wo es verdammt noch mal still sein sollte. Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss, startete den Wagen und fuhr los.   Schockiert sah René von seinem Handy hoch zu Marie, die neben ihm auf dem ausgefransten Sitz des Zuges saß und seine Blicke fragend erwiderte. Der Zug schaukelte sanft hin und her und ließ ihre Schultern gegeneinander stoßen. René brachte kein Wort hervor. In seiner Hand erlosch das Display seines Handys, das ihm gerade per SMS verkündet hatte, dass Norman wieder erreichbar sei. Maries Hand schob sich in seine. Ohne die Frage, die ihre Blicke stellten, auszusprechen, saß sie einfach da und drückte weiter seine Hand.     Norman wurde in seinem verhassten Heimatdorf beerdigt, was wie ein Triumph für ihre Eltern sein musste, die so ihrem ältesten Sohn noch einmal zeigen konnten, was wirklich wichtig war. Überraschung – er war es nicht. Henrik war deshalb wütend gewesen. Woraus er auch keinen Hehl gemacht hatte. Nicht einmal jetzt wo er tot war, konnten sie Normans Entscheidungen respektieren. Und ausgerechnet dieses Detail hatte Norman wohl nicht bedacht. Oder doch? War es Absicht, dass er hier begraben werden wollte? Warum war er sich so sicher gewesen, dass Henrik tatsächlich in die Stadt zog? Wenn er es sich jetzt doch überlegte, was dann? Jetzt, wo sein großer Bruder wieder zuhause war, konnte er ja auch hier bleiben. Doch das sachte Knistern eines Bildes, das in der Brusttasche seines Hemdes stach, sagte ihm was anderes, während Henrik aus dem Auto stieg und zur Aussegnungshalle ging.   Nach dem Gottesdienst stand Henrik bei seinen Großeltern, die er zwar nur noch selten sah, die ihn aber dennoch nicht weniger liebevoll begrüßten. Das erste Mal, seit die Trauerfeier begonnen hatte, fühlte Henrik so etwas wie Geborgenheit, als er so umrahmt von zwei Omas und seinem einen verbliebenen Opa vor dem rechteckigen, mit Kunstrasen umgebenen Abgrund stand, über dem Normans Sarg aufgebahrt thronte. Langsam ließ auch das bedrückende Gefühl in seinem Magen nach und Henrik konnte länger als zwei Sekunden zu dem ausgehobenen Grab hinsehen, in dem sein Bruder bald für immer verschwinden würde. Er hatte bis jetzt zu diesem Moment hier gebraucht, bis er begriffen hatte, dass nicht erst mit der Beerdigung alles vorbei sein würde, sondern dass schon lange davor alles vorbei gewesen war. Nicht, dass er den Tod nicht ernst genommen hätte, schon als Norman endgültig in seinen Sarg gelegt worden war, hatte Henrik eine erste Ahnung von Endlichkeit bekommen. Und wie er nun auch tatsächlich hier über dem für ihn vorgesehenen Rechteck in der Erde schwebte, da wusste Henrik, was nie mehr wieder hieß. Sein Schlimmstes nie-mehr-wieder lag in diesem Holzkasten, der noch heute in der Erde verschwinden würde, ohne dass man es sich noch einmal hätte überlegen können. Es gab keine Zugabe. Das hier war unendlich unumkehrbar. Henrik sah zu seinen Eltern. Sein Vater wirkte nicht als trauere er. Er schaute eher aus, als sei er wütend. Seine Mutter schien auch nicht sonderlich in irgendeiner Weise an dem beteiligt zu sein, was hier stattfand. Ungerührt war ihr Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet, so, wie sie auch während der Trauerfeier dagestanden hatte. Lediglich die Blumen in ihrer Hand waren kurz davor, zu Boden zu fallen. Henrik fragte sich, was ihr wohl gerade durch den Kopf ging? Wann der beste Zeitpunkt gewesen wäre, all das abzuwenden? Fühlte sie die gleiche Angst wie Henrik vor diesem Punkt? Mit dem Unterschied, dass ihrer noch weiter zurück liegen musste, damals, als Norman und Henrik noch Kinder gewesen waren. Vielleicht sogar noch weiter davor. Nur seiner lag in der Gegenwart wie ein Fixpunkt, um den sich ab jetzt alles drehen würde.   Die Schlange der zum größten Teil dunkel gekleideten Trauergäste, die zwischen den Grabreihen zu dem ausgehobenen Grab wanderte, wirkte wie ein schwarzer, aufgewühlter Fluss. Beklommen sah Henrik zu, wie sich der Fluss durch die Schluchten der Gedenksteine wand und zu ihnen floss. Ihm wurde schwummerig, weil es doch mehr Leute waren, als er gedacht hätte. Kurz bevor er den Eindruck hat, der dunkle Fluss aus Menschen könne über ihm zusammenschlagen, ihn mitreißen und ertränken, verlief er sich und bildete nun einen ruhigen See, der das Grab und Henrik umgab. Hier und da wogte die Trauer wie windbewegte Wellen über sich senkende Köpfe und zittrige Hände, die hastig aufkommende Tränen wegwischten, doch alles in allem hatte der Fluss seinen ersten Schrecken verloren. Henrik atmete auf. Es waren so viele Freunde von Norman gekommen, von denen er nur einen Bruchteil kannte. Wie viele darunter wohl an jenem Abend auf der Party dabei gewesen waren? Henrik meinte, sie daran zu erkennen, dass sie den gleichen gehetzten Blick hatten, den er bei sich selbst gesehen hatte, nachdem er die Nachricht von Normans Tod bekommen hatte. In vielen Gesichtern spiegelte sich der gleiche Ausdruck des Unglaubens über das, was man gerade zu hören bekommen hatte. Was sie wohl alles gesehen hatten? War es das gleiche, was er sich ständig vorstellte? Henrik wandte den Blick von Normans Sarg ab. Er kannte mittlerweile sowieso jede einzelne Maserung in dem Holz, hatte er das Gefühl, so lange hatte er den Sarg in der Halle und hier schon angestarrt. Und trotzdem konnte er den Blick nicht lange von dem Holz lassen. Er musste so viel davon behalten, wie nur möglich, bevor das alles nachher für immer mit Erde bedeckt wurde. Es waren die letzten Sonnenstrahlen, die auf Norman schienen. Die letzten Windzüge, die darüber strichen. Der letzte Vogelgesang. Du Idiot, verdammter.     Der Großteil der Trauergäste verabschiedete sich direkt nach der Beisetzung und der winzige Rest, der noch geblieben war, befand sich jetzt in der kleinen Kneipe ihres Dorfs, um dort Kuchen zu essen und Kaffee zu trinken. Henrik hatte sich schon früher entschuldigt und sich unter einem Vorwand davongeschlichen. Er hatte keine Lust auf Kuchen oder den anderen Schnickschnack, der seinen Bruder auch nicht mehr lebendig machte. Er saß wieder in Normans Auto und hielt das Handy seines Bruders in der Hand. Der 0815-Hintergrund tauchte auf und mit ihm die Nachrichten über 17 verpasste Anrufe und doppelt so viele Mitteilungen. Schnell schluckte Henrik die Tränen runter, die in seinen Augen brannten. Er dachte nach. Wie immer seit dem Tag am Bahnhof, an dem Norman ihm nachgewunken hatte. Henrik konnte sich nicht überwinden, die Liste der verpassten Anrufe durchzugehen. Er wusste, dass dort mindestens vier von ihm selbst darunter waren. Und einer davon war der Anruf, weil sein Zug Verspätung gehabt hatte. Alle anderen waren erst nach der Nachricht über Normans Tod gemacht worden, als ob er noch die Hoffnung gehabt hätte, dass Norman doch irgendwie noch ans Telefon gehen und sagen würde, dass das alles ein dummer makaberer Witz war. Ich tu's auch nie wieder. Versprochen, du Baby - hör auf zu flennen, sonst gibt es 'ne Kopfnuss. Es war kein Witz gewesen. Die Inschrift über dem steinernen Bogen über dem Eingang des Friedhofs kam Henrik in den Sinn. Memento Mori hatte dort auf einem Banner gestanden, das links von einer jungen und rechts von einer alten Frau gehalten wurde. Jede der Frauen hielt eine Sanduhr in der freien Hand und zu ihren Füßen lagen Totenschädel. Wie banal, hatte er da noch gedacht. Als ob nicht jedem bewusst war, dass er irgendwann sterben musste... Doch nach der Beerdigung hatte Henrik beim Verlassen des Friedhofs wieder auf den Steinbogen gesehen, auf die Rückseite davon. Und dort hatte etwas anderes gestanden. Memento vivere. Umrahmt von Früchten und Blumen. Und dazwischen wieder die beiden Sanduhren. Vergiss nicht zu leben - das hatte Norman wohl damit sagen wollen, als er keinen anderen Wunsch wegen des Orts seiner Bestattung geäußert hatte. Er war hier und wenn Henrik wollte, konnte er vorbeikommen und den sicher winzig kleinen Grabstein betrachten, zu dem sich ihre Eltern durchringen würden. Aber wehe, du bringst Blumen mit...   Entschlossen drückte Henriks Daumen auf den Telefonspeicher. Nach kurzem Zögern sah er alle Nummern durch, bis ihm eine davon regelrecht ins Auge sprang: René. Henrik sog die Luft lautstark ein und unterdrückte die aufkommende Panikattacke. xox-René? Schneller als sein Verstand schaltete, hatte Henrik sein eigenes Handy in der Hand und noch schneller, als sein Verstand endlich protestieren konnte, hatte er die Nummer von xox-René in die Suchmaschine eingegeben. Bingo – ein breites Grinsen bog Henriks Mundwinkel nach oben. Sollten die drinnen Kuchen essen, er selbst hatte noch etwas zu erledigen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)