The Sin Verse von P-Chi ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- 1952 Es war eine kühle Nacht. Niemand befand sich mehr in der verlassenen Allee, bestehend aus Bäumen und Straßenlaternen, die wenigstens ein bisschen Licht spendeten, wenn sich bereits der Mond hinter einer dichten Wolkendecke versteckte. Eine Frau mit hochgestecktem, blondem Haar und einem erstaunlich sicheren Schritt, dafür, dass sie in gefährlich hohen Schuhen ging, war scheinbar die einzige Person, die sich um drei Uhr morgens hierher verirrt hatte. Genau genommen jedoch, war sie auf dem nach Hause weg nach einer durchzechten Nacht als Edelhure, lediglich bekleidet in weißer Reizwäsche und einem kurzen, braunen Mantel, der ihre langen Beine mehr schlecht als recht bedeckte. Für gewöhnlich machte es ihr nichts aus so spät noch unterwegs zu sein, besonders wenn das dicke Geldbündel in ihrer Tasche so schwer war, doch in den letzten Tagen fühlte sie sich seltsam verfolgt. Nicht wie von einem Verehrer, die sie bei Gott genug hatte, sondern eher so, als würde ein Raubtier sie beobachten. Andauernd hatte sie das Gefühl, dass stechende Augen auf ihr ruhten und jede ihrer Bewegungen verfolgte. In diesen Augenblicken schnürte sich ihr die Kehle zu und sie hatte das schreckliche Bedürfnis zu rennen. Rennen, rennen, rennen, so weit es nur ging. Doch dann schalt sie sich eine Idiotin und kehrte ihrer schlechten Vorahnung den Rücken zu. Natürlich machte ihr alles andere als ehrenhafter Beruf sie paranoid, daher durfte sie sich keinesfalls zu sehr hinein steigern, wenn sie nicht verrückt werden wollte. Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und beschleunigte ihren Schritt. Einerseits, weil ihr von Sekunde zu Sekunde kälter wurde und andererseits, weil sie endlich die vielen Schatten hinter sich lassen wollte. Die kahlen Äste der Bäume schienen nach ihr zu greifen und das dämmrige Licht der Laternen legte sich schwer auf sie. Die andere Frau, die mit auf dem Schoß gefalteten Händen auf einer Bank saß, bemerkte die Edelhure erst, als sie nur noch einige Meter von ihr entfernt war und einen genaueren Blick auf sie werfen konnte. Dunkles Haar, das ihr in einem Zopf über die Schulter fiel; Haut, die in diesem Licht grau und kränklich aussah und braune, trostlos aussehende Augen denen jeglicher Glanz fehlte. Als die Frau sich erhob und ihren leeren Blick fest auf sie gerichtet hielt, bemerkte die Blondine, wie klein sie eigentlich war. Die Schwarzhaarige reichte ihr kaum bis zu den Schultern und sah paradoxer weise gleichzeitig alt und jung aus. Die Edelhure wollte eigentlich an ihr vorbei gehen und so tun, als hätte sie die andere Frau nur halbherzig bemerkt, doch da richtete diese das Wort an sie. In einer deutlich lauten und herrischen Stimme, die man von dieser kleinen Person nicht erwartet hätte, sagte sie: „Ich brauche deinen Körper.“ Die Blondine stolperte beinahe über ihre eigenen Füße und starrte diese merkwürdige Erscheinung mit großen Augen an. Hatte sie sich gerade verhört? Nein, nein, sie hatte sie ganz genau verstanden und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, woher sie wusste, dass sie eine Edelhure war, bis ihr wieder einfiel, dass sie wohl eine der berühmtesten Prostituierten der Stadt war. Überraschend war allerdings, dass zum ersten Mal eine Frau ihre Dienste in Anspruch nehmen wollte und die Tatsache allein drängte sie irgendwie dazu stehen zu bleiben und ihr zu antworten. „Ich bin zu teuer für dich, Darling“, sagte die Blondine mit einem spöttischen kräuseln ihrer Lippen. Ihr Gegenüber sah gerade einmal aus wie jemand vom unteren Ende der Mittelschicht und befand sich somit definitiv nicht in ihrer Liga. „Such dir jemand anderen zum spielen.“ „Ich kann nicht. Ich brauche dich“, beharrte sie und die Straßenlaterne neben ihnen begann zu flackern. „Wie viel willst du für einen Kuss?“ Sie seufzte. Ihr war kalt, sie hatte Hunger und geschlafen hatte sie seit vierundzwanzig Stunden auch nicht mehr. Da die kleine Frau nicht wirkte, als würde sie locker lassen, beschloss sie die Sache schnell hinter sich zu bringen. Sie sah auf eine gruselige Art und Weise süß aus und es war schließlich nur ein Kuss. Da musste die Edelhure schon weitaus Schlimmeres über sich ergehen lassen. „Also gut, du kannst dein Geld behalten, aber bringen wir es schnell hinter uns“, gab sie sich geschlagen und wollte ihr einen kurzen Schmatzer auf die blassen Lippen geben, doch da packte diese sie plötzlich am Hinterkopf und drückte ihren Mund beinahe schon schmerzhaft auf ihren. Als die Edelhure in Empörung den Mund aufmachte, um die kleine verwahrloste Frau anzuschreien, erstarrte ihr Körper in purem Entsetzen. Der eisige Atem der Schwarzhaarigen strömte in ihre Kehle und raubte ihr die Luft. Ihre Zunge fühlte sich plötzlich so schal an, als hätte sie Seife im Mund und es wurde immer heller und heller vor ihren Augen. Warum strahlten die Laternen in diesem grellen Weiß? Nein, nicht die Laternen, sondern die andere Frau. Licht strömte aus ihren Augen, als würde ein Stern in ihr explodieren. Es tat nicht weh, sie spürte nichts und dennoch fühlte sie, dass sich jemand in ihr einnistete wie eine Spinne und ihren Geist verdrängte. Sie hatte Angst. Unglaubliche Angst, die ihr die Kraft nahm sich gegen den Eindringling zu wehren. Lass los, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Beruhigend. Sanft. Als würde alles gut werden. Und sie ließ los. Ich starrte meine Arme an. Oder besser gesagt ihre Arme. Das vertraute, silbrig-blaue Leuchten der Engelssigile flaute langsam ab; die Schnörkel und Kreise, die mich vor unerwünschten Verfolgern verstecken sollten, verschwanden wieder unsichtbar auf meiner Haut und ich konnte endlich erleichtert aufatmen. Es hatte viel zu lange gedauert, eine neue Hülle zu finden. Emotionslos beobachtete ich, wie mein alter Körper zu Boden fiel und in Sekundenschnelle der Zeit erlag, die ich für sie angehalten hatte, solange ich sie gebraucht hatte. Ihr Körper mochte von mir zerstört worden sein, doch wenigstens konnte ich nun ihre Seele in Sicherheit wissen. Ein halbes Jahrhundert lang war ich auf sie angewiesen, während ich auf der Suche nach einem passenderen Gefäß war, denn nicht alle Menschen hatten diesen flair, dieses gewisse Etwas, das mir sagte, ob jemand stark genug war, um mich zu beherbergen. Hätte ich sie noch länger benutzt, wäre ihre Seele daran zerbrochen. Ich atmete tief ein und genoss das Gefühl meines neuen Körpers, als würde ich ein neues Paar Schuhe anprobieren. Alles saß perfekt und ich hätte mich meiner Freude ergeben können, wenn ich nicht plötzlich dieses Gefühl gehabt hätte. Das Gefühl beobachtet zu werden. Sofort sah ich mich um; versuchte hinter jedem Baum, in jedem Schatten, eine Silhouette auszumachen und herauszufinden, wer – oder was – mir folgte. Mir waren bereits zu viele Dinge passiert, um meinen Instinkt mit einem Schulterzucken abzutun. „Wer ist da?“, fragte ich laut, obwohl ich noch im selben Moment wusste, dass man mir keine Antwort geben würde. Das taten sie nie. Niemals. Und es gab nur eine Sache, die mich retten konnte: Ich musste mich verstecken, so gut es nur ging. Denn sonst würde ich es bereuen. Kapitel 1: Die Giftprinzessin ----------------------------- Heute „Ich wusste gar nicht, dass Hibiskusblumen giftig sind.“ Ich hob den Kopf von den groß blättrigen Pflanzen, die ich gerade begoss und sah, wie Keenan Johnson, mein ehemaliger Kunde und neuerdings Mädchen-für-alles, das schwere Metalltor zu meinem Gewächshaus aufschob und einen Topf mit weißen Hibiskusblumen auf einem Tisch in der Nähe abstellte. Seine zerrissenen, schwarzen Hosen mit den daran befestigten Kettchen, klirrten bei jedem Schritt. „Sind sie nicht. Ich sehe sie mir nur gerne an“, erwiderte ich zwinkernd und warf ihm einen Mundschutz zu, den der Teenager mit dem blau-schwarzen Haar noch im Flug auffing und sich im Nacken zusammen band. „Zieh das an und bring mir den Vogelkäfig.“ Ich deutete vage in die Richtung meines persönlichen Pflanzendschungels, in der ich meine kleinen Versuchstiere vermutete. Jeweils sechs Tische standen sich in drei Reihen gegenüber und entsprachen noch nicht einmal ansatzweise meiner Sammlung an Giftpflanzen, die ich über Jahrhunderte hinweg angesammelt hatte, doch die meisten hatten die Strapazen meines nomadischen Lebensstils entweder nicht überstanden, oder wurden vorsätzlich von ängstlichen Kunden, bei denen sich mein Gift gegen sie gewandt hatte, zerstört. Es war okay. Genau genommen brauchte ich nur ein Drittel aller Giftpflanzen in meinem Garten, um mein Geschäft am Laufen zu halten, daher konnte ich oft dem Drang widerstehen, mich an den Menschen für ihre Dummheit rächen zu wollen. Sie wollten unbedingt meine Hilfe und wenn sie sie bekamen, kam auch die Angst. Wenn ich bereits ihre Feinde ohne zu zögern vergiften konnte, was hinderte mich daran, mich gegen sie selbst zu wenden? Zu was war ich noch fähig? Die Antwort war einfach. Zu allem. Keenan kam mit einem großen goldenen Käfig, in dem sich drei verschiedenfarbige Kanarienvögel befanden, die aufgeregt von einer kleinen Schaukel zur anderen sprangen, zu mir und stellte ihn auf den silbernen Schiebewagen ab, den ich speziell für diesen Anlass von meinen Giftmischutensilien befreit hatte. Alles was noch da stand, war eine kleine, hölzerne Box, aus der ich ein kleines Fläschchen herausnahm und, mit vor Neugierde angehaltenem Atem, öffnete. „Was kann es?“, fragte Keenan, mehr verunsichert als interessiert. Natürlich wusste er, womit ich mein Geld verdiente – vor nicht allzu langer Zeit hatte er meine Dienste selbst in Anspruch genommen –, doch scheinbar machte ihn der Anblick meines unheimlichen Talents noch immer zu schaffen. „Wirst du gleich sehen“, erwiderte ich amüsiert und ließ mit Hilfe einer Pipette, zwei kleine Tropfen in die Wasserschüssel der Kanarienvögel fallen. Zufrieden beobachtete ich, wie der erste Kanarienvogel seinen Schnabel in das Wasser tunkte. Exakte dreißig Sekunden später plumpste sein kleiner Körper auf den Grund des Käfigs und blieb reglos liegen. Ich zog mir die Maske vom Mund und spürte Triumph. „Ist er tot?“ Keenans Lippenring, an dem er andauernd kaute, wurde sichtbar, als er es mir gleich tat und den Mundschutz hinunter zog, so dass er lose um seinen Hals baumelte. Sein schwarzes Heavy-Metall-T-shirt war ihm mindestens eine Nummer zu groß und dennoch konnte ich erkennen, wie er den Atem anhielt. Ich öffnete gerade den Mund, um ihm eine Antwort zu geben, als sich das Metalltor erneut öffnete und Marina, die wie eine lang gezogene Betty Boop mit knallroten Lippen aussah, mit einem leicht verklärten Blick eintrat. „Eine gewisse Detective Blackburn ist hier“, sing-sangte sie mit einem verliebten Lächeln, dass sie stur auf Keenan gerichtet hatte und sich beinahe schon tanzend neben ihn stellte. „Sie sagt, sie hat ein paar Fragen.“ Marina war etwa einen halben Kopf größer als Keenan, doch das schien den Jungen nicht gestört zu haben, als er mich angefleht hatte, die um einen Jahrgang Ältere mit einer Liebesmixtur zu vergiften. Anfangs war noch alles wunderbar gewesen, er war wie im siebten Himmel ... bis er den Fehler bemerkt hatte. Marinas Liebe – oder eher Besessenheit – wurde von Tag zu Tag unkontrollierter und sie brach bereits in Tränen aus, sobald er auch nur ein anderes Mädchen ansah. Ihre Gefühle arteten aus, wurden Selbstzerstörerisch. Solange Keenan sich noch für sie interessierte und ihre Anhänglichkeit ertragen konnte, würde Marinas Psyche intakt bleiben, doch sobald sich daran etwas änderte ... würde sie zerbrechen. „Warum?“, hatte mich Keenan gefragt und konnte kaum die Tränen in seinen dunkelblauen Augen zurück halten. „Ich wollte doch nur, dass sie mich liebt und uns nicht alle ins Verderben stürzt!“ „Nein, nein“, hatte ich erwidert und wedelte mit dem Zeigefinger. Meine Ruhe machte ihn ungläubig, als könne er nicht fassen, wie kalt mich seine Geschichte ließ. „Du wolltest wahre Liebe. Und diese geht über den Tod hinaus. Ein klassischer Fall von Romeo und Julia.“ Auch wenn die Antwort selbst für ihn logisch geklungen haben musste und er sehr wohl gewusst hatte, worauf er sich bei mir einließ, so weigerte sich sein rationaler Verstand einfach es anzuerkennen. Er wurde wütend, hasste mich und dennoch fügte er sich seinem Schicksal wenige Wochen später. Aus irgendeinem Grund stellte ich ihn und sein verliebtes Haustier schließlich bei mir ein, um ein Auge auf sie zu behalten. Vielleicht weil er mir leid tat. Oder weil er mich zu sehr an mich selbst erinnerte. Der zweite Vogel, diesmal der Rote, plumpste auf den Käfigboden. Ich blinzelte. „Bring sie her“, ordnete ich an, als ich mich von meiner Erinnerung löste und das Fläschchen zurück in die Box stellte. Ein Detective, wie überaus interessant, auch wenn ich nicht gerade behaupten konnte, dass ich überrascht war. Ich hatte schon früher auf die eine oder andere Weise mit den Hütern des Gesetzes zu tun gehabt. Dennoch war ich zugegeben beeindruckt, als Marina eine große, afro-amerikanische Frau in meinen Garten führte, die, umringt von all den Pflanzen, wie eine Amazone aussah. Ihr dunkelbraunes Haar wäre sicher lang und füllig, wenn sie sie nicht zu einem strengen Zopf gebunden hätte, der hinter ihr nach schwang wie ein Schlangenschwanz. Sie trug kein Haargummi, fiel mir banalerweise auf, bevor ihr entstelltes Gesicht meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf ihrer rechten Gesichtshälfte, vom Haaransatz bis zum Kinn, zog sich ein Geflecht aus dünnen, weißen Narben, als hätte ihr jemand mit einem Seziermesser immer und immer wieder ins Gesicht geschnitten. „Detective Blackburn“, begrüßte ich sie höflich, legte die Pipette beiseite und reichte ihr die Hand, die sie ohne zu zögern mit ihrer umschloss und fest drückte. Ihr Griff war hart, beinahe schon schmerzhaft, doch sie ließ zum Glück schnell wieder los. „Ich nehme an, Sie sind die berüchtigte Giftprinzessin.“ Da es nicht so klang, als hätte Blackburn eine Frage gestellt, lächelte ich nur und nickte. „Können Sie sich ausweisen?“ Bei dieser Frage musste ich mir stets einen spöttischen Kommentar verkneifen. Ich lebte bereits länger als die Zeitrechnung, hatte tausende Hüllen, tausende Identitäten, tausende Tode. Natürlich konnte ich mich ausweisen. „Keenan, hol meinen Ausweis aus dem Haus“, bat ich den Jungen, der mit großen Augen zwischen uns Löwinnen hin und her blickte. Gefolgt von einer sorglosen Marina, eilte er hastig nach draußen und ließ uns zwei zurück in der Gesellschaft des letzten Kanarienvogels, der singend in dem Käfig saß und noch nicht einmal bemerkt zu haben schien, wie seine beiden Kameraden meinem Gift erlegen waren. „Also, womit kann ich Ihnen behilflich sein, Detective?“ Ihre berechnenden, dunklen Augen ruhten für einen Augenblick auf den Vögeln, ehe ihr Blick zurück zu mir wanderte. Der Ausdruck in ihrem Gesicht blieb vollkommen professionell und ich konnte nicht sagen, ob ich ihr Angst machte oder einfach nur anwiderte. „Man hat Sie mir empfohlen und als Expertin für alle Arten von Gift beschrieben. Korrekt?“ „Ja“, antwortete ich knapp. „Sie sehen jung aus – für eine Expertin“, fügte sie hinzu und musterte mich. Obwohl ich mich nicht von den Frisuren und dem knallroten Lippenstift der fünfziger Jahre lossagen konnte, so trug ich wenigstens einfache Shorts und ein rotes Tank-Top. An mir gab es nichts allzu Auffälliges. Solange man mir nicht zu tief in die blauen Augen blickte. Schwer zu sagen, was die Leute in ihnen sahen, aber egal was es war, es machte sie misstrauisch. „Das kann ich nur zurückgeben, Detective“, stichelte ich zurück. Blackburn sah selbst kaum einen Tag älter als fünfundzwanzig aus. Allerdings konnte ich auch keine übernatürlichen Schwingungen bei ihr wahrnehmen, was sie mir in diesem Punkt voraus hatte. Ich würde ihr wohl kaum unter die Nase reiben, dass ich bereits älter als Jerusalem war. „Brauchen Sie nun meine Hilfe oder nicht?“ „Am besten ich komme zur Sache. Es gab gestern Abend einen Mordfall. Daher brauchen wir Ihre fachtechnische Meinung. Wir sind da auf etwas … Ungewöhnliches gestoßen.“ „Es geht um Gifte?“, hackte ich nach. Der Gedanke, mich in eine Ermittlung einzumischen und somit die Aufmerksamkeit der Behörde auf mich zu lenken, gefiel mir ganz und gar nicht. „Ja.“ Diesmal war sie es, die sich kurz fasste. Keenan kam zurück und überreichte meinen Ausweis ohne Umwege Blackburn, ehe er wieder zurück in das Haus lief. Diese überprüfte den Ausweis kurz, verglich dann das Bild mit mir und legte ihn schließlich neben dem Vogelkäfig ab. „In Ordnung. Gehen wir.“ In diesem Moment fiel auch der letzte der Kanarienvogel zu Boden. Kein Tweet-Tweet mehr, kein Flügelgeflatter. Für eine erschreckend kurze Sekunde wirkte Blackburn verstört. „Ah“, seufzte ich entzückt. „Wundervoll.“ Es war immer wieder reinste Genugtuung, die mich durchströmte, wenn meine Gifte funktionierten. Sie waren meine Kinder, mein Lebensinhalt. Alles was ich noch hatte, nach meinem Fall. „Lassen Sie uns gehen“, murmelte Blackburn und schritt, ohne sich noch einmal umzudrehen, hinaus. Kalte Hände griffen mir in den Nacken. Ich sah mich hektisch um, als hätte mir jemand in den Magen geboxt, derart real hatte sich die Kälte angefühlt. Doch außer mir war niemand mehr in dem Gewächshaus. Das Licht, das durch die Milchglasfenster fiel, wurde von Minute zu Minute dunkler und Schatten krochen aus jeder Ecke hervor wie kleine Insekten. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, meine Atmung wurde flach und ich brauchte einige Sekunden, um dieses elendige Gefühl, beobachtet zu werden, abzuschütteln. Nein. Niemand ist hier. Niemand hat dich gefunden. Du bist alleine, rief ich mir in Erinnerung und presste scharf den Sauerstoff aus meinen Lungen. Die Sigile beschützen dich. Keiner wird dich finden. Ich würde mir glauben, solange ich es nur oft genug wiederholte. Die Autofahrt mit Detective Blackburn war bedrückend. Sie erzählte mir nichts über den Mordfall und ich bohrte nicht weiter nach. Ich würde es schon noch früh genug erfahren, befürchtete ich, als wir wenig später mit dem Lift in das unterste Stockwerk der Gerichtsmedizin fuhren und auf einen relativ kurzen Gang hinaus traten, in der bereits der beißende Geruch von Desinfektionsmittel seine Bahnen zog. Wir wurden von einem Mann mit dichtem Bart in Empfang genommen der mich kaum eines Blickes würdigte, als wären alle Lebenden für ihn gleich, und sobald wir die Kühlkammer der Pathologie betraten, trat ein freudiges Funkeln in die zusammen gekniffenen Augen von Dr. E. Marlow, wie ich von seinem Namensschild ablesen konnte. Er führte uns zu einer ganzen Reihe von Kühlboxen die eine ganze Wand ausfüllten. Ich konnte mich in dem polierten Metall verschwommen erkennen. Eine verzerrte Gestalt ohne Gesicht. „Hier ist er“, sagte Dr. Marlow, überreichte uns Gummihandschuhe, die wir mit einem Schnalzen überstreiften, und schob die Leichenbare mit der Nummer 27 aus der Wand. „Andrew Collins, sag Hallo zu den beiden Ladies.“ Dr. Marlows schwarzen Humor ignorierend, traten Blackburn und ich gleichzeitig einen Schritt näher, als er den schwarzen Leichensack öffnete und uns die starre Leiche eines Jungens, etwa in Keenans Alter, präsentierte. Der leblose Körper hatte blondes Haar, das seine Schultern berührte und ein rundliches Gesicht. Bis auf das an einem Bändchen um seinen großen Zeh befestigte Namensschildchen, war er natürlich nackt. Sein Brustkorb wies außer einem kleinen Tattoo auf der rechten Schulter, noch die große Y-Wunde der Autopsie auf, die mir einen mehr als guten Einblick in sein Innenleben verschaffte … wortwörtlich. Alles war eine Masse aus getrocknetem Blut, Gedärmen und Fleischfetzen, von denen ich nicht sagen konnte, zu was sie eigentlich gehörten. „Man entdeckte ihn heute Morgen auf einem Spielplatz. Der Todeszeitpunkt müsste etwa bei Mitternacht liegen“, sagte Blackburn. „Er war siebzehn, Eltern geschieden, ein Ausreißer.“ „Woran ist er gestorben?“, fragte ich und erntete von Dr. Marlow ein begeistertes Grinsen. „Das werden Sie nicht glauben“, sagte er und zog aus der Seitentasche seines weißen Kittels eine Art Glasbecher. Drei kleine pechschwarze Tiere lagen mit jeweils zwei Scheren und einem giftigen Schwanz tot darin herum. „Wüstenskorpione“, erkannte ich sofort. „Diese Gattung ist hier illegal, wo haben Sie sie her?“ „Aus seinem Magen.“ Meine Augenbrauen wanderten vor Überraschung in die Höhe. Jetzt hatte er meine volle Aufmerksamkeit. „Wiederholen Sie das.“ „Dr. Marlow entdeckte die Skorpione bei der Autopsie“, erklärte Blackburn mit einer Spannung in der Stimme, die vorher noch nicht da gewesen war. „Aber das ist noch nicht das Beste“, fuhr Dr. Marlow fort, vollkommen ungerührt von seiner Entdeckung, als würde er jeden Tag von hochgiftigem Getier überrumpelt. Irgendwie war er mir sympathisch. „Gestorben ist Andrew daran nämlich nicht.“ „Wir kommen zum Kern des Punktes, nicht wahr?“ Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, was ich hier für eine Rolle zu spielen hatte. Blackburn nickte und nahm Andrews Kopf in die Hände. Sie packte Unter- und Oberkiefer und öffnete seinen Mund so weit, bis ich das Zeichen an seinem Gaumen erkennen konnte und die kränkliche, dunkelblaue Verfärbung darum. „Die Todesursache ist nämlich das hier.“ Sie warf mir einen Seitenblick zu und runzelte die Stirn, als sie meine geweiteten Augen sah. Ein derart starker Griff hatte sich um mein Herz gelegt, dass ich sogar für einen Augenblick meine Verfolger vergaß, die mir dicht auf den Spuren sein mussten. Ich kannte das Zeichen. Es war derselbe Skorpion, der von einer Schlange umkreist wurde, der auch auf meinem Körper seinen Platz hatte. Zwar unsichtbar für Menschenaugen, doch Unsterbliche würden genau wissen, zu wem ich gehörte. Achlys, die Giftgöttin. Und meine Mutter. „Ich kenne das Mal“, platzte es aus mir heraus und ich wusste sofort, dass ich damit einen folgeschweren Fehler begangen hatte. Kapitel 2: Gin -------------- „Es hat keinen Sinn zu schweigen“, sagte Gin Blackburn und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den kleinen Tisch im Verhörraum. Der Raum war grau, kahl und verströmte den abartigen Duft von Lügen. Manchmal bildete sich Gin sogar ein, die Geheimnisse aller Menschen hier drin wahrnehmen zu können, wie Nebel der am Boden kroch. Kein Wunder, dass sie es verabscheute hier drin zu sein. Geheimnisse machten sie krank. Sie lebte in der tiefen Überzeugung, dass Lügen etwas Schreckliches waren. Etwas, dass man fürchten sollte. Wahrscheinlich habe ich mir den falschen Beruf ausgesucht, dachte sie nicht zum ersten Mal und behielt die Giftprinzessin genauestens im Auge. Ihr Partner hatte sie empfohlen und gesagt, dass wenn es um Gifte ging, sie genau ‚die Richtige‘ für diesen Job wäre. Es war selten, dass er ihr überhaupt seine Hilfe anbot, daher sah sich Gin irgendwie genötigt, sein Angebot anzunehmen und die berüchtigte Giftprinzessin aufzusuchen. Doch eins wusste Gin jetzt schon – sie konnte Grace Santiago nicht leiden. „Wie ich schon sagte, das Mal kommt mir nur bekannt vor. Mehr nicht.“ Auch wenn sich die Blondine mit den marineblauen Augen alle Mühe zu geben schien überzeugend zu klingen, so konnte Gin doch sehen, wie sie log. Die hochgezogenen Schultern, die miteinander verschränkten Fingern, das zu emotionslose Gesicht. All das sagte Gin, dass die Giftprinzessin etwas verheimlichte. Sie bezweifelte zwar, dass sie konkret etwas mit dem Mord an Andrew Collins zu tun hatte, doch womöglich wusste sie, wer dazu fähig wäre. Welches kranke Gehirn einem armen Jungen Skorpione die Speiseröhre hinab stopfte und ihm giftige Tinte in den Mund ritzte. Sie konnte nur knapp dem Drang wiederstehen, das Narbengewebe auf ihrem Gesicht zu berühren, das sie an ihre eigene, persönliche Hölle erinnerte. „Erzählen Sie mir etwas von der Tinte“, lenkte Gin das Gespräch in eine andere Richtung, um sie vorerst in Sicherheit zu wiegen. Das schien die Giftprinzessin lockerer werden zu lassen. „Die Tinte an sich ist nicht das Problem. Sobald sie aufgetragen wurde, hat sich das darin befundene Gift in Sekundenschnelle ausgebreitet, wie man an den blauen Verfärbungen erkennen konnte. Ich vermute, dass das Gift seine Luftröhre gelähmt hatte, was zum ersticken führte.“ „Wie ist der Name des Giftes?“ Die Giftprinzessin wiegte ihre Worte ab und neigte dabei den Kopf von einer Seite zur anderen. „Man nannte es Sakraha. Die Pflanze, die für die Zubereitung nötig ist, ist schon seit mehr als tausenddreihundert Jahren ausgestorben.“ Sie schien sich sicher. Wenn es aber nach Gin ging, so hätte diese tödliche Pflanze schon viel früher von der Welt getilgt werden können. „Und wie kommt es bitte in Andrews Körper?“ Nun starrte sie Gin direkt an. Ihre hypnotischen Augen bohrten sich in sie hinein, als würde sie die Antwort nicht wissen wollen und zuckte die Schultern. Gin setzte an weiter zu bohren, wenn sich die Giftprinzessin nicht plötzlich versteift hätte und ihre Augen glasig wurden, beinahe schon blank, wie es Gin bis jetzt nur bei ihrer schizophrenen Mutter gesehen hatte. „Was––“ „Psch!“, unterbrach sie die Blondine grob und hob eine Hand. Ihre Augen huschten durch den Raum, als versuchte sie ein Geräusch auszumachen, das nur sie hören konnte. Gin wurde übel. War die Giftprinzessin auch krank? Psychisch kaputt? Sie hatte sich schon gewundert, warum sie so eine Abneigung gegen sie verspürte. Das wäre jedenfalls eine Erklärung. Die Verwirrung wich aus dem Gesicht der Blondine, so schnell wie sie gekommen war und machte ungeduldiger Hektik Platz. „Ich muss jetzt gehen.“ Gin war dermaßen überrumpelt, dass sie erst etwas sagte, als die Giftprinzessin bereits halb aus der Tür war. „Sie können nicht einfach gehen! Wir sind noch nicht fertig!“ Die Blondine drehte sich um. Kompromisslos sagte sie: „Ich für meinen Teil bin fertig. Wenn Sie also keine stichhaltigen Beweise gegen mich vorlegen können, die bestätigen, dass ich etwas mit dem Mord zu tun habe, werde ich Sie nun verlassen, Detective.“ Gin hätte vor Frustration aufschreien können. Oh, was für eine hochnäsige Frau die Giftprinzessin doch war! Aber so leicht würde sie ihr nicht davon kommen. Sie wollte Beweise? Die konnte sie haben. Gin ging keiner Herausforderung aus dem Weg. Kapitel 3: Dalquiel ------------------- Ich stolperte praktisch schon aus dem Gebäude, zu dem mich Blackburn unfreiwillig gezerrt hatte, zu ängstlich, um auch nur eine Spur langsamer zu werden. Beinahe hatte ich schon erwartet, sie würde mir Handschellen anlegen und mich wie in den Filmen in ein Polizeiauto drücken, doch meine kooperative Art hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen. Jedenfalls bis ich in dem Verhörraum den Pfeifton wahrgenommen und panisch die Flucht ergriffen hatte. Und ich wusste genau von wem er kam, auch wenn sich mein Verstand mit aller Macht dagegen wehrte, diesen erschreckenden Gedanken zuzulassen. Ich rief mir ein Taxi, kaum noch fähig still zu sitzen, und stürmte in mein Haus, das ich einem alten Ehepaar abgekauft und zu einem halben Gift-Shop umfunktioniert hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte Keenan verblüfft, der gerade die Inventurliste durchging und mich eigentlich nicht so früh zurück erwartet hatte. Er saß im Schneidersitz auf dem Tresen, seine Haare bedeckten die Hälfte seines femininen Gesichts. „Wo ist Marina?“, krächzte ich, überging seine Frage nonchalant und stürmte wie eine Furie in den hinteren Teil des Geschäfts. Ich zog eine schwere, hölzerne Truhe unter dem Tresen hervor, öffnete sie und wühlte darin herum. „Sie gibt Nachhilfe“, erwiderte er gedehnt und fast schon erleichtert, sie einmal los zu sein. Mit dem Kugelschreiber strich er sich die Haare aus dem Gesicht und kniff besorgt die Augen zusammen. „Suchst du etwas Bestimmtes?“ „Schon gefunden.“ Ich zog einen antiken Dolch aus Sterlingsilber hervor und steckte ihn mir in den Gürtel meiner Hose. „Und jetzt geh nach Hause, Keenan.“ „Gleich, ich muss nur noch––“ „Keenan, jetzt.“ Er starrte mich einen Augenblick lang an, wohl um abzuschätzen, ob er mich ernst nehmen sollte oder ich ihn bloß veräppelte, wie so oft in der Vergangenheit. Dann nickte er und sprang vom Tresen. Ich hatte ihm nie gesagt, wer oder was ich in Wirklichkeit war, doch ich hatte immer die vage Vermutung gehabt, dass Keenan sehr wohl wusste, wie unmenschlich ich eigentlich war. „Ich kann das auch morgen erledigen. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.“ Ich nickte, wartete ab, bis er seine abgewetzte Schultasche nahm und aus dem Shop verschwand, ehe ich zur Hintertür hinaus stürzte und auf das Gewächshaus zusteuerte, als wäre irgendein Monster hinter mir her. Genau genommen betete ich, dass es irgendein bösartiges, pelziges, ich-habe-es-auf-dein-Fleisch-abgesehen Monster war, dem ich in den Hintern treten konnte, aber mein Instinkt schickte mir ganz andere Signale. Mein Puls raste, als ich mich in meinem Pflanzenparadies verkroch, in dem es bereits deutlich dunkler geworden war, ich aber noch genug erkennen konnte, um mich orientieren zu können. „Tschip-Tschip.“ Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Mein Hirn braucht eine Weile, um zu realisieren woher das vertraute Geräusch kam und ich ging, keine Kraft mehr darauf verschwendend mich zu verstecken, langsam auf den goldenen Käfig zu, der noch immer auf dem kleinen metallenen Wagen an Ort und Stelle stand. „Tschip-Tschip“, hörte ich wieder und meine Kehle schnürte sich zusammen zu, als ich die drei bunten Kanarienvögel quicklebendig auf ihren kleinen Schaukeln sitzen und mit ihren Flügelchen schlagen sah. Nichts deutete darauf hin, dass sie kurz zuvor noch Tod auf dem Boden gelegen hatten. Das Gift könnte nicht funktioniert haben, überlegte ich und schalt mich selbst eine Ignorantin. Es mochte vielleicht arrogant klingen, doch meine Gifte hatten keine Fehler. Sie führten immer das aus, was ich von ihnen erwartet hatte und meine Jahrtausende lange Erfahrung unterstützte diese Behauptung nur. Da die plötzliche Wiederauferstehung des gefiederten Trios nicht mir zu verdanken war, gab es nur eine einzige andere Möglichkeit, wer dafür verantwortlich sein konnte. „Ich weiß, dass du hier bist“, murmelte ich leise und war mir dennoch sicher, dass er mich hören konnte. „Zeig dich!“ Und er zeigte sich. Ohne es kommen zu sehen, stand er auf einmal auf der anderen Seite des Käfigs und ich wich unwillkürlich von dem Engel fort. Nicht die Art von heiligen Geschöpfen, die blütenweiße Schwingen hatten, mitsamt Heiligenschein, die Menschen beschützten und innen sowie außen voller Liebe waren. Noch nicht einmal nahe dran. Engel waren die Sorte von Soldaten, die Gottes Befehle mit eiskalter Effizienz ausführten, gleichgültig gegenüber Verlusten auf der menschlichen Seite und vor allem ohne auch nur einen Funken Emotion in sich zu tragen. Einer der Hauptgründe, weshalb ich gefallen war. „Lange nicht gesehen, Trinity“, sagte Dalquiel, als läge nur ein Jahr zwischen unserem letzten Treffen. Und als hätte er mir nicht auf bestialische Art und Weise das Herz zerschmettert. „Ja, ganze elf Millenien“, erwiderte ich trocken. Ich weigerte mich ihm zu zeigen, wie sehr sein Auftauchen mich aufwühlte und innerlich in Aufruhr brachte, als wäre ein Sturm ausgebrochen und drohte, meine aufgebauten Schutzwälle mit einem Schlag nieder zu reißen. „Und mein Name ist jetzt Grace. Grace Santiago.“ Dalquiel war ein Riese, jedenfalls aus meiner Sicht, da er mich fast um einen ganzen Kopf überragte. Zwar kein Muskelpaket, dafür aber eine Mischung aus Aristokrat und Athlet, die in ihm perfekt harmonisierten. Über seiner mokkafarbenen Haut, trug er ein dunkelblaues T-shirt, mit einem schwarzen Sakko darüber, und schlichte Jeans. Seine Gesichtszüge waren leicht puertoamerikanisch, mit hohen Wangenknochen und einem kantigen Kinn. Seine rabenschwarzen Augen waren geradezu leblos, kalt. Ein drastischer Unterschied zu seinem ebenso schwarzem Haar, das ihm verwuschelt vom Kopf abstand, als wäre er immer und immer wieder mit der Hand hindurch gefahren. Keine Ahnung, wessen Aussehen er sich angeeignet hatte, aber es wurde noch nicht einmal annähernd seiner wahren Erscheinung gerecht. Seltsamerweise irritierte er mich jedoch in dieser Form umso mehr. „Grace“, wiederholte er und sprach den Namen langsam aus, als müsste er erst testen wie er sich auf seiner Zunge anfühlte. „Eine ungewöhnliche Wahl.“ Ich knirschte mit den Zähnen und versuchte die Röte nieder zu kämpfen, die mir den Nacken hinauf kroch. Grace war der Name meiner jetzigen Hülle und meinen Nachnamen hatte ich aus einem spanischen Telefonbuch, falls das irgendeine Rolle spielen sollte. Häufiger Namenswechsel war ein Nachteil, wenn man ewig lebte. „Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich so distanziert wie möglich und fuhr mir unbewusst mit einer Hand über den Arm. Die Sigile hätten mich vor ihm und seiner Art verstecken sollen, wie also hatte er meine Spur aufnehmen können? Wie lange beobachteten sie mich schon? „Du hast in der Tat gute Arbeit darin geleistet, dich vor uns zu verstecken.“ Ich war mir nicht sicher, ob das als Lob oder Vorwurf gemeint war. „Glücklicherweise hat jemand deine Spur aufgenommen, sobald du deine letzte Hülle gewechselt hast.“ Ich war zugegebenermaßen entsetzt, dass diese eine Sekunde, die ich zwischen meinen Gefäßen verbracht hatte, ausgereicht hatte, um sich an meine Fersen zu heften. Es musste ein Moment gewesen sein, in dem die Sigile außer Kraft gesetzt waren, insbesondere weil Grace‘ Vorgängerin bereits an ihre Grenzen gelangt war und ich somit alle Mühe hatte, mich aus ihr heraus zu schälen. „Jemand?“, bohrte ich nach. „Ich“, antwortete er unverblümt. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, die ich schnell hinter dem Rücken versteckte. „Na schön, warum bist du hier? Wenn ihr entschlossen hättet, mich aus dem Weg zu räumen, hättest du dich gar nicht erst zu zeigen brauchen, um mich auszulöschen.“ Dalquiels Miene war ausdruckslos als er sagte: „Ich bin nicht gekommen um dich zu töten. Im Gegenteil, wir brauchen deine Hilfe.“ Ich war mir für einige Sekunden lang ziemlich sicher, mich verhört zu haben, doch als Dalquiel weiterhin so ruhig wie ein Stein dastand, bildete sich Schweiß auf meiner Stirn und ein nervöses Kichern entkam meiner Kehle. „Das ist doch wohl ein Scherz.“ „Kein Scherz“, versicherte er. „Ihr habt mich aus dem Dritten Himmel gejagt, geschworen mich zu vernichten, solltet ihr mich jemals finden und jetzt willst du mir allen Ernstes weis machen, dass die Engel mich brauchen?!“, brauste ich auf und konnte den Zorn in meiner Stimme nicht mehr unterdrücken. „Warum du? Warum hat man ausgerechnet dich geschickt, wo du doch derjenige warst, der mich verraten hat!“ Wut und Trauer, Verzweiflung und Hoffnung brodelten in mir und lieferten sich einen ebenbürtigen Kampf. Wie konnte ich ihm seinen Verrat jemals verzeihen? Er hatte mich ausgetrickst, mich in dem Glauben gelassen, er liebte mich und sobald ich mich entschlossen hatte für ihn zu fallen – Lichtbringers Beispiel zu folgen und meinen freien Willen einzufordern –, musste ich erfahren, dass er meinen Platz als einer der drei Prinzen im Dritten Himmel eingenommen und keineswegs im Sinn gehabt hatte, mir jemals zu folgen. „Rabacyal meinte, du würdest uns helfen, solange ich derjenige bin, der dich darum bittet.“ Es hörte sich wie die Logik eines kleinen Kindes an und ich zuckte unweigerlich zusammen, als er den Namen des ersten Prinzen erwähnte. Irgendwie wirkte es fehl am Platz, nach so vielen Jahren wieder von ihm zu hören. Und nur zu schmerzlich wurde mir bewusst, wie gut mein Bruder im Geiste mich eigentlich kannte. Ich lachte unsicher und falsch. „Sehr unwahrscheinlich.“ Dalquiel nickte zustimmend. „Das habe ich auch gesagt. Daher haben wir beschlossen, dir ein Angebot zu unterbreiten.“ „Es sollte besser etwas mit Schokoladentrüffeln zu tun haben, denn sonst könnt ihr mich gleich vergessen“, frotzelte ich und war erleichtert, meinen Sarkasmus wiedergefunden zu haben. „Was auch immer es ist, ich lehne es ab. Und jetzt verschwinde endlich.“ Den letzten Satz presste ich mühsam aus mir heraus. Obwohl all der Dinge die er mir angetan hatte und ich es hätte besser wissen müssen, konnte ich mich nicht davon abhalten, ihn in meiner Nähe behalten zu wollen. Er sollte nicht gehen. Sollte bei mir bleiben und mich in den Arm nehmen, auch wenn diese Geste keinerlei Bedeutung für ihn hatte. „Du kannst nicht Nein sagen, ehe du unser Angebot angehört hast“, bemerkte er und das Gezwitscher der Vögel verstummte abrupt. Es wurde seltsam kalt im Gewächshaus. Als wären die Grade rasend schnell gefallen. „Ich will es nicht hören“, sagte ich störrisch, immer noch mit wackeligen Knien von seiner nahezu erdrückenden Präsenz, und war kurz davor mir die Ohren zuzuhalten und laut zu schreien, um ihn auszublenden. „Tri–– Grace“, korrigierte er sich noch rechtzeitig. „Du kannst zurück in den Himmel.“ Und wieder glaubte ich, nicht richtig hingehört zu haben. Er konnte unmöglich gerade das gesagt haben, was ich verstanden hatte. Seit meines Falls hatte ich mir diese Worte erträumt, hatte mir gewünscht alles rückgängig zu machen und nur noch allein für den Dritten Himmel zu leben. Ich vermisste die Seelen, deren Reinheit mich immer fasziniert hatte und für deren Zukunft ich verantwortlich gewesen war, als wären sie meine Kinder. Es war mir immer eine Ehre gewesen ihnen zu helfen wiedergeboren zu werden. Und wegen eines einzigen Engels hatte ich all diese Glorie aufgegeben, nur um am Ende allein da zustehen. Doch nachdem was ich in den vergangenen Jahrtausenden verbrochen hatte, hatte meine ehemalige Reinheit und Unschuld dermaßen gelitten, dass man mich nur noch als ein schmutziges, versifftes und unwürdiges Wesen bezeichnen konnte. Weshalb, also, sollten sie mich dann zurück wollen? Er lügt, dachte ich bitter und verwarf diesen Gedanken beinahe augenblicklich wieder. Engel konnten nicht lügen, da sie keinen freien Willen hatten. Es entsprach nicht ihrer Natur, ihrer Lebensweise. Das war eines der Dinge, denen ich mir absolut sicher war und noch immer an Engeln schätzte. Daher musste das, was Dalquiel erzählte, der Wahrheit entsprechen. Es wiederstrebte mir jedoch, ihm blind zu vertrauen – wenigstens daraus hatte ich gelernt. „Okay, nehmen wir einmal an, ich würde das Angebot annehmen wollen“, sagte ich mit bebender Stimme. „Was müsste ich dafür tun? Du sagtest doch, ihr braucht meine Hilfe.“ Es schien, als würde er mir mit seinen dunklen Augen direkt in die Seele blicken. „Du musst nur Achlys töten.“ Kapitel 4: Mutter ----------------- Vor sehr langer Zeit Steh auf, Kind. Ich versteifte mich, drückte mein Gesicht fester an den dreckigen Boden und gab lediglich ein leises Wimmern von mir. Ich hatte mir die Seele aus dem Leib geschrien, mitten in dieser Gott verlassenen – und das konnte man wörtlich nehmen – Wüste und hatte die Engel angefleht mich zurück zu nehmen. Mir meine Sünde zu vergeben. Aber selbst nach drei Tagen bekam ich keine Antwort. Ich wollte doch nur wieder nach Hause. Im Dritten Himmel war meine Familie, meine Berufung die Seelen auf den richtigen Pfad zu schicken und vor allem: Dalquiel. In dem Moment als ich auf dem Boden aufschlug, mein Rücken blutig von den in der Atmosphäre verbrannten Flügeln war, wusste ich wie sich meine Verbindung zu ihm aufgelöst hatte. Wie er mich einfach ‚losließ‘. Also nein. Ich konnte nicht aufstehen. Wollte nicht. Doch, antwortete die Stimme auf meine Gedanken. Ihr übermenschlicher Klang war für meine arme, gefallene Seele beinahe schon zu viel. Steh auf, Kind. Dein neues Leben hat begonnen. „Ich will es nicht“, krächzte ich mit staubtrockenem Mund. Aber du wirst. Oder glaubst du etwa, ich habe dich ohne Grund gerettet? Mir hätte in meinem Zustand alles egal sein sollen, selbst diese ominöse Stimme, von der ich glaubte sie mir nur einzubilden, aber das Wort ‚retten‘ weckte meine angeschlagene Aufmerksamkeit. Meine Glieder schmerzten wie verrückt, als ich versuchte mich in der brennenden Mittagshitze aufzusetzen. Weit und breit kein einziger Pflanzenstrauch, geschweige denn Wasser. Ich spürte Durst. Und Hunger. Zwei völlig neue Erfahrungen für mich und im Moment keine sehr erfreulichen. „Wer bist du?“, fragte ich misstrauisch. Mein Fall hatte mir ein riesiges Loch eingebrannt, so dass mir jede Unterhaltung zuwider war, aber ich wollte wissen wovon meine Halluzination sprach, bevor ich wieder in den Zustand des Wahnsinns und der völligen Verzweiflung fiel. Deine Mutter. „Inwiefern hast du mich gerettet?“, fragte ich und ignorierte für einen Augenblick, dass ich keine Mutter haben konnte. Ich war ein Engel. Oder das, was von mir übrig geblieben war. Ich hatte nur meinen Vater, den Allmächtigen. Die Stimme schwieg einen Augenblick. Ich habe dir einen Teil von mir geschenkt. „Was für ein Teil? Diesen Körper?“ Ich blickte auf dieses junge Mädchen hinab, das von Kopf bis Fuß in rotgelben Sandstaub eingedeckt war. Sie war eine leere Hülle. Da wo ihre Seele hätte sein sollen, herrschte brennende Leere und auf ihren Wangen trockneten meine vergossenen Tränen. Nein, diesen hast du dir selbst ausgesucht, wenn auch unbewusst. Mein Geschenk ist besser. Es wird dir einen Lebenszweck geben. „Ich bin ein Prinz von Shehaquim. Das ist mein Lebenszweck!“, giftete ich und sprach somit die erste Lüge meines Lebens aus. Was vorbei war, war vorbei. Jetzt war ich nur noch ein nutzloser Mensch. Nein, noch nicht einmal das. Ich fühlte etwas. Es war kalt wie Eis und linderte den Schmerz meiner gebrandmarkten Seele, aber war von einer derartigen Dunkelheit umgeben, die mein früheres Ich sofort vernichtet hätte. „Was bin ich?“ Meine erste Tochter. Du trägst einen Funken meiner Macht in dir, also nutze sie. „Was soll ich tun?“ Ich spürte Aufregung in mir aufsteigen. Ich würde wieder eine Aufgabe bekommen. Befehle. Regeln. Dinge die mir immer ein Licht am Ende des Horizonts gewesen waren, wenn ich einmal vom Weg abgekommen war. Ich dachte, ich hätte dieses Licht für immer verloren, doch nun bestand die Möglichkeit es zurück zu bekommen. Auch wenn der Ersatz die Dunkelheit sein mochte. Die Stimme lachte leise. Was auch immer ich dir auftrage. Kapitel 5: Beschluss -------------------- „Nur?“, wiederholte ich lahm. „Nur!“ Ich hatte Achlys meine ganze Existenz zu verdanken. Ohne sie wäre ich nie so weit gekommen und würde mich wahrscheinlich jetzt noch in Selbstmitleid suhlen. Mein Leben wäre eine Episode aus belanglosen Körperwechseln, während die Zeit scheinbar ohne mich weiter lief und ich in meinem Wahnsinn noch immer den Himmel anschrie, auch wenn meine Stimme längst versagt hatte. „Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung was du da eigentlich von mir verlangst? Warum sollte ich das tun?!“ „Weil Achlys außer Kontrolle gerät.“ „Ein kleiner Mord rechtfertigt noch lange nicht ihre Auslöschung“, erwiderte ich ernst. Götter spielten in einer vollkommen anderen Liga. Sicher, eine Reihe aus Leichen pflasterte ihren Weg – ich war auch nicht ganz unschuldig daran, aber ich hatte bis jetzt niemanden dazu gezwungen, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. All dies geschah aus dem freien Willen der Menschen, daher mussten sie auch die Konsequenzen dafür tragen. Allerdings trieb sie ihre Spielchen schon seit ewig langer Zeit, warum also wurden die Engel ausgerechnet jetzt auf sie aufmerksam? „Ein Mord? Ich spreche hier von einer ganzen Reihe an unschuldigen Opfern.“ Der Geschmack von Sand breitete sich in meinem Mund aus und ich widerstand dem Drang zu würgen. „Sei still. Ich will nichts mehr hören.“ „Du musst, Grace. Achlys versucht eine passende Hülle zu finden, die ihre Seele beherbergen kann. Sollte es ihr gelingen, könnte ein Riss in der anderen Dimension entstehen, die andere Götter dazu veranlassen könnte ihr zu folgen. Das reinste Chaos würde ausbrechen.“ „Warum klingt das nur so schrecklich apokalyptisch für mich?“ „Weil es apokalyptisch ist“, stellte er sachlich fest. „Danke, Einstein, darauf wäre ich nicht gekommen.“ „Du hast gefragt.“ „Das war Sarkasmus.“ Ich seufzte gedehnt. „Vergiss es. Was hat das Ganze jetzt mit mir zu tun? Warum kümmert ihr euch nicht selbst darum?“ „Weil Engel keine Götter töten können, wie du sehr wohl weißt.“ „Ach ja, ich erinnere mich. Ich verstehe nur nicht, was ich damit zu tun habe. Ich bin weder stark, noch besonders und könnte nichts gegen eine Göttin wie Achlys ausrichten.“ „Du bist besonders“, sagte er leise, doch bevor ich seine Worte auch nur analysieren konnte, fuhr er fort: „Du bist ihre erste Tochter. Ihr Blut fließt durch dich, ihre Seele lebt in dir und das bedeutet, dass du sehr wohl die Macht besitzt sie zu vernichten.“ Langes Schweigen breitete sich aus, als mir die Brandbreite seiner Worte bewusst wurde. Er verlangte von mir meine Mutter zu töten. Weil ich es konnte. Allein das ließ mein Blut bereits zu Eis gefrieren, weil ich mich immer für schwach und angreifbar gehalten hatte, lediglich dazu fähig Gifte zu mischen, die Menschen in ihr Verderben lockten. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und taumelte zurück. „Nein. Nein, ich kann nicht. Das ist zu groß für mich. Findet jemand anderen.“ „Es gibt nur dich“, sagte er mit solchem Nachdruck, dass sich mir die Kehle zuschnürte. „Das hier ist dein Freiticket in den Himmel. Denk darüber nach.“ Und dann war er weg. Seine erdrückende Präsenz, ebenso wie das eisige Gefühl in meinem Nacken, war verschwunden und auf einmal strömten all die anderen Geräusche wieder auf mich ein, die ich zuvor völlig ausgeblendet hatte. Das Zwitschern der Kanarienvögel. Der plötzliche Regen, der gegen die Fenster des Gewächshauses prasselte. Und vor allem die nagende Sehnsucht in meinem inneren, die ich solange verschlossen gehalten hatte, bis Dalquiel mit einem einzigen Blick alles ruiniert hatte. Er ist gefährlich, rief ich mir in Erinnerung. Lass nicht zu, dass er dir wieder wehtut. Am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufgegangen war, platzte Marina herein und entdeckte mich sofort in der Küche mit mörderischen Augenringen und einer leeren Flasche Brandy vor mir. „Was willst du denn hier?“, fragte ich alles andere als begeistert. Ich wollte sie nicht hierhaben. Nicht jetzt, nicht morgen, am liebsten gar nicht mehr. Aber ich hatte meine Verantwortung ihr gegenüber, denn meinetwegen könnte sie schon bald den Tod finden und auch wenn ich es die meiste Zeit versuchte zu verdrängen, fühlte ich mich schuldig. „Keenan hat gesagt, ich soll vorbei schauen“, zwitscherte sie fröhlich. „Er hat gesagt, du wärst komisch drauf.“ Ach, natürlich. Weil Keenan es ihr gesagt hatte. Und Keenans Wünsche waren in ihrer Welt Gesetz. „Es geht mir bestens“, murrte ich. „Uhuh, das sehe ich“, erwiderte sie mit einem Seitenblick auf die Brandy-Flasche. „Je eher du mir sagst, was los ist, desto eher bist du mich wieder los.“ „Ist das ein Versprechen?“, fragte ich hoffnungsvoll und seufzte geschlagen als sie wild nickte. „Na schön. Auch auf die Gefahr hin, dass du nichts verstehst, hier hast du die Kurzfassung: Meine Mutter hat … etwas angestellt und jetzt hat mein Ex mich aufgespürt und verlangt von mir, dass ich sie ausliefere.“ „Du hast einen Ex?“, fragte Marina perplex. „Ist das alles, was bei dir hängen geblieben ist?“ Sie zuckte die Schultern. „Und weiter?“ Ich nahm einen weiteren Schluck aus meiner Flasche. „Das Problem ist, dass, ähm, Dallas etwas hat, was ich unbedingt will, andererseits kann ich doch nicht meine Mutter verpfeifen! Ich schulde ihr mehr, als ich je gutmachen kann, aber Dallas kann mir etwas geben von dem ich geglaubt habe, alle meine Chancen verspielt zu haben.“ Marina legte den Kopf schief und biss sich nachdenklich auf die rote Unterlippe. „Das klingt kompliziert.“ „Was du nicht sagst.“ Ich blickte enttäuscht in das leere Innere meiner Brandy-Flasche und stieß erneut einen tiefen Seufzer aus. „Irgendeine Idee, die mich aus meiner Misere befreit?“ „Allerdings, die hätte ich“, überraschte sie mich und hatte sofort meine ungeschlagene Aufmerksamkeit. „Ich bin ganz Ohr.“ „Schon einmal daran gedacht mit deiner Mutter zu reden? Vielleicht ändert sie sich und dann wird es gar nicht mehr nötig sein, sie auszuliefern. Oder ist dieser Dallas etwa ein Cop?“ „Was? Oh, nein“, murmelte ich abwesend und ließ mir ihre Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Ich hätte nicht erwartet, dass Marina tatsächlich etwas beitragen konnte, aber was sie sagte machte Sinn. Dalquiel und die anderen Engel wollten verhindern, dass Achlys eine Hülle fand und weiterhin dafür mordete. Wenn ich sie also davon abbringen konnte, hätten die Engel keinen Grund mehr ihren Tod zu wollen und dank dieser guten Tat, würde man mir vielleicht sogar erlauben in den Dritten Himmel zurückzukehren. „Ich kann es kaum glauben, dass ich das sage, aber du hast recht“, stellte ich fest und stand auf. „Du musst gar nicht so ungläubig klingen“, erwiderte Marina und schulterte ihre Tasche. „Also, wenn das alles ist, werde ich jetzt gehen. Heute hat Keenan Sport und er sieht in Shorts einfach zum anbeißen aus!“ Irgendwie tat mir mein Schützling leid, aber was er sich selbst gewünscht hatte, musste er nun ertragen wie ein Mann. „Sag ihm, dass ihr heute nicht zu kommen braucht. Wir haben geschlossen.“ Kapitel 6: Kompromiss --------------------- Am späten Abend, sobald ich alle notwendigen Sachen zusammen gefunden hatte, eilte ich durch die Stadt, mit einem antiken Portraitspiegel unter dem Arm, den ich in ein Leinentuch gewickelt hatte. Es war eine warme Nacht, in der die Leute feiern gingen und die Straßen selbst zu dieser unchristlichen Uhrzeit stark befahren wurden. Mich beachtete niemand weiter. Ich zweigte mich vom Inneren der hell erleuchteten Stadt ab und folgte den Straßenlaternen die ein gelbes Licht auf die leeren Gehsteige warf. Die Gegend wurde immer verlassener und nur ab und zu begegnete ich dem ein oder anderen Obdachlosen, kleinen Menschengruppen die im Laufschritt versuchten unbeschadet durch die Gegend zu kommen oder Kleinganoven, die herumlungerten. Die Straßen waren schmutzig, die Gebäude mit Graffiti und fragwürdigen Texten beschmiert und es stank wie auf einer Müllhalde. Glücklicherweise war das hier nicht mein Zielort, sondern nur der schnellste Weg um zu einer bestimmten Brücke zu gelangen. Eigentlich wäre mir jede Brücke recht gewesen, doch diese war leider die Einzige, die sich gerade im Umbau befand und daher für die Menschen gesperrt war. Nicht, dass mich das aufhalten würde. Mich schnell umblickend, duckte ich mich unter dem Absperrband hindurch und verschaffte mir Zutritt zum Baugebiet. Die Brücke war nicht allzu lang oder groß, doch der Asphalt war teilweise aufgerissen und brüchig. Außerdem hatte das Gelände zu meiner Rechten noch immer ein Loch, in das vor einigen Tagen ein Auto gerast und in den Fluss gefallen war. Zwei Tote. Ein passender Ort, wenn man bedachte, dass Brücken eine Verbindung zu anderen Welten darstellten und daher eine einzige Quelle an magischer Energie waren. Ich schlängelte mich an aufgestapelten Zementsäcken, Zementmischern und diversen anderen Gerätschaften vorbei, von denen ich keine Ahnung hatte wofür sie gut waren, und fand eine freie Nische, in der ich mich ausbreiten konnte. Ich vergewisserte mich noch einmal, ob mir jemand gefolgt oder ein neugieriger Passant in der Nähe war – ob nun menschlicher oder unmenschlicher Natur – und atmete schließlich auf, ehe ich eine rote Kreide zur Hand nahm und einen großen Kreis auf den Boden malte. Aus meinem Rucksack holte ich mir einige Tinkturen, mit denen ich nacheinander die kleine Silberschale füllte. Anschließend stellte ich noch den Spiegel auf, den ich noch aus der Renaissancezeit hatte und mein Spiegelbild nicht mehr ganz so lupenrein wiedergab. Zuletzt folgte der Teil, den ich am wenigstens mochte, mir aber leider nicht erspart blieb, wenn ich die Beschwörung vollenden wollte. Ich zückte meinen Silberdolch, den ich in meinem Gürtel gesteckt hatte, und schnitt mir damit in die Handfläche. Der Schmerz war scharf und brennend, als das Blut langsam in die Schale floss und sich zu einer dunklen Brühe sammelte, sobald es sich mit den Tinkturen vermischte. „Achlys!“, rief ich und erntete eisige Stille. Kein Rauch, keine unheimlichen Stimmen, keine monsterartigen Erscheinungsformen. Das sah Achlys ähnlich. Sie mochte keine spektakulären Auftritte. Stattdessen war es mein Spiegelbild, das plötzlich andere Züge annahm und eine völlig andere Aura verströmte als ich selbst. Ihre Mundwinkel verzogen sich leicht, ihre blauen Augen nahmen eine violette Tönung an und das blonde Haar wurde eine Spur dunkler und wirkte, als würde es in Wasser schwimmen. Dann wurden die Tintenlinien sichtbar, die sich in den verschiedensten Formen auf ihrem gesamten Gesicht verteilten und jede Ähnlichkeit mit mir auslöschten. „Du hast gerufen, Kind?“, fragte Achlys mit meiner Stimme, die eine etwas rauchige Note angenommen hatte. Das Spiegelbild war ungewohnt klar; ganz anders als bei den letzten Malen, in denen ich sie herbeigerufen hatte. Das konnte ein Zeichen sein, dass diese Brücke ein äußerst gutes Medium darstellte oder … sie durch die Morde an Macht gewonnen hatte. Ich nickte ernst und hatte die Hände auf meinem Schoß gefaltet. „Mutter, ich habe in letzter Zeit Dinge gehört, die mich etwas … beunruhigen.“ „Dinge?“, wiederholte sie und kniff die Augen zusammen, als ahnte sie, in welche Richtung dieses Gespräch ging. „Was für Dinge?“ Es fiel mir nicht leicht, die passenden Worte zu finden. „Stimmt es, dass du versucht eine Hülle zu finden, um in die Menschenwelt zu gelangen?“ Achlys zuckte die Schultern, als wäre es kein Geheimnis. „In der Tat. Aber was ich tue, geht dich nichts an.“ „Aber die Engel––“ „Engel!“, rief sie scharf, woraufhin das Glas einen Sprung bekam. Das Spiegelbild wurde dunkler, ihre Augen stechender und mein Magen zog sich augenblicklich zusammen. „Soso, sie haben es also endlich bemerkt. Sie waren es also, die dich geschickt haben.“ Es war keine Frage, also versuchte ich erst gar nicht, darauf zu antworten. „Mutter, bitte hör damit auf! Es besteht doch kein Grund, sich hierher zu wagen!“ „Genug!“, fauchte sie und ich klappte den Mund zu. „Du wagst es, auf deren Geheiß zu erscheinen und mir Befehle zu erteilen! Oder nein, warte, es ist noch etwas anderes, nicht wahr? Er hat dich geschickt!“ Nun wurde ihre Stimme schrill, wütend. Ein gelber Wüstenskorpion krabbelte aus ihrem Ohr und ihren Nacken hinab. „Wer hat deine Wunden geleckt, als du gefallen bist? Wer hat dir einen Lebenssinn und Kraft geschenkt? Und wer hat dich davor bewahrt, zu einem Dämon zu werden?“ Mir schnürte sich die Kehle zu. Die Angst und die knallharte Wahrheit, die sie mir ins Gesicht schleuderte, machten es mir unmöglich, mich zu verteidigen. „Du, Mutter.“ Diese Antwort schien sie nur noch aggressiver zu machen, denn die Tattoos auf ihrem Gesicht breiteten sich aus und wurden dichter, bis ihr ganzes Gesicht pechschwarz war und ihre Augenfarbe zu einem grellen violett wurde. „Und dennoch ziehst du ihn mir vor?! Nach all den Jahrhunderten, bist du noch immer geblendet von deiner Liebe, Kind, und siehst nicht wie viel unvorstellbares Leid er dir bringt!“ Ich hätte nie gedacht, dass mich Worte je derart verletzen konnten, doch Achlys hatte es geschafft. Meine Gedärme fühlten sich an, als hätte man sie durch den Fleischwolf gedreht. Ich war zu stolz um in Tränen auszubrechen, doch meine zitternden Hände verrieten mich. Auch wenn Achlys mit jedem Wort Recht hatte, auch wenn ich auf kein glückliches Ende mit Dalquiel hoffen sollte, so war ich doch nach wie vor an ihn gekettet. Ich konnte ihm nicht entkommen und wer weiß, vielleicht wollte ich es auch gar nicht? „Mutter, ich komme aus freien Stücken zu dir. Dalquiel––“ „Nimm seinen Namen nicht in den Mund!“, zischte sie und der Spiegel bekam einen Riss, als hätte jemand mit der Faust darauf eingeschlagen. „Ich weiß, dass dieser Engel dir schon seit langer Zeit folgt! Er benutzt dich, um an mich heranzukommen und das ist unentschuldbar! Er wird dafür büßen, was er dir angetan hat und du, Trinity, wirst meinen Befehl ausführen!“ Ihre strahlenden Augen hypnotisierten mich, wie eine Giftschlange die ihr Beutetier fixierte. Mein Name auf ihrer giftigen Zunge war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich spürte ihre Essenz in mir, die mir nun zornige Wellen durch den ganzen Körper jagte und nur einen Teil ihrer unglaublichen Wut zu mir durchsickern ließ. Ich zitterte am ganzen Körper, als mich ein plötzlicher Würgereiz überkam. Irgendetwas Heißes drängte sich mir die Kehle hoch, wie kochende Säure, und ich presste mir die Hand auf den Mund, um das, was auch immer aus mir heraus kam, drinnen zu behalten. Es war klar, dass ich keine Chance gegen Achlys hatte, denn nur ein verächtliches Schnauben ihrerseits genügte und ich hustete dunkles Blut auf meine Handfläche. Ein Fleck fraß sich sofort in meine Haut und wurde so schwarz, wie Achlys‘ Gesicht. „Ich warne dich nur dieses eine Mal, also hör gut zu!“, donnerte sie wie eine zischende Schlange. „Töte deinen Engel, indem du ihn mit diesem Mal anfasst! Oder“ – und ihre Stimme wurde kalt wie Eis – „du wirst selbst daran sterben. Denk gut darüber nach, liebste Tochter. Du hast viel für dieses Leben geopfert, willst du es dir wieder von ihm wegnehmen lassen?“ Der Spiegel zersplitterte endgültig zu einem Netz aus kleinen Scherben. Die Schreckgestalt war verschwunden. Nur noch mein eigenes, verzerrtes Gesicht war darin zu erkennen, welches sich vor Schmerz zusammen krümmte und zur Seite kippte. Ich drückte mir die verfluchte Hand an die Brust und biss die Zähne zusammen. Es tat höllisch weh, innen wie außen. Mein Gespräch mit Achlys hatte katastrophale Ausmaße angenommen. So viel also zu einem friedlichen Kompromiss. Kapitel 7: Blutmal ------------------ „Die Sonne geht auf, Grace.” Ich zuckte zusammen. Während ich auf dem unbequemen Asphalt zusammen gebrochen war und mich wie ein kleines Kind zusammen gekauert hatte, musste ich mehrmals bewusstlos geworden sein. Mir war klar geworden, dass das Gift in meiner Hand nichts war, mit dem ich fertig werden konnte. Diese Art von Gift war mir gänzlich unbekannt und stärker als all jene, die ich bis jetzt angefertigt hatte. Stark genug um einen Engel zu töten. Oder mich. Ich blinzelte zu der Gestalt über mir. Dalquiel hatte mich also gefunden. „Ich wollte mit Achlys reden.“ „Du musst dich nicht rechtfertigen.“ Verdammt richtig, das musste ich nicht. Dennoch hörte mein Mund gar nicht mehr auf, sich zu bewegen. „Ich wollte von ihr selbst hören, was sie zu den Morden sagt. Sie hat es nicht abgestritten.“ Dalquiel schwieg und kniete sich zu mir hinab. Ich drückte die Hand mit dem Blutmal fest an mich, um sie vor seinem Blick zu verstecken. Ich konnte ihm nicht sagen, dass einer von uns beiden würde sterben müssen. Ich hatte diesbezüglich noch keine Entscheidung getroffen. Ich lachte. Wahrscheinlich würde er sich sogar selbst dazu bereitstellen, solange ich seinen Auftrag fortführte und Achlys zur Strecke brachte. Solange es ihm von Nutzen war, würde dieser gefühlskalte Engel alles opfern. „Wieso lachst du?“ Ich grinste, auch wenn es mir etwas misslang. „Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich ja verrückt?“ Er überging meine merkwürdige Aussage und beschloss nach einer kurzen Pause: „Ich bringe dich nach Hause.“ Er hob mich hoch, woraufhin ich zu einer unbeweglichen Salzsäule erstarrte und in der nächsten Sekunde standen wir in meinem Wohnzimmer. Der plötzliche Ortswechsel bescherte mir Brechreiz. Morgenlicht flutete den Raum, die in der Luft wirbelnden Staubpartikel wurden sichtbar und das Holz der Mahagonieschränke bekam eine rötliche Färbung. Die alten Teppiche, die kobaltblauen Vorhänge und das Sofa waren noch von den Vorbesitzern. Die Bücher und leeren Kartons, die sich an den Wänden stapelten, waren von mir. Ich konnte im Vornherein nie wissen, wie schnell ich die Stadt verlassen musste, deswegen standen sie immer griffbereit. Ich wurde von Dalquiel auf dem Sofa abgesetzt. Danach brachte er Sicherheitsabstand zwischen uns und stellte sich an den Kamin, in welchem er mit einem Fingerschnipsen ein kleines Feuer entfachte. „Hast du dich entschieden?“ Ich ballte die Hand zur Faust. „Nein.“ Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Dann griff er in seine Jackentasche und holte eine kleine Pralinenschachtel hervor, die er auf den gläsernen Wohnzimmertisch stellte. Es waren Godiva-Schokoladentrüffel. „Du hast mich doch nicht etwa ernst genommen, oder?“, fragte ich zweifelnd, als wollte er mich auf den Arm nehmen. Aber ein Engel mit Sinn für Humor? So etwas existierte nicht. „Natürlich“, erwiderte er schlicht. „Ich erwarte morgen eine Entscheidung, Grace.“ Puff. Weg war er. Keine aufbauenden oder verabschiedenden Worte, die mir die Sache vielleicht vereinfacht hätten, damit ich mir nicht unnötig das Hirn zermartern musste. Wenigstens konnte ich wieder normal atmen. Dalquiels Gegenwart machte mich immer unglaublich nervös und schwach. Ich fühlte mich bei ihm viel zu behaglich. Das war absolut inakzeptabel. Allein als er mich hochgehoben hatte, hatte mein Herz einen schmerzhaften Sprung gemacht und fast doppelt so schnell weitergeschlagen. Seine Gegenwart war ein einziger, lang andauernder Adrenalinschub, der für mich mit dem Tod enden konnte. Ich seufzte, lies mich tiefer in die Polster sinken und starrte auf meine vergiftete Handfläche. Das Mal hatte sich zu demselben Zeichen gebildet, wie die der gefundenen Leiche. Mir den Arm um die Augen legend, flüsterte ich: „Gott, was mache ich nur?“ Kapitel 8: Dreiecksmord ----------------------- Ein Brunnen. Drei Leichen. Eine Handvoll Zeugen. Gin Blackburn knirschte vor Ärger mit den Zähnen. Die männlichen Leichen, die aus dem Wasser gezogen wurden und nun ausgestreckt auf dem Boden lagen, waren zwischen einem Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren. Wahrscheinlich eine kleine Gruppe von Punks, die sich die Zeit vertreiben wollten und sich einen Spaß damit gemacht hatten im Stadtbrunnen herum zu plantschen. Die Zeugenaussagen waren auch keine große Hilfe. Niemand wusste, was genau sie erwischt hatte, denn ihnen zufolge standen sie knietief im Brunnen und im nächsten Moment schrie einer nach dem anderen wie am Spieß, hielten sich den Kopf und kippten anschließend ins Wasser. Einfach so. Kein Mörder. Keine Mordwaffe. Gin zog sich weiße Latex-Handschuhe über und kniete sich neben die Leichen, die nun in einem schwarzen Leichensack lagen, der bis zum Kinn geschlossen worden war. Obwohl sie sich das Resultat bereits denken konnte, öffnete sie ihre Mundhöhlen und blickte ihnen tief in den Rachen. Sie erkannte das schwarze Mal sofort. „Verdammt“, fluchte sie. Nun musste sie ausgerechnet einer der Personen aufsuchen, die sie am wenigsten sehen wollte. Was aus ihrer Drohung wurde, Grace Santiagos Geheimnis aufzudecken, war schnell zusammen gefasst. Gin hatte alle möglichen Nachforschungen anstellen lassen, doch es war, als hätte die sogenannte Giftprinzessin vor wenigen Jahren nicht einmal existiert. Keine Aufzeichnungen, keine Fotos. Umso mehr regte es Blackburn nun auf, ihr wieder gegenüber treten zu müssen, ohne etwas gegen sie in der Hand zu haben. Sie konnte es geradezu spüren, dass Grace etwas mit den Morden zu tun hatte. „Verdächtig“, murmelte sie. „Was ist verdächtig?“, fragte eine männliche Stimme und ließ sie zusammen fahren. „Verflucht, Oliver! Schleich dich nicht immer an mich ran!“ Sie war ihm einen scharfen Blick zu, als er grinsend mit den Schultern zuckte und sich eine Zigarette anzündete. Auch wenn Oliver Gilbert einer ihrer ältesten Bekannten war, traute sie ihm nicht über den Weg. Okay, fair gesprochen, traute Gin niemandem über den Weg, doch dieser mittelgroße Mann, mit den gewöhnlichen braunen Augen und der gewöhnlichen brünetten Frisur und der gewöhnlich klingenden Stimme war einfach viel zu suspekt. Es war, als ob man ihn vergessen würde, sobald er aus dem Blickfeld verschwand. Nicht ein Mal hatte sie an ihn gedacht, wenn sie ihn nicht gesehen hatte – mal abgesehen davon, hatte sie auch nie jemanden über ihn reden hören –, doch sobald er wieder auftauchte schossen einem tausend Fragen durch den Kopf. „Kommst du an dem Fall voran, Ginger?“, fragte er und sah völlig ungerührt zu, wie die drei Opfer zum Gerichtsmediziner abtransportiert wurden. „Das geht dich nichts an“, schnappte Gin. „Und nenn mich nicht so!“ „Nana, jetzt sei doch nicht gleich beleidigt. Ich bin immerhin dein Partner.“ „Ein Partner, der vielleicht einmal die Woche aufkreuzt, ist kein Partner. Übrigens, womit vertreibst du dir die Zeit eigentlich, wenn du mir nicht gerade auf die Nerven gehst?“ „Ich schmiede Pläne wie ich dir schöne Augen machen kann.“ Er schenkte ihr ein dreckiges Grinsen und musterte sie unverhohlen von oben bis unten. Es wäre sicher einfacher zu glauben, wenn Gins Gesicht nicht so entstellt wäre. Das hässliche Narbengeflecht hatte sie schon längst die Hoffnung nach einer Beziehung aufgeben lassen. Ihr Lover würde nun für immer ihr Job sein. „Hast du bereits etwas über Grace Santiago ausgraben können?“, fragte sie schließlich und begab sich mit ihm etwas abseits, weg von der neugierigen Menschenmenge und den Fotographen. Er nahm einen tiefen Zug seiner Zigarette und atmete langsam aus. „Ich arbeite daran.“ Wunderbar. Wenn sogar Oliver, der seine Augen und Ohren so gut wie überall hatte, noch nichts über die Giftprinzessin auftreiben konnte, dann sah es übel aus. „Oh, aber eine Gemeinsamkeit haben alle bisherigen Leichen“, fiel ihm doch noch ein, warf die Zigarette auf den Boden und überließ es Gin, sie mit dem Stiefel auszudrücken. „Die Punks und Andrew Collins gingen alle zur selben Schule – die St. Manarian High. Und rate mal, wer diese Schule noch besucht.“ Gin runzelte nachdenklich die Stirn, dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. „Scheiße, ich glaub’s nicht!“ Sie kramte in ihrem Jackett so lange, bis sie endlich ihr kleines Notizbuch fand, in dem sie die kleinen Details notierte und tatsächlich, da stand es. Graces Teilzeitjobber, Keenan Johnson und Marina Montgomery, besuchten die gleiche Schule. Oliver grinste selbstzufrieden. „Freust du dich über die heiße Spur?“ Gin hätte ihm um den Hals fallen können, versuchte aber gefasst zu bleiben und nickte stattdessen. „Ja, das bringt mich ein ganzes Stück weiter. Manchmal bist du ja doch ganz nützlich.“ Er zog eine Grimasse. „Wow, zu viel der Ehre.“ Schließlich zuckte er die Schultern und klopfte ihr Kopf schüttelnd auf die Schulter, als würde er ein naives Kind in die große, weite Welt hinaus schicken. „Hol dir ein paar Mützen Schlaf, Ginger, bevor du ihr Haus stürmst. Ich sehe dich schon seit zwei Tagen ununterbrochen auf den Beinen.“ Gin murrte unwillig. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sich ein Bett anfühlte, nachdem sie die letzten Nächte vielleicht für ein oder zwei Stunden auf der Couch im Polizeirevier geschlafen hatte. Allerdings würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als zu gestehen, dass er Recht hatte. „Pah, was auch immer.“ Ohne Abschied wandte sie sich von ihm ab und fuhr nach Hause. Mehr konnte sie am Tatort ohnehin nicht mehr machen und sie musste vor Morgengrauen schließlich noch einen Bericht fertig schreiben. Gin freute sich schon auf die Reaktion der Giftprinzessin, wenn sie morgen Früh vor ihrer Tür stand.   Kapitel 9: Rippe ---------------- Ich war hellwach. Der Schmerz hatte mich nicht schlafen lassen ... nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte, da mich meine ganzen Sorgen ohnehin wach gehalten hätten. Es war früher Vormittag und ich verplemperte meine Zeit damit, ein Schmerzmittel nach dem anderen einzuwerfen und mit meinem fast unbegrenztem Wissen an Giften irgendeine Möglichkeit zu finden, das Mal loszuwerden. Ohne Erfolg, natürlich. Wäre ja lachhaft gewesen, wenn meine Fähigkeiten die meiner Mutter überragt hätten. Ich war gerade dabei mir die letzte Salbe auf das Mal zu reiben, als jemand an der Tür klopfte. Mein Kopf ruckte hoch und ich starrte die alte Holztür an, als ob ich jeden Moment einen Röntgenblick entwickeln könnte. Schnell ließ ich meine Hand in einen langen Handschuh schlüpfen und schob die ganzen Fläschchen und Dosen auf eine Seite des Tisches, als ob es nicht schon auffällig genug wäre, dass ich hier herum experimentiert hatte. Nachdem es ein zweites Mal klopfte und ich um diese Uhrzeit keinen angenehmen Besuch erwarten konnte, riss ich die Tür eher unwirsch auf und stand plötzlich einem etwas kleineren Mann in Anzug und Charlie Chaplin Hut gegenüber. „Guten Morgen“, grüßte er, nahm sich die Melone vom Kopf und präsentierte einen hellblauen Haarschopf, der nicht zu seinem alten Aussehen passte. „Trinity nehme ich an?“ Ich kniff misstrauisch die Augen zusammen. Außer Achlys und den Engeln nannte mich niemand bei meinem richtigen Namen, beziehungsweise war fast niemand mehr alt genug, um sich überhaupt daran zu erinnern. „Wer will das wissen?“ Der Mann schlug die Hacken zusammen und zückte eine schwarze Visitenkarte aus der Innentasche seines Sakkos und reichte sie mir. „Mein Name ist Pierre. Ich bin Ihr Todesnotar und bin wegen Ihres Testaments gekommen.“ Ich biss die Zähne zusammen. Ich brauchte nicht mehr auf die Visitenkarte zu blicken, um zu wissen, wofür ein Todesnotar zuständig war. Typen wir er kreuzten nur auf, wenn einem mystischen Wesen der Tod bevorstand und der Tod ihn möglichst schnell von der Liste streichen wollte. In der Antike hatte es massive Kriege wegen der Erbschaft von Fabelwesen gegeben – die Quelle der ewigen Jugend, Amulette, verzauberte Schwerter, unbezahlbare Schätze, all dieser Kram eben –, bis sich die Sensenmänner und Obergottheiten schließlich darauf geeinigt hatten, dass ein Testament aufgestellt werden sollte, damit Raubzüge und Plünderungen verhindert wurden und die Besitztümer an die auserkorenen Besitzer gingen oder zerstört wurden. Obwohl ich eine Menge an wertvollen Dingen besaß, war es weniger die Tatsache, dass ich das alles verlieren würde, die mich deprimierte, als zu wissen, dass nicht einmal der Tod selbst glaubte, dass ich die nächsten Tage überleben würde. „Nein danke.“ Ich schlug ihm die Tür vor der Nase zu und drehte mich um, nur um ihn im Raum stehen zu sehen, wie er mit unverhohlenem Argwohn die biedere Einrichtung musterte. „Das soll ja wohl ein Witz sein“, murmelte ich. Ich war stolz auf mich, dass es mich kein bisschen mehr kratzte, wenn sich irgendein Wesen einfach in mein Haus teleportierte, als wäre es schon immer Teil der Einrichtung gewesen. Aber ich war angepisst, ihn wohl nicht mehr loswerden zu können. „Je eher Sie mir sagen, um was ich mich nach Ihrem Ableben kümmern soll, desto eher sind Sie mich wieder los.“ „Werde ich denn erfahren, wann ich sterben werde?“ Der Todesnotar grunzte abfällig, was mir bereits Antwort genug war. „Vergessen Sie es. Sie können wieder gehen. Ich habe nicht vor zu sterben.“ Eine seiner blauen Augenbrauen wanderte amüsiert nach oben. „Sicher doch, weil gerade Sie es in der Hand haben.“ Er starrte überdeutlich auf meinen vor Schmerz brennenden Arm. Ha-ha. Sehr witzig. Noch deutlicher hätte er es nicht ausdrücken können – Grace Santiago alias Trinity alias die Giftprinzessin alias die Idiotin-die-nicht-aus-ihren-Fehlern-lernte, würde bald sterben und kein Gebettel, keine Verhandlung oder Bestechung der Welt könnte etwas daran ändern. Man, wie sehr ich Unsterbliche doch liebte. Wie eine Wunde, die nicht aufhörte zu bluten. „Ich habe niemanden, dem ich etwas hinterlassen könnte“, sagte ich schließlich. „Dann wollen Sie Ihr Erbe zerstören lassen?“ „Nein!“, fauchte ich. „Ich habe Blut und Wasser geschwitzt um da anzugelangen, wo ich heute bin, wie könnte ich das alles zerstören wollen?!“ Der Todesnotar stieß einen tiefen Seufzer aus und setzte sich seine Melone wieder auf. „Ich verstehe. Sie brauchen noch etwas Bedenkzeit.“ Bedenkzeit? Was ich brauchte, war ein Ausweg aus diesem Chaos! Und die einzigen die mir helfen konnten, nutzten mich nur für ihre Zwecke! „Ich werde morgen um dieselbe Zeit erscheinen“, sagte er und wandte sich dem Ausgang zu, doch als er die Tür öffnete und ich Detective Blackburn in der Tür stehen sah, bereit anzuklopfen, setzte er noch einen drauf: „Bis dahin sollten Sie sich entschieden haben. Ihre Zeit läuft nämlich ab.“ Blackburn konnte gerade noch der Tür ausweichen, die mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Sie sah aus, als ob sie mich etwas fragen wollte, zog dann aber nur die Augenbrauen zusammen und begnügte sich damit mich misstrauisch zu mustern. „Was verschafft mir die Ehre, Detective?“, fragte ich und verschränkte die Arme. „Nun“, erwiderte sie mit einem Seitenblick auf die obskuren Sachen auf dem Tisch, „Ich hoffe doch sehr, ich störe nicht.“ „Wenn Sie das kümmern würde, wären Sie nicht hier.“ Ein schiefes Grinsen zierte ihr verunstaltetes Gesicht. „Da ist was dran. Letzte Nacht geschahen wieder drei Morde.“ Ich ballte die Hände zu Fäusten. „Dieselbe Todesursache wie bei dem vorherigen Opfer?“ „Richtig. Doch nicht nur das“, sagte sie und überreichte mir einen Zettel, auf dem einige Namen standen. Darunter auch Keenans und Marinas. „Alle Vier besuchten dieselbe Schule wie ihre beiden Hilfsarbeiter und sind sogar in demselben Jahrgang.“ Ich ahnte Böses. Mir gefiel die Richtung, in die dieses Gespräch ging absolut nicht. Allerdings weigerte ich mich eine Reaktion zu zeigen, die ihr irgendetwas verraten und mich in Schwierigkeiten bringen könnte. „Und?“ „Ich habe mich etwas schlau gemacht und anscheinend soll Keenan ein äußerst beunruhigendes Verhältnis zu den Opfern gehabt haben – er wurde gemobbt. Und wissen Sie woran Teenager in seinem Alter denken?“ „Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.“ „Rache.“ „Wenn Sie darauf hinaus wollen, dass er meine Gifte verwendet hat, um jemanden zu töten, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Er hat keinen Zugang dazu, geschweige denn weiß er, welche Gifte welche Wirkung haben.“ „Aber Sie wissen es.“ Ich starrte sie an. Ach, darauf wollte sie also hinaus. Ich konnte ihr nicht verdenken, dass sie diesen Schluss gezogen haben musste, wo ich doch die einzige in der Stadt mit Zugang zu solch tödlichen Giften war. Woher sollte sie natürlich wissen, dass ich nicht in der Lage war Sakraha herzustellen? „Nun hören Sie mal“, sagte ich und rieb mir die Schläfe. „Ich glaube Sie täuschen––“ „Und ich glaube, dass Ihnen Ihr Schützling leidgetan hat und Sie ihm helfen wollten. Womöglich hatte er Sie sogar um einen Gefallen gebeten?“ „Das ist doch lächerlich!“, wurde ich laut und machte einen Schritt auf sie zu. „Ich würde ihn niemals in so etwas mit hineinziehen!“ Blackburn zog blitzschnell ihre Waffe aus ihrem Gürtel und zielte auf mich. „Keinen Schritt weiter! Sie sind hiermit bis auf weiteres festgenommen!“ „Das denke ich nicht“, erwiderte ich kalt, schnappte mir ein grünes Fläschchen und warf es ihr in demselben Moment vor die Füße, in dem sie einen Schuss abfeuerte und mich direkt über dem Herzen traf. Ich fiel zu Boden, spürte wie das Blut aus mir hinaus sickerte, während ich mit verklärtem Blick zusah, wie ein dunkelgrüner Rauch von der zerbrochenen Flasche aufstieg, als würde sich eine Giftschlange um Blackburns Körper schlingen. Sie wurde von dem eingeatmeten Gift gelähmt, als versteinerte sie zu einer von Medusas Statuen. Das würde sie mir allerdings nur für einige Stunden vom Leib halten. „Etwas Hilfe wäre ganz brauchbar“, keuchte ich und dachte angestrengt an Dalquiel. Die Wunde würde mich sicher nicht umbringen und in weniger Zeit wieder heilen, doch es war nicht so, als ob ich diese auch hatte. Wer konnte schon wissen, wann irgendein Monster oder eine miesgelaunte Gottheit mir einen Besuch abstattete. Ich presste mir meine verfluchte Hand auf die Brust und kämpfte mich hoch, als ich plötzlich am Oberarm gepackt und hochgerissen wurde. Überrumpelt starrte ich Dalquiel an, der wie aus dem Nichts erschienen war. „Was ist passiert?!“, fragte Dalquiel mit einer Mischung aus Ärger und Vorwurf. „Angeschossen.“ „Das sehe ich.“ Ich ließ meinen Arm sinken und presste ihn mir an die Seite, was den Engel dazu veranlasste die Stirn zu runzeln. Ein merkwürdig ungewohnter Anblick, der sich mir sofort ins Gedächtnis brannte. „Pass besser auf deinen Körper auf“, warnte er und presste seine Handfläche auf die blutende Schusswunde. Es fühlte sich an, als ob er mir ein Bügeleisen aufdrückte und ich stieß einen stillen Schrei aus, der mir hoffentlich ein bisschen Würde bewahrt hatte, doch so schnell wie der Schmerz da war, war er auch wieder weg. Die Wunde war geschlossen und bis auf meine kaputte Bluse, gab es auch kein Anzeichen, dass ich überhaupt je verletzt gewesen war. „Danke“, murmelte ich und ging etwas auf Abstand. Ich vermied es, ihm in diese unergründlichen Augen zu blicken. Vor allem weil ich besorgt war, dass er mir die Angst ansah, und zum anderen, weil ich verhindern wollte, dass er einen zu genauen Blick auf meinen behandschuhten Arm warf. Ich stellte mich vor Blackburn und kratzte ihr die Pistole aus ihrem verhärteten Griff. Ihre Augen waren komplett grün geworden und ich runzelte die Stirn. „Falls Sie mich hören können, würden Sie mir später dann eine Beschreibung zu Ihrem Zustand geben? Ich würde gerne mehr über die Auswirkung des Giftes auf den Verstand wissen.“ Vorausgesetzt, ich hatte sie geistig nicht auch in eine Starre versetzt oder ihr Gehirn geschädigt. So etwas wäre für meine Forschung zwar unvorteilhaft, allerdings würde es mir dann den Ärger ersparen, ihr Gedächtnis zu löschen. „Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Grace“, lenkte Dalquiel ein und musterte Blackburn eingehend. „Wer ist sie?“ „Detective Blackburn. Einer meiner Fans, aber da mir die Autogramme ausgegangen sind, muss sie mit einer Demonstration Vorlieb nehmen.“ Der Sarkasmus ging völlig an ihm vorbei und er sagte: „Halte dich besser von ihr fern.“ „Irgendein Problem? Ich meine, noch eins?“ „Ihr Gesicht ...“ „Die Narben? Was soll damit sein?“ „Die Dämonensprache. Du kannst sie also nicht lesen.“ Ich runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. „Woher denn? Zu meiner Zeit gab es noch keine Dämonen. Erst als Pandora diese verdammte Büchse geöffnet hat, sind sie angelockt worden wie die Fliegen, aber zu dem Zeitpunkt war ich schon längst––“ Ich stockte und atmete tief ein. „Unwichtig. Also, was ist nun mit ihrem Gesicht? Was hat ein Mensch mit einem Dämon zu tun?“ Dalquiel neigte den Kopf leicht. „Ich bin mir nicht sicher. Meine Kenntnisse sind diesbezüglich beschränkt, aber es sieht mir doch wie eine Besitzmarkierung aus und noch dazu eine ziemlich mächtige. Wer auch immer ihr den Fluch ins Gesicht geritzt hatte, wird sich das Opfer nicht so einfach wegnehmen lassen.“ Ich starrte Blackburn an, die so rechtschaffend war, wie ein Mensch es nur sein konnte und fragte mich, wie zum Teufel sie es geschafft hatte auf den Radar eines Dämons zu gelangen. Obwohl, da es praktisch ihr Beruf war ihre Nase überall hineinzustecken, hätte es mich nicht gewundert, wenn sie dabei einem Dämon auf den Schlips getreten wäre. Allerdings war das nicht mein Problem. Es ging mich nichts an und ich hatte bei Gott genug eigene Probleme die momentan oberste Priorität hatten. Wäre doch gelacht, wenn ich nur wegen Blackburn plötzlich einen Dämon an den Fersen hatte, der nicht gern sein Spielzeug teilte. Ich drehte mich zu dem Engel. „Wieso bist du hier? Wohl kaum, weil ich dich gerufen habe.“ Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, als er eine kurze Pause einlegte, doch bei seinen nächsten Worten bohrte sich mir die Enttäuschung tief in die Brust. „Ich bin hier, weil ich deine Entscheidung erwarte.“ Ich lachte leise und heiser. „Ihr Engel könnt wirklich grausam sein.“ „Grace, du musst n––“ „Schon gut“, fiel ich ihm abwehrend ins Wort. „Ich mache es.“ Ich war mir sicher, dass auch ihm keine andere Wahl blieb, sonst hätten sie sich wohl kaum ausgerechnet an mich gewendet. Sie mussten schon ziemlich verzweifelt sein, wenn ich ihr einziger Ausweg war. Daher war es eine geradezu schmerzhaft freundliche Geste, dass er mir überhaupt die Entscheidung überlassen hatte … oder wenigstens so tat als ob. Natürlich war mir klar, dass diese Aktion reiner Selbstmord war, aber hey, war ja schließlich nicht das erste Mal. Wenn ich es mir recht überlegte, waren alle meine Entscheidungen bis zum heutigen Tag die reinste Schnapsidee gewesen und ich mich beschlich das Gefühl, dass ich mir mit jeder weiteren Entscheidung mein Grab nur noch tiefer schaufelte. Dalquiels Überraschung wich seiner üblichen Ausdruckslosigkeit und er nickte. „Ich verstehe.“ „Wenigstens einer von uns“, murmelte ich. „Na schön, was muss ich tun, um Achlys loszuwerden?“ „Es wird dir nicht gefallen.“ „Es wird mir so oder so nicht gefallen, also raus mit der Sprache!“ „Ich brauche eine Rippe“, sagte er mit der Ernsthaftigkeit eines Chirurgen. „Eine Rippe?“, wiederholte ich wie ein Papagei. Gott, warum musste man diesem Mann nur immer alles aus der Nase ziehen? „Deine Rippe, Grace.“ Kapitel 10: Gestohlen --------------------- Ich starrte ihn an. Ich war zu vielem bereit, aber ich war absolut nicht scharf darauf eine meiner Rippen zu verlieren. Schon gar nicht, weil ich mir bereits denken konnte, auf welche Weise er sie sich holen wollte. „Ah.“ Ich neigte den Kopf misstrauisch zur Seite. „Wozu?“ „Du musst Achlys damit ins Herz stechen.“ „Ah.“ Als ob er dies als Zustimmung deutete, zog der Engel wie selbstverständlich sein Jackett aus und ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass seine Hülle einen stattlichen Körperbau hatte. Zu gerne wäre ich ihm mit den Nägeln über die muskulöse Brust gefahren. Allerdings holte mich die Tatsache, dass er mit ausgestrecktem Arm auf mich zutrat, schnell wieder in die Realität zurück. Aufschreiend wich ich zurück und stieß mit dem Rücken gegen den Tresen. „Woah! Warte, warte! Ich bin noch nicht bereit!“ Er stoppte in der Bewegung und runzelte die Stirn. „Dir ist klar, dass uns die Zeit davon läuft?“ „Gib mir ‘ne Sekunde! Dir wird schließlich nicht eine Hand in den Bauch gerammt!“ Ich atmete tief aus und versuchte mich zu sammeln. Der Gedanke, dass ich und Dalquiel uns nun näher kommen würden, als ich eigentlich gehofft hatte, trieb mir Schweißperlen auf die Stirn. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und rief mir in Erinnerung, dass das keinesfalls das erste Mal war, dass mir jemand an den Kragen wollte. Allerdings musste ich mich irgendwie damit abfinden, dass ich das hier auch noch freiwillig über mich ergehen ließ. „Okay. Ich glaube ich bin so weit. Tu es bevor ich es mir a––“ Bevor ich den Satz auch nur zu Ende sprechen konnte, stieß er mir seine Hand zielsicher in den Magen. Ich konnte nicht anders, als bei diesem grässlichen Schmerz, der mir durch alle Nervenenden zuckte, laut aufzuschreien und mich an ihn zu klammern. Es wäre um einiges erträglicher gewesen, wenn mir Dalquiels Licht, seine Essenz, nicht den halben Magen wegätzen würde. Ich hörte ein grässliches Knacken und war vor Schock wie paralysiert. Meine Muskeln wurden taub und sobald Dalquiel mit einem starken Ruck den Knochen aus mir heraus riss, brach ich gepeinigt auf dem Boden zusammen. Wie ein kleines Kind zusammen krümmend, fluchte ich: „Oh verdammte Scheiße! Aaah! Es tut so weh!“ Er blickte halb fragend auf mich herab. „Wirklich?“ Ich folgte seinem Blick und erwartete ein Blut triefendes Loch, aus dem meine Gedärme quirlten, doch wie schon zuvor hatte sich die Verletzung einfach in Luft aufgelöst, als ob sie nie geschehen wäre. In etwa so wie der Zaubertrick mit der Säge und der zweigeteilten Showassistentin – nur das die wenigstens dafür bezahlt wurde. Etwas peinlich berührt, sagte ich: „Hilf mir auf, Dalquiel.“ Obwohl er für eine Sekunde zögerte, schlang er einen Arm um mich und brachte mich zu meiner Couch, in dessen weiche Kissen ich mich fallen ließ. Ich wollte keinen einzigen Muskel mehr rühren, zwang mich jedoch zu der Frage: „Und was jetzt?“ „Abwarten, bis sich Achlys eine neue Hülle sucht“, erwiderte der Engel. „Solange sie keine feste Form hat, wirst du sie nicht einfach mit der Rippe erstechen können. Und je unpassender die Hülle, desto kürzer das Zeitfenster.“ „Was soll das bitte bedeuten? Wir haben doch keine Ahnung, wann und wo sich Achlys das nächste Mal blicken lässt!“ Dalquiel nickte und legte mir die blutige Rippe auf den Tisch. „Ich weiß. Ich werde ein Orakel befragen. Ich hole dich, sobald ich mehr weiß.“ „Warte! Ich bin noch nicht fertig!“, rief ich und war wieder einmal zu spät. Er hatte sich längst aus dem Staub gemacht und mich wie immer mit tausend Fragen hängen lassen. Sollte ich jetzt wie eine brave Hausfrau auf ihn warten und Däumchen drehen, bis er wieder kam? Oder selbst nach einem Weg suchen, meine Mutter aufzuspüren? Und vor allem: was sollte ich nun mit Blackburn machen, der anscheinend ein Dämon im Nacken saß, der jeden Moment wie eine Zeitbombe losgehen konnte? Zu viele Fragen, um die ich mir im Moment keine Gedanken machen will, dachte ich mit einem Seitenblick auf die versteinerte Blackburn. Ich hätte sie befreien und ihr Gedächtnis löschen sollen, doch die plötzliche Müdigkeit die mich übermannte, vernichtete jeden Rest Vernunft den ich noch besaß und zog mich tief, tief hinab in einen unruhigen Schlaf. Als ich jedoch wieder aufwachte, ging der Albtraum weiter. Nicht nur, dass Blackburn verschwunden war, auch die Rippe hatte sich in Luft aufgelöst. Ich musste nur eins und eins zusammen zählen, um herauszufinden, wie es dazu gekommen war. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, raunzte ich und setzte mich auf, nur um es in der nächsten Sekunde zu bereuen, als alles vor meinen Augen zu verschwimmen begann und ich dunkles Blut auf die Couch hustete. Ich zog mir meinen Handschuh vom Arm und sah beunruhigt, dass dieser bereits komplett geschwärzt war. In nur wenigen Stunden hatte sich das Gift ausgebreitet und befand sich nun gefährlich nahe an meinem Herzen. Nicht mehr lange und ich könnte all meinen Problemen Lebewohl sagen – und zwar für immer. Ohne viel Zeit für frische Klamotten oder einem heftigen Schluck Cognac zu verschwenden, stürmte ich aus dem Haus und rannte Keenan und Marina beinahe über den Haufen, die bei meinem erschütterndem Anblick die Augenbrauen hochzogen. „Holla! Da hat’s jemand eilig!“ Marina ließ ihre Kaugummiblase platzen. Ich blinzelte der Morgensonne entgegen und brauchte eine Weile, um meine beiden Angestellten zu erkennen. Ich hatte wohl länger geschlafen, als ich gedacht hatte. „Grace, was ist passiert?“, fragte Keenan und kaute nervös auf seinem Lippenring. Er verschränkte seine Finger mit Marinas, die förmlich dahin zu schmelzen schien. „Dies und das“, erwiderte ich lahm. „Es wäre besser, wenn ihr euch für eine Weile vom Haus fern hält.“ Die beiden sahen aus, als wollten sie den Grund dafür erfahren, doch besannen sich eines Besseren und fragten stattdessen: „Was sollen wir stattdessen machen?“ „Geht in den Laden. Ich erkläre es euch, sobald ich meine Rippe wieder habe.“ „Deine Rippe? Was?“, fragte Keenan perplex, doch ich stolperte bereits wie im Fieberwahn zum Geräteschuppen, in dem ich meinen Wagen verstauben lies und machte mich auf dem Weg zum Polizeirevier. Ein Wunder, dass ich keinen einzigen Unfall verursachte, obwohl mich mein rechter Arm allmählich im Stich ließ und ich die Gangschaltung nicht mehr richtig bedienen konnte. Ich parkte halb auf dem Randstein gegenüber des Reviers und wurde fast überfahren, als ich über die Straße hetzte und in das Gebäude stürmte. Liebend gerne hätte ich das brave, schwache Mäuschen gespielt, dass die Hilfe eines starken Polizisten brauchte, doch scheiß drauf. Wie eine Furie platzte ich in ihr Büro, in dem sie auf ihrem Platz hinter einem kleinen, mit Papier übersäten, Tisch saß und mir noch nicht einmal die Genugtuung verschaffte, aufzublicken. Ganz so, als hätte sie mein Kommen bereits erwartet. „Wo ist die Rippe?“ Ich nahm an, dass es keinen Sinn hatte, um den heißen Brei zu reden. Ihr Diebstahl allein war Beweis genug, dass sie jedes Wort zwischen mir und Dalquiel mitbekommen hatte. Erst nach provozierenden zehn Sekunden, legte sie endlich ihren Stift zur Seite und blickte mich aus ihren dunklen Augen gelassen an, als wüsste sie ganz genau, dass sie mich in der Hand hatte. „Oh, Ms. Santiago, Sie sehen so aufgeregt aus. Ist etwas passiert?“ Ich biss mir in die Wange, bis ich Blut auf meiner Zunge schmeckte. „Spielen Sie nicht die Dumme. Ich weiß, dass Sie es wissen.“ „Meinen Sie die Tatsache, dass Sie ein Monster sind? Oder dass Sie den Mörder in meinen Fällen kennen?“ „Sie haben doch keine Ahnung“, schnauzte ich und spürte Aggressionen in mir aufwallen. Hinter meinem Rücken zog ich mir langsam den Handschuh aus. Ich sah keine andere Wahl, als sie aus dem Weg zu räumen. „Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die Sie nicht in der Hand haben.“ „Das sehe ich anders. Schließlich habe ich Sie in der Hand.“ „Verfluchtes Mis––“, zischte ich und wollte sie mit meinem giftigen Arm an der Kehle packen, als ein plötzlicher Stromstoß mich von den Beinen riss und gegen die Wand schleuderte. Keuchend tastete ich mir ans Herz, welches für einige Sekunden ausgesetzt hatte, und rappelte mich auf. Elektrisches Licht zuckte um meinen Körper. Ich konnte es nur undeutlich erkennen, doch eine dunkle Masse waberte um Blackburns Körper wie eine schwarze Gewitterwolke und glühend rote Augen blitzten in der Masse auf, die mir den sicheren Tod androhten. Würde ich so etwas nochmal versuchen, würde ich mit weniger als einem Stromschlag davon kommen. Was war ich doch nur für ein Glückspilz. Blackburn blinzelte erstaunt. Die Wolke um sich herum schien sie gar nicht zu bemerken. „Na schön“, gab ich mich schließlich geschlagen. Sich jetzt noch mit ihr anzulegen war sinnlos. Ich würde keine zweite Chancen bekommen, sie aus dem Weg zu räumen. „Was muss ich tun, um die Rippe zurück zu bekommen?“ Handschellen wurden mir klirrend vor die Füße geworfen. „Sie werden bis auf Weiteres in Gewahrsam genommen.“ Kapitel 11: Hülle ----------------- Ich teilte mir die Zelle mit einem Betrunkenen, der auf der Pritsche ohnmächtig geworden war – direkt nachdem er mitten auf den Boden gekotzt und mich dazu veranlasste hatte mich in eine der Ecken zu pressen und durch den Mund zu atmen. Diese Erniedrigung die ich über mich ergehen lassen musste war mörderisch und wenn es hier nicht um meine Rippe ginge, hätte ich längst die Zellengitter verätzt und wäre ausgebrochen. Allerdings war das keine Option mehr und ich zermarterte mir das Hirn, wie ich wieder an meinen Knochen kam. Ich weigerte mich auch nur in Erwägung zu ziehen Dalquiel um Hilfe zu bitten. Eher ließ ich mir noch eine weitere Rippe heraus reißen. Seit meiner Verhaftung mussten bereits mehrere Stunden vergangen sein. Durch das klitzekleine vergitterte Fenster in der Zelle, durch das nicht einmal mehr eine fette Katze gepasst hätte, sah man nur die Stadtlichter in den pechschwarzen Himmel leuchten. Und während also mein Zellengenosse seinen Rausch ausschlief, krümmte ich mich zu einem kleinen Häufchen Elend zusammen, welches von Fieber und grausamen Schmerzen geplagt wurde. Ich spürte meinen Arm nicht mehr; geschweige denn konnte ich ihn bewegen. Das Gift war gefährlich nahe an meinem Herzen. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn ich die nächsten zwölf Stunden überlebte. „Sie sehen schrecklich aus.“ Ich drehte meinen Kopf kraftlos in die Richtung, aus der ich die Stimme hörte. Der Todesnotar stand vor der Zelle mit seinem Aktenkoffer in der Hand und machte sich diesmal gar nicht erst nicht die Mühe, seinen Hut abzusetzen. „Sagen Sie mir etwas, dass ich noch nicht weiß“, erwiderte ich happig. „Was wollen Sie? Sollten Sie nicht erst in ein paar Stunden aufkreuzen?“ Der Notar nickte zustimmend. Er drückte sich seinen Koffer an die Brust und tippte mit seinen Fingern auf dem schwarzen Leder herum. „Das ist korrekt. So wie es jedoch um Sie steht, kann ich es mir nicht leisten noch mehr Zeit zu verlieren. Ich brauche eine Antwort. Sofort.“ Ich verdrehte die Augen. Hitze- und Kältewellen überrollten mich im Minutentakt und machten es mir praktisch unmöglich, mich auf etwas anderes als meinen vergifteten Körper zu konzentrieren. „Soll das ein Witz sein? Ich werde nicht abkratzen, also hören Sie auf wie eine Zecke an mir zu kleben!“ Wow, ich klang weitaus zuversichtlicher als ich mit tatsächlich fühlte. Wem machte ich eigentlich was vor? „Trinity“, sprach er meinen Namen mit einem warnenden Unterton aus. Seine dunkelblauen Augen blitzten gefährlich und die Falten in seinem Gesicht spannten sich so weit, dass er Ähnlichkeit mit einem Skelett bekam. „Sollten Sie sich tatsächlich weigern, wird Ihr ganzer Besitz zur Versteigerung freigegeben. Absolut jeder könnte in Besitz Ihrer Gifte kommen, was, dass muss ich gestehen, meine Arbeit um einiges komplizierter machen würde. Ich bin sicher, ich muss Ihnen nicht sagen, dass eine dieser Tinkturen in den falschen Händen ausreicht, um die ganze Stadt auszulöschen.“ „Wenn Sie mir ein schlechtes Gewissen einreden wollen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse.“ Nach einer kurzen Pause, in der ich vermutlich kurz ins Jenseits abgedriftet war, fügte ich hinzu: „Und mein Name ist Grace.“ Er klackte mit der Zunge. „Natürlich. Was auch immer.“ Ich verdrehte die Augen. Dann kam mir ein Einfall, den ich zu meinem Gunsten ausnutzen konnte. „Na schön, ich werde also mein Testament aufstellen.“ Der Todesnotar blinzelte. „Ich höre.“ „Ich verlange, dass sich meine Rippe, die sich im Moment im Besitz von Detective Ginger Blackburn befindet, bis zu meinem Tod bei mir aufhält. Den Rest meiner Sachen vermache ich Keenan Johnson.“ Der Junge würde wohl ohnehin meine Gifte durchwühlen, sobald Marina endgültig ihren Verstand verlor und anfing mit dem Tod zu flirten. Warum sollte ich ihm also die Suche erschweren? „Sie vermachen ihren Besitz einem Menschen?“, fragte der blauhaarige Alte perplex. Ich zuckte mit den Schultern, ehe ich von einem Hustenanfall geschüttelt wurde und Blut auf den Boden spuckte. Nach einigen schweren Atemzügen, erwiderte ich: „Der Junge hat Potential.“ „Ich verstehe“, sagte er nach einer kurzen Pause. „Mir ist nicht entgangen, dass Sie einen gestohlenen Gegenstand zurück wollen.“ „Hey, es ist immerhin meine Rippe. Und wenn ich tot bin können Sie sie meinetwegen zu ihr zurück bringen. Es ist mir egal, ich muss nur noch etwas erledigen.“ Er kniff nachdenklich die Augen zusammen und seufzte schließlich. „Also gut. Ihre Zeit ist ohnehin so gut wie abgelaufen. Wir sehen uns auf der anderen Seite wieder.“ Ein Fingerschnipsen, und weg war er. Dafür lag nun meine mit verkrustetem Blut überzogene Rippe neben mir und löste wenigstens eins meiner Probleme. Oh wie ich wünschte, Blackburns Gesicht sehen zu können, wenn sie erfuhr, dass sie nichts mehr gegen mich in der Hand hatte. Ich versteckte die Rippe in meinem Hosengürtel und lehnte meinen Kopf anschließend mit geschlossenen Augen gegen die Gitterstäbe. Tödliche Kälte kroch mir den Hals herauf, während sich der Schmerz durch meine Eingeweide bohrte. Von nun an könnte ich beginnen, die Minuten bis zu meinem Tod zu zählen. „Ein fallender Engel, zwei fallende Engel, ... “ Ich war gerade bei meinem zweitausendvierundsiebzigsten fallendem Engel angelangt, als Dalquiel plötzlich in der Zelle stand und für einen kurzen Augenblick verwirrt schien, weshalb er im Erbrochenen eines Trunkenboldes stand und von Metallgittern umringt war. Schließlich fiel sein Blick auf mich und obwohl er in Eile schien, war das Erste was er sagte: „Du siehst blass aus. Und krank.“ Seine unsensible Bemerkung ignorierend, winkte ich ab und log: „Die Grippe – nichts was mich umbringen wird. Schieß los, was ist passiert?“ „Achlys hat eine Hülle gefunden“, sagte er, doch in seiner sonst so monotonen Stimme lag noch etwas anderes. Etwas Beunruhigtes. „Wir müssen sofort los.“ Er musterte mich erneut. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ Mir war Bewusst, dass ich wie eine wandelnde Leiche aussehen musste. Ausfallendes Haar, eingefallene Wangen, violette Lippen und ein fiebriges Zittern, das mich bis auf die Knochen schlottern ließ. Gott sei Dank kannte sich Dalquiel nicht so gut mit Giften aus wie ich es tat. Es würde wahrscheinlich eine Weile dauern, ehe er bemerkte, dass ich praktisch bereits verweste. „Alles bestens. Na komm schon, beam mich hin, Scotty, bevor Achlys anfängt die Stadt zu zerstören.“ „Mein Name ist Dalquiel“, sagte er mit einem schwachen Stirnrunzeln, nahm meine eiskalte Hand und ehe mir sich auch nur der Magen umdrehen konnte, standen wir in der Stadt. Genauer gesagt, direkt vor meinem Laden. Ich fragte mich, ob Achlys tatsächlich hier irgendwo war. Es war viel zu ruhig und, nun, normal, dafür, dass eine sehr, sehr rachsüchtige Göttin soeben einen Weg in unsere Welt gefunden hatte. Dann bemerkte ich ihn. Den violetten Nebel, der kaum bemerkbar über den Asphalt kroch und direkt aus meinem kleinen Giftgeschäft zu kommen schien. Ich riss die Augen auf, als Keenan plötzlich aus dem Laden stürmte und die allmorgendliche Ruhe aus ihrer Ordnung warf. Ich griff nach meiner Rippe, die ich in meine Hose geklemmt hatte, doch der Engel legte mir seine Hand auf die Schulter, was mich für eine kurze Sekunde erschauern ließ. „Warte, er ist nicht die Hülle.“ Ich nickte, als ich Keenan beobachtete, wie er Tränen überströmt auf die Knie fiel und sich erbrach. Sobald er mich bemerkte, wichen seine sonst so femininen Züge purem Entsetzen und nackter Wut. „Wieso?!“, schrie er und brachte, gefolgt von heftigem Schütteln, nur dieses eine Wort heraus. „Wieso?!“ Er war am Ende. Ich konnte es ihm ansehen, dass irgendetwas in diesem Laden den armen Jungen gebrochen hatte und ich ahnte allmählich, was auf mich zukam. Wie auf Kommando wurde mein Laden zerstört, als hätte sich eine riesige, unsichtbare Hand darum gelegt und fest zugedrückt. Glas zersprang, Holz brach, die Menschen fingen an zu schreien und der Asphalt bekam tiefe Risse, als würde ein Erdbeben die Gegend heimsuchen. Die Nebelschwade um unsere Füße wurde dichter und dichter, bis auf einmal alles verstummte. Jede einzelne Person in der Straße, beginnend mit Keenan, verlor plötzlich das Bewusstsein, als hätte man ihnen eine große Dosis Chloroform verpasst. Eindeutig ein Werk Achlys‘, die keine ungebetenen Zuschauer mochte. „Oh-oh“, murmelte ich, als ich das vertraute klingeln meines Geschäfts – oder das, was davon übrig war –, hörte und die zerquetschte Tür langsam aufgeschoben wurde. Ein Schwall violetten Nebels floss aus dem Gebäude und versteckte die Person, die heraus trat. „Das ist sie“, flüstere Dalquiel, doch diese Information war bereits überflüssig. Ich wusste es in dem Moment, in dem das Gift in meinem Körper meine inneren Organe erreichte, abtötete und jede einzelne Zelle zerstörte. Blut, das ich nicht mehr Schlucken konnte, rann mir aus dem Mund und Dalquiels Augen weiteten sich in Schock. Nicht wegen Marina – oder besser gesagt Achlys – die mit verzogenen roten Lippen auf uns zu Schritt, sondern eher weil er endlich bemerkte, dass etwas ganz und gar nicht mit mir stimmte. So sehr ich mich auch am liebsten in seiner Aufmerksamkeit gesonnt hätte, machte mir meine Mutter einen Strich durch die Rechnung. „Dieser Körper ist fantastisch“, waren Achlys‘ erste Worte und klangen grausam verzerrt, wenn man bedachte, dass aus Marinas Mund normalerweise nur fröhliches Gezwitscher kam. „Der Körper ist vollgetunkt in Balial.“ Sie meinte das Liebesgift. „Ich fühle mich richtig heimisch.“ „Na da bin ich aber froh“, krächzte ich und meine Worte trieften vor Sarkasmus. Ihr starres Gesicht zuckte leicht, als sich die mir vertrauten Tintenlinien über ihre Haut auszubreiten begonnen. „Wie ich sehe lebst du noch. Ich bin enttäuscht, dass du mein Angebot nicht angenommen hast, Trinity.“ „Tut mir leid, Mutter.“ Verflucht, sie schaffte es tatsächlich, das Kind in mir zum Vorschein zu bringen. Schlechtes Gewissen nagte an mir wie Ratten an einem Toten. „Grace“, sagte Dalquiel ruhig, aber bestimmt. Ich sollte nicht das Ziel aus den Augen verlieren. Ein tiefes, unmenschliches Grollen entwich Achlys, als sich ihr Blick endlich, beinahe schon unwillig, auf den Engel richtete. Marinas Augenfarbe wurde Schwarz wie die Nacht, ein kleiner, indigofarbener Pfeilgiftfrosch pulte sich aus ihrem Hals und setzte sich auf ihre Schulter. „Wie kannst du nur auf diese widerwärtigen Engel hereinfallen, nach allem was sie dir angetan haben, Kind?“, spie sie, als wäre ‚Engel‘ das schlimmste Schimpfwort dass es gibt. Ich versuchte die Schultern zu zucken, doch die Hälfte meines Körpers versagte mir den Dienst. „Ich lerne eben nicht.“ „Offensichtlich“, zischte sie schlangenhaft. „Aber keine Sorge, Kind, Mutter wird das Problem ein für alle Mal aus dem Weg schaffen. Niemand verletzt meine Kinder und kommt ungestraft davon.“ Ihre Worte in Ehren, doch sie erfüllten mich auch mit Bedauern. Es tat mir weh, Achlys so hintergehen zu müssen, doch Dalquiel ... wie sollte man diese Zuneigung, dieses verlangen und diese Sehnsucht nur in Worte fassen? Es war bereits überirdisch – überirdisch dumm – meine Existenz von einer einzigen Person abzuhängen, vor allem, nach dem was er mir angetan hatte. „Ich kann das nicht zulassen. Bitte geh wieder, Mutter, oder ich muss dich töten.“ Achlys‘ Lachen ähnelte den Schreien von Furien und hätte Tote aufwecken können. „Unglaublich! Ich frage mich, ob du dasselbe noch sagen wirst, wenn du die Wahrheit kennen würdest.“ Ich runzelte die Stirn und Dalquiel trat einen Schritt vor, als könnte er es irgendwie verhindern, dass ich weiterhörte. „Grace, tu es.“ „Angst?“, fragte Achlys, dann wandte sie sich wieder an mich. Den Engel so in der Misere zu sehen war mir neu und belustigte die Göttin umso mehr. „Weißt du denn was mit Engeln passiert die fallen, Trinity? Mir allein hast du es zu verdanken, dass deine Seele nicht ins Fegefeuer gezerrt wurde und du zu einem Dämon geworden bist! Ich bin es, die dich am Leben hält! Was also passiert, wenn ich sterbe?“ Es war eine rhetorische Frage, doch ich antwortete, atemlos: „Ich komme in die Hölle.“ Kapitel 12: Alle Engel kommen in die Hölle ------------------------------------------ „Dachtest du, du kämst tatsächlich in den Himmel zurück? Obwohl sie dich für deinen Verrat verurteilen? Obwohl deine Seele geschändet wurde? Du bist verdorben!“, schrie Achlys und ihre Stimme bebte voller Verachtung und auch ... Schmerz? Mir war schlecht. Wie konnte ich das nur übersehen? Engel fielen, ihre Körper wurden zerstört, doch anstatt dass ihre Seele auf der Erde landete, wanderte sie geradewegs in die Hölle, wo sie so lange gequält und gefoltert werden, bis sie selbst zu Dämonen werden. Das war unser Schicksal. Dasselbe Schicksal, dass schon den Lichtbringer und all die anderen vor mir ereilt hatte. Nur erfuhr man dies meistens erst, wenn es bereits zu spät war. Dass ich von diesem schrecklichen Wissen verschont geblieben war, zeigte nur wieder wie naiv und unschuldig ich doch im Dritten Himmel gewesen war. „So ist das also“, sagte ich ruhig, doch im Widerspruch zu meiner Gelassenheit, rannten mir Tränen über das Gesicht. „Grace, bitte vertrau mir! Du musst!“ Dalquiel berührte mich am Arm, doch bevor Achlys ihm auch nur ein Haar krümmen konnte, stieß ich ihn von mir und starrte ihn verzweifelt an. „Nein“, hauchte ich zittrig. „Nein, nie wieder werde ich denselben Fehler begehen. Ich habe genug betrogen zu werden. Genug davon missachtet zu werden. Genug davon nicht geliebt zu werden. Genug, genug, GENUG!“ Engel mögen zwar nicht lügen können und vielleicht war seine Absicht, mich in den Himmel zurückkehren zu lassen doch ehrlich gemeint, doch es änderte nichts daran, dass mich eine andere Zukunft erwartete. Etwas wie Schuld blitzte in Dalquiels dunklen Augen auf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er wirkte so angespannt, als ob er am liebsten auf mich zugehen würde, doch er wusste ganz genau, dass weder ich noch Achlys dies zulassen würden. Besagte Göttin war kurz davor aus der Haut zu fahren; Marinas Lockenkopf sah nun eher aus wie ein schwarzer Dornenstrauch mit giftigen Stacheln; ihre Haut war von Achlys‘ Tintenmuster beinahe komplett blau geworden und aus ihrem Mund krabbelten immer wieder irgendwelche kleinen, aber tödlichen Insekten. Trotz ihres schrecklichen Aussehens, an das ich bereits gewohnt war, nahm sie mich zärtlich in den Arm, wie nur eine Mutter es konnte und wisperte fürsorglich: „Engel sind die schlimmste Art von Dämon, Kind. Du siehst es doch, wie sie andere um den Finger wickeln und dann einfach wegwerfen, sobald man nicht mehr benötigt wird.“ Ihre rauchige Stimme füllte sich mit Wehmut, als beschwöre sie böse Erinnerungen hervor. „Niemand wird dir mehr wehtun.“ Und als ob sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, spürte ich wie die Wirkung meines Fluchs abnahm und das Gift in meinem Blutkreislauf schwächer wurde, bis ich wieder regelmäßig atmen und meinen Körper bewegen konnte. Und dann tat ich es. Es passierte so schnell, dass ich erst bemerkte, wie ich meine blutige Rippe tief im Herzen meiner Mutter vergrub, als eine dicke schwarze Flüssigkeit meinen Arm hinab rann und mir den Arm verätzte. Ich konnte nicht glauben, was ich da getan hatte. Ebenso wenig wie Achlys oder Dalquiel, die beide nicht mehr damit gerechnet zu haben schienen. Ich verlor wohl endgültig den Verstand. „Danke, Mutter.“ „... du ... dummes ... Kind“, presste sie hervor und klang mehr enttäuscht als verletzt. Ihr eigenes, giftiges Blut, das auch durch meine Adern floss, bahnte sich einen Weg durch ihren geborgten Körper und fraß sie von innen heraus auf. Ein unmenschlicher Schrei stieg aus ihrer Kehle, die jedes Fenster im Umkreis von einer Meile sprengen musste, als ihre Augen hohl wurden und sie sich auflöste. Mein Kopf schien zu explodieren, als Achlys‘ Essenz in mir in Aufruhr geriet und sich an dem letzten Rest meiner Seele festklammerte, daran riss und zerrte, und dennoch qualvoll aus meinem Körper gezogen wurde. Die verzweifelten Schreie aller meiner Schwestern und Brüder, die auf der Erde unter den Menschen wandelten und ihre dunklen Dienste angeboten hatten, dröhnten durch meinen Schädel, als sie den Tod ihrer Mutter beweinten, bis ich glaubte verrückt zu werden. Ich merkte gar nicht, wie ich mich schreiend an Achlys geklammert hatte, als ob ich versuchen könnte, dadurch meine Seele bei mir zu halten, bis mich Dalquiel von ihr weg zerrte und fest in den Arm nahm. Eine merkwürdig zärtliche Geste für einen Engel, der mich nur benutzt hatte. „Es tut mir so leid“, flüsterte er und strich mir über den Kopf. Ich sah Feuer. Ich brannte. Ich schrie. Und dann war es vorbei. So plötzlich wie ein Wimpernschlag, als wäre ich aus einem schrecklichen Albtraum erwacht und spürte weder Schmerzen noch Angst. Ich fühlte mich … „Gut?“, fragte eine mir bekannte Stimme und ich sah aus meiner knienden Position hoch. „Wo bin ich Rabacyal?“, fragte ich den Engel, der, in seiner immerzu wechselnden Gestalt, mir aufhalf. Das Gefühl meiner Seele, meiner Essenz, freien Lauf zu lassen, ohne eine Hülle zu benötigen, war überwältigend. „Hast du etwa bereits vergessen wie Shehaqim aussieht?“, fragte der erste Prinz, als wäre ihm das völlig unbegreiflich. Sein Körper wechselte von einem Jungen in eine ältere Frau und wieder zurück. Engel hatten keine feste Gestalt – sie mussten noch nicht einmal wie Menschen aussehen – doch ich vermutete, dass er mir zu liebe versuchte eine mir vertraute Form aufrecht zu erhalten. Allerdings war es nicht leicht pure Energie zu formen, wenn man kein Gefäß hatte. „Es ist lange her“, erwiderte ich langsam. Allmählich erinnerte ich mich wieder daran was geschehen war. Es war, als hätte man meinen Verstand in tausend Stücke gerissen und wurde nun vorsichtig wieder zusammen geflickt. „Ich bin wieder ein Engel“, stellte ich verwirrt fest. „Aber wieso bin ich hier?“ Meine Essenz bebte bei der Erinnerung nach dem grausigen Höllenfeuer, das sich durch meinen Körper fraß und die wahnsinnigen Schreie der gefolterten Seelen, die aus allen Richtungen auf mich eingestürmt waren. „Ich meine, ich tötete Achlys – ich habe die Hölle gesehen.“ Der Engel schwieg für eine Weile, dann erwiderte er: „Wir sollten das woanders bereden.“ Er schnipste mit den Fingern und die Umgebung veränderte sich rasend schnell. Meine Essenz wurde wie von der Erdanziehungskraft nach unten gezerrt, bis ich Luft schnappend die Augen auf riss. Die Augen von Grace, um genau zu sein, deren Körper ich wieder mit Leben füllte. Ich atmete fast schon erleichtert auf, wieder in diesem zerbrechlichen Menschen zu stecken und blickte mich um. Wir saßen auf meiner Couch. Die Godiva-Trüffel lagen noch immer unberührt auf dem Wohnzimmertisch, während in meinem ehemaligen Haus bereits einige weitläufige Veränderungen stattgefunden hatten. Kisten stapelten sich überall, alle Kästen waren leer, alle Laden in der Küche waren aufgerissen und der bittere Geruch von Putzmittel schwebte durch den Raum. Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, wurde aber von Keenan überrascht, der mit zwei Kartonkisten die Treppe hinunter kam und sie zu den anderen stellte. Anschließend wandte er sich um und begann die etlichen Zettel und Fläschchen vom Wohnzimmertisch wegzuräumen, die ich einfach hatte liegen lassen, als ob sie eines Tages von selbst verschwinden würden. Der Junge sah älter als, erschöpfter. Er hatte dunkle Augenringe und eine krank aussehende Blässe, die nichts mit seinem üblichen hellen Teint zu tun hatte. Selbst seine Haare waren ungestylt und fielen ihm schlaff ins Gesicht. Hatte er abgenommen? „Er kann uns nicht sehen“, bestätigte Rabacyal, was ich bereits vermutet hatte. „Es ist besser so“, erwiderte ich, viel ruhiger als ich erwartet hatte. Meine Essenz summte in mir wie ein beruhigendes Schlaflied und machte mich viel ausgeglichener. Oder gleichgültiger. Wie ein Engel. Neutral. Leblos, korrigierte eine Stimme in meinem Kopf. Wie eine Marmorstatue. Ich runzelte leicht die Stirn. „Was ist passiert, Bruder?“ „Woran erinnerst du dich?“ Die Furche zwischen meinen Augenbrauen wurde tiefer. „Ich tötete Achlys. Dalquiel verriet mich. Schon wieder.“ „Und doch bist du hier“, grinste Rabacyal und bereitete die Arme aus. Obwohl sich seine Lippen verzogen, lag keine Spur Humor in seinen Worten. Ich war verwirrt. Wieso war ich hier? Wieso war ich wieder ein Engel? Natürlich, ich war dankbar und so unendlich erleichtert, nur ... „Wieso?“ „Dalquiel“, erwiderte er schlicht und beobachtete Keenan dabei, wie er versuchte mehrere meiner Tinkturfläschchen auf einmal zu tragen und den Rücken dabei akrobatisch nach hinten verbog. „Und weiter?“, fragte ich. Ich hatte keinen Grund ungeduldig zu sein, doch ich wurde das nagende Gefühl nicht los etwas Wichtiges übersehen zu haben und ich stand so kurz davor herauszufinden was es war. Rabacyal stieß einen tiefen Seufzer aus. „Dalquiel ist derjenige, der deinen Platz in der Hölle eingenommen hat.“ „Was?!“ Ich starrte ihn perplex an und schüttelte den Kopf. „Moment, wieso sollte er das tun? Er hat mir gegenüber keine Verpflichtung!“ Der erste Prinz mimte meine Bewegung und zog nahezu spöttisch die Augenbrauen nach oben. „Na weil er dich liebt, natürlich, und nie damit aufgehört hat. Ein Fehler, wenn du mich fragst, aber ich bin nicht derjenige, der über euch urteilen wird.“ „Na vielen Dank auch“, schnaubte ich verächtlich. „Wäre es dir angenehmer mit Jabriel zu sprechen?“ Ich schwieg und dachte an den starrköpfigen Engel, der mit seiner Kraft Legionen besiegen konnte, aber Unterhaltungen mit einsilbigen Wörtern führte. Seine Art war schlichtweg … unangenehm. Rabacyal dagegen war kalt wie ein Eisblock, doch er wusste wenigstens wie man Höflichkeit heuchelte. „Bitte bleib“, sagte ich. Der Engel nickte zufrieden und fuhr fort: „Nachdem du gefallen bist, herrschte in Shehaqim Chaos und war kurz davor zu zerfallen, wenn Dalquiel nicht deinen Platz eingenommen und Frieden geschaffen hätte. Jabriel war außer sich und wollte dich für deine Taten hinrichten, doch da warst du bereits in Achlys Fängen und wir konnten dich nicht mehr auffinden. Ich bot also Dalquiel an, dass, sollte er es schaffen Achlys zu töten, würden wir dir erlauben wieder nach Shehaqim zu kommen.“ „Achlys ... wieso hasst sie eu–uns so sehr?“ Falls Rabacyal mein kleiner Ausrutscher aufgefallen sein sollte, sagte er nichts dazu. „Weil Jabriel dasselbe mit ihr gemacht hatte, was Dalquiel bei dir getan hatte. Unter anderen Umständen natürlich, doch letzten Endes stellte er unseren Vater vor die Urnacht und zog sich seit jeher ihren Zorn auf sich.“ „Oh.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Als Giftprinzessin wäre ich vielleicht geschockt und entsetzt gewesen, doch alles schien auf merkwürdige Art und Weise an seinen Platz zu fallen. Es machte Sinn. Und ich bedauerte es. Alles hätte anders kommen können und ich hätte niemanden verletzten müssen, schon gar nicht Dalquiel. Gott, ich konnte mir gar nicht vorstellen, was er gerade erleiden musste. Meinetwegen. Weil ich nicht warten konnte. Weil ich weg lief. Weil Vaters Wege unergründlich waren. Meine Essenz krümmte sich vor Schmerz, als würden sich meine Eingeweide zusammen ziehen, als ein plötzliches Klirren meine Aufmerksamkeit zu der Quelle riss. Keenan war bereits das dritte Mal an uns vorbei geschlurft, doch dieses Mal konnte er das Gleichgewicht nicht halten und alle Fläschchen zerschmetterten auf dem Boden. Der Junge fluchte so wild, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte, als er sich beugte um die bunten Scherben aufzusammeln. Tränen sammelten sich in seinen Augen, doch er schniefte sie weg, atmete tief ein und holte einen Kehrbesen. Der erste Prinz sah mich an und seine Essenz leuchtete hinter der Sclera seiner Augen. „Ist es schwer auf der Erde zu leben?“ Die Frage traf mich unvorbereitet. „Wäre es eine Strafe, hierher verbannt zu werden, wenn es nicht so wäre?“ „Touché.“ Kapitel 13: Verflucht --------------------- Gin Blackburn hätte aus der Haut fahren können, als ihr Fall zu den Akten gelegt und die Untersuchungen eingestellt wurden. Ihr Polizeichef hatte ihr versichert es ’hätte sich alles geklärt‘ und Gin hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das ganze Mysterium um die Giftprinzessin aufzudecken, wenn die Morde nach ihrem Abtauchen nicht tatsächlich aufgehört hätten. Jeglicher Widerspruch wurde sofort niedergeschmettert und man hatte ihr mehrmals gedroht, sie zu entlassen, wenn sie nicht endlich von dem Fall abließ. Dabei wusste Gin ganz genau, dass irgendetwas Übernatürliches ihre Finger im Spiel hatte – und Grace Santiago war der Schlüssel. Zwei gottverdammte Monate seit Marina Montgomery spurlos verschwunden und für die Morde verantwortlich gemacht wurde, um ihren Freund Keenan Johnson vor den Schulrowdys zu schützen; so lautete jedenfalls die offizielle Erklärung. Dieser begab sich nach dem Vorfall sofort in Therapie, nachdem er von der Verdächtigenliste gestrichen wurde und die ganze Geschichte weder abstritt noch leugnete. Gin hatte versuchte mit ihm zu sprechen, doch der Junge war die ersten Wochen komplett verstört gewesen und hatte sich geweigert auch nur ein Wort zu sagen. Es frustrierte Gin ungemein aufzugeben, doch sie erkannte einen hoffnungslosen Fall wenn sie einen sah. Der Junge war in so tiefer Depression wie sie es selbst gewesen war, als ihre Mutter sie mit dem Seziermesser angegriffen und entstellt hatte. Und seit dieses schwarze Ding aufgetaucht war, nachdem die Giftprinzessin sie attackiert hatte, schmerzten die Narben schlimmer denn je. Als sie also an ihrem Schreibtisch saß, Papierkram wälzte, eine Schmerztablette einwarf und mit dem Gedanken spielte, gleich die verfluchte ganze Pillendose einzuwerfen und mit Tequila nachzuspülen, tauchte sie auf wie aus dem Nichts.Grace Santiago. Die Frau, die ihr seit zwei Monaten täglich Albträume bescherte. „Was zum Teufel?!“ Gin sprang auf und tastete nach ihrem Waffenholster auf dem Schreibtisch, bis sie das vertraute Leder mit den Fingerspitzen berührte. „Na, na, nicht so blasphemisch“, erwiderte die junge Frau trocken. Lockiges, blondes Haar fiel ihr über die Schulter und ihre blauen Augen schienen ein Loch in Gins Schädel zu brennen. Ironisch, weil ihr Gesichtsausdruck in Kontrast so kalt wie Eis war. Für einen Moment war sie sich nicht einmal sicher, ob sich ihre Lippen überhaupt bewegt hatten. Gin musste nicht zweimal überlegen, schnappte sich sofort ihren Revolver und richtete ihn sofort auf die Frau in den dunkelroten Jeans. Ihr Zorn und ihre Frustration hatten Gin komplett im Griff und ohne zu zögern drückte sie ab. Die Waffe klickte mehrmals, jedoch ohne loszugehen. „Was?!“ Sie hatte den Revolver vor einigen Stunden selbst noch geladen! Warum ging kein Schuss los?! „Weil ich nicht will, dass du auf mich schießt“, erwiderte die Giftprinzessin schlicht, als ob sie auf ihre Gedanken geantwortet hätte. Dann zuckte sie die Schultern. „Nicht, als ob du mir überhaupt etwas mit einer Waffe anhaben könntest.“ Zähne knirschend knallte Gin den Revolver wieder auf den Tisch und ließ sich in ihren Stuhl fallen. „Was willst du?“ Grace Santiago regte sich nicht und Gin fragte sich blödsinnigerweise, ob ihr in dem Tank-top nicht kalt war, immerhin herrschten mittlerweile Minusgrade draußen und die Polizeistation war nicht gerade für ihre gute Heizversorgung bekannt. Doch die Frau blinzelte nicht. Kein einziger Muskel schien sich zu rühren und Gin rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Naja, noch weniger. „Ich bin hier“, sagte die Blondine schließlich, „weil ich das Gefühl habe, dir etwas zu schulden.“ Gin zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. Die Frage stand ihr ins Gesicht geschrieben. Wieso? „Weil“, erwiderte sie wieder, und ihre gebieterische Stimme ließ Gin erschauern, „alles vorherbestimmt ist. Sieh es als ... Zeichen des Himmels.“ Gin runzelte unbehaglich die Stirn und rieb sich unbewusst mit den Fingern über ihre vernarbte Wange, die wieder zu brennen begonnen hatte, als Grace Santiago einen Schritt auf sie zutrat. „Ein Dämon hat deine Mutter besessen.“ Gins Kopf zuckte hoch. „Was?“ Der blaue Blick der Giftprinzessin war starr auf Gins Narbengeflecht gerichtet, als würde sie ein Insekt unter einem Mikroskop betrachten. „Ein Dämon hat es auf dich abgesehen, Ginger. Es ist ein Parasit, der die Seele deiner Mutter über Jahrzehnte hinweg gefressen hatte. Er hat dich markiert, weil du sein zukünftiger Wirt sein solltest und er attackiert jeden, der es auf dein Leben abgesehen hat – mich eingeschlossen, wie du ja gesehen hast. Jedoch zu dem Preis, dass du dein ganzes Leben in Elend verbringst.“ Grace Santiagos Mundwinkel zuckten nach oben; der erste Beweis, dass Gin nicht mit einem Roboter sprach. „Deine Berufswahl fällt eindeutig in diese Kategorie.“ „Ich will Menschen helfen“, presste Gin hervor und ihre Finger zuckten danach, den Revolver noch einmal auszuprobieren. Notfalls konnte sie ihr das Ding immer noch an den Kopf werfen. Die Blondine schnaubte und streckte ihren rechten Arm aus. Gins Augen weiteten sich in Schock, als sie das gläserne Schwert sah, das plötzlich in ihrer Hand erschienen war, als wäre es das natürlichste auf der Welt. „Was zum Teufel bist du?“, flüsterte Gin. Die Giftprinzessin schwang das Schwert, mit den silbernen Symbolen auf der Klinge, probehalber hin und her, ehe sie sich um eine Antwort bemühte. „Mein Name ist Trinity, gefallener Prinz von Shehaqim.“ Wow, das warf mehr Fragen auf, als es klärte. Gin wusste nicht wo sie beginnen sollte, daher platzte sie heraus mit: „Prinz?“ „Prinz.“ Die Blondine nickte. „Engel haben kein Geschlecht. Nun, da ich lange Zeit in weiblichen Körpern gesteckt habe, habe ich natürlich eine Vorliebe entwickelt. Üblich ist es jedoch nicht.“ „Engel“, wiederholte Gin und atmete tief ein. Tausend Fragen stapelten sich in ihrem Kopf wie unerwünschte Spam-Mails und doch war sie sich ziemlich sicher, dass sie keine Antwort darauf hören wollte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie dieser Verrückten glauben konnte, doch ihre Narben, die sich anfühlten, als würden sie wie ein Fremdkörper über ihr Gesicht kriechen, verhinderten, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. Wenn Grace in ihrem Kopf gerade spionieren sollte, so sagte sie nichts und richtete stattdessen das Schwert gegen Gin. „Was soll das?“ „Ich habe mir extra Jabriels Schwert geliehen, um dir einen Gefallen zu tun, also halte brav still.“ Ein höhnisches Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht, das wesentlich mehr Ähnlichkeiten mit der Grace Santiago hatte, die sie noch vor zwei Monaten gekannt hatte. Ein tiefes Dröhnen, wie das Nachklingen eines Glockenschlags, ließ Gins kleines Büro erzittern und ihre ganzen Unterlagen wie von einem plötzlichen Windstoß umherwirbeln. Gins Knie zitterten als sie zusah, wie Grace das Schwert erhob und im selben Moment die Luft wie Elektrizität knisterte. Dieses schwarze Etwas manifestierte sich aus dem Nichts wie schon beim letzten Mal und umhüllte die dunkelhäutige Frau, die es nicht wagte sich zu bewegen, aus Angst, dieses Ding aus Versehen zu berühren. Ihr Herz begann zu rasen, Panik schnürte ihre die Kehle zu und vor ihren Augen wurde es dunkler und dunkler, bis Gin keine Sekunde mehr zögerte, als Grace über das Ohren betäubende statische Rauschen, rief: „Schließ die Augen, Ginger!“ Gin wusste nicht wirklich was sie erwartet hatte. Vielleicht ein grausamer Schrei wie der eines sterbenden Tiers, oder einen lauten Knall, doch als sie die Augen eine Minute später behutsam wieder öffnete, stand Grace Santiago ohne einen einzigen Kratzer vor ihr, während ihr Büro aussah, als wäre ein Blitz eingeschlagen. Eins konnte Gin jedenfalls mit Sicherheit behaupten; sie fühlte sich besser. Als wäre eine sehr, sehr schwere Last von ihren Schultern gefallen. Aufkeimende Hoffnung ließ sie vorsichtig ihr Gesicht anfassen, doch da waren sie, die vertrauten Wülste des Narbengeflechts, die sie ihre Lebtage nicht mehr loswerden würde. Die Enttäuschung lag ihr schwer im Magen. „Die Narben werden bleiben“, sagte die blonde Frau vor ihr beinahe schon gelangweilt, als wäre dies ein Spaziergang gewesen und ließ das Schwert fallen, welches sogleich spurlos im Boden verschwand. Ihre blauen Augen fixierten Gin prüfend, ehe sie zufrieden nickte. „Der Dämon ist fort, meine Arbeit ist getan.“ „Das war’s?!“ Gin wurde ärgerlich und warf die Hände in die Luft. „Keine Erklärungen? Keine Entschuldigung? Wozu dann die Mühe!“ Keiner hatte ihr als Kind geholfen, nicht ihr Vater und schon gar keine Engel, als ihre Mutter den Verstand verloren hatte, und auf einmal tauchte sie auf und glaubte, alles sei damit wiedergutgemacht? All die Jahre der Phantomschmerzen, der Einsamkeit und des Spotts, den sie erdulden musste und wofür? Grace seufzte langgezogen, als spräche sie mit einem aufsässigen Kind. „Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Engel sind nicht die Babysitter der Menschen, Ginger. Ihr pocht auf euren freien Willen, also müsst ihr auch mit den Konsequenzen leben. Aber keine Sorge, du wirst dir der Antwort auch ohne meiner Hilfe bewusst werden.“ Die blonde, so unwirklich erscheinende Frau lächelte und verschwand mit einem Schnipsen ihrer Finger. „Huh?“, fragte Gin in den leeren Raum und fragte sich, warum sie das dumpfe Gefühl hatte, mit irgendjemandem gesprochen zu haben. Und warum ihr Büro aussah, als wäre ein Sturm hindurch gefegt, was sie aber schnell der offenen Tür zuschob, aus der ein kalter Luftzug in den Raum wehte. Sie rieb sich über die Schläfen und beugte sich nichts weiter dabei denkend über ihre Berichte, denen sie einen kurzen Blick schenkte und dann mit einem Seufzen schloss. Sie rieb sich nachdenklich über den Nacken und beschloss, das erste Mal seit langer Zeit, früher Schluss zu machen. Offensichtlich war der Montgomery-Fall abgehackt und Gin verstand nicht, wonach sie eigentlich noch suchte. An den Grund, für ihren plötzlichen Sinneswandel, erinnerte sie sich nicht. Epilog: Zufall -------------- 1952   Es war reiner Zufall gewesen.   Dalquiel war auf der Erde. Es war Nacht, doch wegen den grellen Lichtern der Großstadt, nicht wirklich. Es waren keine Sterne zu sehen, wenn er in den Himmel blickte. Aber das machte nichts. Er hatte schon vor vielen, vielen Jahrtausenden aufgehört irgendwelche Lichter zu sehen. Alles war für ihn grau. Farblos. Natürlich wusste er woran das lag. Wer dafür verantwortlich war. Doch er ignorierte es und verbannte die Gedanken in den hintersten Winkel seiner endlosen Erinnerung. Das war nicht der Grund, weshalb er in der menschlichen Sphäre war. Sensenmänner hatten nach ihm gerufen. Ein Haus voller gefangen genommener und gequälter Kinder war mittags in Flammen aufgegangen. Die Kinder brannten bis auf die Knochen ab; konnten nicht fliehen, weil die Ausbeuter sie zuvor in ein kleines Zimmer gesperrt hatten, um anschließend einen trinken gehen zu können. Sie hatten vergessen, das Gas in der Küche auszuschalten. Zwei der Männer rauchten. Nun stand Dalquiel in den kohlschwarzen Überresten der kleinen Wohnung. Der Grund, weshalb er überhaupt in den Himmel blicken konnte, war der, weil es kein Dach mehr gab und die letzten Asche Partikel von dem kalten Novemberwind in die Nacht hinaus getragen wurden. „Die Seelen weigern sich mitzukommen“, sagte der Sensenmann neben ihm. Normalerweise nahmen sie gestalten an, die Seelen beruhigen und Sicherheit geben sollten. Weshalb dieser ausgerechnet wie Trinity aussah, war ihm ein Rätsel. Nun, so ähnlich wie es ging, die Gestalt eines Engels zu kopieren. Selbst Sensenmänner, so alt sie auch sein mochten, konnten diese Gestalt nicht meistern. Und sie konnten keine Seele zwingen, mit ihnen zu kommen. Dalquiel versuchte den Sensenmann nicht anzustarren und wandte sich wieder den bitter weinender Kinder zu, die sich zu einem sanft leuchtenden Bündel zusammen drückten. „Ich verstehe. Ich kümmere mich darum“, antwortete der Engel und nickte dem Sensenmann, der normalerweise die Seelen über eine weitere Sphäre, allein für die Todesengel bestimmt, in den dritten Himmel brachten, zu. Für Dalquiel war nichts anderes übrig geblieben, als persönlich zu erscheinen, obwohl es normalerweise nicht üblich war. Was ihn dazu veranlasst hatte, auf den Ruf zu reagieren, war ihm nicht begreifbar. Es war vermutlich nur eine Laune gewesen, die ihn hin und wieder ergriff. Ihn auch dazu verleitete nach einer ganz bestimmten Essenz Ausschau zu halten, die ihn vermutlich in den tiefsten Tiefen der Hölle zu sehen wünschte. Er hätte es verdient, wenn er im selben Moment nicht gewusst hätte, dass diese Essenz es sich niemals vergeben hätte, wenn der dritte Himmel nach ihrem Fall zusammen gefallen wäre. Rabacyal versicherte ihm, dass er der Einzige wäre, der ihren Platz einnehmen konnte. Es war Chaos gewesen. Chaos, welches mittlerweile veraltet und verstaubt war; sich bröckelnd wie eine Ruine in seiner Erinnerung hielt und ihn niemals, niemals vergessen lassen würde, was er damals hatte geschehen lassen. Er hatte den einzigen Engel, der je etwas Besonderes für ihn gewesen war, alleine gelassen. Dalquiel dachte nicht mehr daran. Oder das Verlangen sich selbst zu vernichten, wäre zu überwältigend. Der Engel kniete sich vor die Kinder und streckte die Hand nach ihnen aus. Sie begannen ihre menschliche Form zu verlieren und wollten auseinander stoben, doch Dalquiel kesselte sie mit seinen Flügel, die in den ersten fünf Sphären nicht zu sehen waren, ein. Trotz seiner langen Zeit als Prinz von Shehaqim, hatte er nie den Eindruck gehabt, richtig mit den Seelen umzugehen. Er erledigte seine Aufgabe pflichtbewusst, doch ob er ihnen die Kraft und den Frieden gab, wiedergeboren zu werden, wie seine Vorgängerin es getan hatte, bezweifelte er. Warmes Licht flutete den Raum, wie Wasser, das das Feuer, durch die die Kinder umgekommen waren,  löschte und die jungen Seelen erstmals realisieren ließ, dass sie nicht mehr in Flammen standen. Das es vorbei war. Endgültig. „Kommt“, sagte Dalquiel und löste mit einer schwachen Handbewegung ihre Formen auf. Wie sieben kleine Glühwürmchen schwirrten sie um den Engel, ehe sie die auffordernde Hand des Sensenmannes akzeptierten. „Habt Dank“, antwortete dieser mit hohler Stimme und verschwand. Das Bild eines Skeletts blieb in der dritten Sphäre zurück, verblasste jedoch nach wenigen Sekunden. Dalquiel war bereit ebenfalls wieder in den Himmel zurück zu kehren, doch dann spürte er es. Nur kurz. Weniger als eine Sekunde. „Trinity“, hauchte er. Er fand sich in einer Allee wieder. Mindestens fünf Blocks von der abgebrannten Wohnung entfernt. Dalquiel erkannte den ehemaligen Prinzen sofort. Oder jedenfalls das, was von ihr übrig geblieben war. Ihre Essenz war nur noch ein kümmerlicher, schwarzer Haufen aus Schmerz, Reue und Sehnsucht. „Huh“ Der Engel fasste sich an die Brust, wo ihn ein dumpfer Schmerz heimsuchte, als er zusah, wie sie ihre neue menschliche Hülle begutachtete und Schutzsigile auf ihrer Haut aufflackerten. Dalquiel wollte näher treten, sie ansprechen, doch sobald er auch nur einen Schritt tat, wirbelte Trinity herum und starrte in seine Richtung. Er war wie erstarrt, wusste aber, dass sie ihn nicht sehen konnte. Ihr erschrockener Gesichtsausdruck sprach jedoch Bände. Natürlich, sie wollte nicht gefunden werden. Nicht nach allem, was Dalquiel angerichtet hatte. Der unerträgliche Drang, seine Schuld zu büßen, wurde übermächtig. Jetzt, wo er Trinity endlich wiedergefunden hatte, konnte er diese Chance nicht verstreichen lassen, sie wieder an ihren rechtmäßigen Platz zu stellen. Trinity würde wieder ein Prinz werden. Und Dalquiel würde den Preis dafür zahlen.   Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)