The Sin Verse von P-Chi ================================================================================ Kapitel 3: Dalquiel ------------------- Ich stolperte praktisch schon aus dem Gebäude, zu dem mich Blackburn unfreiwillig gezerrt hatte, zu ängstlich, um auch nur eine Spur langsamer zu werden. Beinahe hatte ich schon erwartet, sie würde mir Handschellen anlegen und mich wie in den Filmen in ein Polizeiauto drücken, doch meine kooperative Art hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen. Jedenfalls bis ich in dem Verhörraum den Pfeifton wahrgenommen und panisch die Flucht ergriffen hatte. Und ich wusste genau von wem er kam, auch wenn sich mein Verstand mit aller Macht dagegen wehrte, diesen erschreckenden Gedanken zuzulassen. Ich rief mir ein Taxi, kaum noch fähig still zu sitzen, und stürmte in mein Haus, das ich einem alten Ehepaar abgekauft und zu einem halben Gift-Shop umfunktioniert hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte Keenan verblüfft, der gerade die Inventurliste durchging und mich eigentlich nicht so früh zurück erwartet hatte. Er saß im Schneidersitz auf dem Tresen, seine Haare bedeckten die Hälfte seines femininen Gesichts. „Wo ist Marina?“, krächzte ich, überging seine Frage nonchalant und stürmte wie eine Furie in den hinteren Teil des Geschäfts. Ich zog eine schwere, hölzerne Truhe unter dem Tresen hervor, öffnete sie und wühlte darin herum. „Sie gibt Nachhilfe“, erwiderte er gedehnt und fast schon erleichtert, sie einmal los zu sein. Mit dem Kugelschreiber strich er sich die Haare aus dem Gesicht und kniff besorgt die Augen zusammen. „Suchst du etwas Bestimmtes?“ „Schon gefunden.“ Ich zog einen antiken Dolch aus Sterlingsilber hervor und steckte ihn mir in den Gürtel meiner Hose. „Und jetzt geh nach Hause, Keenan.“ „Gleich, ich muss nur noch––“ „Keenan, jetzt.“ Er starrte mich einen Augenblick lang an, wohl um abzuschätzen, ob er mich ernst nehmen sollte oder ich ihn bloß veräppelte, wie so oft in der Vergangenheit. Dann nickte er und sprang vom Tresen. Ich hatte ihm nie gesagt, wer oder was ich in Wirklichkeit war, doch ich hatte immer die vage Vermutung gehabt, dass Keenan sehr wohl wusste, wie unmenschlich ich eigentlich war. „Ich kann das auch morgen erledigen. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.“ Ich nickte, wartete ab, bis er seine abgewetzte Schultasche nahm und aus dem Shop verschwand, ehe ich zur Hintertür hinaus stürzte und auf das Gewächshaus zusteuerte, als wäre irgendein Monster hinter mir her. Genau genommen betete ich, dass es irgendein bösartiges, pelziges, ich-habe-es-auf-dein-Fleisch-abgesehen Monster war, dem ich in den Hintern treten konnte, aber mein Instinkt schickte mir ganz andere Signale. Mein Puls raste, als ich mich in meinem Pflanzenparadies verkroch, in dem es bereits deutlich dunkler geworden war, ich aber noch genug erkennen konnte, um mich orientieren zu können. „Tschip-Tschip.“ Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Mein Hirn braucht eine Weile, um zu realisieren woher das vertraute Geräusch kam und ich ging, keine Kraft mehr darauf verschwendend mich zu verstecken, langsam auf den goldenen Käfig zu, der noch immer auf dem kleinen metallenen Wagen an Ort und Stelle stand. „Tschip-Tschip“, hörte ich wieder und meine Kehle schnürte sich zusammen zu, als ich die drei bunten Kanarienvögel quicklebendig auf ihren kleinen Schaukeln sitzen und mit ihren Flügelchen schlagen sah. Nichts deutete darauf hin, dass sie kurz zuvor noch Tod auf dem Boden gelegen hatten. Das Gift könnte nicht funktioniert haben, überlegte ich und schalt mich selbst eine Ignorantin. Es mochte vielleicht arrogant klingen, doch meine Gifte hatten keine Fehler. Sie führten immer das aus, was ich von ihnen erwartet hatte und meine Jahrtausende lange Erfahrung unterstützte diese Behauptung nur. Da die plötzliche Wiederauferstehung des gefiederten Trios nicht mir zu verdanken war, gab es nur eine einzige andere Möglichkeit, wer dafür verantwortlich sein konnte. „Ich weiß, dass du hier bist“, murmelte ich leise und war mir dennoch sicher, dass er mich hören konnte. „Zeig dich!“ Und er zeigte sich. Ohne es kommen zu sehen, stand er auf einmal auf der anderen Seite des Käfigs und ich wich unwillkürlich von dem Engel fort. Nicht die Art von heiligen Geschöpfen, die blütenweiße Schwingen hatten, mitsamt Heiligenschein, die Menschen beschützten und innen sowie außen voller Liebe waren. Noch nicht einmal nahe dran. Engel waren die Sorte von Soldaten, die Gottes Befehle mit eiskalter Effizienz ausführten, gleichgültig gegenüber Verlusten auf der menschlichen Seite und vor allem ohne auch nur einen Funken Emotion in sich zu tragen. Einer der Hauptgründe, weshalb ich gefallen war. „Lange nicht gesehen, Trinity“, sagte Dalquiel, als läge nur ein Jahr zwischen unserem letzten Treffen. Und als hätte er mir nicht auf bestialische Art und Weise das Herz zerschmettert. „Ja, ganze elf Millenien“, erwiderte ich trocken. Ich weigerte mich ihm zu zeigen, wie sehr sein Auftauchen mich aufwühlte und innerlich in Aufruhr brachte, als wäre ein Sturm ausgebrochen und drohte, meine aufgebauten Schutzwälle mit einem Schlag nieder zu reißen. „Und mein Name ist jetzt Grace. Grace Santiago.“ Dalquiel war ein Riese, jedenfalls aus meiner Sicht, da er mich fast um einen ganzen Kopf überragte. Zwar kein Muskelpaket, dafür aber eine Mischung aus Aristokrat und Athlet, die in ihm perfekt harmonisierten. Über seiner mokkafarbenen Haut, trug er ein dunkelblaues T-shirt, mit einem schwarzen Sakko darüber, und schlichte Jeans. Seine Gesichtszüge waren leicht puertoamerikanisch, mit hohen Wangenknochen und einem kantigen Kinn. Seine rabenschwarzen Augen waren geradezu leblos, kalt. Ein drastischer Unterschied zu seinem ebenso schwarzem Haar, das ihm verwuschelt vom Kopf abstand, als wäre er immer und immer wieder mit der Hand hindurch gefahren. Keine Ahnung, wessen Aussehen er sich angeeignet hatte, aber es wurde noch nicht einmal annähernd seiner wahren Erscheinung gerecht. Seltsamerweise irritierte er mich jedoch in dieser Form umso mehr. „Grace“, wiederholte er und sprach den Namen langsam aus, als müsste er erst testen wie er sich auf seiner Zunge anfühlte. „Eine ungewöhnliche Wahl.“ Ich knirschte mit den Zähnen und versuchte die Röte nieder zu kämpfen, die mir den Nacken hinauf kroch. Grace war der Name meiner jetzigen Hülle und meinen Nachnamen hatte ich aus einem spanischen Telefonbuch, falls das irgendeine Rolle spielen sollte. Häufiger Namenswechsel war ein Nachteil, wenn man ewig lebte. „Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich so distanziert wie möglich und fuhr mir unbewusst mit einer Hand über den Arm. Die Sigile hätten mich vor ihm und seiner Art verstecken sollen, wie also hatte er meine Spur aufnehmen können? Wie lange beobachteten sie mich schon? „Du hast in der Tat gute Arbeit darin geleistet, dich vor uns zu verstecken.“ Ich war mir nicht sicher, ob das als Lob oder Vorwurf gemeint war. „Glücklicherweise hat jemand deine Spur aufgenommen, sobald du deine letzte Hülle gewechselt hast.“ Ich war zugegebenermaßen entsetzt, dass diese eine Sekunde, die ich zwischen meinen Gefäßen verbracht hatte, ausgereicht hatte, um sich an meine Fersen zu heften. Es musste ein Moment gewesen sein, in dem die Sigile außer Kraft gesetzt waren, insbesondere weil Grace‘ Vorgängerin bereits an ihre Grenzen gelangt war und ich somit alle Mühe hatte, mich aus ihr heraus zu schälen. „Jemand?“, bohrte ich nach. „Ich“, antwortete er unverblümt. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, die ich schnell hinter dem Rücken versteckte. „Na schön, warum bist du hier? Wenn ihr entschlossen hättet, mich aus dem Weg zu räumen, hättest du dich gar nicht erst zu zeigen brauchen, um mich auszulöschen.“ Dalquiels Miene war ausdruckslos als er sagte: „Ich bin nicht gekommen um dich zu töten. Im Gegenteil, wir brauchen deine Hilfe.“ Ich war mir für einige Sekunden lang ziemlich sicher, mich verhört zu haben, doch als Dalquiel weiterhin so ruhig wie ein Stein dastand, bildete sich Schweiß auf meiner Stirn und ein nervöses Kichern entkam meiner Kehle. „Das ist doch wohl ein Scherz.“ „Kein Scherz“, versicherte er. „Ihr habt mich aus dem Dritten Himmel gejagt, geschworen mich zu vernichten, solltet ihr mich jemals finden und jetzt willst du mir allen Ernstes weis machen, dass die Engel mich brauchen?!“, brauste ich auf und konnte den Zorn in meiner Stimme nicht mehr unterdrücken. „Warum du? Warum hat man ausgerechnet dich geschickt, wo du doch derjenige warst, der mich verraten hat!“ Wut und Trauer, Verzweiflung und Hoffnung brodelten in mir und lieferten sich einen ebenbürtigen Kampf. Wie konnte ich ihm seinen Verrat jemals verzeihen? Er hatte mich ausgetrickst, mich in dem Glauben gelassen, er liebte mich und sobald ich mich entschlossen hatte für ihn zu fallen – Lichtbringers Beispiel zu folgen und meinen freien Willen einzufordern –, musste ich erfahren, dass er meinen Platz als einer der drei Prinzen im Dritten Himmel eingenommen und keineswegs im Sinn gehabt hatte, mir jemals zu folgen. „Rabacyal meinte, du würdest uns helfen, solange ich derjenige bin, der dich darum bittet.“ Es hörte sich wie die Logik eines kleinen Kindes an und ich zuckte unweigerlich zusammen, als er den Namen des ersten Prinzen erwähnte. Irgendwie wirkte es fehl am Platz, nach so vielen Jahren wieder von ihm zu hören. Und nur zu schmerzlich wurde mir bewusst, wie gut mein Bruder im Geiste mich eigentlich kannte. Ich lachte unsicher und falsch. „Sehr unwahrscheinlich.“ Dalquiel nickte zustimmend. „Das habe ich auch gesagt. Daher haben wir beschlossen, dir ein Angebot zu unterbreiten.“ „Es sollte besser etwas mit Schokoladentrüffeln zu tun haben, denn sonst könnt ihr mich gleich vergessen“, frotzelte ich und war erleichtert, meinen Sarkasmus wiedergefunden zu haben. „Was auch immer es ist, ich lehne es ab. Und jetzt verschwinde endlich.“ Den letzten Satz presste ich mühsam aus mir heraus. Obwohl all der Dinge die er mir angetan hatte und ich es hätte besser wissen müssen, konnte ich mich nicht davon abhalten, ihn in meiner Nähe behalten zu wollen. Er sollte nicht gehen. Sollte bei mir bleiben und mich in den Arm nehmen, auch wenn diese Geste keinerlei Bedeutung für ihn hatte. „Du kannst nicht Nein sagen, ehe du unser Angebot angehört hast“, bemerkte er und das Gezwitscher der Vögel verstummte abrupt. Es wurde seltsam kalt im Gewächshaus. Als wären die Grade rasend schnell gefallen. „Ich will es nicht hören“, sagte ich störrisch, immer noch mit wackeligen Knien von seiner nahezu erdrückenden Präsenz, und war kurz davor mir die Ohren zuzuhalten und laut zu schreien, um ihn auszublenden. „Tri–– Grace“, korrigierte er sich noch rechtzeitig. „Du kannst zurück in den Himmel.“ Und wieder glaubte ich, nicht richtig hingehört zu haben. Er konnte unmöglich gerade das gesagt haben, was ich verstanden hatte. Seit meines Falls hatte ich mir diese Worte erträumt, hatte mir gewünscht alles rückgängig zu machen und nur noch allein für den Dritten Himmel zu leben. Ich vermisste die Seelen, deren Reinheit mich immer fasziniert hatte und für deren Zukunft ich verantwortlich gewesen war, als wären sie meine Kinder. Es war mir immer eine Ehre gewesen ihnen zu helfen wiedergeboren zu werden. Und wegen eines einzigen Engels hatte ich all diese Glorie aufgegeben, nur um am Ende allein da zustehen. Doch nachdem was ich in den vergangenen Jahrtausenden verbrochen hatte, hatte meine ehemalige Reinheit und Unschuld dermaßen gelitten, dass man mich nur noch als ein schmutziges, versifftes und unwürdiges Wesen bezeichnen konnte. Weshalb, also, sollten sie mich dann zurück wollen? Er lügt, dachte ich bitter und verwarf diesen Gedanken beinahe augenblicklich wieder. Engel konnten nicht lügen, da sie keinen freien Willen hatten. Es entsprach nicht ihrer Natur, ihrer Lebensweise. Das war eines der Dinge, denen ich mir absolut sicher war und noch immer an Engeln schätzte. Daher musste das, was Dalquiel erzählte, der Wahrheit entsprechen. Es wiederstrebte mir jedoch, ihm blind zu vertrauen – wenigstens daraus hatte ich gelernt. „Okay, nehmen wir einmal an, ich würde das Angebot annehmen wollen“, sagte ich mit bebender Stimme. „Was müsste ich dafür tun? Du sagtest doch, ihr braucht meine Hilfe.“ Es schien, als würde er mir mit seinen dunklen Augen direkt in die Seele blicken. „Du musst nur Achlys töten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)