H.A.L.F. von Saya_Takahashi (Episode 1) ================================================================================ Kapitel 13: Überraschende Wende ------------------------------- Etliche Minuten kämpfte Sakura mit der Müdigkeit, die sie zu überwältigen drohte. Doch weil sie sich so verletzlich fühlte und einsam, und weil sie unbedingt auf Shino warten wollte, traute sie sich nicht den Schlaf zu gönnen, den sie so nötig hatte. Angestrengt versuchte sie sich jeden Erinnerungsfetzen ins Gedächtnis zu rufen, der ihr eine Antwort geben könnte, doch außer rasenden Kopfschmerzen und einer furchtbaren Portion Übelkeit blieb ihre Versuche erfolglos. Sie musste sich einfach auf Shino verlassen; darauf, dass er ihr genau sagen würde, was passiert war. Natürlich hätte sie auch Sasuke darum bitten können, doch keinesfalls wollte sie Ishida Gründe liefern zu glauben, dass es eine Beziehung zwischen ihnen gab. Sakura musste unwillkürlich schlucken, als sie diesen Gedanken hatte. Das Wort Beziehung hallte seltsam in ihrem Kopf wider und ließ sie unbewusst grinsen. Dafür schämte sie sich aber sofort, denn Sasuke war ein Junge, wie ihn sich Ino und andere Mädchen wünschten, nicht aber sie, Sakura, die doch so gar nichts von HALF hielt und noch weniger von seinen Soldaten. Auch wenn sich Sasuke das eine mal nicht typisch verhalten hatte, war er doch nur ein Handlanger von Ishida – eine Marionette, die immer genau das tat, was ihr die Fäden vorgaben. Als Sakura gefühlte Stunden keinen Besuch bekam, fragte sie sich, warum Shino nicht auftauchte. Vermutlich hatte Hokkiko vergessen es ihm zu sagen oder Shino war schwerer verletzt, als er zugab. Jedenfalls hatte es Sakura satt, einfach nur dazuliegen und nichts zu tun; kurzerhand griff sie an ihre Augenbinde und wickelte sie vorsichtig ab. Heute Abend hätte man sie ihr sowieso abgenommen, beruhigte sie sich. Es gab keinen Grund, Angst zu haben, erblindet zu sein. Trotzdem traute sich Sakura erst nicht, die Augen zu öffnen, als die Binde vollständig runter war. Mehrere Minuten saß sie mit geschlossenen Lidern und pochenden Herzen auf dem Krankenbett und atmete tief durch. Sie merkte das Flackern vor ihrem Gesicht, das wahrscheinlich von einer Glühbirne kam. Es blitzte mehrmals im Augenwinkel, als könnten das die Nachwirkungen der Schüsse sein. Doch sie erinnerte sich nicht an die Schüsse und genauso wenig erinnerte sie sich an Sasuke, und dass er sie alle gerettet hatte. Aber wer auch sonst, wenn nicht er – das Vorzeigeexemplar von HALF. Sakura gab sich einen Ruck und riss abrupt die Lider auf. Zuerst keuchte sie erschrocken auf, weil sie das grelle Licht der Deckenleuchte blendete. Dann entspannten sich ihre Augen langsam, und als sie sie wieder öffnete, konnte sie nach und nach immer mehr Konturen erkennen, dann Schatten und schließlich das spärliche Mobiliar des Zimmers. Ihrem Bett gegenüber stand eine kleine Kommode, auf der zusammengefaltete Kleidung lag – ihre Schuluniform – und neben dem Fenster, das nicht größer als ein Bullauge war, befand sich eine Garderobe für Jacken. Nicht weit davon hing ein Waschbecken und ein Spiegel, und der einzige Stuhl im Raum – ein niedriger Hocker – war darunter geschubst worden. Die Wände waren allesamt weiß, genau wie die Möbel. Das Linoleum war weiß und die Decke. Die Aussicht nach draußen wurde durch Gitterstäbe unterbrochen, hinter denen ein verlassener, asphaltierter Parkplatz lag. Sakura fröstelte. Das hier war das widerlichste Zimmer, das sie je gesehen hatte. Sie wollte nur noch Hause und unter die Dusche, mit Ino telefonieren und in ihrem eigenen Bett schlafen. Nur weg von hier, dachte sie. Nur endlich hier weg. Sakura hatte es eilig, ihr Vorhaben umzusetzen. Obwohl sie am ganzen Körper zitterte, als sie das Bett verließ, konnte sie sich auf den Beinen halten und zum Spiegel wanken. Ihr eigenes, blasses Gesicht zu betrachten, versetzte ihr einen Stich. Die Haare hingen fad herunter, waren ungekämmt und fettig. Ihre Augen wurden von einem grauen Schatten umrandet und das Grün ihrer Iris wirkte so matt, dass es sie völlig entsetzte. Außerdem fühlte sie sich hungrig wie ein Wolf – keine Minute länger würde sie es hier aushalten! Leise tapste Sakura zur Kommode und schlüpfte in ihre Uniform. Ihre Augen hatten sich endlich an das Licht gewöhnt und auch ihre Beine fühlten sich nicht mehr wie Pudding an. Dennoch spürte sie die kriechende Schwäche, die immer wieder kam und ging. Dabei wollte sie gar nicht schwach sein, sondern gleichwertig zu Ishida aufsehen können, der sie meistens wie Nichts behandelte und nicht selten wie Dreck. Doch die Abneigung kam von beiden Seiten: auch Sakura hasste den Mann, der sich ihr Vormund nannte, und sie zählte die Tage bis zur ihrer Volljährigkeit; bis zu ihrer Freiheit. Sakura wusste nicht, wie sie an Sasuke vorbeikommen sollte. Sie hatte ihren Kopf vorsichtig zur Tür hinausgestreckt und ihn auf der anderen Seite des Ganges gefunden: auf einen Stuhl sitzend und mit zur Brust geneigten Kopf. Doch Sakura gab sich nicht der Hoffnung hin, dass er schlafen würde: Jemand wie Sasuke würde keinen Job der Welt vermasseln, nur weil er müde war. Ihre einzige Chance war der Vorteil, dass er ihre Flucht nicht erwartete. Wenn sie sich so leise wie möglich verhielt, die Tür nur anlehnte und dann auf Zehenspitzen in die andere Richtung schlich … „Miss Haruno? Aber was machen sie denn hier?“ Sakura hätte am liebsten geschrien, so wütend war sie, von einer Krankenschwester entdeckt worden zu sein. Sie wollte noch „Psst“ machen, doch da hörte sie schon die Schritte den Gang entlang kommen. Als sie sich umdrehte, blickte sie direkt in Sasukes ausdrucksloses Gesicht. Er hatte die Arme verschränkt und deutete in ihr Zimmer. Geschlagen schlürfte Sakura wieder zurück, Sasuke im Nacken wissend. „Sie hätten den Verband noch nicht abnehmen dürfen, Miss Haruno“, sagte die Schwester, die ebenfalls hinterherkam. „Ab, ab ins Bett. Ich hole zuerst den Doktor, dann bringe ich ihnen was zu essen. Sie sehen ja ganz verhungert aus.“ Genauso fühlte ich mich auch, dachte Sakura missmutig und ließ sich brav von der Schwester zudecken. Dabei ignorierte sie Sasukes wachsame Augen. Es war ihr unsagbar peinlich, dass er sie so sah, aber wahrscheinlich hatte er schon tausend schlimmere Dinge gesehen, und genauso wahrscheinlich war es, dass er schon in tausend schlimmeren Situationen gesteckt hatte. „Bleiben sie bitte liegen, bis der Arzt da war, Miss Haruno. Er wird sofort zu ihnen kommen.“ Sakura nickte leidlich. „Ich wollte nur zu Shino. Leutnant Hokkiko meinte, es ginge ihm gut und er würde mich besuchen. Aber bisher ist er nicht gekommen. Liegt er nicht im Zimmer nebenan?“ „Nein, meine Liebe. Ihr Klassenkamerad auf … nun, auf der unteren Station untergebracht. Wegen der Sicherheitsstufe, sie wissen schon. Aber ich werde nach ihm sehen, wenn ich …“ „In welchen Zimmer denn? Ich könnte versuchen, ihn über das Telefon anzurufen und …“ „Zimmer 12, glaube ich, Miss Haruno. Aber es hat keinen Telefonanschluss. Ich muss zuerst mit General Ishida sprechen, bevor ich weitere Auskunft geben darf. Gedulden sie sich bis dahin bitte.“ Die Schwester schaute vielsagend zu Sasuke hinüber, dann raschelte sie aus dem Raum. Sakura wartete nicht lange, sondern stieg wieder aus dem Bett und ging zur Kommode. Sasuke sah sie dabei an, als würde er am liebsten was sagen und doch keine Lust verspüren, Worte zu verschwenden. „Drehst du dich bitte um?“, meinte Sakura schmollend. „Ich will mich wieder umziehen. Oder ist das auch verboten?“ Sasuke drehte sich wortlos um, während sich Sakura das kleine Siegeslächeln nicht verkneifen konnte. Sie kramte lautstark in der Kommode, bewegte sich geräuschlos zur Tür und … rannte, als wäre der Teufel hinter ihr. Denn obwohl durchaus nicht Form, gehörte sie doch zu den besten Läufern der ganzen Schule, und sollte Sasuke sie auch verfolgen, sie würde rennen bis zum bitteren Ende. Sakura schaffte es heil durch den ersten Flur, obwohl sie hinter sich die Rufe der Schwester hören konnte. Sie traute sich aber auch nicht, nach hinten zu sehen, wo Sasuke blieb: lieber wollte sie all ihre Kraft dafür aufwenden, Shino zu erreichen. Ein nagendes Gefühl hatte sie gepackt, und erst, wenn sie ihn heil und wohl aufsah, würde sie das Spiel hier mitspielen. Die Konsequenzen ihrer Taten musste sie schon ihr ganzes Leben lang erdulden; heute würde sie auch die Furcht vor Ishida nicht daran hindern, nach einem Freund zu sehen, um den sie sich große Sorgen machte. Sakura erreichte den nächsten Gang, schlitterte um die Ecke und sprang auf die Treppe zu, von der sie immer gleich etliche Stufen auf einmal nach unten nahm. Manchmal zahlten sich die vielen Stunden harten Trainings doch aus. Zimmer 12, dachte Sakura immer wieder, als sie die Etage erreichte und weitersprintete. Sie hörte hallende Geräusche im Treppenaufgang; die Zeit rannte ihr davon. Wo war Zimmer 12? Sakura rannte den Gang entlang: vorbei an Zimmer 1 und 2, dann kamen die nächsten bis zum neunten. Dann folgte Zimmer 10 … Sakura blieb ruckartig stehen und starrte auf die kahle Wand, hinter der es nichts gab außer dem stahlharten Beton. Kein Zimmer 12. Kein Shino … „Wo ist er, Sasuke?“ Sakura drehte sich abrupt um und sah Sasuke so wütend an, dass sie für einen Moment dachte, er zucke zurück. Doch sie hatte sich geirrt; er starrte sie nur wieder ausdruckslos an. Während sie ihr pochendes Herz hörte und kaum Luft bekam, sah er aus, als wäre nichts gewesen. „Wo ist er, Sasuke? Wo ist Shino!“ Sasuke sagte nichts. Auch nicht, als Sakura dicht an ihn herantrat und fast ohrfeigte, obwohl sie einen ganzen Kopf kleiner war. „Sag mir, wo er ist!“, schrie sie ihn verzweifelt an. „Was ist mit ihm passiert?“ Erst sah es so aus, als wollte Sasuke wirklich antworten. Doch dann versteifte er sich unerwartet. Als Sakura an ihm vorbeiblickte, konnte sie auch sehen warum. Ishida und Hokkiko kamen aus einem der vorderen Büroräume – Hokkiko verdutzt und Ishida mit wütender Fratze, wie die eines scharfgemachten Hundes. Sakura hielt den Atem an, als die beiden auf sie zukamen. Sie konnte ihren entsetzten Blick nicht verbergen, als sich ihre Augen mit denen von Sasuke trafen. Es war ein stummer Hilfeschrei, für den sie sich zwar verfluchte, der aber von der plötzlichen Angst durch Ishidas Anwesenheit herrührte. Dabei musste sie es doch wissen – sie musste doch wissen, dass sie niemals Hilfe erwarten konnte gegen den, der jeden befehligte. Erst recht nicht von Sasuke Uchiha, dem besten der Piloten. „Hatte ich dir erlaubt, dein Zimmer zu verlassen?“ Ishidas Stimme war bedrohlich leise, als hielte er seine gesamte Wut in Zaum. „Oder durch die Flure zu rennen, Sakura? Waren meine Anweisungen undeutlich? Was denkst du, was du hier …“ „Ich wollte zu Shino!“, brach es aus Sakura hervor. Sie hatte sich vorgenommen, stark zu sein und nicht zu weinen, doch jetzt fielen die Tränen zu Boden wie kleine Wassertropfen. „Er sollte hier sein! In Zimmer 12! Aber es gibt kein Zimmer 12!“ „Nein“, sagte Ishida kalt. „Und nichts davon geht dich etwas an.“ „Shino geht mich aber was an, weil er mein Freund ist! Ich dachte, er wäre in Ordnung und er könnte schon nach Hause, und ich dachte, er wäre … ich dachte, es wäre die Wahrheit!“ „Geh jetzt auf dein Zimmer, Sakura. Hast du mich verstanden? Du gehst auf dein Zimmer und wartest, bis ich zu dir komme!“ „Nein!“, keifte Sakura zurück. „Ich will nach Hause, und ich will wissen, wo Shino ist!“ Doch das war zuviel, dass wusste Sakura schon, bevor sie Ishida angeschrien hatte. Er holte aus, noch während sie sprach. Und als sie innerlich spürte, wie es sie gleich treffen würde, schloss sie instinktiv ihre Augen und kniff sie zusammen, als bewahre sie das vor dem, was kommen sollte. Doch es kam nicht. Sakura zählte die Sekunden, doch die Ohrfeige blieb aus. Sie hörte nur ihren rasselnden Atem und ihr lautes Herz, und eigentlich war da nur die angespannte Stille, die furchtbarer war als alles andere, weil sie so bedrohlich wirkte wie die Ruhe vor dem Sturm. Sakura öffnete ihre Augen und sah für den Bruchteil einer Sekunde noch, wie Sasukes Hand die von Ishida hielt. Sie erstarrte förmlich, bei dem Gedanken, was er damit getan hatte. Was für Auswirkungen es haben mochte. Erst dachte Sakura, Ishida würde nun ihn statt ihrer niederschlagen. Doch der General stand einfach da und tat nichts, obwohl Hokkiko neben ihm aussah, als erwartete er die sofortige Exekution. „Isolationshaft“, sagte Ishida eisig, ehe er sich umdrehte. „Für eine Woche. Verstanden?“ „Ja, Sir“, sagte Sasuke. Einfach so, als wäre es eine Kleinigkeit, ein lächerlicher Befehl und nicht die schlimmste aller Bestrafungen bei HALF. „Leutnant?“ „Ja, Sir, natürlich.“ Hokkiko hatte es weit schwerer, gegen die Bestürzung anzukämpfen. Unsicher nahm er Sasuke in Gewahrsam und führte ihn ab. Sakura blickte er nicht ein einziges Mal an, genauso wenig wie Sasuke. Und als sie im Treppenflur verschwanden, war Sakura ganz allein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)