Dreißig Nächte von Shizana (30 Nächte-Challenge) ================================================================================ Mitleid, mehr nicht (Kokoshipping) ---------------------------------- „Also, ich rufe dich dann in zwei Tagen an. Lass das Handy eingeschaltet.“ Mit diesen Worten schlug die Blondine die Beifahrertür von außen zu und winkte noch einmal zum Abschied. „Mata ne, Kosanji.“ „Kosaburo!“, kam die empörte Antwort. Der junge Mann hinter dem Steuer verdrehte einmal genervt die Augen, ehe er sich zum Beifahrerfenster lehnte. „Du machst das doch mit Absicht!“ Er erhielt keine Antwort, nur ein letztes Winken, ehe sich die junge Frau auch schon von ihm abwandte und sich zu der Haustür bewegte, vor welcher sie gehalten hatten. Nur wenig später war sie in dem Gebäude verschwunden. „Diese Yamato…“ Kosaburo drehte am Zündschlüssel, das Auto sprang mit einem leisen Surren an und er löste die Handbremse, um sich wieder auf den Weg zu machen. Seine Dinglichkeit war für heute erfüllt, das restliche Wochenende hatte er frei. Zwei wohlverdiente, freie Tage ohne die geringsten Pflichten im Genick. Und ohne Yamato im Rücken. Es würden zwei ruhige Tage werden. Für einen Moment versuchte er sich zu erinnern, wann er zuletzt Zeit ganz allein und nur für sich verbracht hatte. Es musste Jahre her sein, er erinnerte sich kaum. Sonst war er stets für Team Rocket im Dienst, arbeitete mit seiner Partnerin Yamato an der Seite von Professor Namba. Und auch die übrige Zeit waren er und die blondhaarige Frau stets zusammen. Mit ihr war es selten ruhig, es würde ungewohnt still sein ohne sie. Vielleicht würde es ihn sogar schnell langweilen. Yamato war eine sehr lebhafte Frau, manchmal ging es ihm sogar schon auf die Nerven, aber ohne sie an seiner Seite würde ihm bestimmt etwas fehlen. Naja, es waren ja nur zwei Tage, die würde er schon irgendwie herumkriegen. Er konnte etwas Ruhe gut gebrauchen, vielleicht war es also gar nicht so verkehrt, dass Yamato bereits andere Pläne für das Wochenende gehabt hatte. Ja, vielleicht war es sogar gut so. Endlich konnte er einmal tun, worauf er Lust hatte – wann hatte er schon sonst groß die Gelegenheit dazu? Er könnte ins Casino gehen. Oder ins Kino. Oder könnte eine kleine Wanderung unternehmen. In der Nähe hatte eine Wassershow eröffnet, er könnte auch dort einmal vorbeischneien, wenn er wollte. Es wäre sicherlich interessant, herauszufinden, ob er auch mit dem Wissen, frei zu haben, das Verlangen verspüren würde, ein oder zwei Pokémon mitgehen zu lassen und Team Rocket zu übergeben. Für ein kleines Taschengeld extra, von dem Yamato nichts erfahren müsste. Der Gedanke war in der Tat verlockend, aber nein, er wollte sich zusammenreißen. Dieses Wochenende wollte er mit keinem einzigen Gedanken bei der Arbeit sein – er hatte Urlaub. Entschlossen nickte er und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Die Straße war nahezu leer, hinter ihm war kein einziger Wagen, nur weiter vor ihm fuhr noch einer. Wenn er sich beeilte, könnte er den Feierabendverkehr vielleicht noch knapp umgehen. Es war kurz nach fünf, auf direktem Wege durch Minamo City bräuchte er eine knappe Viertelstunde bis zum Hotel. Wenn er um die Stadt herumfuhr, wären es etwa zehn Minuten mehr, aber dafür weniger Verkehr. Da das Hotel ohnehin am Rande der Stadt gelegen war, näher am angrenzenden Meer,  würde der Umweg keinen allzu großen Abbruch tun und er hatte ohnehin Zeit. Die Entscheidung fiel ihm entsprechend leicht. Mit der nächsten Kreuzung bog er nach links ab. Er folgte der Straße, die von der Großstadt wegführte, und bog anschließend auf die Umgehungsstraße. Wie erwartet war hier wenig los, auch wenn sich das bald noch ändern mochte. Doch bis dahin wäre er so gut wie an seinem Ziel angekommen. Also keiner weiteren Überlegung wert. Er schaltete das Radio ein, wechselte den Gang und blieb in gleichbleibender Geschwindigkeit. Neben ihm stand die Sonne bereits tief und verlieh dem Himmel einen goldenen Anstrich. Die Autofahrt war angenehm, entspannend, und er konnte es kaum erwarten, im Zimmer die Füße auf die Couch zu legen. Track um Track verging die Zeit und es war schließlich nicht mehr weit. Gleich würde er noch einmal in die Stadt einbiegen, dort zwei weitere Straßen, dann wäre er da. Vielleicht würde er sich erst noch einmal ins Restaurant setzen, dann ein entspannendes Bad und… Moment. Hatte er da nicht eben etwas Verdächtiges gesehen? Er hatte gar nicht richtig auf sein Umfeld geachtet, die Straße vor ihm natürlich ausgenommen, aber für einen Moment glaubte er, eine bekannte Farbkombination am Straßenrand erkannt zu haben. Prüfend blickte er in den Rückspiegel und suchte die rechte Straßenseite nach jener Fata Morgana ab, der er glaubte, unterlegen zu sein. Doch es stimmte tatsächlich: Weiße Kleidung, dunkle Handschuhe und Stiefel. Und ganz bestimmt würde sich ein rotes R auf der Brust der weißen Jacke befinden, wenn jene Person nur aufrecht laufen würde. Oh Mann, womit hatte er das verdient? Er war doch außer Dienst, wieso musste ihn die Arbeit dennoch bis hierher verfolgen? Es waren noch nicht einmal fünf Stunden vergangen, seit sie ihren Wochenendurlaub angetreten waren. Der Urlaub hatte so gesehen noch gar nicht richtig begonnen. Er seufzte, dann prüfte er noch einmal den Rückspiegel. Kurzerhand lenkte er den Wagen schließlich zur Seite und hielt an, nur um den Rückwärtsgang einzulegen und ein Stück zurückzufahren. Es befand sich kein weiterer Fahrer hinter ihm, daher konnte er es sich erlauben, sich einige Schritte zu ersparen. Nur wenige Meter vor der Person mit den wehleidig hängenden Schultern hielt er an. Allem Anschein nach hatte sie ihn noch nicht bemerkt. So typisch. Kosaburo war sich sicher, dass er seine Entscheidung bestimmt gleich wieder bereuen würde. Dennoch schaltete er den Wagen ab, löste den Sicherheitsgurt und stieg aus. Mit einem deutlichen Türknallen versuchte er die Aufmerksamkeit jener Person zu erregen, wegen welcher er angehalten hatte. „Na sieh mal einer an, ihr Typen seid ja echt wie die Pest: Immer und überall zugegen und stets unerwünscht“, neckte er zusätzlich und lehnte sich gegen das Heck des tannengrünen Autos, die Arme demonstrativ vor dem Körper verschränkt. Endlich reagierte die Person. Der Kopf mit dem lavendelfarbenen Haar hob sich ein Stück, bis die Aufmerksamkeit des jungen Mannes ganz auf Kosaburo lag. Doch es dauerte noch einen Moment, bis er ihn wohl wirklich wahrnahm. „Oh, Kosanji?“ „Ich heiße Kosaburo! Daran hat sich noch nichts geändert, Idiot!“ „‘tschuldige.“ Der Kollege in der weißen Team Rocket-Uniform richtete sich etwas auf, doch seine Schultern hingen noch immer nach vorn. Er sah mitgenommen aus. An dem hellen Stoff von Jacke und Hose hingen Erde und Blätter und auch auf seiner linken Wange zierten dunkle Kratzer. Zudem wirkte er bemüht, sich auf den Beinen zu halten. „Was machst du hier?“, fragte er mit müder Stimme. „Dasselbe könnte ich dich fragen“, gab Kosaburo zurück, dann stutzte er. Für einen Moment wandte er seine Aufmerksamkeit von dem Kollegen ab und blickte sich um. Erst als er nicht fand, wonach er offensichtlich ihre Umgebung absuchte, richtete er sich wieder an den Blauhaarigen. „Wo ist denn deine exzentrische Partnerin abgeblieben?“ „Musashi…“ Nur leise flüsterte er den Namen, dann sackte Kojiros Haltung wieder in sich zusammen und er blickte betreten zu Boden. „Ich weiß es nicht genau.“ „Du weißt es nicht genau?“, wiederholte Kosaburo misstrauisch und hob eine Augenbraue. „Wie kann denn das bitteschön sein? Ihr seid doch sonst immer zusammen.“ „Ja, schon. Waren wir ja auch. Aber dann waren da diese Typen und haben sie mitgenommen.“ „Mitgenommen?“ Für einen Moment war er baff. „Du meinst, sie wurde entführt?“ „Ent… Nein. Nein!“ Kojiros Blick hob sich wieder mit einem stummen Vorwurf darin in die Richtung des Kollegen. Ganz so, als wäre dessen verlautete Vermutung die letztmöglichste aller möglichen Spekulationen. „Musashi würde sich doch nicht entführen lassen“, korrigierte er mit einem fast schon beleidigten Grummeln in der Stimme. „Was dann? Hier ist sie jedenfalls nicht, wenn ich nicht ganz blind bin.“ „Nein… ist sie nicht.“ Kojiro seufzte schwer. „Sie ist zu diesen Typen in den Wagen gestiegen. Wir wollten zur nächsten Stadt, um den Boss anzurufen und… Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich zurücklassen…“ ‚Armer Kerl‘, ging es Kosaburo für einen Moment durch den Kopf, doch er versuchte diesen Gedanken schnell wieder zu vertreiben. Soweit kommt’s noch, dass er jetzt Mitleid für den Rivalen aufbrachte. Dafür hatte er nicht angehalten, bestimmt nicht. „Eine tolle Partnerin hast du da“, kommentierte er stattdessen die Worte des anderen und schüttelte mit dem Kopf. „Eine, die dich im Stich lässt für ihren eigenen Vorteil.“ „Nein!“, protestierte Kojiro sofort lautstark, wobei er heftig mit dem Kopf schüttelte. „Nein, so war das nicht. Sie wollte ja, dass sie uns alle mitnehmen. Aber sie haben nur sie ins Auto gelassen, Nyasu muss sich irgendwie mit reingeschlichen haben, und zu mir sagten sie dann, der Wagen sei voll und deswegen könnten sie mich nicht mitnehmen. Ehe ich protestieren konnte, hatten sie die Türen geschlossen und waren mit Musashi weggefahren.“ Bei den Bildern, die sich während seiner Ausführungen zum wiederholten Male abspielten, verkrampften sich seine Hände zu Fäusten. Er biss sich auf die Unterlippe, kämpfte sichtbar gegen die aufbrodelnden Emotionen in seinem Inneren an. Dann sprach er noch einmal, die Stimme gedämpft: „Sie konnte nichts dafür. Sie hat das bestimmt nicht so gewollt.“ Einen Moment lang blieb es still zwischen den beiden Männern. Kosaburo nahm das Bild des Kollegen in sich auf, doch er wusste nichts zu sagen. Er wusste nicht zu sagen, ob der Kerl vor ihm einfach nur wegen seiner Naivität zu belächeln oder schon zu bemitleiden war. „Und nun?“, fragte er dann ruhig und durchbrach damit die anhaltende Stille. „Was hast du nun vor? Bist du auf dem Weg nach Minamo City?“ Ein Nicken. „Zu Fuß?“ „Ich habe keine andere Wahl“, gab Kojiro geknickt zur Antwort und seufzte tief. „Unser Ballon wurde vor einigen Tagen von den Knirpsen abgeschossen und war nicht mehr reparabel. Wir sind seitdem nur noch zu Fuß unterwegs, weil wir noch keine Möglichkeit hatten, das Hauptquartier zu kontaktieren.“ Schnell biss sich Kosaburo auf die Zunge, als ihm in den Sinn kam, dem Kollegen von diesem Vorhaben abzuraten. Während seines kurzen Aufenthaltes im Hauptquartier vor einiger Zeit hatte es kein gutes Reden zu dem anderen Duo gegeben. Yamato selbst war ganz vorn mit dabei gewesen, ihre böse Zunge sprechen zu lassen. Der Boss war derzeit nicht sonderlich gut auf das Team zu sprechen und würde mit Sicherheit nicht erfreut sein, wenn sie ihn mit solchen Neuigkeiten kontaktieren würden. Überhaupt nicht erfreut. Auf der anderen Seite, wieso sollte es ihn kümmern? Allein dieser peinliche Auftritt des Kollegen vor ihm war doch Beweis genug, dass sie es gar nicht anders verdient hatten. Sie waren selbst schuld an ihrer Pechsträhne und ihrem schlechten Ruf in der Organisation. „Du siehst scheiße aus“, lenkte er schließlich im Thema um, um sich weiteres Kopfzerbrechen zu ersparen. Da könnte er auch gleich Perlen vor die Quiekel werfen. Als er daraufhin einen fragenden Blick von dem Rivalen kassierte, nickte er verdeutlichend in dessen Richtung, dass er damit seinen derzeitigen Aufzug meinte. „Also mir zumindest wäre das ja echt peinlich, wenn ich so herumlaufen müsste“, spezifizierte er, gütig wie er eben war, und schüttelte kurz mit dem Kopf. „Habt ihr Weichköpfe Abhangrutschen betrieben, oder wie soll man das verstehen?“ Wieder seufzte Kojiro schwer und schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, schlimmer.“ „Okay, ich will es gar nicht wissen.“ Damit stieß sich Kosaburo vom Heck ab und ging hinüber zur Fahrertür. Er öffnete sie, blickte dann aber noch einmal über seine Schulter zu dem Kollegen zurück. „Du hast genau fünf Sekunden, wenn du nicht die letzten elf Kilometer laufen willst.“ „Du nimmst mich mit?“, überschlug sich Kojiro fast vor Überraschung. Mit einem Mal war sein müder Blick hellwach und ihm war anzusehen, dass er sein Glück kaum fassen konnte. Mit einem nachdrücklichen „Vier Sekunden“ ließ sich Kosaburo auf seinen Sitz gleiten und zog die Fahrertür zu. Damit gab er dem Rivalen zu verstehen, dass er ebenso gut seine Drohung wahrmachen und ihn an dieser menschenleeren Straße zurücklassen konnte, wenn sich dieser nicht schnell entschied. Es war schließlich nicht so, als wäre es selbstverständlich, dass er ihm seine Hilfe anbieten würde; man konnte zumindest nicht sagen, dass sie Freunde waren oder so. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, beobachtete er neugierig im Rückspiegel, wie sich der Kollege entscheiden würde. Natürlich wusste dieser das unverhoffte Angebot zu schätzen und beeilte sich nun, rechtzeitig zu dem Wagen zu kommen. Kurz sah es dabei so aus, als würde er auf einem Bein humpeln, doch das könnte sich Kosaburo auch nur eingebildet haben. Letztendlich schaffte es der Blauhaarige in sechs Sekunden zur Beifahrertür und stieg mit einem gedrückten „Danke“ ein. Es folgte keine Antwort. Kosaburo hatte den Motor längst gestartet und fuhr nun, da jedes weitere Wort nur Zeitverschwendung gewesen wäre und er vermeiden wollte, dass er es sich doch noch einmal anders überlegen würde, los. Die eine Sekunde Fristverspätung würde er dem Kerl ausnahmsweise nachsehen. „Wo ist eigentlich Yamato?“, wollte Kojiro wissen, als ihm das Schweigen schon nach kurzer Zeit offenbar zu unangenehm wurde. Zwar hatte Kosaburo das Radio eingeschaltet, aber wirklich lichten konnte es die seltsame Atmosphäre zwischen ihnen nicht. „Sie besucht ihre Familie“, kam es knapp und allessagend zurück. Verblüfft blinzelte Kojiro zu ihm herüber. „Sie hat Familie in Hoenn? Stammt sie etwa von hier?“ „Natürlich nicht“, schnippte Kosaburo und warf dem Kollegen von der Seite einen vorwurfsvollen Blick zu. „Wie kommst du darauf?“ „Naja, ich dachte… Wenn du sagst, dass sie hier ihre Familie besucht… Sie besucht sie doch?“ „Ja.“ „Aber… sie stammt nicht von hier?“ „Nein.“ „Wieso besucht sie dann hier ihre Familie?“ „Na weil sie hier sind, blöde Frage.“ Kojiro war verwirrt. Irgendwie ergab das für ihn keinen Sinn, doch es würde wohl seine Richtigkeit haben. Es war eigentlich auch ganz egal, wo und was mit der Blondine war, es gab Wichtigeres für ihn zu bedenken. Sobald er in Minamo City wäre, musste er Musashi und Nyasu irgendwie wiederfinden. Egal wie, und das bald.   Eine gefühlte Ewigkeit später, die sich als lächerliche zehn Minuten entpuppte, waren sie endlich in der Stadt angekommen. Kojiro hatte nicht gewagt, zu hinterfragen, wann und wo der Kollege beabsichtigte, ihn abzusetzen. Er übte sich vornehmlich in Geduld, während er keine Ahnung hatte, welchen Straßen sie weshalb folgten. Erst als sie vor einem hohen, modernen Gebäude außerhalb des Zentrums hielten, war er doch sichtlich verwirrt. „Wo sind wir?“ Kosaburo antwortete ihm nicht. Er drehte lediglich den Motor ab, löste seinen Gurt und langte zum Rücksitz, um dort nach irgendetwas zu suchen. Schnell hatte er einen dunklen Rucksack und seine dunkle Jeansjacke geangelt und wandte sich erst jetzt an den Rivalen, der noch immer anstaltslos auf seinem Sitz festklebte. „Was denn? Schnall dich ab und beweg deinen Arsch raus!“, kommandierte er schroff. „Was? Ja, aber…“ „Du bleibst mir nicht allein in der Karre! Raus jetzt, oder ich mach dir Beine, Versager!“ Nur unwillig löste nun auch Kojiro seinen Gurt und tat schließlich wie ihm geheißen und stieg aus. Sein Blick glitt unsicher zu dem Gebäude vor ihm hoch, mit welchem er auch auf den zweiten Blick nichts anfangen konnte, und sah sich anschließend in seiner neuen Umgebung um. Doch nichts, kein einziger Anhaltspunkt kam ihm bekannt vor, und von Musashi oder Nyasu fehlte, natürlich, auch jegliche Spur. Unmut machte sich in ihm breit und er ließ mit einem schweren Seufzen die Schultern nach vorn fallen. Jetzt war er offenbar endlich in der Stadt angekommen, und wusste doch nicht, wo er war. Mehr noch: Er wusste auch nicht, wo der Rest von seinem Team war und wo er mit der Suche beginnen sollte. Vielleicht, so dachte er jetzt, war es ein Fehler, sein Glück in dieser ihm fremden Stadt zu versuchen, wo die Freunde überall und nirgends sein könnten. „Was ist? Willst du dort Wurzeln schlagen?“, hörte er den Kollegen sagen und blickte sich daraufhin um. Kojiro bemerkte, wie dieser gerade seinen Rucksack schulterte und unnachvollziehbar zu ihm herüberblickte. Er schwieg. „Beweg dich!“, forderte Kosaburo ihn auf und deutete hinter sich auf das helle Hochhaus. Dann drehte er sich auch schon um. „Wie kann man nur so verpeilt sein?“ „Wa-? Warte mal!“, erwachte Kojiro nach einigen Sekunden aus seiner Starre und trat einen Schritt vor. Doch er zögerte, dem Kollegen zu folgen. Kosaburo blieb stehen und drehte sich noch einmal nach dem Blauhaarigen um. Wenig geduldig warf er ihm ein genervtes „Was?!“ entgegen. „Ich, also…“ Er stockte. „Ich muss Musashi und Nyasu finden.“ „Und?“ „Also…“ Wieder strauchelte er, irritiert von der reservierten Haltung des anderen. Ihm war die Bedeutung dessen nicht ganz klar: Sollte er einfach wortlos verschwinden oder erwartete der Rivale etwas ganz Bestimmtes von ihm? Das betonte Stöhnen des Kollegen brach schließlich das Schweigen. „Meine Fresse, brauchst du etwa eine Extraeinladung? Du wirst die beiden vor Sonnenuntergang sowieso nicht finden, da gehe ich jede Wette mit dir ein. Aber wenn du meinst, dass du es besser weißt, dann bitte! Mir soll es egal sein.“ Wie um sich zu vergewissern, sah Kojiro daraufhin gen Westen zum Horizont. Und tatsächlich sollten sich die Worte des Kollegen bewahrheiten. Die Sonne stand bereits tief, berührte mit ihrer runden Scheibe beinahe das Meer, welches er von seinem erhöhten Punkt hier aus sehen konnte, und würde in wenigen Stunden verschwunden sein. Es würde schwer werden, die Freunde vor Einbruch der Nacht in einer ihm fremden Großstadt zu finden. Und wenn er sie bis dahin nicht finden sollte, was dann? „Hey“, holte Kosaburo den Kollegen aus seinen Gedanken, welcher daraufhin fragend zu ihm blickte. „Mach einmal das hier“, forderte er, streckte beide Arme gerade zur Seite aus und winkelte das rechte Bein an. Mit dem linken richtete er sich auf die Zehenspitzen, sodass er auf ihnen im Stand balancierte, ohne zu wanken. Kojiro legte die Stirn in Falten. „Wozu?“, hakte er misstrauisch nach. „Mach einfach“, kam es zu ihm zurück und er zweifelte noch einen Moment an dem Sinn, den der Rivale damit bezweckte. Mit einem Schulterzucken tat er es schließlich ab und versuchte sich daran, der Aufforderung nachzukommen und die Figur nachzumachen. Als er sich jedoch auf die Zehenspitzen aufzurichten versuchte, durchzog ihn ein Ziehen im Sprunggelenk und ein weiteres Stechen machte sich in seinem Rücken bemerkbar. Er brach den Versuch sofort ab, taumelte kurz, fing sich aber noch rechtzeitig ehe er stürzen konnte. Auch Kosaburo kehrte in einen normalen Stand zurück, verschränkte die Arme vor dem Körper und besah den Rivalen mit einem „Wusst‘ ich’s doch“-Blick. „Bitte“, kommentierte er abschließend und drehte sich nun wieder zum Gehen um, „geh und such nach den anderen beiden Versagern, wenn du meinst. In deinem Zustand und so wie du aussiehst.“ Mit einem letzten, halbherzigen Winken ging er auf das Hotel zu. „Wa-warte!“, versuchte Kojiro ihn zurückzuhalten und bemühte sich, doch noch schnell zu dem Kollegen zu kommen. Neben ihm angekommen, blickte er ihn fragend an. „Woher wusstest du…?“ „Also bitte“, schnaufte dieser empört, als hätte man ihn zutiefst beleidigt, „das war nun wirklich nicht zu übersehen.“ „Aber… was ist mit Musashi und Nyasu?“ „Dann geh sie suchen“, gab Kosaburo gereizt zurück und schenkte dem anderen einen niederschmetternden Blick. „Denk bloß nicht, dass mich das kümmert. Meinetwegen kannst du auf den Straßen kriechen auf der Suche nach deinen Versagerfreunden. Mir kann’s egal sein. Aber überleg dir gut, ob es das wert ist, nachdem sie dich im Stich gelassen haben.“ „Sie haben mich nicht…“ „Sie hatten die Wahl“, schnitt er ihm scharf das Wort ab, die Stimme erhebend. „Sie hätten einen Weg gefunden, die Typen zum Anhalten zu bewegen, um auszusteigen. Oder traust du ihnen das nicht zu?“ Kojiro sagte nichts darauf. Er schluckte lediglich getroffen, wusste aber offensichtlich, dass der Rivale mit seinen Worten recht hatte. Natürlich hatte er das. Deswegen fuhr Kosaburo auch ohne Umschweife fort: „Die kommen schon klar, auch ohne dass du dich für sie zum Narren machst. So, wie deine Verfassung im Augenblick ist. Wir sind hier in einer Stadt, die werden schon clever genug sein, sich etwas für die Nacht zu suchen und dann morgen ihre Suche nach dir fortzusetzen. Sie wären schön blöd, wenn sie die Stadt vorher verlassen würden. Die Wahrscheinlichkeit, euch hier wiederzufinden, ist auf jeden Fall höher als dort draußen irgendwo in der Pampa, soweit sollten es selbst die beiden begriffen haben.“ Nachdenklich richtete Kojiro seinen Blick vor sich zu Boden. Vermutlich hatte der Kollege recht, zumindest hoffte er es. Tatsache war, dass es keine kluge – und auch gesunde – Idee wäre, die Suche jetzt noch großartig fortzusetzen. Aber konnte er sich wirklich darauf verlassen, dass seine beiden Freunde genauso denken würden wie es der Kollege tat? Zudem hatte er das unweigerliche Gefühl, sie zu hintergehen, indem er auf den Einwand ihres Rivalen einging und ausnahmsweise einmal an sich dachte. Zögerlich blickte er zu dem Kollegen auf. „Und… es wäre wirklich okay?“ Wenn ich bleibe, meinte er. Nicht, wenn ich heute nicht mehr nach ihnen suche. Wieder schulterte Kosaburo seinen Rucksack. Wohl nur, um zu betonen, dass die Diskussion hiermit, endlich, beendet war. „Ist deine Entscheidung. Ich habe sturmfrei, weißt du. Ich kann den Abend auch noch anders verbringen.“ Den halbherzigen Scherz verstehend, lächelte Kojiro. Damit war alles Nötige gesagt und er folgte dem Kollegen durch die automatische Drehtür in das große Gebäude.   Die Empfangshalle war riesig, weit, und hell erleuchtet. Über den glänzenden Fliesen in verschiedenen Blautönen lag ein dunkelroter Teppich, der direkt zum Empfang führte. Viele Menschen waren hier unterwegs, teils in Begleitung ihrer Pokémon, und es herrschte ein reges Treiben. Neugierig sah sich Kojiro in der großen Halle um. Mittig prangte ein teuer aussehender Kronleuchter von der Decke, von dessen Armen kleine Palimpalim-Windspiele herabhingen und leise klirrten, sobald sie von einem Luftzug bewegt wurden. Ein fröhlich dreinblickendes Kappalores unterhielt einige Gäste mit seinem Tanz im Aufenthaltsbereich rechts von ihnen. An den Wänden hingen verschiedene Bilder von großen Zeichnern der Region und Fotografien vom angrenzenden Meer und den Pokémon, die dieses beheimateten. Alles wirkte freundlich, einladend, selbst die Empfangsdame hinter dem hellblau-marmornen Schalter. „Wow“, entkam es Kojiro in seinem Staunen, da er lange nicht mehr so viel eindrucksvolle Schönheit in einem Gebäude gesehen hatte. Er wusste gar nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. „Und hier wohnst du?“ „Was redest du? Natürlich nicht, es ist nur ein Hotel. Wäre es anders, denkst du allen Ernstes, ich würde dich in meine Wohnung lassen?“ Fast klang es, als würde ihn die Frage des Kollegen belustigen. Dann aber wurde er wieder ernst und drückte dem Blauhaarigen seine Jacke, die er sich bisher lässig über die Schulter geschlagen hatte, in die Arme. Noch ehe Kojiro fragen konnte, wies er an: „Zieh die Handschuhe aus und die hier über. Ich will nicht, dass man mich wegen dir rausschmeißt.“ Ein wenig verwirrt tat Kojiro auch hier wie ihm gesagt wurde, entledigte sich seiner Diensthandschuhe und schlüpfte in die dunkle Jacke des Kollegen hinein. Sie passte, war nur etwas zu groß, und er hielt sie sich über dem roten R seiner Uniform zusammen. Die Handschuhe stopfte er nur halbherzig in die Jackentaschen hinein. Kosaburo war derweil auf den Empfangsschalter zugegangen, wo ihm auch schon ein kleines Trasla entgegengeschwebt kam. In den kleinen Händen hielt es ein viel zu groß wirkendes Plastikkärtchen, welches es dem Mann überreichte, ehe es auch schon wieder zu der lächelnden Empfangsdame zurückkehrte. Diese verneigte sich kurz hinter ihrem Platz und ließ ein höfliches „Willkommen zurück“ verlauten. Der beurlaubte Rocket nickte nur zum Dank, dann blickte er noch einmal zu dem Kollegen zurück. „Kommst du nun, oder was?“   Wenig später hatten sie das Zimmer in der obersten, fünfzehnten Etage erreicht. Es lag linker Hand am Ende des hell erleuchteten, mit beigen Teppich ausgelegten Ganges: Zimmer D5. „Ach du…!“, stieß Kojiro überrascht aus, als der Kollege das Schloss entriegelt und die Tür geöffnet hatte. Dahinter kam ein fünfschrittlanger, breiter Flur zum Vorschein, welcher direkt in den Wohnbereich führte, dessen Ausmaß man bisher nur erahnen konnte. Doch es war sofort klar, dass dies kein Zimmer dritter oder zweiter Klasse war. „Schuhe aus“, forderte Kosaburo, während er diesem selbst nachkam. Er stellte seine Straßenschuhe an die Seite des Flures, schlüpfte in ein bereitstehendes Paar Hausschuhe und warf auch dem Kollegen welche vor die Füße, als deutliche Anweisung. Anschließend ging er auch schon voran in den Wohnbereich. Noch etwas neben sich stehend schlüpfte auch Kojiro schnell aus seinen Stiefeln und in die Hausschuhe hinein, ehe er dem Rivalen ins Wohnzimmer folgte. Und wie er bereits vermutet hatte, war es so groß wie drei Zimmer, die man in den Pokémon-Centern beziehen konnte. Wenn das überhaupt reichte. Mittig des Raumes, hinter der langen, dunklen Couch vor dem großen Flachbildfernseher nahe der Fensterseite, blieb er schließlich stehen und sah sich um. Auch dieses Zimmer war mit vielen stimmungsvollen Bildern an den Wänden ausgestattet, die vor allem das Meer und Entspannungsorte der Gegend als Motiv hatten. Auf der rechten Seite erkannte er eine angrenzende, offene Küche – vermutlich vielmehr eine offene Bar – mit Zugang zum Balkon, welcher sich über die halbe Zimmerlänge erstreckte. Linkerseits grenzte ein weiteres Zimmer an, er tippte auf das Schlafzimmer. Er wollte lieber nicht wissen, was ihn dort noch alles erwarten würde. „Das Badezimmer?“, wollte er wissen. „Im Flur.“ „Komplett?“ „Mit Dampfdusche und Whirlpoolwanne, Toilettenbereich abgetrennt.“ „Mann, sonst geht’s aber noch, ja?“ „Was denn?“, kam es von Kosaburo, der mit einer frisch angebrochenen Bierdose aus dem Kühlschrank in der Hand hinter der Bar in den Wohnbereich trat. Er nippte nur kurz an dem erfrischenden Feierabendgetränk, besah den Kollegen jedoch mit einem verständnislosen Blick. „Noch protziger ging es wohl nicht?“, sagte dieser zynisch, mit einem gewissen Neid im Unterton. Der Grünhaarige zuckte nur ungerührt mit den Schultern. „Krieg‘ dich wieder ein, es ist nur ein Zimmer.“ „Nur ein Zimmer?“, wiederholte Kojiro ungläubig und gestikulierte großzügig in den Raum hinein. „Das hier nennst du ‚nur ein Zimmer‘? Das ist eine Suite! Scheiße, wer bezahlt die?“ Kosaburo hob verdeutlichend eine Augenbraue. Im ersten Moment schien er nicht sicher zu sein, was er von der Reaktion des Rivalen halten sollte. „Ich könnte jetzt sagen, dass Sakaki-sama das Zimmer bezahlt. Du hast es vielleicht inzwischen vergessen, aber wenn man entsprechend Leistungen bringt, ist das Gehalt, das der Boss springen lässt, gar nicht mal so schlecht.“ Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, sie trafen Kojiro hart. Deprimiert ließ er den Kopf hängen und ballte ein weiteres Mal an diesem Tag die Hände zu Fäusten, während er vor sich zu Boden blickte. Mit einem Mal wurde ihm die notdürftige Situation seines Teams wieder bewusst. Dieser Lebensstandard war kein Vergleich zu dem, wie sie lebten. Sie konnten froh sein, wenn sie eine Nacht in einer zerfallenden Hütte trocken und windgeschützt verbringen konnten. Ihre Teams trennten Welten, so schien es ihm nun. „Willst ‘n Bier haben?“ Schweigen. Dann ein leises „Nein“. „Hm.“ Nachdenklich fuhr sich Kosaburo über das kurze Haar in seinem Nackenbereich. Auf dieser Basis konnte er mit dem anderen nichts anfangen. Verdammt, er hatte doch gewusst, dass er es früher oder später bereuen würde. Was hatte ihn nur geritten, diesen Versager mit zu sich zu nehmen? „Dann… geh duschen. Oder baden, wie du willst. Das wird dir gut tun“, sagte er schließlich und durchschritt das Wohnzimmer in Richtung Schlafraum. „Ich geb‘ dir Klamotten von mir, dann kannst du den Dreck von deiner Uniform waschen. Und schau nach deinen Verletzungen! Wenn du Desinfektionsmittel oder so brauchst, habe ich alles hier.“ Kojiro sagte nichts, anders hatte es Kosaburo auch nicht erwartet. Es dauerte keine zwei Minuten, bis er ein passendes Hemd und eine schlichte Stoffhose gefunden hatte, die er dem Kollegen letztlich in die Arme drückte. Mit einem „Handtücher und Waschzeug sind im Bad, bedien dich“ wies er ihn in Richtung Flur. „Wieso tust du das?“ Kurz blinzelte der Größere irritiert. Kojiro hatte so leise gesprochen, dass er nicht sicher war, ob er ihn richtig verstanden hatte. „Hm?“ „Wieso hilfst du mir?“, wiederholte der Blauhaarige seine Frage, nun etwas fester, und sah zu dem Rivalen auf. In seinen grünen Augen spiegelte sich Unsicherheit. „Wir sind keine Freunde, richtig?“ „Öhm, nein.“ Nein, nicht dass er wüsste. Glaubte er. Diese Frage irritierte ihn. „Ich kann dich auch immer noch wegschicken, wenn es das ist, was du willst.“ Schnell schüttelte Kojiro den Kopf. „Nein. Es ist nur… Ich dachte… Wir sind doch Rivalen“, erklärte er hastig. In seiner Stimme schwang Unmut mit. „Also eigentlich…“ Nun war es an Kosaburo, mit dem Kopf zu schütteln. Nein, diesen Kommentar würde er nicht vor ihm preisgeben. Also wandte er sich von dem Kollegen ab, sprach aber noch: „Im Moment habe ich Urlaub. Mit Team Rocket habe ich die nächsten zwei Tage nur das Nötigste am Hut. Und Yamato ist auch nicht hier, also kann ich tun und lassen, was ich will. Lass das mal meine Sorge sein.“ Es folgte eine kurze Pause zwischen ihnen. Und obgleich es an Kojiro gewesen wäre, etwas zu sagen oder zu tun, war es Kosaburo, der sprach, während er sich auf die Couch fallen ließ. „Aber ich warne dich: Erzähl jemandem hiervon, und ich mach‘ dich kalt!“   Kojiro war schließlich dem Rat des Rivalen gefolgt und mit den ihm anvertrauten Kleidungsstücken im Badezimmer verschwunden. Seine Wahl fiel auf die Dampfdusche, die ihm einfacher zu bedienen erschien als die Whirlpoolbadewanne. Doch während das warme Wasser auf ihn niederprasselte und der wohlig duftende Dampf seinen Körper umhüllte, quälten ihn Gewissensbisse. Er konnte nur hoffen, dass Musashi und Nyasu inzwischen einen sicheren Platz für die Nacht gefunden hatten. Gleich morgen Früh würde er das städtische Pokémon-Center aufsuchen in der Hoffnung, sie dort zu finden. Wenn nicht, würde es morgen ein nervenzehrender Tag werden, dessen war er sich sicher. Nur eine halbe Stunde später hatte er sein Bad beendet, war bereits in die geliehene Kleidung geschlüpft und kehrte nun in den Wohnbereich zurück, wo es sich Kosaburo inzwischen auf der Couch gemütlich gemacht hatte. Er hatte den Fernseher eingeschaltet und verfolgte irgendeine Krimisendung, von der Kojiro die Handlung noch nicht kannte. „Ich bin fertig“, sprach er den Kollegen zögerlich von der Seite an, woraufhin dieser nur kurz zu ihm aufblickte. „Gut. Brauchst du noch irgendetwas?“ „Ich… denke nicht.“ „Deine Verletzungen?“ „Nur Kratzer.“ Für einen Moment reagierte der Grünhaarige nicht weiter. Im Film hetzte der Held samt weiblicher Begleitung und ihrem Fukano durch dunkle Gassen. Weshalb auch immer. Dann erhob er sich. „Hast du sie schon desinfiziert?“ „Ähm… nein, nur gewaschen.“ „Hättest du gleich machen können. Im Bad steht eine Flasche mit Desinfektionsmittel. Setz dich.“ Brav befolgte Kojiro diesen Befehl und beobachtete, wie der Rivale in Richtung Badezimmer verschwand. Nur kurz darauf kehrte er zurück, bewaffnet mit einer weißen Flasche mit blauem Etikett in der einen und einer kleinen Tüte in der anderen Hand. Dem Agenten schwante Übles. „Okay, wo?“, verlangte Kosaburo zu wissen, legte die Tüte neben Kojiro auf der Couch ab und angelte einen hellen Wattebausch heraus, auf welchen er ein paar Tropfen des stechend riechenden Mittels träufelte. „Das muss nicht sein, ehrlich. Es ist alles okay“, versuchte sich Kojiro aus dem Vorhaben des Kollegen herauszuwinden. Der Gedanke, dieses brennende Zeug an sich heranzulassen, behagte ihm überhaupt nicht. „Wo?“, wiederholte Kosaburo seine Aufforderung und griff auch schon, ohne erst auf Erlaubnis zu warten, nach dem linken Arm des Rivalen. Dieser schreckte zusammen. „Nicht! Das ist wirklich unnötig!“ Doch alles Jammern nützte nichts. An seinem linken Arm wurde der Grünhaarige zwar nicht fündig, am rechten hingegen sehr wohl. Schon drehte er diesen so, dass die Oberseite zu ihm zeigte, und tupfte etwas unterhalb des Ellenbogens einen weiten Kratzer entlang. „Autsch! Hey, lass das! Ich kann mich selbst versorgen“, protestierte Kojiro und versuchte sich aus der gutgemeinten Behandlung des anderen zu befreien, doch dieser hielt ihn eisern fest. „Was ist mit deinem Knöchel? Es war doch der Knöchel, oder nicht?“ „Ist okay. Nur etwas verstaucht, aber nicht geschwollen. Wenn ich nicht gerade komische Figuren machen muss, tut es nicht einmal weh.“ „Wenn du ihn den Rest des Abends schonst, dürfte er morgen wieder okay sein. Belasten kannst du ihn ja.“ „Au…“ Dieser verdammte Kerl hatte die Kratzer auf Kojiros Handrücken entdeckt. Er hätte nicht gedacht, dass es so brennen würde, wenn man sie desinfizierte. In Kojiros Augen waren diese Verletzungen nebensächlich. Er trug ständig irgendwelche Kratzer und Blessuren davon, wenn das Team einen erneuten Freiflug von den Knirpsen einstecken musste. Es war nicht mehr der Rede wert, er war es gewohnt. – Doch nicht dieses verflixte Brennen! „Hab dich nicht so“, mahnte Kosaburo genervt und entließ den Arm seines Patienten, als er mit seiner Behandlung fertig war. Dieser zog den Arm sofort zurück und pustete sich wehleidig über den schmerzenden Handrücken, worüber er nur mit den Augen rollen konnte. „Sonst noch wo?“ „Nein.“ „Tu dir selbst den Gefallen“, predigte er und hielt dem Rivalen auffordernd die Flasche mit dem Desinfektionsmittel entgegen. „Nein, wirklich, mehr ist da nicht“, beteuerte Kojiro und wies die Geste zurück. Insgeheim war er sich sicher, dass der Kollege ihn nur durch diese unnötige Behandlung nötigte, um ihn zu quälen. „Wie du meinst.“ Damit erhob sich Kosaburo von seinen Knien und ging hinüber in die Küche, um sich des benutzten Wattebausches zu entledigen. Als er zurückkehrte, setzte er sich ohne einen weiteren Kommentar etwas abseits des Kollegen auf seinen Platz zurück. Mit der vorher angebrochenen Bierdose in der Hand, aus welcher er sich einen kräftigen Schluck gönnte, widmete er sich wieder dem Krimi im TV. Der Held hatte wohl derweil sein Fukano aus den Augen verloren. Zumindest rief er nun nach ihm. Bis das Bellen des Pokémon aus der U-Bahn-Station zu hören war, woraufhin der Held sofort die Stufen hinuntereilte. Er fand den Partner einer Gruppe von vier Zwirrlicht gegenüber, die so aussahen, als wollten sie ihnen aus irgendeinem Grund den Weg versperren. „Hey…“, machte sich Kojiro in dem Moment, als der Held seinem Fukano den Angriff befahl, leise bemerkbar und Kosaburo stöhnte genervt. „Was?“ „Also… ich wollte nur sagen… Dass du mich mitgenommen hast, war wirklich nett. Und auch, dass du mich hier schlafen lässt…“ „Oh, bitte. Verschone mich damit“, versuchte er das Unabwendbare zu unterbinden. Vergeblich. „Im Ernst. Auch wenn wir eigentlich Rivalen sind… Danke, Kosaburo.“  „Es heißt Kosa–“, wollte Kosaburo den üblichen Protest erheben, als er den Fehler selbst registrierte und sich mitten im Satz stoppte. „… Oh. Sch-schon gut, vergiss es.“ Verwirrt runzelte Kojiro die Stirn. Nur kurz war sein fragender Blick auf den des Kollegen getroffen, ehe dieser seinen Blick schnell wieder von ihm abgewandt hatte. Er räusperte sich anschließend kurz, nippte an seiner Dose und bemühte sich anscheinend, sich wieder auf den Film zu konzentrieren. Auf Kojiro wirkte die ganze Aktion so, als wäre dem Rivalen sein seltsames Verhalten selbst schnell peinlich geworden. Wirklich ein komischer Kerl. In dem Moment, im passenden Timing, knurrte Kojiros Magen. Kosaburo neben ihm stöhnte. „Oh, nicht doch…“ „T-tut mir leid“, entschuldigte sich Kojiro unnötigerweise und spürte, wie ihm die Hitze in die Ohren schoss. Dabei konnte er doch gar nichts dafür. „Ich habe seit gestern nichts mehr gegessen“, erklärte er kleinlaut. „Erwarte bloß nicht, dass ich jetzt extra wegen dir aufstehe und mich in die Küche stelle! Soweit kommt’s noch.“ Daraufhin lehnte sich Kosaburo halbherzig über die Couchlehne und tastete hinter sich auf dem Nachttisch herum. Als er die in Plaste gehüllte Karte zwischen die Finger bekam, ergriff er diese und hielt sie dem Kollegen entgegen. „Da, bestell dir was. Aber du bewegst dann deinen Hintern und gehst zur Tür, wenn es da ist! Und für mich bitte die 30, wenn du schon mal dabei bist.“   Der Abend verging. Der Krimi endete mit einem Happy End, indem der Entführer mithilfe der Stadtpokémon gefasst wurde und der Held mit seinem Fukano eine Ehrung erhielt. Kosaburo hätte sich mehr von dem Ende erhofft. Er überließ schließlich Kojiro die Fernbedienung und letztlich auch die Couch. Sein Bedarf an Fernsehen war fürs Erste gedeckt und für Comedy fehlte ihm die Lust. Also holte er stattdessen schon einmal Decke und Kissen aus dem Schlafzimmer, legte beides dem Kollegen für später bereit, und setzte sich anschließend an den Schreibtisch am anderen Ende des Raumes. Er schaltete dort den Computer ein und klickte sich ins Internet. Es gab da ein bestimmtes Buch, welches er schon lange einmal lesen wollte… Als er das nächste Mal auf die kleine Computeruhr in der rechten, unteren Bildschirmecke schaute, zeigten die Ziffern 21:53 Uhr. Mit einem gedehnten Stöhnen streckte er seine Glieder, ließ den Kopf einmal im Nacken kreisen, bevor er sich auf dem Stuhl in Richtung des Kollegen umwandte. Noch immer lief der Fernseher mit irgendeiner Comedyshow, zu der das Studiopublikum lachte und applaudierte, obgleich ihm die Witze eher flach erschienen. Doch von dem Kollegen war nichts zu hören. Nach einem kurzen Zögern erhob sich Kosaburo von seinem Platz und ging, die Hände in den Hosentaschen, zu der dunklen Couch hinüber. Hinter dieser blieb er stehen und blickte vorsichtig über die Lehne. Er entdeckte den blauhaarigen Kollegen in der Decke, welche er ihm zurechtgelegt hatte, eingemummelt und die Augen geschlossen. Das stetige Heben und Senken seiner Schultern verriet die gleichmäßige Atmung. Er war eingeschlafen. Leise seufzte er. Mit bedachten, leisen Schritten ging er um die Couch herum, musterte kurz das schlafende Gesicht des jungen Mannes, ehe er ihm vorsichtig die Fernbedienung aus den lockeren Fingern entnahm. Mit einem leisen Zupp schaltete er den Fernseher hinter sich aus und legte die Fernbedienung an ihren Platz auf dem Nachttisch neben der Couch. Anschließend dämmte er das Licht der einstellbaren Stehlampe, welche gleich hinter dem Tisch aufgestellt war, auf ein Minimum, bis nur noch ein schwacher Schein den Raum schemenhaft beleuchtete. Damit war der Abend wohl gelaufen. Ihm blieb nun keine andere Möglichkeit, als ebenfalls ins Bett zu gehen, wenn er Kojiro nicht unnötig aufwecken wollte. Doch stattdessen verweilte er noch für einen Moment an Ort und Stelle und blickte nachdenklich auf den jungen Mann herab, der dort mit bis zum Kinn gezogener Decke den Schlaf der Gerechten schlief. Ruhig, friedlich. Sein Gesicht wirkte so entspannt, frei von allen Sorgen. „Wieso hilfst du mir?“, hatte er gefragt. – Ja, wieso eigentlich? Kosaburo wusste es selbst nicht. Er hatte wohl einfach Mitleid mit dem armen Kerl gehabt. Mitleid, mehr nicht. Yamato durfte davon niemals etwas erfahren! ‚Rivalen‘, ging es ihm kurz durch den Kopf. Kojiro und er waren Rivalen. – Nein, das stimmte so nicht ganz. Eigentlich waren es nur Yamato und Musashi. Im Team waren sie Rivalen. Aber von Mensch zu Mensch, was waren sie da eigentlich? Freunde traf es wohl nicht ganz. Nicht wirklich. Aber Rivalen auch nicht. Irgendetwas dazwischen vielleicht? Die wirren Gedanken ließen Kosaburo unwillkürlich mit dem Kopf schütteln. Er wusste es wirklich nicht. Aber das war jetzt auch egal. Mitleid, mehr nicht. Vielleicht noch ein wenig Sympathie, vielleicht. Aber in erster Linie war es Mitleid gewesen, ganz sicher. Und das würde ihm ganz gewiss nicht noch einmal passieren. Vorsichtig beugte er sich zu dem Schlafenden hinunter und hauchte ein sanftes „Oyasumi“ in Richtung seines Ohres. Dann wandte er sich zum Gehen, schaltete noch im Vorbeigehen den Computer aus und verschwand anschließend im Schlafzimmer. Mitleid, mehr nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)