Zum Inhalt der Seite

The World Ends with You

Another Game
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Da dieses Kapitel unwahrscheinlich groß geworden ist, hab ich es in drei etwa gleichgroße Teilkapitel aufgeteilt. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Tag 1

Tag 1
 

Er wachte am Scramble Crossing auf. Natürlich. Alle wachen am ersten Tag hier auf. Sein Handy klingelte. „Eine Kurzmitteilung“ stand auf dem Display seines Motorola. Er hätte nicht nachsehen müssen, tat es aber trotzdem. „X=42+62. t = 120 min. Unvollständige werden ausgelöscht. “.

Die Art der Aufgabenstellung war ihm nicht neu, also verstand er sofort, was zu tun war. Zu 104 zu kommen, auch das war ihm nicht neu. Auch nicht, dass ein starkes Zwicken in seiner Handfläche ankündigte, dass ein digitaler Timer nun von 2 Stunden bis 0 runterzählen würde. Auch nicht, dass er sich erstmal westlich hielt. Zu Hachiko, da musste er hin. Dort werden immer Pakte geschlossen. Früher oder später würde ein starker Partner dort vorbeikommen und er würde einen Pakt mit ihm formen.
 

Er holte den Playerpin aus der Hosentasche. Einmal in der Hand wenden – und schon hörte er unzählige Stimmen um sich herum. „Als würde man alle Radiokanäle auf einmal hören.“ dachte er sich und grinste dabei etwas in sich hinein. Er wusste, dass es gut so war. Aber deswegen scannte er die Leute nicht. Er hielt Ausschau nach einem anderen Spieler außer sich selbst. Die Gedanken eines anderen Spielers würde er nicht hören können. Angelehnt an der berühmten Statue des Hundes Hachiko wartete er. Und wartete. Und wartete… er hatte schon Angst, dass sich kein weiterer Spieler finden würde. Er hatte gehofft, wählen zu können, doch nun schien es, er müsse nehmen, was komme. Schließlich waren von den 2 Stunden nur noch 1 h und 12 min übrig.
 

Krach. Ein Kreischen. Ein Mensch, der zwischen den hektisch gehenden Leuten hindurch rannte. Keine Stimme. Ein Spieler. Verfolgt von ein paar übergroßen Fröschen mit merkwürdigen Beinen. „Dixiefrogs… natürlich.“ dachte er sich. Das Spiel sowie Shibuya selbst – alles war beim Alten. Gut. So hatte er diesmal einen Heimvorteil. Nicht so wie beim letzten Mal, wo er sich panisch verhielt, so wie das Mädchen, das vor den Frosch-Noise davonlief.
 

Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ihr zu helfen, beobachtete er sie intensiv. „Natural Puppy.“ vermutete er. Nicht sein Fall. Und wahrscheinlich auch kein guter Partner. Was er wollte, war ein knallharter Typ. Jemand mit Tiger Punks- oder Wildboar-Klamotten, wie er selbst sie trug, würde wohl tough genug sein. Aber keine Natural Puppy-Prinzessin.

Weitere Beobachtungen: Fluchtverhalten. Nur wegrennen oder „Ksshhh!“-zischen. Kein Angriffsverhalten. Schlechte Einstellung. „Die wird es nicht lange machen.“ dachte er sich.

Sie rannte an ihm vorbei, immer noch verfolgt von Fröschen.

„Wumms…“ dachte er sich. „Wumms“ machte es, als das Mädchen hinfiel, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Er wusste, dass genau das der Fall war. Ihr Blick huschte an ihm vorbei, als sie sich wieder aufraffte. Und sie schien zu merken, dass er sie beobachtete.
 

„Hey, du da, bei Hachiko, kannst du mich etwa sehen? Hilf mir doch!“ rief sie ihm zu.

Die verschränkten Arme löste er und steckte sich die Hände in die Hosentaschen.

„Ich kann dich sehen, aber helfen kann ich dir nicht. Such dir jemand anderes.“ sagte er eiskalt.

„WAS? Warum kannst du mir nicht helfen? Siehst du diese Dinger etwa nicht?“ schrie sie und wich gerade so einem Frosch aus.

„Ein Spieler allein kann so gut wie gar nichts gegen Noise anrichten. Die wirst du nur los, wenn du mit einem anderen Spieler einen Pakt schließt.“ erklärte er ihr mit unendlicher Gelassenheit, ohne auch nur einen Finger zu rühren.

„Dann schließ doch einen Pakt mit mir! Du bist doch auch ein Spieler, oder nicht?“

„Ich werde keinen Pakt mit dir schließen. Jemand wie du wäre mir nur ein Klotz am Bein. Was ich brauche ist ein starker Kampfpartner, keine weinerliche Göre. Ich sagte doch schon, such dir jemand anderes.“

Er wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen und sie ihrem Schicksal überlassen, als er selbst ein Ziehen in der Schulter spürte. Dixiefrogs. Jetzt griffen sie auch ihn an. Weg hier.
 

„Hey, was machst du? Wo willst du hin?“ brüllte die Kleine ihm hinterher.

„Weglaufen, bis ich einen Partner finde. Was anderes bleibt mir nicht übrig. Dir übrigens auch nicht.“ rief er ihr über die Schulter zurück.

„Doch, wie wäre es, wenn du einen Pakt mit mir eingehst?“ sagte sie leicht gereizt und schlug denselben Fluchtweg ein, wie er.

„Ich hab dir schon gesagt, dass ich dich nicht als Partner haben will. Und jetzt hör auf, mir hinterher zu rennen!“

„Ich renn dir solange hinterher, bis du endlich einen Pakt mit mir eingehst! Wenn du nicht bald vernünftig wirst, bedeutet das für uns beide den Tod!“

„Hat die überhaupt ne Ahnung, wovon sie da redet?“ dachte er sich genervt.
 

Und dann waren sie überall, die Dixiefrogs. Sie waren umzingelt. Er hatte nicht gemerkt, dass sich auf seiner Flucht immer mehr Artgenossen zu seinen kleinen grünen Verfolgern gesellten. Jetzt war ihre Zahl nicht mehr überschaubar und sie kamen von allen Seiten. Entkommen war unmöglich, Pins einsetzen nicht hilfreich. Das Natural Puppy-Mädchen stand hinter ihm. Ein Pakt würde beide aus dieser Misere holen, aber für ihn stand fest, dass SIE nicht sein Partner wird. Aber hatte er jetzt noch die Wahl?

„Nun sei nicht so stur! Ein Pakt mit mir wird dich schon nicht umbringen. Die hier dagegen schon!“

„Weiß sie wirklich nicht, was Phase ist, oder reißt sie diese Wortspiele absichtlich?“ dachte er sich.

Die Dixiefrogs kamen näher. Ein kleines Meer aus Fröschen bildete sich ringsum die beiden Teenager. Wie auf Kommando setzten alle auf einmal mit einem Sprung zum Angriff an.
 

„Ja, ich schließe einen Pakt mit dir!“ Helles blaues Licht umhüllte die beiden und erfüllte sie mit einem Gefühl der Entspannung. Als das Licht erlosch, waren statt der Frösche nur ganz viele schwarz-rote Symbole in der Luft, die dann nacheinander langsam verschwanden. Ein Symbol ganz dicht an seiner Schläfe verriet ihm, dass es echt knapp war. Erleichtert sank das Mädchen zu Boden und atmete erstmal tief durch.

„Man, das hättest du dir echt schon früher überlegen sollen.“ sagte sie zu ihm hoch. Und innerlich leise Flüche sprechend fragte er sich, ob es nicht doch eine Fehlentscheidung war.

„Bist du jetzt wenigstens glücklich?“ fragte er ohne wirkliches Interesse. Sie stand auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern. „Nun ja, wir sind immer noch am Leben, das ist es doch, was zählt, oder?

Nach diesem Satz steigerte sich seine Aggression auf dieses Mädel noch mehr, doch bevor er etwas sagen konnte, plapperte sie schon weiter: „So, und was machen wir nun, >Partner<?“

Das ließ ihm den Kragen platzen, dennoch blieb er ruhig, so ruhig, wie es ging.

„Hast du die SMS nicht gelesen?“

„Welche SMS?“ fragte sie unschuldig.

„Weißt du überhaupt, was hier abgeht? Was hier für ein Spiel gespielt wird???“

„Meinst du dieses Spiel der Reaper? Klar weiß ich davon. Bin ja nicht blöd. Und wenn du diese Spam-SMS von vorhin meinst, die hab ich gelöscht.“

„Ach wirklich? Sieh noch mal nach.“ Sagte er, nur um ihr wenigstens auch mal eins auszuwischen.
 

Natürlich erschrak sie, als die SMS immer noch da war.

„Wenn wir nicht das tun, was die uns jeden Tag per SMS auftragen, werden wir ausgelöscht. Ich denke, du weißt Bescheid?“

„Wir-wir werden ausgelöscht? Wie denn das? Davon weiß ich nichts!“

„Anscheinend hat Megs mal wieder nicht alles an Informationen, die zum Überleben des Spiels notwendig sind, rausgerückt.“ murmelte er in sich hinein.

„Huh? Wovon redest du? Wer ist Megs?“

„Megumi Kitaniji, der Conductor. Der Typ mit den roten Kopfhörern und der peinlichen Sonnenbrille. Der Typ, der dich in die Spielregeln eingewiesen haben müsste.“

„Achso, der. Na ja, viel hat er mir nicht erzählt. Nur, dass ich mir jemanden suchen und eine Woche lang irgendwelche Aufgaben zu erledigen habe. Und ein paar Pins hat er mir gegeben… . Keine Ahnung, warum.“

„Das… ist echt nicht viel. Typisch, Megs. Also weißt du auch nicht, was auf dem Spiel steht?“

„Nein. Wieso, was denn?“
 

Jetzt hatte er ein scheiß Gefühl in der Magengegend. Er müsste ihr sagen, dass sie tot ist, und dass sie um eine zweite Chance spielt. Aber könnte er das so einfach? Wie würde sie reagieren? Er hatte keine Wahl, als ehrlich zu sein.

„Du… nein. An diesem Spiel nehmen nur Leute teil, die… gestorben sind. Du spielst um eine Zweite Chance. Der Einsatz um teilzunehmen ist grundsätzlich das, „was einem am meisten bedeutet“.“

Sie reagierte geschockt, zu seinem Erstaunen aber nicht panisch oder hysterisch.

„Leute, die… gestorben sind? Soll das heißen… ich bin tot?“

„Mhm.“

„Aber wie… ich steh doch hier, mit dir. Und all diese Leute…“

„Können uns nicht sehen. Nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen, gar nichts. Das ist dir doch aufgefallen, oder?“
 

Schweigen. Nur das leise Ticken der Timer unterbrach die Stille.

„Die Timer!“ fiel es ihm plötzlich wieder ein.

„Was ist damit?“ fragte sie geistesabwesend und missmutig.

„Sie zeigen uns an, wie viel Zeit wir noch für die Mission übrig haben. Wir haben noch 34 Minuten! Komm, wir müssen uns beeilen! Wir müssen zu 104!“

„Sagt wer?“

„Na die SMS! Da steht drin, was unsere Mission für jeden Tag ist. Wenn wir die Mission nicht erledigen, war es das für uns. Jetzt komm schon!“

„Warum willst du auf einmal, dass ich mitkomme? Geh doch allein. Vorhin wolltest du mich so schnell wir möglich loswerden.“

„Das ist, weil-… weil wir jetzt Partner sind, ob’s uns gefällt oder nicht. Wir müssen zusammenbleiben, bis die Woche und das Spiel vorbei sind. Alleine sind wir aufgeschmissen.“

„Aha, wir „müssen“. Das ist also alles immer noch nichts weiter als ein Mittel zum Zweck, was? Etwas Rücksicht für deinen „Partner“ kannst du nicht aufbringen? Ich bin tot, das hast du mir gerade gesagt! Darf ich das nicht mal einen Moment lang verarbeiten???“

Jetzt war sie doch aufgebracht. Sie hatte Tränen in den Augen.
 

„Vergiss nicht, dass ich genauso tot bin, wie du. Reiß dich ein bisschen zusammen. Wenn du wieder leben willst, dann sollten wir die Beine in die Hand nehmen und uns zu 104 begeben.“ sagte er etwas leiser, ohne sie dabei anzusehen.

Kurze Stille.

Immer noch mit feuchten Augen blickte sie kurz zu ihm hin. Er stand mit verschränkten Armen von ihr abgewandt, so dass sie sein Profil sah, welches ein Pokerface zierte. Er blickte kurz auf seine Handfläche.

„Noch 26 Minuten… spätestens wenn der Timer bei 20 Minuten ist, möchte ich los. Das dürften wir noch schaffen.“

„Nein, schon gut. Lass uns gehen.“ sagte sie und ging an ihm vorbei Richtung 104.
 

Kurz vor ihrem Ziel hielt er beim Laufen immer die Hand nach vorne ausgestreckt. Das sah zwar dämlich aus, diente aber wohl einem bestimmten Zweck.

„Was machst du da? Willst du Geister beschwören? Hier steht doch schon einer neben dir.“ scherzte sie sarkastisch. Sie lief etwa einen halben Meter vor ihm.

„Nein, ich will mir nur nicht den Kopf an einer unsichtbaren Mauer stoßen.“

„Unsichtbare Mau-“ Rumms.

„Genau so eine.“

„Au… warum hast du mich nicht gewarnt? Was soll das, gehört das zu diesem Spiel? Wie sollen wir so zu 104 kommen?“

„Schau dich um. Hier müsste irgendwo n Typ mit nem roten Kapuzenpulli und Basecap rum stehen. Der kann die Mauer für uns öffnen.“

„Ich denke, uns kann niemand sehen? Warum sollte uns also jemand hier durchlassen?“

„Das trifft nur auf die noch Lebenden zu. Alle, die Teil des Spiels sind, können uns sehen. Das heißt: andere Spieler, Reaper, der Game Master, der Conductor und der Composer. Die Typen mit den roten Kapuzenpullis sind auch Reaper.“

„Achso… du… bist ganz schön gut infomiert.“

„Ich spiel das Spiel bereits zum 2. Mal, deswegen. Da drüben ist er.“ sprachs und lief in Richtung des rot bekapuzten. Sie stand noch ein paar Sekunden mit halboffenem Mund rum, bevor sie ihm folgte.
 

„Öffne uns den Weg zu 104, ja?“ sprach er den Reaper an, ohne um den heißen Brei rumzureden.

Gelassen entgegnete dieser: „Pakt bestätigt. Tut was ich sage und ihr dürft passieren. Besiegt die paar Noise hier.“

„Wir müssen kämpfen? Ich kann nicht kämpfen!“ sagte sie ohne dabei großartig zimperlich zu erscheinen.

„Seid ihr bereit?“ fragte der Reaper.

„Nein! Wart mal ne Sekunde. Ich erklär’s dir. Hol mal die Pins raus, die dir Megs gegeben hat.“

„Warum das? Soll ich die Gegner damit bewerfen oder was?“

„Nein, du musst die Psychs der Pins benutzen. Mal sehen… das hier ist der Player Pin, den kannst du wegpacken. Mit dem kann man nicht kämpfen…“

„Hä, was? Was ist ein „Pseik“ und wie benutz ich das?“

„Psychs sind die Kräfte, die einem Pin innewohnen und die wir freisetzen müssen, um zu kämpfen. Der hier… mit der Flamme. Steck ihn dir irgendwo an die Kleidung. Mit ihm-“

„Wo denkst du hin? Ich trage keine Pins, ich find die hässlich! Das ist gar nicht mein Style!“ zeterte sie rum. Böser Blick von ihm. Der Reaper schien die Gelassenheit in Person zu sein.

„Du kannst einen Pin nur einsetzen, wenn du ihn trägst. In der Hosentasche nützt er dir nichts und ohne Pins kannst du nicht kämpfen. Du musst ihn ja nicht so offen tragen und uns sieht eh so gut wie niemand.“

„Nuuh… na gut. Also, wie geht das?“ fragte sie kaum begeistert.

„Also… mit diesem Pin erzeugst du eine Flammenlinie, mit denen du den Gegner schadest. Stell dir einfach vor, wie sich eine brennende Linie über den Boden zieht.“

„Das ist alles? Klingt kinderleicht.“

„Einen Haken gibt es. Die meisten Pins haben ein Limit, wie oft oder wie lange sie eingesetzt werden können. Ist das Limit erreicht, können sie nicht mehr benutzt werden. Du musst dann warten, bis sie sich wieder nachgeladen haben. Das dauert meist nur ein paar Sekunden. In der Zeit solltest du dich aufs Ausweichen konzentrieren.“

„War’s das?“

„Fürs Erste schon. Da wir noch Tag 1 haben, dürften die Gegner nicht so stark sein. Solltest du es also vermasseln, krieg ich die Gegner wohl noch alleine klein.“

„Was soll das denn bitte heißen? Du hast ne ganz schön große Klappe!“ erwiderte sie entrüstet.

„Nein, nur einiges an Erfahrung in diesem Spiel. Es kann losgehen.“
 

Und es ging los, beide wurden auf ihre Ebenen teleportiert. Mit zwei Dixiefrogs hatten sie es zu tun. Er verlor keine Zeit. Uppercut, Gravemarker, Uppercut, Gravemarker, ein paar Shockwaves, schon war der erste weg. Zum Zweiten brachte ihn ein Teleport-Psych, auf den eine Vacuum Blade folgte. Aber es war das letzte Bisschen Flamme aus ihrem Pin, der den Frosch traf und ihn auch besiegte. Im nächsten Moment waren beide wieder auf der Hauptebene des Undergrounds.

„Wow, was ist passiert? Das ging alles so schnell! Wo sind die Gegner hin?“ fragte sie vollkommen verwirrt.

„Keine Sorge, wir haben gewonnen.“ beruhigte er sie und hatte ein leichtes Grinsen auf dem Gesicht. „Dürfen wir jetzt durch?“

„Aufgabe gelöst. Wand beseitigt.“ Die übliche Floskel der Reaper, dann ging er einfach los nach irgendwo.

„Äh? Lässt der uns jetzt einfach hier so stehen? Hat der kein Benehmen oder was? Was war los, klär mich mal auf!“

„Ich erklär dir alles später wenn du willst, wir haben nur noch 7 Minuten. Komm, Beeilung!“

Bis zu 104 rannten sie. Vor dem Eingang des riesigen Einkaufsgebäudes auf der Ecke hielten sie und verschnauften.

„So, wir sind da… *huff*huff* und was nun?“ fragte sie leicht außer Atem.
 

„Jetzt heißt es 8ung und aufgepasst, ihr hohlköpfigen Binome, oder ihr werdet einfach wegsubtrahiert! Zetta unkalkuliert von euch, schon am ersten Tag hier aufzukreuzen. Gerade von dir hätt ich nen intelligenteren Rechenweg erwartet.“ tönte die Stimme eins jungen Mannes über ihnen.

Auf der Markise über dem Eingang von 104 stand ein Typ mit schwarzem Mantel, dunkler Haut, schwarzem Basecap mit rotem Kopftuch drunter.

„Sieh mal einer an. Hast es wohl doch schon zum Game Master gebracht, oder was, Minamimoto? entgegnete er dem Typ auf der Markise.

„Negativ, Idiot. Megs, die Wurzel dieser Gleichung, ist diese Woche GM. Aber er hat den irrationalen Plan, jeden Tag einen anderen Reaper als Proxy-GM einzusetzen. Man, wo ist die Schönheit darin?“

„Vielleicht will er einen Wettkampf draus machen um zu sehen, wer die Besten Aufstiegschancen hat.“

„Wettkämpfe sind doch totaler Müll. Bam! Auf den Haufen damit!“ sprach er und schlug sich bei „Bam“ mit der einen Faust in die andere Hand. „Und nun zu euch…“ mit einem Sprung gelang er von der Markise zu den beiden Spielern. Mit einem Grinsen zeigte er auf beide und sagte: „Mit welcher Zahl muss ich euch zwei dividieren, um eure Überlebenschancen diese Woche zu bekommen?“

„Was redet der da, wer ist das überhaupt? Kennt ihr euch?“ fragte sie, leicht verwirrt ob der merkwürdigen Ausdrucksweise ihres Gegenübers.

„Das ist Sho Minamimoto, ein hochrangiger Reaper. Ich kenn die Lösung nicht, sags mir. Ich bin gespannt.“

„Das Ergebnis = 0!“ rief er und machte dabei eine Geste wie ein verrückter Wissenschaftler, der die Weltherrschaft an sich reißen will.

„Aber durch Null teilen geht nicht, das ist nicht möglich.“ bemerkte sie.

„Das ist vollkommen korrekt, meine clevere Schönheit! Es ist unmöglich, dass ihr diese Woche überlebt - was zu beweisen wäre!“ und er hob seine Hand. Um ihn herum tauchten mehrere große Noise auf. Sein erhobener Arm wollte gerade zu ihnen herunter sinken, als ein Handy klingelte. Shos Handy. Der Anruf schien ihn zu zwingen, die Konversation mit den beiden ab- und selbst aufzubrechen. Die Noise verschwanden.

„Diesmal habt ihr echt Glück gehabt. Aber der Bruch lässt sich noch weiter kürzen, meine Berechnung enthält also ein weiteres Wiedersehen mit euch. Bis dahin bleibt ihr hoffentlich konstant im Spiel, hört ihr? Bis dann, ihr Dreifachnullen.“
 

„FREAK!“ sagte sie vollkommen entgeistert, sobald er außer Sichtweite war.

„Aber er hat Recht. Wir haben Glück, dass wir es nicht mit seinen Noise aufnehmen mussten. Das wär nicht leicht geworden und außerdem hatten wir fast keine Zeit mehr.“

„Wo du es grad erwähnst, der Timer auf meiner Hand ist ja weg!“ fiel es ihr nach einem Blick auf die Hand auf.

„Gut. Das bedeutet, dass die Mission erfolgreich abgeschlossen wurde. Für heute sind wir sicher.“

„Hört sich nach ner guten Nachricht an. Wie geht’s jetzt weiter?“

„Jetzt… warten wir die morgige Mission ab.“ sagte er, verschränkte die Arme und blickte mit wieder ernster Miene der langsam untergehenden Sonne entgegen.

Erst war sie etwas sauer, dass er schon wieder keinerlei Interesse an etwas anderem als dem Spiel der Reaper zeigte, dann fiel ihr aber etwas ein.

„Hey… wir hatten noch nicht die Gelegenheit. Ich bin Reiko. Meine Freunde nennen mich Rei. Und wie heißt du?“

Sie hielt ihm mit einem aufrichtigen und freundlichen Lächeln die Hand hin. Er blickte sie kurz aus den Augenwinkeln an, dann wieder zur Sonne.

„Shuyin.“
 

Ende Tag 1 „Begegnung“

Tag 2

Lautes Rattern und das Quietschen von Bremsen, die einer großen Maschine gehören mussten, weckten ihn. Schnell erkannte er, wo er war: bei der Bahnhofsunterführung. „Prinzesschen“, wie er sie bereits in seinem Kopf nannte, war noch nicht wach. Das sollte sich ändern, auch, wenn die Mission noch nicht rein gekommen ist. Er machte keine Anstalten, sich zu bücken. Ein paar Stupse mit dem Fuß taten es auch. Ein paar viele Stupse.
 

„Uah…. hey, was ist los? Wo sind wir hier und was mach ich auf dem Boden?“ fragte sie verschlafen.

„Wir sind hier in der Bahnhofsunterführung vom Westbahnhof.“ sprach er mit verschränkten Armen auf sie herabblickend.

„Wie denn das? Wir waren doch grade eben noch bei 104? Oder nicht?“

„Wir waren bei 104 – und zwar gestern. Es ist bereits der 2. Tag dieser Spielwoche.“

„Aber… wie kann das sein? Wir waren doch gerade-“ stotterte sie.

„Wir waren GESTERN bei 104. Bis wir die Mission erledigten. Das ist nun mal so. Nachdem eine Mission erledigt wurde, fallen alle Spieler, die noch im Spiel sind, in eine Art Schlaf und wachen dann am nächsten Tag irgendwo anders auf, kurz bevor die nächste Mission reinkommt.“

Und wie auf Kommando klingelte bei beiden das Handy. Sie war schneller am Apparat.

„>Erlöse Cat Street von den bösen Geistern. Zeitvorgabe: 60 min. Scheiternde treten ihrem Schöpfer gegenüber.<… sollen wir Geisterjäger spielen, oder was? Die erwarten doch nicht, dass ich das Ernst nehme.“

Zinnnnng! Der Timer war da.

„60 Minuten?! Cat Street ist am anderen Ende von Shibuya! Selbst wenn wir rennen, brauchen wir mindestens 15 Minuten bis dahin! Und dann auch noch alle Noise besiegen… Komm, wir müssen los!“ hetzte er rum, und er sah aus, als ginge es um Leben und Tod – ging es ja auch.

„Noise besiegen? Ist das die Aufgabe?“ fragte sie, noch vergleichsweise ruhig.

„Ja, ist es. Die drücken sich gern in Rätseln aus, aber das wird es sein! Komm schon, uns rennt die Zeit davon!“
 

Und da rannten sie auch schon los. Glücklicherweise kannte er sich in Shibuya gut aus und nahm gleich den kürzesten Weg; sie folgte ihm auf den Fuß, blieb aber stehen, als sie an einem Laden vorbeikamen. Ein Schaufenster beim Shibuya Department Store erregte ihre Aufmerksamkeit. Er bemerkte etwas spät, dass sie anhielt. Er ging nicht zurück, sondern rief ihr quer über die Straße zu, sie solle sich doch beeilen. Weiter ging es. Für gewöhnlich rannte er voraus, doch nachdem sie Towa Records hinter sich ließen, überholte sie ihn. „Komm schon, du lahme Ente, ich denke wir haben keine Zeit!“ scherzte sie ihm über die Schulter zu und streckte ihm frech die Zunge entgegen. Er sah ihr an, dass sie sich bereits genauso abgehetzt hat, wie er – dennoch schien es ihm, dass es ihr irgendwie Spaß machte, sich so abzuhetzen. Ein Verhalten, was ihm vollkommen unverständlich war. Außerdem wunderte er sich, wie sie mit diesem Kleid rennen konnte – schneller als er.
 

Endlich kamen sie bei Cat Street an. Beide mussten erstmal verschnaufen.

„13 Minuten vergangen… wir waren gar nicht mal so schlecht. Und das, obwohl Prinzesschen einen Schaufensterbummel einlegen wollte.“ stichelte er.

„Entschuldige, bitte, Herr >Ich mach immer alles Richtig<“ stichelte sie zurück. „Aber das musste einfach mal sein…“ fügte sie leise hinzu – so leise, dass er es nicht mitbekam.

„Ruhen wir uns etwas aus, bevor wir loslegen. Sag mir Bescheid, wenn der Timer 45 Minuten schlägt.“ sagte er und setzte sich prompt auf den Boden, in eine Haltung, als ob er meditieren würde.

„Wie? Gerade eben hast du noch Panik geschoben und jetzt machst du wieder einen auf cool? Kannst du dich mal entscheiden?“

„Ich sagte doch, ich will mich ausruhen. So abgehetzt können wir keine vernünftigen Kämpfe führen. Du kannst ja mal währenddessen die Gegend nach Noise abscannen.“

„Wie mach ich das?“

„Wende den Player Pin einmal in der Hand.“

Sie erinnerte sich sofort, dass der Playerpin der Schwarze mit dem weißen Totenkopf war. Einmal wenden… und alles um sie herum hatte einen Blauton angenommen – und viele rote Symbole hingen plötzlich in der Luft. Sie erschrak und kreischte kurz auf.

„Ahh! Da sind auf einmal so viele rote Dinger! Und ich höre Stimmen! Was soll ich tun?“

„Nichts. Die roten Symbole sind die Noise. Solange du keins von ihnen berührst, passiert nichts. Und die Stimmen sind die Gedanken der Lebenden.“ sagte er, immer noch im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen.“

„Das sind ziemlich viele von den Noise-Symbolen… müssen wir gegen alle von denen kämpfen?“ sagte sie und war sichtlich eingeschüchtert.

„Ja… die ganze Straße muss gesäubert werden. Wir werden Kettenkämpfe machen müssen, das geht schneller. Steck dir mal den grünen Pin mit der orangefarbenen Dose an.“

Sie tat, wie ihr befohlen. „Wozu soll das gut sein? Ach, der Timer steht bei 45 Minuten.“ fragte sie.

Er richtete sich wieder auf und stellte zu seiner Verwunderung fest: „Du legst den Pin ohne Widerworte an?“

Ihre Miene verfinsterte sich etwas, aber sie blieb ernst und sachlich: „Das mit den Pins geht mir zwar immer noch gegen den Strich, aber… alles, was du mir bisher gesagt hast, hat sich als richtig und hilfreich herausgestellt. Du wirst dir schon was dabei denken. Ich… vertraue dir. Ich kann ja nur dir Vertrauen.“

Diese Worte brachten ihm etwas ins Gedächtnis, was in genau dem Moment jemand in ihrer Nähe aussprach.

„Richtig Mädel. Dein Partner ist der Einzige in diesem Spiel, dem du vertrauen kannst. Also vertrau ihm.“
 

Ein schlanker Mann mit Drei-Tage-Bart, modischer Brille und Frisur, weißen Hemd und dunkler Jackett-Weste drüber, stand plötzlich bei den beiden.
 

„Hanekoma?!“ entglitt es ihm.

„Kommt selten vor, dass ein Spieler so schnell von alleine die wichtigste Überlebensregel vergisst. Oh, was haben wir denn hier? Mal wieder im Spiel, Grunty?“ entgegnete der Mann ihm fröhlich.

„>Grunty<?“ fragte sie laut, und ein Anflug eines Grinsens lag ihr im Gesicht.

„Ich heiße Shuyin, nicht Grunty. Hör auf, mich so zu nennen, Hanekoma… .“

„Oh ja, Sorry. Mein Fehler. Kommt nicht wieder vor, Grunty.“ meinte Hanekoma und griff sich dabei in den Nacken.

„Wer ist das? Kennt ihr euch?“

„Ja, der Kleine hier hat mich früher hin und wieder um Rat gefragt. Ist auch einer der wenigen Kunden in meinem Café.“ meinte Hanekoma und knuffte ihn freundschaftlich gegen den Oberarm. Angesichts der Tatsache, dass er einen halben Kopf größer als Hanekoma war, wirkte das mit dem >Der Kleine hier< etwas lächerlich.

„Oh, Sie haben ein Café?“ bemerkte sie positiv überrascht.

„Oh, ja. Das Wild Cat, gleich hier um die Ecke. Ziemlich hip, findest du nicht? Was treibt euch denn hierher?“

„Was wohl? Ne Mission. Alle Noise in Cat Street ausradieren. Wir haben nur noch… (Blick auf den Timer) 41 Minuten.“

„Oh, dann will ich euch mal nicht länger aufhalten. Ich wünsch euch viel Erfolg. Haut rein, ihr Zwei. Wenn ihr fertig seid, kommt doch mal in meinem Café vorbei. Ich lad euch auf ne Tasse House Blend ein – kostet nur 680 Yen, Hahaha.“

„Ich denk, es is ne Einladung…“ dachten sie sich gleichzeitig.

„Naja, wir sollten wirklich keine Zeit verlieren. Der Pin mit der Dose… tippe ihn an, wenn du dich zu erschöpft fühlst, um weiterzukämpfen. Er wird dich wieder zu Kräften bringen. Aber setze ihn mit Bedacht ein.“

„Verstanden.“ nickte sie. „Und wie war das mit den Kettenkämpfen?“

„Wenn wir die roten Symbole berühren, startet ein Kampf gegen Noise. Wenn wir mehrere Symbole schnell hintereinander antippen, folgen die Kämpfe ohne zeitliche Verzögerung. Bereit?“
 

Sie war bereit. Einmal den Player Pin wenden und schnell 4 rote Symbole angetippt und die Kämpfe gingen los. Kleine Fische soweit; nur Dixie-frogs und Garage Wolfs. Nach der ersten Viererkette erkundigte sich Shuyin: „Alles klar? Musstest du den Dosenpin einsetzen?“

„Nein, war nicht nötig. Es kann weitergehen.“ sagte sie, und war nur leicht außer Atem.

„Gut, dann erhöhen wir die Kette mal um eins.“

Auch die Fünferketten überstanden sie. Bei Fünferketten beließen sie es auch. So kamen sie mit der Menge der zu besiegenden Noise ganz gut klar. Die meisten Gegner erledigte zwar er, aber auch sie besiegte den ein oder anderen. So waren sie, als der Timer auf noch 11 Minuten stand, mit dem letzten Noise-Symbol der Cat Street fertig. Beide waren recht erschöpft, hätten aber noch weitere Kämpfe bestreiten können.

„Das war der letzte…“ keuchte sie. Ein Blick auf die Hand – der Timer war weg.
 

„Meinen Glückwunsch. Der allmächtige Herr war euch offenbar gnädig.“ tönte eine butterweiche, aber desinteressiert und emotionslos klingende Stimme hinter ihnen.

Beide erschraken und drehten sich zu der Stimme um. Da stand ein Junge, nicht älter als Shuyin mit sehr kurzem Haar und ganz einfachen hellblauen Klamotten. Scheinbar war er nicht japanischer Abstammung. Er trug eine Kette mit einem Kreuz am Hals und hatte die Hände permanent wie zum Gebet zusammengefaltet.
 

„Was bist du denn für einer?“ fragte Shuyin und war sich jetzt schon sicher, diesen Kerl nicht zu mögen.

„Mein Name ist Yashoro. Ich bin heute der Proxy-GM und für die göttliche Mission zuständig, die ihr soeben erledigt habt. Mir scheint, der Große Herr hat auch euch noch den Eintritt in die heiligen Himmel verwehrt. Wie Schade.“ sprach er weiter mit tonloser Stimme.

„Was will der Spinner von uns?“ fragte sie, die sich doch sehr über dieses sonderbare Verhalten und Gerede des Proxy-GMs wunderte.

„Ich bin ein Diener und Botschafter des Heiligen Vaters auf Erden. Meine göttliche Mission ist es, in diesem Spiel die verirrten Seelen der Schäfchen, die sich noch zu sehr an das irdische Leben klammern, auf ihre Letzte Reise zu schicken und ihre letzten Bande mit der Irdenheit zu lösen.“

„Mit anderen Worten: du bist nur wieder einer dieser Freaks von Reaper, die die Spieler ausmerzen wollen. Deswegen auch die harte zeitliche Begrenzung dieser Mission.“ blaffte er den Jungen an.

„Der Herr hat dich scheinbar mit einer bemerkenswerten Auffassungsgabe beschenkt. Doch deine groben Worte zeugen von einem unruhigen Geist, der geläutert werden will. Nur leider verbietet mir eine andere hohe Macht, dir diesen Wunsch jetzt und hier zu erfüllen. Doch sollte euer irrationaler Drang, wieder Teil des irdischen Lebens zu werden, bis zum Letzten Tag andauern, so werde ich mich der verantwortungsvollen Aufgabe stellen, dir zu geben, wonach dir verlangt.“

Shuyin war sichtlich gereizt. „Ach ja? Mir verlangt es aber gerade ziemlich danach, dir dein vorlautes Maul zu stopfen!“

„Lass das, das bringt doch nichts.“ versuchte sie ihn zu beruhigen.

„Deiner unverständlichen Reaktion nach urteile ich, dass du die Worte des Herren aus meinem Munde vernommen hast. Doch unsere Wege müssen sich hier trennen, auf dass sie sich am letzten Tage wieder treffen. Bis dahin, gehabt euch wohl, Oh ihr verirrten Seelen.“ sprach er und verschwand. Was nicht verschwand, war Shuyins Rage.

„Was ist denn los mit dir? Beruhige dich.“

„Ach… ich kann solche Typen einfach nicht ausstehen… solche militanten Gläubigen.“

„Was hast du gegen einen festen Glauben?“

„Nichts, aber gegen solche, die denken, ihre Glaubensrichtung sei absolut und die nichts anderes zulassen. So was nennt man Intoleranz. Und solche predigen meist Menschlichkeit und gegenseitige Akzeptanz! Pah! Alles Heuchler, solche Typen. Der einzige, auf den du dich verlassen kannst, bist du selbst.“

Bis auf den letzten Satz stimmte sie ihm zu. Doch der letzte Satz bereitete ihr auch Sorgen.
 

„Bist du deshalb so groggy? Weil du nicht mir sondern nur dir vertraust und deshalb die ganzen Kämpfe so gut wie alleine kämpfst?“

Auch wenn er sie verachtete, wollte er ihr nicht sagen, dass sie damit vollkommen Recht hatte.

„Du siehst aber auch ziemlich fertig aus… .“ sagte er stattdessen, in der Hoffnung, etwas vom Thema ablenken zu können.

„Ich weiß, aber ich hab es etwas übertrieben… bin mehr rumgerannt, als nötig. Ich wollte es einfach nutzen, mich mal an der frischen Luft bewegen zu können.“ sagte sie und schien dabei in melancholischen Erinnerungen zu schwelgen.

„Egal. Wollen wir nicht zu dem Café von diesem Hanekoma? Er hat uns doch diese merkwürdige Einladung angeboten.“ sagte sie plötzlich und setzte ein verschmitztes Lächeln auf, das wohl auch vom Thema ablenken sollte.
 

Sie besuchten Hanekoma. Shuyin gönnte sich nen großen Schoko-Milchshake, den er etwas missmutig und ohne Worte wegschlürfte; sie ließ sich wirklich auf die House Blend ein. Sie ließ sich auf Shuyins Hinweis hin alles Mögliche bezüglich des Spiels der Reaper von Hanekoma erklären. Er erzählte ihr auch, dass er so was wie der Aufpasser des Spiels ist. Dass während ihrer angeregten Unterhaltung mit Hanekoma ein Jugendlicher mit grauen Hemd und grauen längeren Haaren der einzige Gast neben den beiden war und sie eindringlich beobachtete, bekam weder sie noch Shuyin mit.
 

Ende Tag 2 „Glaube & Vertrauen“

Tag 3

Tag 3
 

Sein Hinterkopf tat ihm weh. Warum genau wusste er nicht. Aber die Augen aufmachen und nachsehen… wollte er nicht. Eine Stimme drang an sein Ohr. Nicht übermäßig laut. Aber etwas in seinem Kopf sagte ihm „Ich mag diese Stimme nicht“. Doch konnte er nicht anders, als sie zu hören.

„Komm schon, jetzt steh auf. Das sieht peinlich aus, wie du hier mitten auf dem Gehweg pennst.“

Jetzt konnte er das ganze nicht mehr ignorieren. Er schlief wirklich mitten auf dem Gehweg – eigentlich eher auf der Straße, die Bordsteinkante war sein Kissen. Deshalb der schmerzende Hinterkopf. Ein kurzer Rundumblick verriet ihm, dass sie sich am Scramble Crossing aufhielten.

„Der dritte Tag, schätz ich mal? Echt krass, wie schnell das geht. Ich hab noch den Geschmack der House Blend im Mund… huch, hab ich eigentlich bezahlt?“

Ihm stand der Sinn nicht nach Smalltalk.

„War doch ne Einladung, oder?“ sagte er, als er aufstand und versuchte dabei übertrieben deutlich morgenmuffelig mies gelaunt zu klingen.

„Entschuldige, dass ich versuche, eine halbwegs gute Laune zu bewahren. Jetzt weiß ich auch, warum dich Herr Hanekoma >Grunty< nennt… . “ zickte sie zurück. „Und es is auch noch keine Mission rein gekommen.“ fügte sie hinzu.

„Dann sollten wir die Gelegenheit nutzen und uns umsehen. Es kann für die Mission nützlich sein, zu wissen, welche Gebiete zugänglich sind.“

Er erblickte einen roten Reaper in der Richtung zu 104 und wollte schon in dessen Richtung gehen. Doch Reiko hielt ihn auf.
 

„Die Missionen sind wirklich das Einzige, was für dich zählt, oder?“

Er glaubte, sie wolle mit dieser Frage Streit anfangen. Er blickte sie direkt an und stemmte die Hände in die Hüften.

„Natürlich zählt nur die Mission. Ich habe einen guten Grund, warum ich dieses Spiel spiele und will es um jeden Preis gewinnen. Was sollte also sonst außer der Mission zählen und warum, hä?“

„Wie wäre es mit mir? Kannst du nicht einmal Rücksicht auf mich nehmen? Mir nicht mal einfach sagen, was du denkst? Hanekoma hat doch gesagt, dass ein Spieler seinem Partner vertrauen muss! Warum also vertraust du mir nicht?“

„Soll ich sagen, was ich denke, oder Rücksicht nehmen? Entscheide dich, beides geht nicht.“ er wirkte plötzlich eiskalt.

„Häh?“

„Also gut, ich sage dir, was ich denke.“ Er kam ihr ganz nah, richtete sich vor ihr zu voller Größe auf und sprach ihr direkt ins Gesicht.

„Ich halte dich für eine schwächliche, weinerliche Göre, die nichts allein auf die Reihe bekommt und immer nur von vorn bis hinten verwöhnt wird. Ich denke, jeder wäre ein besserer Partner gewesen, als du; du bist mir nur ein Klotz am Bein und dein Heile-Welt-Getue kotzt mich einfach nur an! Diese >Gemeinschaft< ist lediglich ein Mittel zum Zweck um dieses Spiel zu gewinnen. Dein Wohlergehen interessiert mich nur, weil dein Versagen auch mein Ende bedeutet!“
 

Aus ihren weit aufgerissenen Augen kamen Tränen. Ein paar Sekunden war Stille um sie herum, doch die Luft stand unter starker Spannung. Und dann FATSCH! gab sie ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Alle fünf Finger ihrer rechten Hand zeichneten sich in leuchtendem Rot deutlich auf seinem Gesicht ab und die Schelle brannte ihm noch ziemlich lange nach. Sie brachte ihn sogar ein bisschen ins Wanken.

Ihr Gesicht war wutentbrannt.

„Du… du unsensibles Arschloch! Du hast ja gar keine Ahnung, was du da sagst! Du hast ja keine Ahnung, was ich schon alles durchgemacht habe! Ich versuche doch nur, das Beste aus der Situation zu machen, und du… und du… ich ICH HASSE DICH!“ und mit der Linken gab sie ihm eine noch härtere Ohrfeige, bevor sie an ihm vorbei ging.
 

Die Ohrfeigen legten scheinbar ein paar Schaltkreise in seinem Gehirn für ein paar Sekunden lahm. Dann erkannte er, dass er wohl wirklich etwas angerichtet hat. Auch, wenn er sie nicht ausstehen konnte – so sehr wollte er sie nicht verletzen. Doch sich entschuldigen… das hätte einerseits sein Stolz nicht zugelassen, andererseits käme das jetzt eh blöd. Außerdem brauchte er sie, wenn er das Spiel gewinnen wollen würde. Über die Schulter schaute er ihr nach: sie achtete nicht wirklich, wohin sie lief – und lief gegen eine unsichtbare Mauer, sackte zu Boden und blieb schluchzend hocken.

Er fühlte sich jetzt echt beschissen – er konnte nichts machen.
 

Nach einer ganzen Weile – die Mission kam immer noch nicht rein – wollte er wenigstens den Versuch unternehmen, das Ganze wieder geradezubiegen. Auch, wenn er nicht wusste wie oder was er sagen wollte. Sie hockte immer noch auf dem Boden. Sie bemerkte, dass er sich näherte, drehte sich aber nicht zu ihm um.

„…was willst du?“

Er suchte nach Worten. Er fand keine.

„Nein, ich weiß schon: >die Mission zu Ende bringen<. Das ist alles, was zählt. Nicht etwa so eine weinerliche Göre, die nur ein Klotz am Bein ist.“ Es lag keine Ironie in ihrer Stimme. Das wunderte ihn.

„Rede nicht so von dir… das-“ >stimmt nicht< wollte er sagen, doch sie stand auf und unterbrach ihn – wendete ihm aber immer noch den Rücken zu.

„Nein. Ist schon in Ordnung. Du hast doch recht. Ich kann nicht mit deiner Stärke mithalten. Ich bin wirklich keine große Hilfe, weiß ich doch.“

Wieder fand er keine Worte.

„Außerdem… wollte ich es ja auch so. Du hast mir offen gesagt, was du denkst. Das ist in Ordnung, dafür danke ich dir. Jetzt weiß ich auch, dass du bisher Rücksicht auf mich genommen hast. Danke, wirklich.“

Er dachte, sie wollte ihn veralbern. Aber er versuchte, sich zusammenzureißen.

„>Danke<? Wie kannst du so etwas sagen? Ich war doch… ein total unsensibles Arschloch. Du solltest mich hassen!“

„Ach… davon wird’s auch nicht besser. Ich… sollte lieber versuchen, dir ein besserer Partner zu sein und dir nicht auf die Nerven gehen.“

Damit sprach sie etwas an, was seinen Grundprinzipien völlig widersprach.
 

„Wenn du immer nur versuchst, es allen Recht zu machen, wirst du nie erreichen, was du willst. Es wäre besser, wenn du lernst, deinen eigenen Kopf durchzusetzen, anstatt eine Identität anzunehmen, die ich oder andere dir aufdrücken wollen.“

Diese Worte verwunderten sie doch sehr, und sie drehte sich zu ihm um.

„Du bist schließlich keine Marionette, deren Fäden von anderen gesteuert werden. Wenn du wirklich denkst, dass ich ein unsensibles Arschloch bin, dann bleib dabei. Und… wenn du mir noch ein paar Scheuern willst, dann… tu dir keinen Zwang an. Ich habs mehr als verdient.“ sagte er mit gesenktem Blick und steckte die Hände in die Hosentaschen.

Trotz Tränen machte sich auf ihrem Gesicht so etwas wie ein Lächeln breit. Sie patschte ihm mit der Hand leicht auf die Wange (die immer noch glühte), aber das war fast eher ein Streicheln als eine Ohrfeige.
 

In nächsten Moment piepten ihre Handys. Sie war schneller dran.

„Berichte bei Towa Records vom Event des Tages. Versagst du, wirst du ausgelöscht. Zeitvorgabe: 8 Stunden.“ Zack, der Timer erschien auf ihren Handflächen.
 

„Muss ne große Mission sein, wenn wir acht Stunden Zeit haben. Findet heute irgendwas großes Statt?“ fragte Reiko und schien den grade passierten Streit völlig vergessen zu haben. Ihre Sensoren waren voll auf die Mission ausgerichtet. Er bemerkte das, sagte aber nichts. „Hm, ich hab von nichts gehört. Am besten hören wir uns um, auch bei Towa Records.“

„Wie sollen wir uns denn umhören? Uns kann doch keiner sehen… .“ fragte sie missmutig.

„Na mit dem Player-Pin. Schon vergessen? Damit können wir die Gedanken der Lebenden hören. Außerdem könnten wir uns in für Spieler zugänglichen Läden umsehen und da die Mission besagt, dass wir >berichten< sollen, wird bei Towa Records wohl jemand rum stehen, der davon weiß.“

„Ah, dann ist ja gut. Und wo geht’s zu Towa Records?“

„Da lang.“
 

Bei Cadoi City, also kurz vor Towa Records wurden sie von einer unsichtbaren Mauer gestoppt.

„Was soll das denn jetzt? Laut Mission müssen wir doch zu Towa Records?“ beschwerte sich Shuyin und klopfte noch mal zornig gegen die Wand. Ein schwarzer Reaper stand in der Nähe und konnte Shuyins Unmut nicht überhören.

„Der Zugang wird erst um 21.00 Uhr freigegeben.“ sprach der Reaper.

Reiko verglich daraufhin fix die Uhrzeit auf ihrem Handy mit dem Timer auf ihrer Hand.

„Das ist genau eine Stunde vor Ablauf der Missionszeit. …meinst du, das bis dahin das Event, von dem wir berichten sollen, gelaufen ist?“

„Das kann gut möglich sein.“ antwortete Shuyin. „Nein, es ist sogar sehr wahrscheinlich.“ fügte er hinzu.

„Dann sollten wir wohl erstmal raus finden, was dieses ominöse Ereignis ist und dabei mitmachen.“ Sie setzte ein Lächeln auf und wandte sich an den Reaper: „Du kannst uns nicht zu fällig etwas darüber erzählen, Kumpel?“

„Nee du, das wär ja zu einfach, Mädchen. Und ich hab strenge Befehle.“
 

„Da ist wohl nix zu machen, schätz ich mal. Was machen wir also nun? Uns umhören?“ fragte Reiko, nun wieder an Shuyin gewandt.

„Entweder das, oder wir schauen mal nach, welche Gebiete zugänglich sind. Das könnte auch Aufschluss über das genaue Missionsziel geben. Uns ist es überlassen zu entscheiden, mit welcher Methode wir schneller zu einem Ergebnis kommen.“

„Hm… ich würde sagen, wir machen es, wie du gesagt hast.“

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht alles, was ich vorhabe, gleich mit Ja und Amen hinnehmen… .“

„Ich weiß, aber ich denke wirklich, dass das die bessere Vorgehensweise ist. Oder nein, wir könnten uns nach den zugänglichen Gebieten umsehen und nebenbei noch ein wenig mit dem Player Pin rumhorchen.“

„Ja, ich denke, so fahren wir am Besten. Da wir hier nicht weiterkommen, schlag ich vor, dass wir uns erstmal Richtung Molco begeben.“
 

Zu Molco war es ja nicht so weit von Cadoi City. Shuyin übernahm die Aufgabe, sich mit dem Player Pin umzuhören, Reiko schaute sich nach gegenständlichen Hinweisen um. Sie wurde auch schnell fündig. Sie sah bei Molco Plakate, dass sie dort Karten für ein Gothic-Konzert verkauften, das heute bei A-East stattfinden sollte. Da Shuyin auch einige Gedanken über ein solches Konzert mithörte, war eigentlich jeder Zweifel ausgeschlossen.
 

„Kommen wir denn zu A-East?“ fragte Reiko.

„Wenn dieses Konzert das Event ist, das die Mission vorsieht, auf jeden Fall. Ich erinner mich am Scramble Crossing nen Reaper gesehen zu haben. Und Richtung 104 bist du ja gegen eine Mauer gelaufen. Wenn der uns irgendwie durchlässt, haben wir es nicht mehr weit bis zu A-East.“

„Gut. Ach, und sollten wir uns nicht vielleicht auch Karten für das Konzert kaufen? Wenn ja, sieht’s schlecht aus… ich hab kein Geld dabei…“

„Schon gut, ich hab genug für uns beide. Ach ja, wir haben gestern doch einige Kämpfe bestritten. Hast du da hin und wieder ein paar Pins gefunden?“

„Ja, hab ich. Wenn ein Gegner besiegt war, blieben hin und wieder welche zurück. Ich hab sie vorsichtshalber mal mitgenommen.“

„Gut so, wir brauchen jeden Pin. Auch die, die wir nicht benutzen.“

„Warum das denn? Sind die so wichtig?“

„Im Spiel der Reaper schon. Hin und wieder muss man mit ihnen handeln. Und wenn man wirklich keine braucht, macht man sie zu Geld. Es gibt auch richtige Geld-Pins, die nur für diesen Zweck existieren. Also gerade die Pins, auf denen ein Geldbetrag draufsteht, solltest du mitnehmen.“

„Fällt mir schwer, das alles zu glauben. Wie bitte machen wir die Pins zu Geld? Verkaufen wir die in irgendeinem Laden?“

„Nein, das geht viel leichter. Wenn du einen Pin nicht mehr brauchst, steckst du ihn einfach in deine Brieftasche. Wenn du dann das nächste Mal reinschaust, ist der Pin wie durch Magie verschwunden – dafür ist Bargeld drin. Das ist so ziemlich der einzige Weg für Spieler, an Geld ranzukommen.“

„Das… ist echt schwer vorstellbar.“

„Ich weiß. Ich habs auch erst erfahren, nachdem Hanekoma es mir während meiner ersten Runde erklärte. Willst du es mal ausprobieren?“
 

„Ich… hab keine Brieftasche…“ sagte sie leicht geknickt.

„Huh? Na du bist mir ja eine. Und ich dachte, du wärst so jemand, der wegen reicher Eltern selbst in Kohle schwimmt… .“

Daraufhin wirkte sie noch etwas mehr geknickt. Ihm fiel daraufhin ihr Streit ein und was er ihr an den Kopf geworfen hatte.

„Ähh nicht so schlimm. Dann gehen wir eben einfach mal rein und kaufen dir eine Brieftasche. Wir müssen ja eh noch die Karten bei Molco kaufen.“
 

Nachdem sie nach ihrem Einkauf wieder vor Molco standen, demonstrierte Shuyin ihr die Pin-zu-Geld-Umwandlung. Er steckte demonstrativ einen einzelnen 10.000 Yen-Pin in die noch leere Brieftasche, schloss sie und gab sie Reiko. Als diese die Brieftasche wieder öffnete, waren statt des Pins einige Geldscheine im Gesamtwert von 10.000 Yen drin. Sie war vor Erstaunen völlig von den Socken. Nichts desto trotz machten sie sich dann auch schon auf den Weg zurück zum Scramble Crossing, wo auch wirklich noch der rote Reaper an der Mauer zu 104 stand. Dieser schien die zwei von irgendwoher wieder zu erkennen, als sie ihn ansprachen.
 

„Oh, die zwei Streithähne von vorhin…“ sagte er, mehr zu sich selbst.

„Wie?“ fragte Shuyin entgeistert. Der Reaper tat daraufhin ganz plötzlich so, als hätte er nix mitbekommen.

„Ähh… *räusper*, erfüllt meine Aufgabe und ihr dürft passieren. Beantwortet mir fünf Fragen und ich lass euch durch.“

„Schieß los.“
 

Reaper: „Frage 1: Es gibt doch dieses Spiel mit Pins, nach dem die Kids in Shibuya völlig verrückt sind. Wie nennen sich die speziellen Fähigkeiten, die in diesem Spiel eine tragende Rolle haben?“

Shuyin: „Whammies.“

Reaper: „Richtig…“

Reiko: „*Kicher* Du kennst dich mit Kinderspielen aus?“

Shuyin: „Ähh… es gab mal ne Mission, da musste ich das spielen. Das ist alles… ähem.“

Reaper: „Frage 2: In welche fünf Bundesstaaten unterteilt sich Australien?“

Shuyin: „Ehh?“

Reiko: „Von Westen nach Osten: Western Australia, Northern Territory, South Australia, Queensland und New South Wales.“

Shuyin: „Ähh… .“

Reaper: „Ähh… richtig. Frage 3: Nenne die Formel zur Berechnung der Oberfläche eines Kreiskegels.“

Shuyin: „Was sind denn das für Fragen? Das weiß doch kein Mensch aus dem Kopf!“

Reiko: „ Die Summe aus Mantellinie und Radius mal Pi mal Radius. Also kurz: πr(r+s)“

Shuyin: „Ähh…“

Reaper: „Richtig. Frage 4: Was versteht man unter einem Doppelhelix?“

Shuyin: „Ähh…“

Reiko: „Ein Doppelhelix? Das sind die zwei spiralförmigen Stränge, aus denen sich DNS zusammensetzt.“

Reaper: „Richtig.“

Shuyin: „Ähh… ähh…“

Reaper: „Frage 5: Was kostet ein Special Dog im Mexican Dog bei Spain Hill?“

Reiko: „Was ist das denn? Woher sollen wir das wissen?“

Shuyin: „… 630 Yen.“

Reaper: „… Wow. Alle fünf Fragen wurden richtig beantwortet. Ihr dürft durch.“
 

„Wow… du weißt echt viel. Die erste und letzte Frage hätte ich nicht gewusst.“ gab Reiko erstaunt zu.

„Machst du Witze? Du bist doch hier die Geniale! Was sollte das mit der Formel? Und mit dem Doppel…felix? Und Australien? Auch noch >Von Westen nach Osten<, hast du n Lexikon gefrühstückt oder was? So was weiß doch kein normaler Mensch!“ Er war völlig perplex.

„Ach nein? Das ist doch Allgemeinwissen. Ich finde, dieses Spiel könnte immer so einfach sein. Hättest du das alles etwa nicht gewusst? Das lernst man doch in der Schule… oder etwa nicht?“

„Ähh… vergiss es einfach. Wir sollten froh sein, dass der Weg jetzt frei ist. Gehen wir.“
 

Bis zu A-East war der Weg frei. Dort angekommen mussten sie feststellen, dass die Halle bereits betreten werden konnte, obwohl es erst kurz nach drei Uhr Nachmittags war. Ein Blick auf die Karte bestätigte dies. Einlass: 15.00 Uhr, Beginn: 17.00 Uhr, Ende: gegen 21.00 Uhr.

„Ziemlich komische Veranstaltung…“ kommentierte Shuyin das Ganze.

„Warum das denn?“

„Das is n Gothic-Konzert. Gothics sind eigentlich … ich nenn es mal >Gestalten der Nacht. Aber um neun Uhr Abends dämmert es gerade mal zu dieser Jahreszeit. Überhaupt gehen Konzerte in der Regel selten so früh los. Warst du noch nie auf einem Konzert?“

„Nein… noch nie.“

„Na dann wird’s Zeit. Gehen wir schon mal rein? Wir wissen ja nicht, was genau wir alles berichten sollen, also sollten wir uns gut umsehen.“

„Ja, gut.“
 

Am Einlass gab es allerdings Probleme. Der Türsteher, der die Karten kontrollierte, wollte Shuyin und Reiko nicht reinlassen.

„Ey, wartet mal, ihr. So könnt ihr hier doch nicht rein. Das geht echt nicht.“ sagte er.

„Warum nicht? Wir haben doch Karten, wo liegt das Problem?“ fragte Reiko.

„Schaut euch doch mal an, Kinder. Das hier ist eine Gothic-Veranstaltung! Alles Szene, also nur was für Gothics, klar? Punks und Prinzesschen sind da eher unerwünscht. Auch, wenn ihr Karten habt, solltet ihr hier nicht SO reinspazieren.“ erklärte sich der Türsteher.

„Soll heißen?“

„Soll heißen, dass wir uns Gothic-mäßig einkleiden sollten, bevor wir hier reinspazieren.“ erklärte Shuyin ihr und geleitete sie wieder nach draußen.

„Mann. Das ist so was von dumm, ey. Der soll sich mal nicht so aufspielen.“ sagte er dort.

„Warum ist das dumm? Jetzt im Nachhinein finde ich, dass er recht hat.“

„Es ist deshalb dumm, weil-“ er hob den Arm und zeigte auf einen Laden auf der anderen Straßenseite „da drüben gleich ein Top Laden für Gothic-Kleidung ist.“ Er zeigte auf den Laden „Lapin Angelique“. „Wollen wir shoppen gehen?“ fügte er hinzu, halb verärgert, halb ironisch amüsiert.
 

Im Laden von Lapin Angelique war es recht düster und die Luft war irgendwie stickig. Aber es war keine Kundschaft da. Shuyin sah sich nach einem Angestellten um, Reiko begutachtete das Sortiment. Sie schien etwas nervös. Als Princess K, die Ladeninhaberin persönlich feststellte, dass Kunden da waren, begrüßte sie Shuyin sehr erfreut.

„Oh, welch seltener Gast. Princess K hat dich ja lang nicht mehr gesehen. Und du bist in Begleitung! Was bringt euch zu mir?“

„Du kennst sie?“ fragte Reiko.

„Ich bin hier früher oft einkaufen gewesen, deswegen kennt sie mich schon.“ antwortete er.

„Der liebe Herr Miesepeter war mal so etwas wie Stammkunde bei Princess K. Daher ist er jederzeit ein gern gesehener Gast.“

„>Der liebe Herr Miesepeter<?“ kicherte Reiko. Shuyin versuchte das zu ignorieren.

„Egal; weswegen wir hier sind: es würde mich wundern, wenn du nicht wüsstest, was drüben bei A-East heute abgeht. Wir wollen da auch hin, aber der Schrank am Einlass meint, wir bräuchten ein passenderes Outfit.“

„Ah, das Konzert, ja. Princess K würde ja auch gerne hin, aber die muss leider den Laden hüten. Aber keine Sorge, ihr seid hier an der richtigen Adresse. Schaut euch ruhig um. Princess K wäre überaus erfreut, euch beraten und assistieren zu dürfen.“
 

Wie das bei Kerlen so üblig ist, fand Shuyin schnell etwas für sich. Reiko dagegen schien immer noch irgendwie nervös.

„Was ist los? Hast du was für dich gefunden?“

„Naja…“ sagte sie und zog ein Kleidungsstück aus dem Ständer um es Shuyin zu zeigen „Das hier… sieht sehr interessant aus, aber ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, wie das an einem Menschen aussieht.“

Princess K mischte sich ein: „Oh, das Ribbon-laced Dress? Kein Problem, Princess K hat hier einen Katalog, da kannst du es dir genauer ansehen.“

„Wow… das sieht echt… toll aus. Ein bisschen düster, aber… wirklich schön.“

„Was erwartest du? Gothic ist nun mal ein schwarzes Thema. Warum probierst du es nicht mal an, wenn es dir so gefällt?“ schlug Shuyin vor.

Mit einem Mal war Reiko total aufgescheucht „Was? Anprobieren? Ich? Ach nein, lass mal! Das muss nicht sein, echt. Ich such mir was anderes…“

„Was ist denn mit dir los? Warum willst du dir was anderes suchen? Probier es doch wenigstens mal an! Es gefällt dir doch so gut.“

„N-nein, ich…“

„Was ist denn? Gibt’s irgendein Problem? Sag schon.“

„Ich… ich trau mich nicht. Es sieht zwar toll aus, aber so etwas Auffälliges und Extravagantes würde ich nie tragen…“

Princess K sah sehr amüsiert aus „Ah… die Angst, etwas neues und Ausgefallenes auszuprobieren… das hat Princess K schon ein paar mal hier erlebt.“

„Achso, da liegt der Hase im Pfeffer begraben. Wenn das so ist… Princess K, leg doch das alles bitte für uns zurück. Wir sind bald wieder da.“

„Wie? Was hast du vor?“ fragte Reiko verdutzt.

„Wir haben ja noch massig Zeit bis zum Beginn der Vorstellung. Wir helfen deinem Mut etwas auf die Sprünge. Komm mit.“
 

Er schleppte sie zum Shibu Department Store, ging kurz zu Herbal Remedies and Food und kam mit etwas ziemlich eigenartigem wieder raus; zwei längliche gelbbraune Etwase.

„Hier, iss das.“ sagte er ohne Umschweife zu Reiko.

„Bitte was?“

„Du sollst die hier essen.“

„Einen Teufel wird ich tun! Das sieht total widerlich aus. Was ist das überhaupt?“

„Wenn ich dir das sage, wirst du es erst recht nicht essen wollen. Aber wenn es deiner Überwindungskraft helfen sollte: die Dinger sollen sehr gesund sein.“

„Muss das sein?“

„Ja, muss es. Andernfalls könnte es sein, dass wir die heutige Mission nicht erfüllen können.“ Er sagte es ungern, fügte aber hinzu: „Wolltest du nicht ein besserer Partner sein?“

Damit hatte er sie. Nach diesem Argument konnte sie schlecht ablehnen. Also verschlang sie die Dinger vollkommen widerwillig, versuchte dabei möglichst wenig zu kauen und sie schnell hinterzuwürgen.

„Die nennen sich Cordyceps. Das sind parasitäre Pilze, die auf Insektenlarven wachsen. Eine alte chinesische Medizin.“

Nach dieser Information war Reiko kreidebleich, sie sah aus, als würde sie jeden Moment umkippen und hatte scheinbar damit zu kämpfen, nicht zu erbrechen. Mit der Hand vorm Mund kauerte sie auf dem Boden.

„Du bist ja so ein… hinterhältiges Arschloch… die schmeckten noch… hundertmal grässlicher, als sie aussahen.“

„Ich weiß… ich hab von denen auch schon einige gegessen.“

„Und wie *würg* hilft das jetzt bei der Mission? Urg…“

„Nunja…“ er hatte ein merkwürdiges Grinsen auf dem Gesicht „Jetzt hast du dich überwunden, diese ausgesprochen widerlichen Pilze zu essen. Das erfordert echt Mut. Da wirst du dich doch auch überwinden können, einen Abend mal dieses Kleid zu tragen, oder? Und wenn irgendjemand sagt, dass du für dieses Kleid nicht tough genug bist, oder so, dann soll derjenige sich erstmal trauen, diese Pilze zu essen.“

„Du bist so… unsagbar fies, Shuyin… *würg*“

„Ich weiß… es tut mir auch leid. Hey, zur Entschädigung lad ich dich heute auch auf nen Definitivo Chili Dog ein, ja?“

„Ein Defi-was, bitte?“

„Einen Definitivo Chili Dog. Noch nie im Mexican Dog gewesen?“

„N-nein…“

„Oh, da hast du echt was verpasst. Da musst du mal gegessen haben. Ich sag mal, wir gehen nach der Vorstellung vorbei? Liegt halb auf dem Weg.“

„Meinetwegen… mir ist jetzt eh nicht nach Essen zumute… *hulp*“

„Hey, tut mir echt Leid, wirklich. Meinst du, du kannst gehen?“

„Wird schon.“

Er reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Er dachte sich absolut nichts dabei. Für sie war es allerdings ein kleines Wunder, das sie sogar kurzzeitig ihre Übelkeit vergessen lies.
 

Zurück bei Lapin Angelique probierte sie sofort das Ribbon-laced Dress an. Princess K musste ihr dabei etwas zur Hand gehen. Shuyin hatte sich ziemlich schnell umgezogen. War ja auch nicht so viel; er hatte sich für einen langen schwarzen Ledermantel mit vielen Schnallen entschieden, der gut zu ihm passte, dazu noch ein paar schwarze Halbhandschuhe, ebenfalls aus Leder. Reiko hatte erstmal nur das Kleid an, aber das alleine wirkte noch nicht so – da waren Shuyin und Princess K einer Meinung. Also fügte Princess K dem Ganzen noch ein paar feinmaschige Netzstrümpfe, schwarze Lederstiefel und Stulpen hinzu. Sie ging richtig darin auf, Reiko zu beraten und ihr zu assistieren. Ohne ihr Einverständnis einzuholen, nahm sie Reiko mit in ein hinteres, gut ausgeleuchtetes Zimmer und kümmerte sich dort um ihre Frisur. Als sie fertig war, verdeckte Reikos Pony ein Auge, der Großteil ihrer Haare war zu einem hohen voluminösen Zopf zusammengebunden und an der Schläfe hatte sie eine leuchtend lila Strähne, die gut zu dem Kleid passte und einen interessanten Akzent setzte. Anschließend kümmerte sie sich noch um Gothic-Make-up. Reikos freies Auge wurde mit viel schwarzen Kajal und Lidschatten stark betont, ein dunkelvioletter und dezent aufgetragener Lippenstift schmückte ihren Mund. Danach schaute sie sich Shuyin und Reiko mal zusammen an.

„Das sieht doch schon wirklich nicht schlecht aus… aber ihr braucht beide noch etwas um den Hals.“

Für Reiko suchte sie ein dünnes schwarzes Halsband mit einem kleinen gebrochenen Herz aus Silber raus. Bei Shuyin kam sie erst ins Grübeln. Dann schien sie allerdings eine nahezu göttliche Eingebung zu haben und suchte vor Freude quiekend etwas aus dem Lager. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihre Fund selbst an Shuyin anzubringen: ein schwarzes Nietenhalsband mit etwa 1cm langen Nieten und: eine Leine, dessen anderes Ende sie Reiko in die Hand drückte. Letztere bekam zusätzlich noch ein merkwürdiges lila-schwarzes Hasenplüschtier.

Shuyin war erst nicht ganz so begeistert von der Leine.
 

„Was soll das denn bitte?“ fragte er leicht erbost.

„Oh das ist doch das perfekte Gothic-Thema für ein Pärchen. Die unschuldige Prinzessin der Nacht und ihr bösartiger Höllenhund des Todes, der jeden zerfleischt außer seine Herrin selbst. Außerdem verhindert die Leine, dass ihr von anderen ungefragt angebaggert werdet. Und M’sieur Lapin, das Maskottchen von Lapin Angelique, gibt dir noch den zusätzlichen Charme der Unschuld, der in der Gothic-Szene immer so schön kontrovers wirkt.“

„Abgesehen davon, dass wir kein Paar sind.“ bemerkte Shuyin bestimmt. Reiko wollte wohl das Gleiche sagen, sagte dann aber: „Bösartig… ja… . Er ist wirklich ausgesprochen bösartig.“ sagte sie und zog einmal ziemlich kräftig an der Leine.

„Hrgl, was soll das?“

„Das ist die Rache für vorhin.“ sagte Reiko und grinste ihn leicht boshaft an. Sie meinte damit die Sache mit den Cordyceps. E wusste wohl, was sie meinte.

„Ach ja? Naja, Princess K findet ihr passt trotzdem gut zusammen, hihi. Aber… eine Winzigkeit fehlt noch. Kleiner Miesepeter, du brauchtest auch noch ein bisschen Kajal unter den Augen. Dann ist’s wirklich perfekt.“

„Ach, Blödsinn. Nicht nötig.“

„Keine Widerrede. Halt still, Princess K macht das schnell.“

Blitzschnell hatte sie einen Kajalstift zur Hand. Doch Shuyin war ganz schön zimperlich.

„Hey, pass doch auf! Du sollt mir nicht die Augen ausstechen!“

„Macht Princess K doch gar nicht. Halt still…“

„Ah, schon wieder! Das soll doch unter die Augen und nicht hinein!“

„Hab dich nicht so und halt still, sonst wird das gar nix.“

„Arg! Jetzt reichts. Gib mir nen Spiegel, ich mach das selbst.“
 

Er hats dann auch halbwegs gut hinbekommen.

Als Pincess K sich die beiden dann noch mal ansah, strahlte sie vor Freude.

„Wow, ihr seht wirklich zum Anbeißen aus, ihr Hübschen. Princess K hat lange nicht mehr so viel Spaß bei der Arbeit gehabt. Wisst ihr was, ihr bekommt als Dank die Leine und M’sieur Lapin geschenkt. Und… dürfte Princess K vielleicht ein Foto von euch beiden machen und es in ihren Blog posten? Damit würdet ihr Princess K eine riesige Freude machen.“
 

Shuyin und Reiko wussten beide nicht, was dagegen spräche und willigten ein. Princess K hatte in dem Raum, in dem sie Reikos Frisur herrichtete, eine Wand des Raumes mit einer großen Fläche behangen, auf der ein Waldweg mit kahlen Bäumen bei Vollmondschein drauf abgebildet war. In einem gewissen Abstand dazu stand bereits eine scheinbar hochwertige Spiegelreflexkamera auf einem Stativ bereit – offenbar machte Princess K öfter Fotos ihrer „Kreationen“ mit dem Nachtwaldweg als Hintergrund. Als dann auch das Bild im Kasten war, kriegte sie sich kaum noch ein vor Freude.
 

Als sie den Laden verließen, konnte Reiko nicht anders, als Ihre Meinung zu dem Ganzen kundzutun. Ihr war sehr deutlich aufgefallen, dass Princess K immer in der dritten Person von sich selbst sprach. Trotzdem gefiel ihr diese etwas andere Shoppingtour. Ohne Umwege machten sie sich dann auch gleich rüber zu A-East. Diesmal kamen sie auch ohne Probleme rein. Trotzdem hielt der Türsteher die beiden noch mal zurück, als sie schon fast drin waren.

„Hey, ihr da, wartet mal. Seid… ihr die zwei von vorhin? Der Punk und das Prinzesschen? Mensch, ihr habt euch ja rausgeputzt, ich hab euch erst gar nicht erkannt. Ihr seht richtig klasse aus! So lass ich euch gerne durch. Viel Spaß, ihr zwei!“
 

Da es noch etwa eine Dreiviertelstunde bis Vorstellungsbeginn war, war der Saal schon einigermaßen gefüllt, man konnte allerdings noch halbwegs gut gehen und stehen. Sie suchten sich einen Platz am Rand, aber noch recht weit vorne und mit verhältnismäßig gutem Blick auf die Bühne. Sie waren beide nicht so dafür, sich in die dichte Masse zu stürzen. Pünktlich um 17.00 Uhr fing dann auch schon die… Vorband an, zu spielen. Eine Kleine 3-Mann-Indie-Rockband. Der Vokalist hatte eine blonde Stachelfrisur und hörte auf den (Künstler-)Namen 777 („Triple Seven“ gesprochen), die Band hieß „Def Märch“. Bisher waren die noch ein recht kleines Licht, aber keiner ahnte, dass die Jungs recht bald sehr beliebt und bekannt in Shibuya sein würden. Auf jeden Fall schafften sie es, die Stimmung richtig gut für die eigentliche Band aufzuheizen; doch diese unterschied sich in der Art ihrer Musik und vor allem in ihrer Bühnenpräsenz doch schon recht stark von der Vorband.

Obwohl die Musik nicht ganz Shuyins Ding war, fand er doch genügend Gefallen daran, aufmerksam zuzuhören; Reiko war sowieso total begeistert und wippte ihren Kopf immer leicht zum Takt der Musik mit. Gerade die balladenartigen Songs schienen ihr sehr zu gefallen. Nichts desto trotz war es laut und wenn sie redeten, mussten sie natürlich mörderisch schreien.

„Hörst du solche Musik etwa sonst auch?“ fragte Shuyin.

„Nein, eigentlich hör ich was ganz anderes. Aber es ist trotzdem total toll.“

„Warum gefällt es dir denn so, wenn es nicht deine Musik ist?“

„Weiß nicht… es ist einfach so… voller Leben. Es tut zwar in den Ohren weh, weil es so laut ist, aber… man spürt, wie die alle hier mit Herz und Seele dabei sind. Ich finde, man merkt auch, dass die Musiker ihre Sache gern machen. Das find ich wirklich klasse.“

„Voller Leben…“ dachte sich Shuyin „…du bist mir lustig. Wo doch Gothic an sich eher lebensverneinend ist.“
 

Mitten während der Veranstaltung musste Reiko mal aufs Klo. Das war das erste Mal seit dem Einkauf bei Lapin Angelique, dass Reiko die Leine von Shuyin losließ. Shuyin war es zwar peinlich, auch den Plüschhasen halten zu müssen, aber das merkte eh niemand, da alle auf die Bühne fixiert waren. Als Reiko zurückkam, wirkte sie etwas hektisch und durcheinander und nahm auch ganz schnell wieder die Leine in die Hand. Sie klammerte sich sogar etwas an Shuyins Ärmel. Er merkte, dass etwas nicht ganz stimmte.

„Was ist denn mit dir los?“

„Naja, auf dem Weg zum Klo… da hab ich ein paar Leute gesehen, die echt… ungewöhnliche Dinge miteinander gemacht haben.“

„Zum Beispiel?“

„Es sah so aus… als würden sie sich in den Hals beißen… und das Blut trinken…“

„Sicher, dass die sich nicht nur am Hals geküsst haben?“

„Nein, ich hab da eindeutig was Rotes fließen sehen. Und…“

„Und was?“

„Auf dem Klo da… da war ein Mädchen… als ich mir die Hände gewaschen habe, kam sie immer näher… und dann hat sie mich an der Wange gestreichelt und mich so komisch angesehen… meinst du, sie…“
 

Shuyin war ziemlich erstaunt, so etwas berichtet zu bekommen. Seine erste Reaktion: er musste leicht lachen, auch wenn er wusste, dass das etwas taktlos war. Lachen musste er deshalb, weil er das, was ihm erzählt wurde, nachvollziehen konnte. Er würde es nie zugeben, doch auch er war der Meinung, dass Reiko, seitdem sich Princess K um sie gekümmert hat, wirklich verdammt hübsch aussah.

„Hey, was ist daran so witzig? Sie hat mir echt Angst gemacht!“

„Entschuldige. Ich weiß, ich sollte nicht lachen. Nun… herzlichen Glückwunsch: du wurdest angebaggert.“

„WAS? Aber… wir waren doch beide Mädchen…“

„Tja… es gibt eben auch welche, die beides mögen… oder gleich ganz andersrum sind. Ich kann mir vorstellen, dass gerade in der Gothic-Szene viele mit >ungewöhnlichen Vorlieben< zu finden sind.“

„Ahh…“ sie sah aus, als hätte sie nen Geist gesehen. Oder besser: als hätte man ihr gleichzeitig verraten, dass es keine Weihnachtsmann gibt und wie das mit den Blümchen und Bienchen funktioniert.

„Toll, jetzt hab ich echt Angst!“ Sie krallte sich nun mit beiden Händen in seinen Ärmel. „Du passt doch auf mich auf, oder Herr Miesepeter-Höllenhund des Todes?“ fügte sie hinzu und blickte ihn mit einem schelmischen Gesichtsausdruck an.

Es missfiel ihm, dass sie ihn „Miesepeter“ nannte und blickte zur Seite, sagte aber ohne Ironie „Ja, Sicher.“.

Es dauerte aber nicht lange, bis sie die Sache scheinbar wieder vergessen hatte und sich wieder voll und ganz der Musik widmete. Trotzdem wirkte sie etwas ruhiger und vorsichtiger.
 

Ab 21.00 Uhr, dem offiziellen Veranstaltungsschluss, fing die Band an, Zugaben zu spielen. Das bekamen Shuyin und Reiko allerdings nicht mehr mit, da sie gegen halb neun sich bereits wieder auf den Weg machten. Sie hatten schließlich noch eine Mission zu erledigen und Shuyin wollte ja noch zu Mexican Dog. Bei Mexican Dog war allerdings nicht so viel los. Das würde sich wohl ändern, wenn das ganze Konzert zu Ende wäre. Einer der Mitarbeiter hinter der Theke begrüßte Shuyin hocherfreut. Er hatte einen starken spanischen Dialekt. (Anm. d. Autors: Könnte sein, dass mein Dialekt hier eher italienisch rüberkommt)
 

“Bienvenido Shüyin, Compardre! Beehrste uns wieder? Weißt, biste immer wieder eine gern gesehene Gast. Oh, und eine hübsche Chica hast du auch dabei? Biste beliebt bei die Frauen, was?“

„Red keinen Blödsinn, wir sind nur Bekannte, mehr nicht.“

„Ah, verstehe. Dann es iste noch nichte beschlossene Sache, eh?“

Als nächstes sagte er irgendetwas in Spanisch zu Reiko, was Shuyin nicht verstand. Seiner Haltung und seinem Gesichtsausdruck zu urteilen muss es aber eine Anmache gewesen sein.

Reiko antwortete irgendwas auf Spanisch. Shuyin sowie der Thekenmann waren daraufhin höchst erstaunt; letzterer begann sich angeregt mit Reiko auf Spanisch zu unterhalten. Die Unterredung endete scheinbar mit einer Enttäuschung des Angestellten, die er aber mit spanischem Temperament locker und amüsiert wegsteckte.

„Ahh, iste schade, für alle drei von uns. Shüyin, was darf ich dir bringen, mein Freund?“

„Was willst du trinken?“ fragte Shuyin Reiko.

„Äh, einen Orangensaft und-“

„Nen O-Saft, ne Cola und vier Definitivo Chili Dogs, Meister.“ unterbrach er sie.

„Kommte sofort.“

„Vier Stück?“ fragte Reiko ungläubig.

„Ja. Oder wolltest du zwei?“

„Du verdrückst drei???“ fragte sie noch ungläubiger.
 

Zum Essen setzten sie sich an einen Tisch am Fenster. Sie saßen sich gegenüber. Reiko saß ganz brav und aufrecht, Shuyin machte es sich ziemlich bequem. Er lehnte sich ans Fenster anstatt an die Rücklehne an und legte die Beine hoch auf die ganze Sitzfläche. Das Essen kam erstaunlich schnell. Reiko verglich ihre Portion mit der von Shuyin. Schon ein Definitivo Chili Dog war für nen Hot Dog ausgesprochen riesig – und Shuyin wollte echt drei davon verdrücken. Das wollte sie nicht so recht glauben. Doch schon den ersten verschlang er regelrecht und in Windeseile. Nachdem das Essen auf dem Tisch stand, schien er ein bisschen anders, fast wie ein ganz anderer Mensch.

„Junge, wir sind hier zum Essen und nicht zum Schlingen.“ ermahnte ihn Reiko. Seine Essmanieren missfielen ihr anscheinend.

„Ich weiß...“ sagte er mit halbvollem Mund und schluckte schnell den letzten Bissen runter. „Das mach ich aber immer so. Den Ersten esse ich immer ganz schnell, damit erstmal der Hunger halbwegs weg ist. Den Zweiten dagegen esse ich ganz langsam, damit ich ihn genießen kann.“ erklärte er und er schien das vollkommen ernst zu meinen.

„Was ist mit dir, hast du keinen Hunger? Die musst du wirklich probieren, die sind göttlich!“

Sie starrte wieder auf ihren einzelnen Chili Dog.

„Oder hast du etwa bedenken, weil Fast Food angeblich ungesund ist?“

„Huh?“ sie schien, als habe er etwas sehr bedeutsames angesprochen.

„Nimm’s nicht persönlich, aber ich würde dich so einschätzen, dass du so eine bist, die immer ganz genau darauf achtet, sich gesund, ausgewogen und fettarm zu ernähren. In dem Fall wärst du hier an der falschen Adresse.“

„Wieso isst du das dann, wenn es nicht gut ist?“

„Weil man nicht alles glauben muss, was einem in den Medien oder so erzählt wird. Ich ernähre mich fast ständig von solchem Zeug und mir gehts prima.“

„Naja... ich hab wirklich noch nie so was gegessen... . noch nicht mal gesehen, ehrlich gesagt... . Ich kenn nur das Essen, das ich immer zu Hause oder im Krankenhaus bekam.“

Das mit dem Krankenhaus ignorierte Shuyin einfach mal, da er vermutete, dass sich dahinter eine eher unschöne Geschichte verbarg.

„Wenn du ihn doch nicht willst, kannst du dir nen Salat bestellen. Den Chili Dog ess ich meinetwegen auch noch.“

Sie überlegte noch kurz, dann sagte sie aber „Ach, es wird schon nicht schaden, mal was anderes zu probieren. Und schlimmer als die Pilze von heut Nachmittag wird’s schon nicht schmecken.“ und biss beherzt in ihren Definitivo Chili Dog.
 

Sie kaute langsam und bedächtig.

Sie achtete scheinbar ganz genau auf den Geschmack.

Sie hielt kurz inne.

Dann sah sie Shuyin mit ganz großen Augen an.
 

„MMMMHHHH! Dhie fhind ja... *runterschluck* die sind ja... einfach... die sind göttlich! Ich hab noch nie in meinem Leben so etwas Gutes gegessen!“ sagte sie und biss wieder ab. Sie aß jetzt genau so hektisch wie Shuyin seinen ersten Chili Dog. Sie sah aus, als würde sie gleich vor Glück weinen. Als er das sah, grinste Shuyin zufrieden in sich hinein.

„Ich hab dir doch gesagt, die sind göttlich. Und alles andere als göttlich wäre eine untertriebene Beschreibung. Verschluck dich nicht.“

Da sie jetzt genauso schnell aß, wie Shuyin, war sie natürlich schnell fertig mit ihren Chili Dog – und bestellte sich prompt einen zweiten.

(Anm. d. Autors: Habt ihr jetzt auch so’n Hunger wie ich :)?)
 

Während Shuyin seinen letzten Chili Dog in normalem Tempo aß, fragte er sie: „Du sprichst mexikanisch?“

„Das war spanisch. Und, ja, ich spreche Spanisch. *Kurze Sprechpause* Spanisch, Englisch, Französisch, japanisch natürlich und ein bisschen Deutsch.“

Wär dies ein Manga oder Anime, hätte Shuyin daraufhin seine Cola fontänenartig ausgespuckt.

„Waaas? Warum sprichst du so viele Sprachen? Ich bin froh, dass mein Englisch halbwegs brauchbar ist.“

„Warum?... tja, weiß ich gar nicht so genau. Ich hab sie einfach gelernt. Ist aber ganz lustig. Und vielleicht können mir die Sprachen ja irgendwann mal nützlich sein.“

„Du bist echt seltsam... manchmal könnte man meinen, dass du halb hinterm Mond wohnst, manchmal dagegen als hättest du alle Schulbücher der Welt auswendig gelernt.“

„...Ich dachte mir schon, dass ich nicht erwarten sollte, irgendwie normal zu wirken...“ sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Shuyin. Sie sah geknickt aus und starrte schweigend auf ihren Pappbecher mit Orangensaft. Shuyin wollte lieber nicht fragen, was sie damit meinte. Doch sie fing von alleine an: „Möchtest du... wissen, warum ich so bin, wie ich bin? Was ich... schon so alles durchgemacht habe?“

Er zögerte erst, dann sagt er aber: „Wenn du es unbedingt loswerden willst: Bitte. Aber erwarte nicht von mir, dass ich mehr als nur zuhöre.“
 

Das war ihr mehr als genug. Also legte sie los. Während sie sprach, starrte sie die ganze Zeit ihren Pappbecher an und hob ihren Blick nicht.
 

„Also… wo fang ich nur an? Ich… also… schon seit meiner Geburt, da… hab ich so eine schwere und seltene Krankheit, die es mir kaum ermöglicht, raus zugehen oder ein normales Leben zu führen… . Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens deswegen im Krankenhaus verbracht… den Rest zu hause im Bett. Mehr als diese zwei Orte hab ich auch nicht in meinem Leben besucht. Ich hab daher auch keine Freunde… wie auch, wenn ich nie rauskomme und anderen Menschen begegne? Meine Familie und meine Ärzte sind die einzigen Menschen, die ich kenne. Statt zur Schule zu gehen, bekomme ich Privatunterricht… meine Eltern opfern ihr ganzes Vermögen dafür und für meine medizinische Behandlung. Alles, was ich so weiß… weiß ich nur vom Privatunterricht und aus den Medien.“

Sie machte eine kurze Pause und holte tief Luft.

„Und ich schätze mal, dass ich jetzt hier bin, bedeutet, dass ich an meiner Krankheit gestorben bin… . Ich erinnere mich zwar nicht daran, gestorben zu sein, aber so muss es wohl sein… .“

Man hörte deutlich, dass sie versuchte, ihren Unmut über diese Tatsache zu überspielen.

Unangenehmes Schweigen.

Etwas nervös trommelte sie mit den Fingerspitzen leicht an den Seiten ihres Pappbechers rum. Sie blickte kurz auf zu Shuyin. Sie sah ihn im Profil, konnte aber seine Augen nicht sehen, da diese von ihrer Seite aus von seinen Haaren verdeckt wurden. Sie wünschte, er würde etwas sagen, aber er zeigte keine Regung. Also blickte sie wieder hinab auf ihren Pappbecher.
 

„Es… tut mir leid.“ sagte er plötzlich.

„Was?“

Er saß immer noch seitlich von ihr abgewandt und rührte sich nicht, während er sprach. Sie sah ihm an, dass er sehr vorsichtig und gewählt nach den richtigen Worten suchte.

„Es tut mir leid. Ich meine, wie ich dich behandelt habe. Ich war voreingenommen… und geblendet davon, dass ich durch meine Vorkenntnisse einen großen Vorteil in diesem Spiel habe. Doch jetzt, wo ich deine Geschichte kenne… ergibt dein ganzes Verhalten Sinn… und ich merke, dass ich völlig zu unrecht so fies zu dir war… und dass du das wirklich nicht verdient hast. Dafür bitte ich um Entschuldigung… es tut mir leid.“
 

Sie war so geschockt, so etwas von ihm zu hören, dass es ihr glatt die Sprache verschlug. Aber sie freute sich und in ihr machte sich eine sehr wohlige Wärme breit. Aber das wollte sie lieber für sich behalten, also sagte sie nur „Ach, ist schon in Ordnung“.

Wieder Schweigen, doch diesmal war es bei weitem nicht so unangenehm. Dann ergriff sie wieder das Wort:

„Was meinst du eigentlich mit »jetzt ergibt mein Verhalten Sinn«?“

„Na ja, einfach alles. Deine Bestürzung, als ich dir gesagt habe, dass du tot bist… kann ich jetzt nachvollziehen. Und überhaupt dein ganzes lebenslustiges Getue… dass du dich gern verausgabst, auch wenn es anstrengt… dass du alles, was du tust, scheinbar in vollen Zügen genießt. Du holst halt nach, was du bisher nicht konntest. Auch dein großes Wissen wundert mich jetzt nicht mehr so sehr.“

„Achso… Hm.“

„Dass du im Spiel von Shibuya gelandet bist, müsste bedeuten, dass du in Shibuya wohnst?“

„Was? Äh, ja. Wenn ich nicht im Krankenhaus bin, bin ich in unserer Wohnung in Shibuya.“

„In dem Fall hast du wirklich einiges verpasst… und einiges nachzuholen.“ sagte Shuyin, halb zu sich selbst und halb zu ihr.

„Was?“

„Nun ja… Shibuya ist einer der aufregendsten Orte dieser Stadt. Hier gibt es echt viel zu sehen und zu erleben. Wir sollten die Zeit, die wir in diesem Spiel haben, also gut nutzen, um möglichst viel, was du verpasst hast nachzuholen. Ich denke, damit haben wir heute schon einen guten Anfang gemacht.“

Mit dem letzten Satz drehte er sich nun erstmals wieder zu ihr um und er hatte einen optimistischen Ausdruck in seinem Gesicht, der sie wohl aufheitern sollte.

„Es ist zwar eine Ironie, das Leben erst nach dem Tod zu genießen, aber besser spät als nie.“ fügte er hinzu.

„Ja.“ sagte sie mit einem zustimmenden Lächeln, und sie hatte jetzt wieder richtig gute Laune.
 

Erstmal mussten sie sich aber beeilen, denn sie hatten nur noch eine knappe halbe Stunde bis Missionsende. Glücklicherweise war es von Mexican Dog nicht allzu weit bis Towa Records. Tatsächlich waren die Mauer vom frühen Nachmittag, sowie der dazugehörige Reaper, verschwunden. Vorm Eingang von Towa Records sahen sie sich um, doch es war nichts und niemand da . Eine leicht kreischige Stimme erregte ihre Aufmerksamkeit.
 

„Ihr zwei seht aus, als kommt ihr gerade von einem Gothic-Konzert von A-East, oder sehe ich das falsch?“

Als sie sich umdrehten, erblickten sie eine junge Frau in einem merkwürdigen, engen dunkelblauen Kleid, mit kurzen pinken Haaren und eine auffallenden Lippenstift. Begleitet wurde sie von einem groß gewachsenen, schlanken jungen Mann mit einem ärmellosen Parka mit Skelletaufdruck und einem ihm wichtig erscheinenden Lolli. Beide hatten schwarze Flügel. Sie waren also Reaper.

„Pinky und Lollypop? Sagt bloß, die heutige Mission kommt von euch?“

Die Frau mit den pinken Haaren antwortete ihm. Sie wirkte alles in allem irgendwie geladen. Der junge Mann an ihrer Seite dagegen war die Ruhe in Person.

„Oh, der Grünschnabel? Was machst du denn wieder im Spiel? Na ja, kann mir egal sein. Erzählt schon. Wie war das Konzert?“

Und sie erzählten beide. So ausführlich wie möglich. Und so enthusiastisch wie möglich. Auch Reikos Erlebnis von der Toilette wurde kurz angerissen. Als sie so weit mit Berichten fertig waren, sah Pinky extrem geladen aus.
 

„AAAAAARRRRRGGGHHH! Ausgerechnet heute muss ich die Mission leiten! Ich hab ja nichts gegen eine anständig bezahlte Arbeit, aber ich hab mich schon seit Monaten auf dieses Konzert gefreut! Das ist ja so was von UNGERECHT!!!“

„Wenn du so sauer deswegen bist, warum schickst du eine Mission raus, bei der man dir davon erzählen soll?“ fragte Shuyin und sah ein kleines bisschen eingeschüchtert aus.

„Oh, das ist alles Teil eines äußerst simplen, aber teuflischen Plans.“ sagte der Lolli-Mann mit gottesgleicher Ruhe.

„Wenn ich schon nicht auf das Konzert gehen darf, dann will ich wenigstens ein paar Spieler kaltmachen, um mir endlich meine schon längst überfällige Beförderung zu sichern!“ fuhr sie fort.

„Eure Erzählungen dienten lediglich dazu, ihre Wut noch weiter anzustacheln. Jetzt ist sie richtig heiß darauf, euch an den Kragen zu gehen.“ beendete der Lolly-Mann, immer noch unendlich gelassen.

„Wenn die Regeln nicht geändert wurden, dürft ihr aber keine Spieler angreifen.“ warf Shuyin noch in den Raum.

„Du Klugscheißer, das Maß ist voll! Ich brauch mich nicht persönlich um euch zu kümmern. HIER! Die tun’s auch!“
 

Mit diesen Worten beschwor sie eine Gruppe Noise und Shuyin und Reiko wurden unweigerlich auf ihre Kampfebenen gebracht.

Sie hatten es mit zwei Mosh Grizzly und vier Jungle Boomer (die Kängurus) zu tun. Das war das erste Mal in dieser Woche, dass sie es mit Noise dieser Größe aufnehmen mussten, dann auch noch in so großer Zahl. Reiko war natürlich eingeschüchtert, vor allem von den Grizzlys. Doch Shuyin konnte sie mit den richtigen Anweisungen halbwegs beruhigen: „Die Bären sind zwar groß und stark, aber Langsam. Greif sie aus der Distanz an! Und wenn die Kängurus in die Luft springen, bleib unbedingt in Bewegung!“
 

Um Reiko möglichst gut zu helfen, entschied er sich, zuerst auf die Grizzlys loszugehen. Sein schneller und weit reichender Kampfstil fügte den Grizzlys gleichzeitig Schaden zu und verhinderte gleichzeitig Angriffe ihrerseits. Was er nicht wusste: auch Reiko griff zuerst die Grizzlys an. Und wie er es gesagt hatte, tat sie es aus der Ferne mit Pyrokinese-, Force Round- und Donnerblitzangriffen. Die konzentrierten und geplanten Angriffe besiegten die Bären zum Erstaunen beider sehr schnell und hielten Schäden auf ihrer Seite gering. Danach widmeten sie sich den Boomers, wobei Reiko leichte Probleme bekam. Den Sprungangriffen wich sie zwar gemäß Shuyins Anweisungen aus, doch die frontalen Sprintangriffe sah sie erst spät kommen, sodass sie einige Treffer einsteckte. Nachdem sie aber einmal den Heilungspin benutzte, erkannte sie eine gute Angriffsgelegenheit, als alle 4 Boomer nahe beieinander standen, und setzte sie mit einer gezielten Flammenlinie in Brand. Shuyins Angriffe taten ihr übriges, sodass die Beiden diesen Kampf am Ende doch erfolgreich überstanden. Pinky war außer sich – noch mehr als ohnehin schon.
 

„Arrrgh! Warum nur? Warum geht heut alles schief? So krieg ich nie meine Beförderung! Das zahl ich euch heim, ihr nervigen Kröten! Wartet nur bis zum letzten Tag! Komm, Kariya. Wir gehen.“

„Hach… ist es so schwer, diese kleine Niederlage einzustecken und sie mit Würde zu tragen? Na ja, egal. Ihr wart gar nicht mal so schlecht, Kinder. Morgen bin ich übrigens Proxy-GM. Ich hoffe doch, wir sehen uns. Bye!“
 

„Das war ein ziemlich ungleiches Paar, wenn du mich fragst.“ bemerkte Reiko.

„Ja… so ganz reine sind die nicht. Aber wenn man sie nicht gerade zum Feind hat, können sie ganz lustig sein. Ich bin ja mal auf die morgige Mission gespannt.“

„Wieso? Meinst du, es wird ein harter Brocken?“

„Die Chancen stehen 50:50. Kommt ganz auf Kariyas Laune an. Kariya – der Typ mit dem Lutscher – ist zwar ein sehr genügsamer Zeitgenosse, kann aber ein harter Brocken sein. Wenn er wollte, könnte er schon ein hochrangiger Reaper sein – aber er hält den Ball lieber flach. Die morgige Mission könnte ein Spaziergang sein… oder ein Trip durch die Hölle. Und sollten wir direkt gegen ihn kämpfen müssen, stecken wir in der Klemme.“

„Oje. Dann hoffen wir mal, dass er morgen gut drauf ist.“

„Ich denke schon. Er ist nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, wie Uzuki, also seine …»temperamentvolle« Partnerin.“

„Wie mir scheint, kanntet ihr euch auch? Gibt es irgendwas, was dich und die Reaper verbindet?“

„Wie gesagt, für mich heißt es Runde 2… .“

„Gibt es… einen bestimmten Grund, dass du schon zum zweiten Mal mitmachst?“

„Das… erzähl ich dir vielleicht ein anderes Mal.“ sagte Shuyin und steckte die Hände in die Hosentaschen.
 

Ende Tag 3 „Freud’ und Leid“

Tag 4

Warme Sonnenstrahlen von der Seite weckten Shuyin. Sie waren so hell, dass sie trotz verschlossener Augen blendeten. Er hörte Vogelgezwitscher. Und er lag erstaunlich bequem - anders als am Vortag. Als er die Augen öffnete, sah er zuerst in einen strahlend blauen Himmel. Und Reikos Gesicht. Sie hatte die Augen verschlossen; er wusste nicht, ob sie schlief oder ob sie nur wegen der blendenden Sonne die Augen geschlossen hielt. Dann schreckte er hoch, denn er realisierte, in welcher Lage er sich befand: er lag auf einer Parkbank im Miyashita Park – mit dem Kopf auf Reikos Schoß.
 

Reiko erschrak ebenfalls, als er hochschreckte, aber offenbar war sie schon eine kleine Weile wach.

„Was ist denn mir dir los? Hat dich was gestochen?“

„Ähm… nein. Das nicht. es ist nur… warum lag ich denn so?“

Shuyin war sichtlich verlegen, aber Reiko ließ dies unkommentiert.

„Erst lagst du wieder auf dem harten Boden. Wäre dir das lieber gewesen? Ich dachte, wenn du schon so lange schläfst, könntest du wenigstens noch etwas bequemer liegen. Dann bist du vielleicht auch nicht so mies drauf, wie gestern.“
 

Sie hat ihn also so hingelegt. Sie hat es nur gut gemeint. Und sie hat sogar die gewünschte Wirkung erzielt. Er war wirklich besser drauf, als gestern und das lag vermutlich an dem sanften Erwachen.

Er beruhigte sich schnell wieder und setzte sich neben sie. Die Bank, auf der sie saßen, war genau auf den momentanen Sonnenstand ausgerichtet.
 

„Während du schliefst, hab ich ein bisschen die Sonnenstrahlen genossen…“

Er schloss die Augen und tat es ihr für den Moment gleich. Es war sehr angenehm. Er erinnerte sich an das gestrige Gepräch bei Mexican Dog.

„Dazu hattest du bisher bestimmt nicht so viele Gelegenheiten, oder?“

„Nein…“

Er öffnete sein linkes Auge und blinzelte zu ihr rüber. Mit verschlossenen Augen genoss sie die Sonne und lächelte dabei leicht. Da fiel ihm auf, dass sie schon die ganze Zeit lächelt, seit er aufgewacht ist.
 

Ihre Handys piepten. Und piepten. Und piepten noch 2 Mal. Erst beim 5. Mal holten beide ihre Handys raus.

„Bringt mir etwas, das mich amüsiert. Ich warte in Udagawa. Zeitvorgabe: 6 Stunden.“ stand in der SMS.
 

„Das kann ein Spaß werden.“ sagte er mit deutlicher Ironie.

„Das Gefühl hab ich auch.“ stimmte sie zu. „Machen wir uns auf den Weg?“

„Ein paar Minuten haben wir noch.“ sagte er, steckte sein Handy weg und ließ sich noch etwas die Sonne ins Gesicht scheinen.“

„Ich könnte ein Frühstück vertragen. Meinst du, wir können irgendwo unterwegs was abgreifen?“

„Definitiv. Hast du auf was bestimmtes Lust?“

„Nicht wirklich. Nur ein Definitivo Chili Dog sollte es nicht sein. Kannst du was empfehlen?“

„Klar, einiges. Wirst schon sehen.“

Kurze Pause. Dann fragte Shuyin:

„Schon ne Idee, was wir Lollipop mitbringen?“

„Nen Lolli vielleicht?

Er lachte leicht. „Das wäre zu einfach.“

„Hast du ne bessere Idee?“

„Hm… nen Definitivo Chili Dog vielleicht?“

„Du liebst die Dinger wirklich, oder?“

„Kannst du es mir verübeln?“

„Nein… aber ich glaube nicht, dass das ihn >amüsieren< würde.“

„Sollen wir ihm etwa nen Witz erzählen?“

„Kennst du denn ein paar Gute?“

„Einige… aber ich glaube nicht, dass das ausreichen wird.“

„Was kann man denn jemanden mitbringen, das einen amüsiert?“

„Das Kariya amüsiert.“ berichtigte er sie. „Das kann echt schwer werden, er wirkt an so ziemlich allem gänzlich desinteressiert.“

„Oje… . Machen wir uns los?“

„Mhm.“
 

Bei einer Fastfoodkette holten sie sich Frühstück. Für Reiko gabs einen Obstsalat mit Jogurt, für Shuyin ein paar Pfannkuchen auf die Hand mit Schokoladencreme. Auch nahmen sie sich beide einen Lolli und einen Devinitivo Chilio Dog mit – jeder wollte es wenigstens mal probiert haben. Als sie alles hatten, spazierten sie schnurstracks nach Udagawa.
 

Dort stand Kariya auch rum wie bestellt und nicht abgeholt– natürlich mit Uzuki an seiner Seite. Auch er genoss die Sonne, die in den Hinterstraßen von Udagawa nur an wenigen Stellen durchschien. Er schien leicht erfreut, als er Shuyin und Reiko sah.
 

„Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Ich hätte nicht so früh mit den ersten Spielern gerechnet. Also, was habt ihr mir schönes mitgebracht?“

Bevor er irgendwas bekam, platze Shuyin gleich mit der Tür ins Haus: „Tja, was würde dich denn amüsieren?“

Kariya grinste dabei leicht in sich hinein und schüttelte bedeutsam den Zeigefinger.

„Also DAS wäre nun wirklich zu einfach, findest du nicht? Ein bisschen Einfallsreichtum müsst ihr mir schon beweisen.“

Da Shuyin eine solche Antwort erwartete, nahm er es auch ganz gelassen hin, ging zum nächsten Punkt über und reichte Kariya prompt den Definitivo Chili Dog.

„Bitte sehr. Für dich. Guten Hunger.“
 

Als wäre das ein Stichwort gewesen, schritt Reiko entschieden auf Kariya zu und hielt ihm entschlossen den Lolli hin.

„Oho, wie aufmerksam. Ich bedanke mich.“ Kariya machte große Augen, als er diese „Gaben“ sah, verzog aber ansonsten keine Miene. Sogleich machte er sich daran, den Chili Dog zu verputzen, den er auch etwas hastig runter schlang. Mit dem letzten Bissen im Mund huldigte auch er die Küche vom Mexican Dog und steckte sich danach den Lolli in den Mund, als wäre es der Nachtisch.

„Hmm… herrlich…* schluck* du hast einen guten Geschmack, Junge. Ist zwar nicht ganz das richtige zum Frühstück, aber auf jeden Fall lecker.“

Uzuki sah sich das ganze mit verschränkten armen an und schüttelte bei dem Anblick von Kariya nur den Kopf.

„Damit wirst du wohl ne hohe Punktzahl heute einheimsen… aber das ist trotzdem echt unfair, wie du diese armen Kids so ausbeutest.“

„Wieso ausbeuten?“ fragte Reiko daraufhin.

Mit dem Daumen wischte Kariya sich den letzten Krümel vom Mund und antwortete dann: „Also ich bedanke mich noch mal für dieses wohlschmeckende Frühstück. Doch wohlschmeckend ist nicht gleichbedeutend mit amüsant, liebe Kinder.“
 

Die beiden Spieler ließen daraufhin missmutig die Köpfe hängen. Keine der beiden Ideen hatte Erfolg. Unterwegs grübelten beide auch schon kräftig nach und schauten sich überall nach etwas um, was einen amüsieren könnte, doch bisher haben sie nichts Überzeugendes gesehen.

„Ach nun schaut doch nicht gleich so drein. Ihr habt ja noch 5 Stunden und 6 Minuten. Strengt eure Köpfchen noch ein bisschen mehr an, ja?“

„Was? Es ist schon eine Stunde rum?“ stellte Reiko erschrocken fest und schaute auf den Timer, um sich noch zu vergewissern.

„Nunja, genau genommen 54 Minuten. Das ist noch nicht ganz eine Stunde. Oh, jetzt sind es 55 Minuten.“ korrigierte Kariya sie gelassen.

„Hilft alles nichts. Lass uns nach was anderem umsehen.“ sagte Shuyin und drehte sich um um zu gehen.
 

Sie suchten fast ganz Shibuya ab. Auch für Diese Mission stand der ganze Stadtteil zur Verfügung, nur an einigen wenigen Stellen war eine unsichtbare Mauer mit einem roten Reaper, der sie nur durchließ, wenn sie Kämpfe bestanden. Hinweise ließen sich nicht aus ihnen rauslocken. Auf der Suche nach Ideen horchten sie auch kräftig die Stimmen der Lebenden ab, aber auch da gab es nichts viel versprechendes. Sie versuchten es noch einige Mal bei Kariya, allerdings hatten sie erst Schwierigkeiten, von Materiellen Ideen loszukommen. Sie versuchten es mit Scherzartikeln, mit Postkarten, auf denen lustige Lebensweisheiten draufstanden und und und. Shuyin kaufte Sogar eine tragbare Spielekonsole mit einem Spiel, von dem er vermutete, dass man davon einfach lachen muss. Kariya spielte es zwar eine Weile interessiert an, aber einen Lacher konnte ihm nicht entlockt werden. In einem Buchladen las Reiko ein wenig in einem Witzebuch, merkte sich ein paar der Besten und trug sie Kariya vor. Sie war nicht gerade eine gute Witzeerzählerin… aber das war Shuyin noch weniger. Kariya schien zwar alle Witze zu verstehen und grinste – aber er lachte nicht. Von Amüsement hat er dabei noch nicht gesprochen.

Als Shuyin und Reiko zum wiederholten Male die Udagawa-Hintergassen verließen, nachdem sie Kariya NICHT amüsiert haben, machte Shuyin schließlich halt.
 

„Ich… hätte da vielleicht noch eine Idee… aber sie gefällt mir nicht…“

„Was denn? Jede Idee ist besser, als nichts.“
 

Er deutete auf einen Laden, an dem sie auch schon zum wiederholten Male vorbeigekommen sind. Im Schaufenster waren merkwürdig bunte Ganzkörperanzüge mit Masken zu sehen.

„Schon mal was von Cosplay gehört?“
 

Die Ganzkörperanzüge waren Kostüme vom „Great Slammurai“ und seinem Rivalen „Dead Slammurai“; die zwei Hauptfiguren in einer Kinderserie zum beliebten Spiel „Tin Pin Slammer“. Shuyins Vorschlag war, dass sie sich verkleiden und Kariya mit den Kostümen etwas Lustiges vorspielen. Shuyin kannte die Serie nur ganz leicht, ein Drehbuch müssten sie sich also aus den Fingern saugen.

Reiko war alles andere als Begeistert. Shuyin selbst aber auch. Nichts desto trotz hatten sie nichts zu verlieren und sie legten sich die teuren Kostüme zu (Reikos Kostüm war ihr übrigens viel zu groß) und performten vor Kariya und Uzuki eine halb selbst erfundene, halb improvisierte Real-Life Folge der „Tin-Pin-Slammer“-Serie. Und sie kamen sich dabei höllisch lächerlich vor – nicht zuletzt, weil Uzuki bei der Vorstellung lachend auf dem Boden lag. Das galt jedoch nicht für Kariya. Er bestaunte das ganze zwar mit großen verwundert dreinblickenden Augen, schien darüber hinaus aber nicht sonderlich angetan. Am Ende gab er einen halbherzig, deutlich ironischen Applaus von sich. Immer noch kein Erfolg. Die letzte Stunde dieser Mission brach an. Niedergeschlagen ließen sich beide auf einer Treppenstufe nieder.
 

„Wir sind am Arsch…“

„Es kann doch nicht so schwer sein, jemanden zum Lachen zu bringen!“

„Offensichtlich schon… du siehst es doch an ihm… entweder hat er eine tierische Selbstbeherrschung, oder der Typ ist einfach emotionslos…“

„Irgendwie muss er doch aber zum lachen gebracht werden können. Es gibt keinen Menschen, der nicht lachen kann… Ach man! Lachen ist doch nichts weiter, als eine reflexartige Atembewegung, die in schnellen Intervallen erfolgt und vor allem vom Zwerchfell angeregt wird…“
 

Bei ihren letzten paar Worten wurde Reiko immer leiser und langsamer. Auch Shuyin hob den Kopf, als er diese Beschreibung hörte. Einen Moment lang waren beide ganz still; man konnte förmlich das Rattern in den Köpfen der beiden hören. Dann sahen sie sich an und sprachen beide gleichzeitig den Gedanken aus, auf den sie durch Reikos Überlegung gekommen sind.
 

Ihre Besorgungen waren schnell gemacht; Shibu-Q-Heads war gleich um die Ecke. Bei der dortigen Apotheke wurden sie fündig, jedoch musste Shuyin bei der attraktiven Apothekerin Dr. Fumiko, die er offensichtlich auch kannte, starke Überzeugungsarbeit leisten. Man könnte glatt meinen, er hätte mit ihr geflirtet, um zu kriegen, was er will.

Und so machten sie sich wieder zu Kariya. Diesmal war es das letzte Mal, das wussten sie. Sie waren bereit. Kampfbereit, wenn es sein muss.
 

„Na, was habt ihr diesmal schönes vor?“ fragte Kariya mit siegessicherer Gelassenheit.

„Oh, diesmal haben wir was ganz spezielles für dich. Ist auch nichts Schlimmes…“ sagte Reiko unschuldig.

„Na da bin ich aber mal ge-“

Weiter konnte Kariya nicht reden, denn Shuyin drückte ihm ganz fix eine Atemmaske aufs Gesicht, wie man sie in Krankenhäusern kennt.

„Na toll, das habt ihr euch ja spitze einfallen lassen.“ meinte er nur unter der Maske. Er wusste, dass er in dem Moment verloren hatte, als er die Maske auf dem Gesicht hatte. Noch ein paar wenige Atemzüge mehr und Shuyin ließ wieder von Kariya ab. Dieser musste erst ein wenig sein Gleichgewicht wieder finden.
 

Er grinste breit. Er kicherte. Das Kichern wurde immer stärker. Bis er sich schließlich kaum noch auf den Beinen halten konnte vor lachen. Man konnte sehen, dass er krampfhaft versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, aber es half nichts. Im Endeffekt lag er wirklich vor lachen auf dem Boden und machte einen ziemlich großen Lärm in den sonst so ruhigen Hintergassen von Udagawa. Schon allein der Anblick seines unhaltbaren Lachanfalls animierte zum mitlachen, doch der Grund, weshalb auch Shuyin und Reiko lachten, war der, dass sie selbst in einer kleinen Wolke von dem Lachgas standen, das sie Kariya gewaltsam eingeflöst haben. Die einzige, die nicht mitlachte sondern stattdessen den Kopf schüttelte, war Uzuki.
 

Unter großen Mühen rappelte Kariya sich wieder auf, um den Spielern mitzuteilen, dass sie die Mission bestanden haben, jedoch konnte er kaum mehr als zwei aneinanderhängende Worte auf einmal raus bringen vor Lachen. Er hatte sich zwar was anderes vorgestellt, aber dennoch haben sie ihn zum Lachen gebracht, so stark, wie er schon lange nicht mehr gelacht habe, meinte er. Also haben sie bestanden.
 

Ende Tag 4 „Geben und Nehmen“

Tag 5

Nachdem er sie auf die Sitzbank legte, beobachtete er sie noch etwas. Sie hatte einen sehr zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Ihre Atembewegung war gleichmäßig und ruhig. Er erinnerte sich an gestern, wo sie alle drei herzhaft lachten. Er mochte ihr Lachen. Er ertappte sich selbst dabei, dass er sie langsam mochte und gern um sich hatte. Auch war sie kein wirklich nutzloser Partner (mehr), er merkte mittlerweile sehr deutlich, dass sie ihr Bestes gab. Vor allem gestern: die vielen Geschenke für Kariya kosteten den beiden Spielern ein kleines Vermögen, was sie durch einige Kämpfe wieder aufstocken mussten. Sie hat sich nie beschwert oder gejammert.
 

Er stellte sich in den Regen hinein, aus dem er sie gerade gebracht hat. Es war schon eine Weile her, seitdem er das das letzte Mal tat. Schon zu Lebzeiten mochte er Regen, das Gefühl auf der Haut, den Geruch und vor allem den Klang. Eine Weile stand er nur da, horchte und fühlte. So lebendig, wie er sich jetzt fühlte, zweifelte er fast daran, dass er eigentlich tot war.
 

„Wenn du da noch länger rum stehst, fängst du dir noch ne Erkältung ein.“

„Ach was, ich werd so schnell nicht krank.“

„Es kam übrigens schon die Mission rein.“
 

Er war so in seinen Gedanken versunken, dass er das gar nicht mitbekam.

„Setze erst die Bauern, dann den König Schachmatt. Spiele am Eingang zum Reich der Ratten. Zeit: 4 Stunden.“ war die heutige Mission. Sie schien leicht begeistert.

„Ein Schachspiel? Interessant… .“

„Ich glaube nicht, dass es sich um ein Schachspiel handeln wird…“

„Nein? Was dann?“

„ Ich hab dir doch gesagt, dass die die Missionen gerne in Rätseln ausdrücken. Ich denke, mit den Schachmatt setzen, sind Kämpfe gegen Noise gemeint. Die allermeisten Missionen verlangen früher oder später nach Kämpfen.“

„Schade. Ich hätte nichts gegen eine gute Party Schach einzuwenden. Kannst du Schach spielen?“

„Nein. Mir ist Go lieber. Aber auch da bin ich nicht so überragend drin. Hast du eine Ahnung, was es mit dem Reich der Ratten auf sich haben könnte?“

„Hm… nein, nicht so wirklich… obwohl: mir fällt da grade was ein.“

„Was denn?“

„Kann es sein, dass es eine Kleidermarke namens >Mus Rattus< gibt?“

„Ja, die gibt es. Warum?“

„Mus Rattus ist lateinisch für Ratte.“

„Dann ist die Sache eigentlich klar. Schätze, wir müssen dann vor einem Eingang zu einem Mus Rattus-Laden kämpfen. IM Laden selbst geht das ja nicht.“

„OK… weißt du, wo es solche Läden gibt?“

„Ja. Es gibt 4 Stück in Shibuya. Sie sind auch alle gar nicht mal so weit weg.“

„A propos: wo sind wir eigentlich?“

„Beim Busbahnhof in der Nähe von Hachiko.“
 

Die Bank, auf der sie lag bzw. saß, war unter dem Wartehäuschen an der Haltestelle. Nachdem alles besprochen war, machten sie sich auf den Weg. Vorher hielt sie ihn aber noch zurück: ihr war aufgefallen, dass der Regen den Kajal, den er noch von Tag 3 an den Augen hatte verwischt war (ja, sie trugen beide noch die Gothic-Klamotten). Mit einem Taschentuch machte sie es wieder sauber.
 

Der erste Laden von Mus Rattus war der bei 104. Die Noise, die es in diesem Gebiet gab, waren nicht sonderlich auffällig: durchschnittliche Anzahl, durchschnittliches Verhältnis aus kleinen und großen Symbolen. Er vermutete, dass in dem betroffenen Gebiet eine größere Konzentration von Noise auf sie warten würde oder viele große Symbole oder irgendetwas Auffälliges. Von ihr kam dann aber der Vorschlag trotzdem zur Sicherheit die Noise vor jedem Eingang zu besiegen. Bevor sie sich an die erste Gegnerwelle machten, überflogen sie nochmal kurz ihre PIN-Sammlung. Er gab ihr einige neue, stärkere Pins, die er bisher für sich behielt und erklärte ihr die Wirkung der Pins, von denen er sie kannte. Er selbst blieb bei seinen Nahkampf-Pins, die er schon seit dem Letzten Spiel so benutzte.
 

Zuerst kämpften sie eine kleine Kette zur Vorsicht, dann erhöhten sie wieder die Kettengröße. Als alle Noise bei 104 besiegt waren, scannten sie die Umgebung nochmals. Nichts, alles leer. Der Timer war noch da. Hier waren sie also falsch. Also auf zum Nächsten gebiet. Dieses war gar nicht so weit weg: das Shibukyu Main Store war gleich um die Ecke. Ein Scan dort offenbarte: hier waren sie offenbar richtig. Eine sehr große Anzahl kleiner Noise-Symbole, allesamt in goldener, statt roter Farbe, überschwemmte diesen Ort förmlich. Bei diesem Anblick erinnerte er sich wieder: goldene Noise-Symbole waren missionsrelevant. Das hatte er irgendwie total vergessen.
 

Auch hier starteten sie wieder mit einer kleinen Kette und sie erhöhten Nach und nach die Anzahl, bis sie es bei 6-er-Ketten beließen. Sie erkannte schnell, wo der Haken bei diesem Teil der Missionen war: die Menge der Gegner und auch der Schaden, den sie abkriegen, sollte sie langsam aber sicher zermürben. Innerhalb der Kämpfe hatten sie es auch immer mit einer großen Anzahl kleiner, schwächerer Gegner zu tun, die wiederum Angriffe einsetzten, die an sich wenig Schaden machten, aber dafür sehr häufig trafen. Doch er erledigte die kleinsten Gegner meist mit einem einzigen Rundumschlag seines Vacuum Wave-Pins, sie kümmerte sich um die Heilung, falls mal Not am Mann sein sollte.
 

So erledigten sie einen Gegner nach dem anderen, es müssen um die 50 Kämpfe gewesen sein. 2 Mal legten sie dazwischen eine etwas größere Pause ein, um sich kurz zu erholen. Als sie das Gebiet schließlich von den vielen kleinen Noise-Symbolen gesäubert hatten, scannten sie die Umgebung noch ein weiteres Mal: ein einzelnes, sehr großes Noise-Symbol ist aufgetaucht – eins, das nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch seinem Design etwas Furcht erregend aussah.
 

„Das ist dann wohl der ominöse König.“ stellte sie fest.

„Sieht ganz danach aus. Wir sollten sehr vorsichtig damit sein. Und uns vorher noch mal ausruhen.“

„Warum so zögerlich? Du stürzt dich doch sonst immer Hals über kopf in jeden Kampf.“

„Normalerweise schon… aber dieses Symbol ist auffällig groß. Und noch dazu ein Goldenes. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich dahinter ein Gegner verbirgt, mit dem selbst ich arge Probleme kriegen könnte…“

„Das ist… schwer vorstellbar. Ich hab dich zwar noch nicht kämpfen sehen, aber ich merke trotzdem, wie stark du bist…“

„Jeder hat seine Grenzen. Und die Kunst ist nicht, sie zu überschreiten, sondern sie weiter zu verlegen.“

„Uhh… das klingt ungewöhnlich tiefsinnig.“

„Ich weiß es, seitdem ich das letzte Mal meine Grenzen überschritt. Das führte dazu, dass ich das Spiel zum zweiten Mal spiele…“

„Ich weiß, ich sollte nicht so neugierig sein… aber ich wüsste gerne, wie es dazu kam, dass du schon zum zweiten Mal mitmachst…“

„Hm… nicht jetzt. Es würde mich nur ablenken. Je nachdem, was die Zeit sagt, vielleicht nach dem Kampf mit dem „König“, OK?“

„OK. Ach übrigens: ich hab herausgefunden, wie man einige der Pins verwendet, die du mir gegeben hast. Und zwei haben sich mittlerweile sogar verändert!“

„Wirklich? Super. Manche Pins verändern sich, wenn man lange mit ihnen kämpft. Ich denke, ich werde für den nächsten Kampf meine Auswahl auch noch mal überdenken…“
 

Und er überdachte sie noch mal. Zur Abwechslung legte er sich einen Heilungs-Pin an – etwas, was er sonst nicht machen würde; er hätte es nicht nötig. Dann legte er noch 2 weitere Pins an, die ihn Fernkampf ermöglichten. So sollte er für jede Situation gewappnet sein. Dann noch ein letztes Mal tief durchatmen… und dann begannen sie den Kampf.
 

Er behielt Recht mit seiner Befürchtung: der Noise, dem sie gegenüberstanden, war von elefantöser Größe und Gestalt. Ein Patchy R&R. Mit einem solchen Noise hatte er noch nie zu tun.
 

Aus Gewohnheit stürzte er sich zuerst im Nahkampf auf den Gegner. Ein paar Treffer landete er, aber als der Noise einmal auf den Boden stampfte, schleuderte die Schockwelle den Angreifer wieder zurück. Also blieb er erstmal auf Abstand und nutzte seine Distanz-Angriffspins. Ein paar Lightning Bolt-Angriffe und eine recht lang anhaltende Pyrokinese. Doch die waren sehr schnell verschossen und es würde etwas dauern, bis sie sich wieder aufladen würden. Also griff er trotz des Risikos, verletzt zu werden, wieder aus der Nähe an. Für den Notfall hat er ja noch den Heilungspin.
 

So wiederholte sich das einige Male: Nahkampf, zurückgeschleudert, Fernkampf, Nahkampf… schließlich brauchte er den Heilungspin wirklich, der zu seinem Glück schon so weit entwickelt war, dass er ihn mehrfach benutzen konnte. Dennoch zermürbte ihn der riesige Gegner: er ließ sich nicht ein bisschen zurückwerfen und seine Vitalenergie schien kein Ende zu nehmen. Er fragte sich, wie es ihr erging… würde sie Schaden nehmen, würde er ihre Erschöpfung auch spüren, doch er nahm nur seine eigene Müdigkeit wahr.
 

Schließlich… das letzte Mal, dass er in diesem Kampf den Heilungspin nutzen konnte… und der Noise war immer noch nicht besiegt. Jetzt wurde es eng. Er beschloss, nur noch Distanz-Pins einzusetzen und die Wartezeit zum Aufladen einfach auszusitzen. Doch das half nichts: die Stampfer des Elefanten-Noise waren so mächtig, dass die Erde auch aus weiter Entfernung bebte. Wenn sie den Gegner nicht bald besiegen würden, wäre der Kampf verloren.
 

Seine Erschöpfung wuchs weiter und weiter. Er hatte immer mehr Probleme, sich auf den Beinen zu halten. Er dachte wirklich, das wäre es gewesen, er hatte versagt… doch dann legte sich seine Entspannung und er spürte, wie seine Kräfte zurückkehrten. Woher kam das? Sie! Sie muss einen Heilpin verwendet haben!

Er nutzte diese wohl allerletzte Chance und schleuderte noch mal seine Distanz-Angriffe auf den Gegner. Als diese erstmal wieder verschossen waren, stürzte er sich wieder in den Nahkampf. Ein Hagelfeuer von Shockwave-Angriffen prasselte auf den Elefanten ein und irgendwo zwischen den Schlägen… löste er sich endlich auf.
 

Sie hatten gewonnen. Er war sich nicht sicher, ob es sein Angriff war, der den Gegner besiegte, oder ihr Angriff. Aber das war auch egal. Als sie sich beide wieder auf der gleichen Ebene befanden, sackte er erst einmal zusammen.

„Alles OK mit dir?“ fragte sie. Sie wirkte bei weitem nicht so abgekämpft, wie er, aber wirklich ‚taufrisch’ sah sie auch nicht aus.

„Es geht schon, Danke. Und bei dir?“

„Ich bin OK. Und… sieh mal, ich hab das hier gefunden…“

Sie hielt ihm einen schwarzen Pin hin, der das Symbol, der den Noise, den sie gerade besiegten, in weiß darstellte. Sie hatte dem Gegner also den letzten Schlag versetzt. Aber das war es nicht, was ihn so überraschte.

„Das ist ein sehr seltener Pin. Bestimmt mächtig und wertvoll.“

„Woher weißt du das?“

„Ich hab mal was davon gehört, dass es Pins gibt, deren Gestaltung denen von Noise nachempfunden ist. Sie gehören zu den seltensten und mächtigsten Pins, so heißt es. Und der hier… ist offenbar dem Gegner nachempfunden, den wir gerade besiegt haben.“

„Das war ein echt zäher Brocken…“

„Allerdings. Wie erging es dir?“

„Es ging. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, aber als ich raus fand, dass man den Erdwellen am Besten entgeht, indem man in der Luft bleibt, ist mir fast nichts mehr passiert und ich hab angegriffen, was das Zeug hält.“

„Dir… ist fast nichts mehr passiert, sagst du?“

„Nein, kaum. Hier, dieser Pin lässt dich schweben. Somit bin ich den ständigen Beben immer entgangen. Trotzdem fühlte ich mich immer wieder schwach…“

„Schätze, das lag an mir…“ sagte er schließlich und blickte betreten zur Seite. Es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich zum Schluss ihren Heilpin einsetzte, um ihre gemeinsame Lebensenergie wieder aufzufrischen.

Ein Blick auf die Hand: Kein Timer. Die Mission war also geschafft.
 

Ein Klatschen ertönte. Ein langsames Klatschen, das von sehr großen, kräftigen Händen kommen muss. Dazu kam dann noch das Lachen einer Tiefen, kräftigen Männerstimme.

„Hervorragend. Wirklich eine delikate Vorstellung. Das war ein Festessen für die Augen. Dafür gebe ich euch 4 von 5 Sternen.“ tönte es plötzlich hinter den beiden Spielern.

Dort trat ein sehr groß gewachsener Mann auf sie zu, ein Hüne von einem Kerl, ein wahrer Bulldozer. Er hatte längere, dreadlock-ähnliche Haare und einen Furcht einflößenden Blick, geradezu geisterhaft.
 

„Ach… der ist es…“ sagte Shuyin, mehr zu sich selbst als zu seiner Partnerin.

„Du kennst den?“ fragte sie zurück.

„Ja. Das ist Yodai Higashizawa, ein hochrangiger Reaper. Lass mich raten, du bist heute der Proxy-GM?“

„Das ist korrekt. Ich bin froh, dass ihr meine Aufgabe heute überstanden habt und ich hoffe sehr, dass ihr die letzten 2 Tage auch noch übersteht. Der Vorgeschmack, den ich bis jetzt von euch habe, macht Lust auf mehr.“ antwortete der Hüne.

„Was faselt der?“

„Er hat es irgendwie mit Kochen und Essen. Was willst du von uns? Du bist doch sicher nicht nur vorbeigeschneit, um mal Hallo zu sagen?“

„Ich wollte mir mal genauer ansehen, worauf ich ohnehin schon ein Auge warf. Und ich stelle fest, ihr beide habt alles, was es braucht, um das Menü zu einem würdigen Abschluss zu führen.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen. ‚Ich weiß selbst, dass wir stark genug sind, um dieses Spiel zu gewinnen. Wenn es sein muss, machen wir jeden einzelnen von euch kalt.“ entgegnete Shuyin. Trotz seiner harschen Wortwahl blieb er aber ruhig in der Stimme.

„Tse! Dein falscher Ehrgeiz ist einfach zu köstlich. Du glaubst, du bist stark? Du bist alles andere als das. Dein Beitrittspfand ist der Beweis dafür.“

Shuyins Auge zuckte kurz bei diesem Argument. Offenbar hatte der Riese einen wunden Punkt getroffen.

„Was hat mein Beitrittspfand mit meiner Stärke zu tun?“

„Ganz einfach: dein Beitrittspfand ist vollkommen wertlos! Die Tatsache, dass etwas so wertloses dein Pfand wurde, heißt nur, dass du nichts Wertvolleres zu bieten hast! Und warum? Ganz einfach…“

„Ich rate dir, nicht weiter zusprechen…“

„…du hast nichts wertvolleres zu bieten, weil du bereits alles verloren hast! Weil du schwach bist! Und selbst, wenn du das Spiel gewinnst, wird sich nichts daran ändern! Du wirst nur wieder ohne irgendetwas dastehen – unfähig irgendwas zu tun!“

Plötzlich schaltete sich Reiko ein: „Jetzt halt aber mal die Luft an, ja? Du weißt doch gar nichts über Shuyin! Er ist stark, ob du es glaubst oder nicht! Wer gibt dir das recht, so über ihn zu sprechen?“

„Interessant, dass du dich jetzt zu Wort meldest, junge Lady. Ich gebe die Frage an dich zurück: was weißt du denn schon über deinen Partner?“
 

Er machte eine kurze Pause. Dieses Argument zeigte durchaus Wirkung, sie schreckte kurz zurück. Was wusste sie eigentlich über Shuyin? Er fuhr fort:

„Siehst du? Du bist keinen Deut besser. Du hast genauso wenig das Recht, über ihn zu urteilen. Auch nicht, ihn in Schutz zu nehmen. Denn sei doch ehrlich zu dir selbst: was kümmert er dich? Was kümmern dich andere? Alles, was für dich zählt, bist du selbst. Auch dein Beitrittspfand zeugt von deinem unendlichen Egoismus.“

Noch ein Volltreffer. Reiko war plötzlich ganz klein. Shuyin fragte sich jetzt zum ersten Mal, was ihr Beitrittspfand war. Was ihn aber mehr kümmerte war, dass Higashizawa dafür sorgte, dass es Reiko sichtbar schlecht ging.
 

„Und du bist nichts weiter als Kitanijis kleiner Speichellecker. Wer hat dich überhaupt nach deiner Meinung gefragt?“

„Und wieder zeigst du deine eigene Schwäche… deine Unfähigkeit, dir einzugestehen, dass ich Recht habe. Du willst der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken; dass sie dich fallen lassen würde, wie eine heiße Kartoffel, wenn sie könnte.“

„Halt endlich die Klappe!“

„In deinem innern weißt du es doch. Du wusstest es von Anfang an. Du wolltest sie nie als Partner haben, denn du wusstest, dass es dir nichts bringt. Auch jetzt würdest du lieber einen anderen Partner haben – und das zu Recht. Auf Egoisten kann man sich nämlich nicht verlassen-“

„Ich sagte, halt die Klappe!!!“
 

Mit diesen Worten stürzte sich Shuyin auf den Schrank. Er schlug ihn mit der Faust direkt ins Gesicht. Ob Higashizawa den Schlag nicht kommen sah oder ihn einfach treffen lassen wollte – der Schlag traf genau ins Schwarze. Der Riese taumelte aber nur ein bisschen. Shuyin holte zu einem weiteren Schlag aus. Und noch einen und noch einen. Er rastete völlig aus. Der Riese zeigte aber kaum Reaktion, er ließ die Schläge (und gelegentliche Tritte) einfach auf sich einprasseln. Shuyin steigerte sich immer weiter in seine Rage hinein, warf ihm alle möglichen Sachen an den Kopf. Der Hüne wehrte sich nicht. Es war Reiko, die Shuyin schließlich zurückhielt, indem sie ihn von hinten festhielt, als er gerade noch mal ausholen wollte.
 

„Hör auf, Shuyin! Bitte lass das, das hat doch keinen Sinn! Hör bitte einfach auf damit…“

Shuyin beruhigte sich schlagartig. Er hatte völlig die Kontrolle über sich verloren. Ein blick zu ihr über die Schulter: sie war total in Tränen aufgelöst. Diesmal verschmierte ihre Schminke. Seine innere und äußere Anspannung löste sich, als er merkte, dass er gerade unnötigerweise ausgerastet ist.
 

Higashizawa richtete sich wieder auf. Er blutete „nur“ leicht an der Lippe, ansonsten schien ihm das alles gar nichts ausgemacht zu haben. Er wischte sich die Lippe ab und sagte nur noch boshaft grinsend: „Euer Verhalten zeigt mir nur, dass ich in allen Punkten Recht habe. Ich erwarte euch dann am letzten Tag. Lasst euch vorher nicht auffressen.“ Mit diesen Worten verschwand er.
 

Er atmete noch einmal tief aus. Sie ließ von ihm ab. Er drehte sich zu ihr um und sah ihr verweintes Gesicht. Er wollte etwas sagen, doch bevor er die richtigen Worte fand, sagte sie etwas.

„Shuyin… war das wirklich nötig?“

Die Frage kam für ihn etwas überraschend. „Vermutlich nicht. Aber… ich konnte nicht anders. Er hat mich einfach zur Weißglut gebracht. …tut mir leid.“ sagte er. Dann holte er ein Taschentuch raus und diesmal war er es, der ihr die verwaschene Schminke wegwischte. Stumm und mit geschlossenen Augen ließ sie ihn machen.
 

„Mach dir besser nichts aus dem, was er gesagt hat. Er versucht damit nur, uns zu verunsichern und einen Keil zwischen uns zu treiben.“ versuchte er sie zu beruhigen.

„Aber… was, wenn er Recht hat?“

„Glaubst du denn, dass er Recht hat?“

„Ich… weiß es nicht…“

„Was ist denn dein Beitrittspfand gewesen?

„Ich… weiß es gar nicht… . Was ist mir dir?“

„Ich weiß es nicht genau… aber ich habe eine Ahnung.“

„Ist das normal, dass man nicht weiß, was man als Pfand aufs Spiel setzt?“

„Nein, normalerweise weiß das jeder Spieler.“
 

Eine kurze Weile war Stille. Dann fiel ihr etwas ein: „In einer Sache hat er wirklich Recht.“

„Und die wäre?“

„Dass ich… eigentlich nichts über dich weiß…“

„Das… ist wohl richtig. Aber du weißt doch, woran das liegt, oder?“

„… daran, dass ich nur an mich selbst denke?“

„Blödsinn!“

Sie erschrak ob dieser plötzlichen, lautstarken Reaktion. Er hatte ein leichtes Lächeln im Gesicht, als er ihr erklärte, warum sie falsch lag.

„Der Grund dafür beweist, dass der Typ mit keinem Wort Recht hat.“

Sie überlegte kurz, schüttelte dann aber fragend den Kopf um anzudeuten, dass sie noch nicht verstand.

„Ich hab dir ganz einfach nichts über mich erzählt. Nicht mal, als du mich gefragt hast. Es liegt also nur an meiner Sturheit, nichts weiter.“

Diese Erkenntnis, sowie sein zuversichtliches Lächeln weckten auch in ihr wieder Zuversicht und sie lächelte.
 

Ende Tag 5 „Recht und Unrecht“

Tag 6

Die Sonne stand hoch am Himmel. Es gab kaum einen Weg, ihr am Scramble Crossing zu entkommen. Aber das war auch nicht weiter schlimm: angesichts des letzten Tages, der sehr kalt ausfiel, war ihm die Hitze am heutigen Tage nur recht. Er saß auf einer Bordsteinkante, die Arme auf den angewinkelten Knien verschränkt, sie saß neben ihn und schlief noch an ihn angelehnt.
 

Er dachte an gestern – an das, was Higashizawa sagte. War er wirklich so schwach? Er war nach wie vor der Meinung, dass er durch die Erfahrung und die Stärke, die er sich seit seinem letzten Spiel erarbeitet hatte, wirklich einen Vorteil hatte. Dass er eine Kampfstärke besaß, die sonst kein Spieler so schnell an den Tag legen würde. Die Kämpfe gestern waren in dieser Woche die ersten, die mal eine Herausforderung für ihn waren.

Dennoch beunruhigten ihn einige Dinge, die Higashizawa sagte. Sein Beitrittspfand… er konnte sich nicht erinnern, was es diesmal war. Er konnte sich an so vieles nicht erinnern. Nur daran, dass er für etwas Wertvolles kämpfte. Für etwas, was für IHN wertvoll war. Doch abgesehen von dieser vagen Motivation… viel ihm nichts ein, was es in seinem Leben sonst noch gäbe. Wofür er sonst zurück ins Leben wollen würde. In dem Punkt musste er Higashizawa Recht geben. Doch es gab diesen einen Grund für ihn und das reichte. Er vermutete, dass sein Beitrittspfand etwas mit der Erinnerung zu tun hatte, die ihm jetzt fehlten. Also würde sich alles klären, sobald er das Spiel gewinnen würde.
 

„Stört es dich?“ sagte sie plötzlich, ohne sich zu bewegen. Er vermutete dass sie meinte, dass sie an ihm lehnte.

„Nein.“ sagte er.

„Gut… ich bin noch müde.“

Er hätte gerne „Lass dir Zeit.“ gesagt, doch das wäre nicht 100%ig seine Meinung gewesen. Genauer wäre es gewesen, wenn er sagte „Lass dir Zeit, biss die Mission reinkommt.“, doch so etwas wollte er ihr jetzt nicht an den Kopf knallen. Davon mal abgesehen würde sie vermutlich selbst aktiv werden, wenn die Mission rein käme. Er legte die Stirn auf die vor ihm verschränkten Arme und ließ sich die Sonne in den Nacken scheinen. Er spürte den sanften Druck, den seine an ihn angelehnte Partnerin auf ihn ausübte. Wie lange war es her, dass er so mit einem anderen Menschen in Berührung kam? Lang… er wusste es nicht. Und er genoss es für den Moment, auch wenn sich komischerweise ein winziges Schuldgefühl in ihm breitmachte. So döste er auch noch mal eine Weile weg. Wie lange, wusste er nicht. er wurde schließlich geweckt, indem Reiko ihn neckisch in die Seite piekte.
 

Es kam immer noch keine Mission rein. Sie entschieden sich also wieder, sich umzuschauen und zu prüfen, welche Gebiete offen sind. Dabei stellten sie etwas recht beunruhigendes fest: alle Wege waren mit unsichtbaren Mauern blockiert. Es standen keine roten oder schwarzen Reaper rum. Es gab also keine Möglichkeit, das Scramble Crossing zu verlassen. Würde die Mission etwa nur hier stattfinden?
 

Für’s Erste blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf die Mission zu warten. Alles Weitere sollte sich dann klären. Sie stellten sich spaßeshalber genau in die Mitte der großen Kreuzung. Mit der Zeit lief er ungeduldig hin und her. Dabei lief er… gegen jemanden?
 

Er und der Angerempelte sahen sich ungläubig an. „Bist du ein Spieler?“ fragte Shuyin schließlich. Der andere WAR ein Spieler und natürlich auch von seinem Partner begleitet. Sie kamen kurz ins Gespräch und die Tatsache, dass es momentan keinen Ausweg vom Scramble Crossing gab, bestätigte sich. Sie warteten weiter. Shuyin merkte, dass immer mehr Spieler sich in der Mitte der Kreuzung versammelten – immer dann, wenn sich zwei aneinanderrempelten. Das war eine Angewohnheit vieler Spieler: durch andere einfach durchgehen zu wollen. Rein vom Äußeren konnte man einen Lebenden schließlich nicht von einem Spieler unterscheiden, außer der Spieler trug richtig offensichtlich seinen Player-Pin.

Die Zeit verging und mittlerweile hatten Shuyin und Reiko das Gefühl, nur noch von anderen Spielern umgeben zu sein.
 

Schließlich schlug es 13 Uhr. Mit einem Mal durchschnitt eine Frauenstimme das Stimmendurcheinander der Spieler.

„Seid gegrüßt, Spieler.“ sagte sie.

Alle Blicke der Spieler richtete sich in die Richtung, aus der die Stimme kam; von der Nordseite der Kreuzung. Dort stand plötzlich eine Frau. Eine blonde Frau mit einer weißen Bluse, darüber ein enges, schwarzes Einteilerkleid, das in einem kurzen Rock endete, kurz darunter zierten lange dunkle Strumpfhosen ihre langen Beine. Ihre Haare waren zu einer strengen Frisur zusammengesteckt und sie trug eine Brille mit kleinen ovalen Gläsern. Ihre dunkelvioletten Fingernägel waren erstaunlich lang und sie trug ein Klemmbrett mit sich. Obendrein war sie sehr attraktiv, mit einem auffallend stattlichen Vorbau. Sie sah aus, wie die fleischgewordene stereotype „sexy Sekretärin“. Shuyin und Reiko standen relativ weit nördlich der Gruppe, weshalb sie die Frau schnell bemerkten. Shuyin erkannte sie und wurde leicht unruhig.
 

„Ich bin Konishi, der Game Master für den heutigen Tag, und ich begrüße euch zum letzten Spieltag der Woche.“ sagte sie und rückte sich dabei ihre Brille zurecht.

Ein minimales Raunen ging durch die Spielermenge. Shuyin unterbrach die Stille und sprach sie an: „Ähm… ich glaub, du hast da was falsch verstanden, Konishi. Morgen ist auch noch ein Tag… .“

Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf Shuyin. „Wie ungewöhnlich; ein bekanntes Gesicht. Nun, ich bin mir sehr wohl bewusst, dass eine Spielwoche aus 7 Tagen besteht. Doch das nur unter der Vorraussetzung, dass am letzten Tag noch Spieler übrig sind, die spielen können. Doch das wird nicht der Fall sein.“

Einige Spieler machten ein fragendes Gesicht, ein paar wenige verstanden sofort, was sie damit andeuten wollte und regten sich ob dieser Beleidigung auf. Auch Shuyin verstand, doch er ließ sich dadurch nicht weiter beunruhigen. Denn er wusste, wie ernst die Sache war.
 

Nachdem einige Spieler ihren Unmut direkt an Konishi richteten, sprach diese weiter.

„Ihr wisst, dass ihr nur weiterkommt, wenn meine Mission erfüllt wird. Doch meine Analysen ergaben, dass ihr das nicht schaffen werdet. Es liegt an euch, mich vom Gegenteil zu überzeugen.“
 

Mit einem Mal klingelten überall Handys. Auch Shuyins und Reikos Handy. Die Mission kam also rein. Alle schauten wie gebannt auf ihre Mobiltelefone.

„Besiegt die 4 Pig-Noise, die sich irgendwo in Shibuya verstecken. Zeitlimit: 8 Stunden. Auf Scheitern folgt Auslöschung.“ hieß es.

Viele lachten bei dieser Nachricht. „Vier läppische Noise besiegen? Und dann auch noch bei dem Zeitlimit? Das ist ja wohl ein Kinderspiel!“ und ähnliches hörte man von einigen.

Alle Handys klingelten kurz darauf noch mal. „PS: Nur die, die am Erfüllen der Mission beteiligt sind, werden dieses Mal weiterkommen.“ hieß es in einer weiteren SMS.

Stille unter den Spielern. Im ersten Moment kochte eine höllische Unruhe in Shuyin auf.

„Das ist gar nicht gut…“ sagte er.

„Warum?“ fragte sie.

„Überleg mal… das Ziel sind 4 Noise. Nur, wer eins davon besiegt, kommt weiter. Das heißt, dass maximal 4 Teams weiterkommen. Alle anderen können sie Segel streichen.“
 

Bevor Reiko ihm mitteilen konnte, wie schrecklich sie diese Sonderregelung fand, erhob Konishi erneut das Wort:

„Der Fairness halber möchte ich euch noch eine Kleinigkeit wissen lassen. Alle Missionen, die diese Woche soweit erteilt wurden, wurden immer vom gleichen Spielerteam gelöst. Der Zusatz der heutigen Mission dient dazu, dass sich keiner mehr auf die Taten eines anderen verlässt und dass EIN Team nicht mehr für das Weiterkommen ALLER Spieler verantwortlich ist.“
 

Sie wollte schon gehen, als Shuyin sie noch kurz zurückhielt:

„Hey, Konishi! Was soll das? Ist das überhaupt erlaubt? So eine Regel? Widerspricht das nicht dem eigentlichen System des Spiels?“

„Ich fühle mich nicht genötigt, dir das zu erklären. Ich wünsche euch viel Glück bei eurem letzten Tag. Euch steht übrigens ganz Shibuya offen.“ sprach sie und verschwand.
 

Einen Moment lang herrschte noch Stille unter den Spielern. Dann breitete sich bei einigen Panik aus und ein par Teams machten sich hastig auf den Weg. Er und sie blieben stehen, und sie sah ihm seine innere Unruhe deutlich an.

„Was ist los? Du wirkst durcheinander. Ist es wegen dieser Frau oder wegen der Mission?“

„Beides…“ sagte er, verschränkte die Arme und ließ nachdenklich hastig seinen blick über den Boden schweifen.

„Oh, magst du sie etwa?“ scherzte sie. Ihn brachte das etwas aus der Fassung.

„Was? Äh, nein, das ist es nicht, es ist nur…“

„Also doch!“

„Nein, es ist wirklich nicht so, wie du denkst!“

Ihr blick ließ keine Widerworte zu. Er seufzte und setzte dann zu einer kurzen Erklärung an.

„Also gut, ich gebs zu: ich find sie sehr anziehend. Ich meine, du musst doch zugeben, dass sie wirklich verdammt heiß ist, oder?“

Sie grinste selbstgefällig in sich hinein.

„Aber ich will nichts von ihr, denn ihr Charakter ist alles andere, als toll. Sie ist ein manipulatives, berechnendes, eiskaltes Miststück.“

Kurze Stille, in der sie ihr Grinsen wieder verlor.

„Ich mach mir wesentlich mehr Sorgen wegen der Mission.“

„Ja… sollten wir uns nicht auch auf den weg machen?“

Er verschränkte die Arme und sah wieder ganz nachdenklich aus.

„Nein, ich denke nicht…“

„Was? Warum nicht? Wenn wir nicht wenigstens eins dieser Noise finden, war es das für uns! Das hast du selbst gesagt!“

„Richtig, aber ich glaube, dass da mehr dahinter steckt… In Panik verfallen ist auf jeden Fall der falsche Weg.“

„Was schlägst du dann vor? Was glaubst du, ist denn dann der richtige Weg?“
 

Er dachte verbissen nach. Sogar im wörtlichen Sinne, denn er biss sich dabei auf den Finger. Seine Gedanken rasten hin und her, doch er kam zu keinen Schluss, er konnte sie nicht ordnen.

„Shuyin, sag mir, was du denkst! Wenn du alleine nicht weiterkommst, dann lass uns gemeinsam nachdenken! Dafür sind wir doch Partner!“
 

Das riss Shuyin aus seinen Gedanken. Und brachte ihn auf eine andere Herangehensweise.

„Also schön. Sag mir, was du angesichts der Mission und Information, die wir bis jetzt haben, am liebsten machen würdest.“

„Ich… würde so einen Pig-Noise suchen… und wenn ich ihn finde, natürlich hoffentlich besiegen… . Ach ja, ich würde Shibuya wohl lieber systematisch absuchen.“

„OK… . Du findest einen Pig-Noise und besiegst ihn. Was machst du dann?“

„Hm… ich würde… mich wohl auf die Suche nach den anderen machen? Obwohl… es ist doch sehr wahrscheinlich, dass jemand von den anderen sie findet und besiegt. Also wäre das wohl nicht mehr nötig?“

„Du würdest dich also nach dem ersten besiegten Noise in Sicherheit wiegen und quasi die Beine hochlegen?“

„Ja… gut möglich. Aber es ist noch so viel Zeit. Zur Sicherheit kann man ja trotzdem nach weiteren Pig-Noise suchen.“
 

„OK. Belassen wir es erstmal dabei. Konishi wäre nicht Konishi, wenn es so einfach wäre. Vermutlich ist das Verhalten, was du mir grad beschrieben hast, genau das, was sie erreichen will. Folglich ist es die falsche Herangehensweise. Und die große Zeitvorgabe, sowie die Zusatzinformation sollen uns sicher auch auf eine falsche Spur locken. Ich glaube sogar fast, dass die Zusatzinformation eine Farce ist.“

„Wir sollen also das Gegenteil von dem machen, was sie will? Sollen wir etwa nichts machen?“

„Doch doch, irgendwas müssen wir machen. Das Missionsziel ist eindeutig vorgegeben. Die Frage ist nur, wie wir es erreichen. Du kennst doch sicher das Sprichwort >Der Weg ist das Ziel<.“

„Ja, schon. Aber sag mal, warum sollte es eigentlich falsch sein, das zu tun, was sie will?“

„Weil sie damit erzielen will, dass Spieler dabei draufgehen. Das ist schließlich das Ziel eines jeden Reapers. Und Konishi hat bisher mit Abstand die höchste Quote beim Spielerausschalten. Es ist also höchste Vorsicht geboten.“

„Au Backe, das klingt echt übel… aber mir fällt auch nichts ein, was wir stattdessen machen sollen.“

„Ich… schlage vor, dass wir trotz allem erstmal die Pig-Noise suchen und besiegen, wenn wir eins finden. Und in jedem Fall sollten wir uns beeilen.“

„Auf einmal? Hast du nicht gesagt, dass wir das nicht tun sollten?“

„Es ist sicher nicht der richtige Weg, die Mission zu erledigen, aber es könnte weitere Hinweise geben. Und ein guter Weg, eine Falle zu entschärfen, ist sie kontrolliert auszulösen.“
 

Bis hierhin standen noch drei weitere Spielerteams um Reiko und Shuyin und hörten ihren Überlegungen zu. Eines von ihnen war das Team von demjenigen, mit dem Shuyin erst zusammengestoßen ist. Bevor sie sich auf den Weg machten, versicherten die anderen Teams ungefragt, dass sie es genauso machen würden wie Shuyin und Reiko und dass sie auch andere Teams, wenn sie ihnen begegneten, von den bisherigen Überlegungen in Kenntnis setzen würden.
 

Er überlegte sich mit ihr zusammen eine Route durch Shibuya, die wohl am effektivsten wäre. Zuerst hielten sie sich westlich Richtung Hachiko und liefen weiter bis zur Bahnlinienunterführung. Bis dorthin scannten sie jedes Gebiet. Bei der Bahnhofsunterführung fanden sie schließlich ein Spielerteam, welches offensichtlich sehr zufrieden mit sich war. Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie hier ein Pig-Noise fanden und besiegten. Einer der beiden präsentierte sogar stolz einen wertvollen Pin, den er von dem Noise gewann. Ansonsten machten sie es genau so, wie Shuyin und Reiko es sich erst ausmalten: wegen einem besiegten Noise legten sie die Beine hoch.
 

Er scannte die Umgebung… und hörte ein Grunzen. Er sah sich um und entdeckte bald ein Noise-Symbol, das wie eine grüne Schweinsnase aussah. Reiko war gewissermaßen überrascht. Ein Nicken zwischen den beiden und der Kampf ging los.

Der Schweins-Noise schlief merkwürdigerweise zu Kampfbeginn. Auch ihr fiel das auf und machte erstmal gar nix. Er wartete kurz ab und schlich sich an den schlafenden Noise. Dann zündete er einen Angriff, auf den er noch gewartet hatte. Der Noise war gleich beim 1. Treffer besiegt und hinterließ einen Pin – den gleichen Pin, den der andere Spieler vorher stolz präsentierte. Als sie wieder im UG waren, witzelte der andere Spieler über sie: „Hey, wogegen habt ihr denn jetzt gekämpft? Den Pig-Noise hier haben wir doch schon besiegt.“

Wortlos zeigte Shuyin ihm den Pin, den er gerade erbeutet hat. Der andere Spieler war darüber über alle Maßen erstaunt. Shuyin scannte die Umgebung erneut. Ein Grunzen. Das Noise-Symbol war wieder da, an genau der gleichen Stelle.
 

Da war also schon mal ein Haken an der Sache, wenn nicht sogar DER Haken. Es war schon mal gut, davon zu wissen, auch wenn noch nicht klar war, was das zu bedeuten hatte, oder wie man damit umgehen sollte.

Sie wussten beide, dass es keinen Sinn haben würde, den Noise hier immer wieder zu besiegen, also machten sie sich wieder auf den Weg, auf die Suche nach dem nächsten Noise. Bis zum Scramble Crossing rannten sie zurück, von dort aus liefen sie zu 104 und nahmen die linke Straße nach Dogenzaka. Kurz vor der Abbiegung, die zu A-East führte, war er heilfroh, doch noch eine unsichtbare Mauer zu finden: die die zu Pork City führte. Er erklärte ihr schnell auf dem Weg, dass dieser Ort für Spieler besonders tückisch sei, da es die Pins beeinflusst, die man trägt. Als sie dann vor A-East waren, kamen zwei erleichtert aussehende Leute aus dem Gebäude. Shuyin sprach sie an und es stellte sich heraus, dass diese Spieler im Gebäude ebenfalls einen Pig-Noise besiegten. Als wäre es nur eine Beiläufigkeit erkundigte er sich, ob sie von dem Noise einen bestimmten Pin bekamen, woraufhin sie stolz ihre Errungenschaft präsentierten. Es war nicht der gleiche Pin, wie bei dem anderen, aber das Design war ähnlich. Daraufhin betraten er und Sie die dunkle Halle von A-East, scannten… und fanden wieder einen Pig-Noise. Sie starteten den Kampf. Diesmal griff sie zuerst an – und erledigte den wieder schlafenden Noise mit dem ersten Treffer. Sie erbeutete den gleichen Pin, den die zwei Spieler vor A-East auch hatten. Noch ein Scan. Der Noise war wieder da.
 

Keiner von beiden stellte irgendwelche Fragen an den anderen, sie machten sich einfach weiter auf den Weg. Am Shibukyu Main Store über 104 zurück zum Scramble Crossing, wo sie in die Straße zum Center St. Entrance einbogen. Im hintersten Teil der Udagawa-Hinterstraßen trafen sie auf 2 Spielerteams, die sich schon darüber unterhielten, dass die Pig-Noise immer wieder auftauchen. Hier waren sie also richtig. Kurzer Scan, ein Grunzen, ein grünes Schweinenasen-Noise-Symbol, ein Kampf gegen einen schlafenden Pig-Noise, der nach dem ersten Treffer besiegt war und ein erbeuteter Pin, den auch schon die anderen Spieler (mehrfach) besaßen. Wieder zogen sie ohne Verzögerung weiter ihres Weges. Bei Tipsy Tose Hall bogen sie zu Spain Hill ab, weiter über Molco nach Cadoi City. Dort machten sie noch einen kleinen Abstecher zum Shibu Department Store, doch auch da gab es nichts. Also wieder zurück nach Cadoi City und weiter Richtung Cat Street – ihrem vorerst letzten Ziel. Dort fanden sie zwar keine anderen Spieler, doch direkt vor Hanekomas Wild Cat fanden sie den letzten Pig-Noise. Bevor sie diesen Kampf starteten, änderte er noch etwas an seinen ausgerüsteten Pins. Er wollte etwas ausprobieren.

Wie nicht anders zu erwarten, schlief auch dieser Pig-Noise. Zuerst betrachtete Shuyin den Noise noch mal eingängig in der Hoffnung, irgendwas zu finden, was sie weiterbringen könnte. Doch er fand nichts. Also setzte er den Pin ein, den er sich extra für diesen Kampf angelegt hatte. Es war der Schwächste Pin, den er besaß. Und er griff auch nur ein einziges, ganz behutsames Mal damit an. Der Noise war sofort besiegt und hinterließ wieder einen Pin. Noch ein Scan und wieder war das grüne Noise-Symbol da. Ein Blick auf die Hand: der Timer war noch da.
 

Er hatte zwar irgendwo doch die winzige Hoffnung, dass die Mission so einfach sei, wie sie scheinen mag, aber er hat ja auch damit gerechnet, dass dem nicht so ist. Eine letzte Information wollte er noch einholen, wozu sie gleich noch mal den Kampf starteten. Anstatt den Noise anzugreifen, tippte er ihn nur an, ganz leicht, um ihn zu wecken. doch als der Noise aufwachte, rannte er plötzlich los, wie von der Tarantel gestochen und war weg. Ein fliehender Noise… das hat er auch noch nicht erlebt. Und damit wäre auch bewiesen, dass es nichts bringt, den schlafenden Noise einfach nur zu wecken. Jetzt wollte er erstmal wieder seine Gedanken sammeln und sie Ordnen. Da es sich anbot, setzten sie sich dazu ins Wild Cat und bestellten beide jeweils einen Schoko-Milchshake. Auch diesmal saß wieder der grauhaarige Junge in der hintersten Ecke und beobachtete die beiden Spieler unbemerkt. Hanekoma erkundigte sich kurz bei den Beiden, wie es ihnen erging, bei der Gelegenheit fragte Shuyin ihn gleich, ob diese Zusatzregel denn rechtens sei.
 

„Im Normalfall ist das überhaupt nicht Rechtens. Es sei denn, die Mission weißt bestimmte Eigenschaften auf, die eine solche Zusatzregelung rechtfertigt. Wenn man es richtig dreht, kann man sicher Ausnahmefälle für solche Regelungen erzeugen. Und dieser Konishi würde ich es locker zutrauen, dass sie sich solche Missionen zurechtlegen kann.“

Richtig, der wäre so etwas zuzutrauen. Von allen Reaper hatte sie den höchsten IQ; die einzige, die Minamimoto diesbezüglich schlagen konnte. Das war aber auch schon alles, wo Hanekoma helfen konnte, zur Lösung der heutigen Mission konnte er nichts beitragen. Also ließ er sie auch größtenteils in Ruhe, während sie noch mal ihre Informationen durchgingen.
 

„Also, was wissen wir? Wir kennen die Aufenthaltsorte der Pig-Noise. Wir wissen, dass sie immer wieder auftauchen. Diese Mission ist im Prinzip unlösbar. Das wiederum ist definitiv gegen die Regeln. Also muss es eine Lösung geben.“ fasste Shuyin zusammen.

„Wenn diese Frau wirklich so clever ist, hat sie bestimmt alles bis ins kleinste Detail geplant… also sollten wir vielleicht auch jedes noch so kleine Detail beachten, meinst du nicht?“

„Denkst du da an was Bestimmtes?“

„Hm… mal überlegen… fandest du es nicht auch merkwürdig, dass vor der Mission so viele andere Spieler auf einen Haufen versammelt waren? Und dass sie noch vor der Mission höchstpersönlich auftauchte?“

„So was meinst du… in der Tat, das war merkwürdig. Das kann sie durchaus absichtlich so eingefädelt haben. Nur zu welchem Zweck?“

„Hm… vielleicht… damit wir uns der anderen Spieler bewusst werden?“

„Wie kommst du darauf?“

Naja, bis gestern hatte ich fast das Gefühl, wir seien die einzigen beiden Spieler. Mich hat das heut echt überrascht. Und weißt du noch, wo du mich fragtest, was ich am liebsten machen würde?“

„Was war da“?

„Ich hab schon in etwa mitbekommen, worauf du hinauswolltest. Ich merkte es in dem Moment, als ich selbst sagte, dass ich die restlichen Noise anderen Spielern überlassen würde. So etwas mein ich.“

„Hm… ja, doch. Das klingt einleuchtend. Ich denke, du hast recht damit, dass sie wollte, dass wir uns der anderen Spieler bewusst werden. Ich hab sowieso schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass wir bei dieser Mission gezwungen sind, mit anderen Spielern zusammenzuarbeiten.“

„Nur in welcher Form? Was können 2 oder mehr Teams erreichen, was ein Team nicht erreicht?“

„Gute Frage… mir fällt da nichts Konkretes ein.“
 

Hanekoma mischte sich kurz ein, während er nebenbei ein paar abgespülte Gläser abtrocknete: „Was ist mit den Pins, die ihr bekommen habt? Ist irgendwas an denen besonders?“

Daraufhin holten sie die 4 Pins raus, die sie von den schlafenden Noise erbeuteten und legten sie vor sich auf den Café-Tisch. Shuyin legte sie sich in der Reihenfolge vor sich, in der sie die Pins erhielten. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass auf den Pins Worte standen. Sie waren aber ein wenig unleserlich, weil sie in so einem undeutlichen Graffiti-Stil geschrieben waren. Aber mit etwas Mühe konnte er sie doch entziffern.
 

get her to work
 

„Get her to work… das ist englisch. Was soll das denn?”

“Hm… ein Pin für jedes Wort… vielleicht müssen wir sie nur umlegen, sodass eine andere Nachricht rauskommt?“

„Was soll man da schon groß draus machen?“

Er legte die Pins um und sagte jedes Mal seine Zusammenlegung laut mit.

„Get work to her… work her to get… nein, das is Blödsinn… to get her work… get to work her... nein, das ist auch Blödsinn… get to her work… wer ist denn >sie<, verdammt noch mal? Work to get her…”

“Halt, warte, ich glaub ich habs!“

„Was?“

„Das letzte! Hier, schau mal…“
 

Sie legte die Pins so, wie er es zuletzt hatte, aber mit unterschiedlichen Abständen, sodass eine etwas andere Nachricht ans Tageslicht trat.
 

work together
 

„Oh…“ stellte er verwundert fest.

„Da haben wir es. Oder fällt dir was Besseres ein?“

„Nein… schätze, das ist ein Hinweis. Gut gemacht.“

„Ach komm, du hattest es doch schon so zurechtgelegt.“

„Ja, aber ich hab nur blindlings drauflos geschoben.“

„Naja, ist ja jetzt egal. Wir sind schon mal ein Stückchen weiter. Jetzt… müssen wir in erster Linie wohl wieder andere Spieler suchen, oder? Nur was machen wir dann mit ihnen?“

„Wir dürfen nicht mehr so denken, als spielten wir das Spiel nur für uns selbst… was können mehrere Spielerteams, was ein einzelnes nicht kann?…“ satte er und tippte sich dabei wieder nachdenklich gegen die Stirn.

„Was hältst du davon, wenn wir erstmal ein paar andere Spieler zusammentrommeln? Die können wir ja dann auch fragen. Zusammen finden wir vielleicht eher eine Lösung. Und unterwegs können wir auch noch grübeln.“

„Gut, machen wir es so. Lass uns keine Zeit vertrödeln.“

Zeit hatten sie schon genug vertrödelt. Es waren schon fast 4 der 8 Stunden um und die Spätnachmittagssonne war mittlerweile gar nicht mehr so heiß. Sie zahlten fix und machten sich wieder auf den Weg.
 

Unterwegs teilten sie sich ohne Absprache die Aufgaben: Shuyin grübelte weiter darüber nach, wie die Teams zusammenarbeiten sollten, Reiko hielt nach anderen Teams Ausschau. Es dauerte nicht mal lang, bis sie permanent nach Spielern schrie. Keine dumme Idee, schließlich würde sie auch nur von Spielern gehört werden. Sie hatte auch Erfolg: bis sie wieder am Scramble Crossing waren, begegneten ihnen 3 Teams, die ihnen im Endeffekt auch alle folgten. Das erste der Teams war sogar das, was sie zu allererst gesehen haben. Um mehr Überzeugungsarbeit zu leisten, zweckentfremdete Reiko die M’sieur Lapin-Puppe, die sie von Princess K bekommen hat, als schwarzes Brett und befestigte dort die 4 Pins so, dass die Nachricht deutlich zu lesen war. Auch Shuyin kamen unterwegs ein paar kleine aber feine Ideen, wie andere Teams hilfreich sein könnten. Mit der Zeit wurde er immer besser darin, nicht so konventionell zu denken und auf neue Ideen zu kommen.
 

Am Scramble Crossing angekommen verlautbarte Shuyin, dass er wieder einen kleinen Plan hatte, den er gerne mit der Hilfe eines weiteren Teams umsetzen möchte. Der Typ vom Anfang – seinh Name war Marco – meldete sich freiwillig. Offenbar hatte er von Anfang an ein gewisses Vertrauen zu Shuyin. Die anderen beiden Teams stellten sich bereitwillig der Aufgabe, mehr Teams zu versammeln. Reiko überlies ihnen sogar bereitwillig den „Message M’sieur“, wie sie die Stoffpuppe jetzt nannte. Zufällig hatten die anderen Teams auch schon genug dieser Pins gesammelt, sodass die Nachricht ein zweites Mal zusammengesetzt werden konnte, so konnten sie besser getrennt voneinander suchen. Shuyins und Marcos Team machten sich noch mal auf den Weg zur Unterführung; Shuyin wollte mit der Hilfe des anderen Teams 2 Dinge anhand der Kämpfe gegen die Noise herausfinden.
 

Am Zielort angekommen, startete er erstmal einen Kampf gegen ein normales, rotes Noise-Symbol. Er wollte, dass das andere Team während des gesamten Kampfes mit dem Playerpin scannt und sich das Symbol anschaut, mit dem Shuyin und Reiko kämpften.

Er machte eine interessante Entdeckung: Marco beschrieb es so, dass während des Kampfes das Symbol zittert oder vibriert und dabei permanent seine Farbe ändert. Genau in dem Moment, in dem die beiden Kämpfer wieder auf der UG-Ebene auftauchten, war das Symbol verschwunden. Soweit so gut. Als nächste sollte die wichtigere Information geprüft werden. Das gleiche Spielchen noch mal, aber diesmal mit dem Pig-Noise. Auch hier gab es eine Information, die Shuyin sehr wichtig war: nachdem der Kampf beendet war und die Spieler sich wieder auf dem UG befanden, dauerte es ein paar Sekunden, bis das Noise-Symbol wieder erschien. Noch ein Kampf, um genau zu testen, wie lange. Marcos Partner stoppte die Zeit mit seiner Armbanduhr. Genau drei Sekunden. Sehr gut, Shuyin hatte gehofft, dass es etwa so laufen würde. Ein dritter Versuch, wieder am Noise-Symbol des Pig-Noise. Diesmal wollte Shuyin wissen, was passiert, wenn ein anderer Spieler ein Noise-Symbol berührt, welches gerade in einen Kampf verwickelt ist. Er und seine Partnerin zogen den Kampf künstlich in die Länge, indem sie gar nichts machten. Das Ergebnis: als Marco das Symbel berührte, wurde er davon zurückgeschleudert und Shuyin und Reiko wurden aus dem Kampf geschleudert. Das Symbol verschwand nicht. Es wurde also wie ein Kampfabbruch behandelt.
 

Jetzt hatte er einen konkreten Plan. Dieser musste zwar nicht die Lösung aller Probleme sein, aber angesichts aller bisher gesammelten Informationen, der geheimen Nachricht und der besonderen Missionsregeln schien dies die beste Chance. Es musste einfach klappen. Sie machten sich abermals zurück zum Scramble Crossing. Dort warteten sie erst eine kleine Weile, sie hatten noch etwas knapp 3 Stunden übrig. Nach kurzer Zeit stießen auch die anderen Teams wieder zu ihnen, die sich vorher von ihnen trennten und sie hatten weitere Teams im Schlepptau. Ein Team jedoch sträubte sich offenbar gegen die Idee der Zusammenarbeit und musste hergeschleift werden.
 

Er war zufrieden mit der Menge an Teams, die nun hier waren. Es waren mehr als die Hälfte der Teams, die sich zu Anfang hier versammelten. Das sollte reichen, um seinen Plan auszuführen. Auch sie war zufrieden mit sich, dass sie so viele Teams zusammentrommeln konnte.

Er begann nun, allen die bekannten Informationen so kurz und verständlich wie möglich zu vermitteln. Auch seinen Plan beschrieb er. Alle hörten ihm aufmerksam zu, wenn es Fragen gab, wurden sie zu gegebener Zeit gestellt. Offensichtlich war er für die Anderen Teams so etwas wie ein Anführer geworden. Nun ja, für die meisten. Das Team, das nichts mit alledem zu tun haben wollte, stellte seine Autorität, die er ja eigentlich auch gar nicht hatte, in Frage. Er wurde dabei relativ grob in seiner Wortwahl, war offenbar drauf und dran, auf Shuyin loszugehen, doch dieser blieb ruhig.
 

„Was glaubst du Spinner eigentlich, wer du bist, hä? Hältst dich wohl für was besonderes, oder warum spielst du hier den Anführer?“

„Ich spiele hier überhaupt nicht den Anführer. Ich mache mir lediglich Gedanken, wie man diese Mission zu Ende bringen kann. Das sollte auch in deinem Interesse sein.“

„Willst du mich damit etwa locken? Das zieht bei mir nicht. Hier kämpft dich jeder für sich allein. Was hast du schon davon, anderen zu helfen? Du weißt doch, dass nur 4 Teams weiterkommen, oder nicht? Du willst wohl unbedingt dazugehören, was?“

„Wenn wir die Mission nicht beenden, kommt keiner weiter. Auch, wenn jeder einen Solotrip macht, kommt er bei dieser Mission nicht weiter. Deswegen möchte ich gern mit den anderen zusammenarbeiten.“

„Du bist so n Klugscheißer, weißt du das? Redest, als hättest du die Weißheit mit Löffeln gefressen. Was macht dich bitteschön zu etwas Besonderem? Nenn mir einen guten Grund, warum ich dir folgen sollte!“

„Ich hab nie behauptet, etwas Besonderes zu sein…“

Etwas Besseres wusste er an dieser Stelle nicht zu erwidern. All seine Argumente hatte er bereits genannt und sich zu wiederholen brächte wohl nichts. Aber Reiko konnte ihm da raus helfen.

„Ich sag dir, warum er etwas Besonderes ist und warum du ihm wenigstens zuhören solltest.“ Den Nächsten Satz sprach sie sehr langsam und betont auf und zeigte dabei noch mal bedeutungsvoll auf ihren Partner.

„Er hier… mein Partner Shuyin… spielt das Spiel nämlich schon zum 2. Mal. Er hat also mehr Ahnung von dem ganzen, als wir alle. Reicht das als Antwort?“

Ein Raunen ging durch die Menge. Die Sonne war bereits hinter den vielen Hochhäusern verschwunden und nur noch das Restlicht beleuchtete die Szenerie.
 

Der Querulant verstummte erst. Offenbar traf ihn diese Information genauso wie alle anderen. Aber er ließ dennoch nicht locker.

„Ach so ist das… na schön, dann hast du eben mehr Ahnung von diesem Spiel. Aber weißt du was? Wenn dem so ist, denke ich, dass du allen anderen hier lieber den Vortritt lassen solltest.“

Ein anderer Spieler fragte, was er damit meinte.

„Na ist doch klar: der Typ hat schon mal eine zweite Chance bekommen. Und er war so blöd, sie nicht vernünftig zu nutzen! Wenn ihr mich fragt, hat er Pech gehabt! Warum sollte er eine dritte Chance bekommen, wenn einige von uns nicht mal die zweite bekommen sollen, hä?“
 

Marco haute ihm eine rein. Dann geigte er ihm mal die Meinung.

„Und warum solltest du überhaupt das Recht auf eine zweite Chance haben? Du bist so ein Ekel, du denkst nur an dich selbst! Er versucht wenigstens für alle das Beste rauszuholen! Aber du verdienst es meiner Meinung nicht mal, um eine zweite Chance zu spielen.“

Stille. Der Typ auf dem Boden hielt sich die Wange und sah Marco ungläubig an. Marcos Worte zeigten offenbar auch Wirkung. Er fuhr fort:

„Außerdem… ist das denn die Art, es demjenigen zu danken, der uns überhaupt erst bis Tag 6 gebracht hat?“

Überraschte Blicke auf Shuyin und Reiko. Shuyin blickte überrascht zu Marco zurück.

„Sag schon. Ihr zwei seid das Team, die bisher alle Missionen erledigt haben, stimmts?“

„Woher… weißt du das?“

„Das hatte ich so im Gefühl. Schon von Anfang an. Du hast die ganze Zeit den Eindruck gemacht… naja, wie soll ich sagen? Als ob es… Alltag für dich wäre? Als ob du einfach hier rein gehörst? Außerdem… wenn du schon zum 2. Mal spielt, ist es doch recht wahrscheinlich, dass du weniger Probleme mit den Missionen hast, oder?“ antworte ihm Marco mit einem Grinsen.

„Huh…“
 

Als ob es Alltag für ihn wäre. All ob er hier rein gehört… er wusste gar nicht, wie richtig er damit lag. Doch damit wollte Shuyin jetzt weder sich noch andere belasten. Sie hatten nur noch etwas mehr als 2 Stunden. Die Diskussionen mit dem Querulanten nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch. Also ging er noch mal über den Plan.
 

„Also gut. Wir brauchen 4 Gruppen, sie sollten nach Möglichkeit aus einer gleichgroßen Anzahl Teams, aber mindestens 2 Teams bestehen. Jede Gruppe begibt sich zu einem Standort der Pig Noise. In jeder Gruppe wird ein Team gewählt, dass den entscheidenden Kampf ausführt. Unser Ziel ist es, die Pig-Noise an jedem Ort genau zum gleichen Zeitpunkt zu erledigen. Wir haben nur eine Zeittoleranz von 3 Sekunden, also ist Timing das A und O. Bedenkt, dass die Noise schon beim kleinsten Angriff besiegt sind, aber fliehen, wenn sie ohne Angriff aufgeweckt werden. Also nehmt einen Angriff, den ihr sehr genau timen könnt. Ich persönlich würde zu einem Shockwave-Pin greifen. Denkt außerdem daran, dass es egal ist, wann der Kampf beginnt, sondern wann er Endet. Startet im Zweifelsfall den Kampf schon ein, zwei Minuten vorher, Hauptsache, ihr schlagt im richtigen Moment zu. Die anderen Teams müssen nichts weiter tun, als zu verhindern, dass Spieler, die nichts von diesem Plan wissen, die Kämpfe unterbricht. Ihr wisst, dass ihr Spieler daran erkennt, dass ihr sie nicht scannen könnt? Gibt es soweit Fragen?“
 

Blick in die Runde. Überall Einverständnis.

„Gut. Als gemeinsame Zeitorientierung richten wir uns nach dem Timer. Der sollte in jedem Fall gleich gehen und auf den kann man auch im Kampf schauen. Wollen wir mal vergleichen?“

Alle hielten Ihre Hand mit dem Timer hin. Die Timer aller Spieler liefen ohne die kleinste Zeitabweichung auf die Hundertstel Sekunde genau. Der gemeinsame Klang der tickenden Timer war ein kleines Erlebnis für sich.

„Also schön. Die vorletzte Stunde ist angebrochen. Ich schlage vor, dass wir den ersten versuch auf 1:30 Stunden Restzeit ausrichten. Sollte es nicht klappen, gehen wir erstmal davon aus, dass das Timing nicht stimmte. Dann versuchen wir es alle 5 Minuten erneut. Wenn die Mission bis zur letzten angebrochenen Stunde noch nicht vorbei ist… sammeln wir uns einfach noch mal schnellstmöglich hier und denken über eine andere Lösung nach. Ich sehe keine bessere Chance für uns. Hat noch irgendwer etwas loszuwerden?“
 

Keiner meldete sich. Dann bildeten sich die Gruppen und die Kampfteams wurden ernannt. Zur Sicherheit übten die Kampfteams, zu denen auch Marcos und Shuyins Team gehörten, das gleichzeitige Zuschlagen als Trockenübung. Dann machten sich auch schon alle auf den Weg zu den 4 Orten. Einige sprachen Shuyin noch mal kurz an und fragten voller Anteilnahme, wie es dazu kam, dass er zum 2. Mal spielt. Er wies sie alle jedes Mal freundlich ab und sagte, er wolle nicht drüber reden. Auch Marco, der in eine Andere Richtung aufbrach, verabschiedete sich noch mal gesondert von Shuyin und Reiko und wünschte den beiden Glück.
 

Shuyins Gruppe machte sich auf den weitesten weg: zurück zur Cat Street. Bis zum Myashita Park rannten alle, das letzte Stückchen liefen sie. Reiko wollte Shuyin dafür loben, dass er die Spieler so souverän anführte, doch dieser schnitt ihr im Gehen das Wort ab und meinte, dass er sie jetzt nicht ansprechen sollte. Er wolle die ganze Sache erstmal hinter sich bringen. Da fiel ihr auf, wie nervös Shuyin war. Zu Recht, sein Plan mag zwar plausibel klingen, gut durchdacht sein und alles, aber es gab keine Garantie, dass sie es auf diese Weise schaffen würden. Würde es nicht klappen… wäre es das wohl gewesen. Doch sie wollte lieber hoffen statt zweifeln. Und sie wollte, dass er das gleiche tat. Also nahm sie nur seine Hand. Als er sie daraufhin ansah, schenkte sie ihm nur ein Lächeln und sagte vollkommen zuversichtlich „Das schaffen wir.“. In ihrem Blick lag kein Fünkchen Zweifel. So schaffte sie es, dass auch er wieder zuversichtlicher an die Sache ranging und seine Grübeleien, womit auch immer sie sich gerade befassten, wenigstens für den Moment ein Ende finden.
 

Als sie in der Cat Street ankamen, war alles bereits wegen der Abendröte in ein leuchtendes kräftiges Orange getaucht. Die ersten Straßenlaternen gingen bereits an.

Restzeit 1:37. Er hätte sich am liebsten einen Tee mit extra Valium bei Hanekoma bestellt, so aufgeregt war er innerlich. Doch zum Wohle der anderen ließ er sich nichts anmerken. Sie hielt weiterhin seine Hand, bis sie schließlich bei einer Restzeit von 1:32 in den „Ring stiegen“. Sie mussten sich nicht absprechen, beiden war von vornherein klar, dass Shuyin den entscheidenden Angriff ausführen würde.

Die letzten 1,5 Minuten blickte er unentwegt auf seinen Timer, während er schon hinter dem schlafenden Noise stand und die andere Hand schon zum Schlag ausgeholt hielt.
 

Die letzten 5 Sekunden.

4.

3.

2.

1.

Schlag!
 

Er war wieder in der Ebene des UG. Vor ihm fiel der Pin zu Boden, den es von dem Pig-Noise gab. Er traute sich nicht, auf seine Hand mit dem Timer zu schauen, die er zusammen mit dem Schlag schloss. Doch das musste er auch nicht. Das leise Ticken… war noch da. Entsetzt blickte er doch wieder auf seine zitternde Timer-Hand. Der Timer war noch da.
 

Sein Herz raste. Was war passiert? Hatte er sich im Timing vertan? Hatte sich jemand anderes im Timing vertan? Oder wurde eine der anderen Gruppen gestört? Also seine Gruppe wurde nicht gestört. Die einzigen, die sich gerade in der Cat-Street befanden, waren die Spieler, die mit ihm gekommen sind. Keine anderen Spieler waren zu sehen und auch keine Menschen auf der RG-Ebene.

War sein Plan letztendlich doch eine Niete?
 

Blickwechsel mit den anderen Spielern. Nervosität machte sich breit. Doch die meisten redeten sich ein, dass wohl irgendwo jemand einen Fehler machte. Einige vermuteten, dass der Typ, der sich vorher geweigert hat, Shuyins Plan zu folgen, absichtlich die Sache sabotierte.

Shuyin bewunderte diese Einstellung: trotz des ersten Fehlschlages setzten sie mehr Hoffnung in den zweiten Versuch, als dass sie über den ersten Fehlschlag verzweifelten.
 

Seine Verzweiflung mischte sich mit Ehrgeiz. Er versuchte sich Mut zu machen. Er war so weit gekommen, hat sich so dermaßen den Arsch aufgerissen, dass er jetzt nicht einfach so aufgeben wollte. Stattdessen wollte er gleich wieder in den Kampf, auch wenn noch über 4 Minuten bis zum nächsten Versuch übrig waren. Ihr war es recht, denn sie wusste, dass er nur dadurch ruhiger werden würde.
 

3 Minuten.

2 Minuten.

1 Minute.

10 Sekunden.

5 Sekunden.

3.

2.

1.

Schlag
 

Wieder zurück im UG. Wieder den Klang des Pins, der zu Boden fiel. Diesmal blickte er sofort auf seinen Timer, mit einer verzweifelten Wut.
 

1:24:58

1:24:57

Dann verschwand der Timer.
 

Sein Herz raste für einen kurzen Moment wieder, obwohl er jetzt endlich das gewünschte Ergebnis erzielte. Dann sackte er auf die Knie, immer noch auf seine nun leere Handfläche starrend. Stille. Kein Ticken. Nicht mal der Wind war zu hören. Er blickte zu den anderen Spielern. Auch sie blickten in ihre Handflächen. Einige grinsten zufrieden in sich hinein, andere vollführten Freudentänze und Luftsprünge, wieder andere legten sich erleichtert die Hand auf die Brust und atmeten erstmal tief durch.
 

Sie kniete sich vor ihm hin. „Wir haben es geschafft.“ sagte sie ruhig und relativ leise. Er sah ihr ins Gesicht. Sie lächelte, doch die Freude in ihrem Gesicht sah merkwürdig aus. Irgendwie… unvollständig?

„Ja… wir haben’s geschafft…“ gab er zurück.

Dann fiel sie ihm um den Hals und rief diesmal erneut „Wir haben es geschafft!“
 

Er konnte nicht anders, als die Umarmung zu erwidern und die Augen zu schließen. Die vielen Steine, die ihm vom Herzen fielen, ließen ihn innerlich mit fallen und diese Umarmung gab ihm den Halt, den er sich gerade so sehnlichst wünschte. In seinem Kopf liefen die letzten paar Sekunden immer wieder ab, wie in einer Endlosschleife, was sein Herz in schneller Folge abwechselnd zu Rasen brachte und dann wieder beruhigte (das ist bestimmt ungesund…). An seinem Ohr vernahm er ein leicht quiekendes Glucksen, dem er entnahm, dass sie wohl vor Freude und Erleichterung weinte. Auch bei ihm machte sich endlich Erleichterung breit und er atmete einmal tief aus.
 

Als sie sich beide wieder fingen und aufrichteten, blickte er noch mal zu den anderen Spielern rüber. Sie lösten sich nicht auf oder so was. Also war die Sonderregel entweder wirklich ausgedacht, oder sie konnte so ausgelegt werden, dass man auch dazu zum Erfolg beitrug, indem man einfach beispielsweise denen, die das wichtige taten, einfach nicht im Wege stand. Oder würde er es erst am nächsten Tag merken?
 

Die anderen anwesenden Spieler versammelten sich alle um Shuyin und Reiko und alle sprachen den beiden noch mal ihren Dank aus und wünschten jeden, dass das Spiel ein gutes Ende für alle nehmen würde.

Der letzte Tag stand also bevor. Er freute sich zwar… doch er hatte auch ein gewisses Stechen in der Magengegend.
 

Ende Tag 6 „Alle für Einen und Einer für Alle“

Tag 7 (Teil 1)

Diesmal wachten sie beim Myashita Park auf. Sie schlief noch, als er aufwachte. Er legte sie ins trockene, weiche Gras und setzte sich dann etwas abseits von ihr hin. Er wollte jetzt lieber mit seinen Gedanken allein sein.
 

Er musste an den gestrigen Tag denken. Wie ihm die ganzen anderen Spieler ihre Aufmerksamkeit schenkten und wie sie ihm folgten, nachdem sie wussten, dass ihm das Spiel nicht neu ist. Sie haben ihm offenbar alle vertraut. Er fragte sich, woher das wohl kam… dass sie ihm alle förmlich blind gefolgt sind. Er glaubte, zumindest darauf die Antwort zu haben: Menschen brauchen es manchmal, jemanden zu haben, der sie führt. Jemanden, auf den sie im Notfall auch die Verantwortung schieben könnten. Er selbst erinnerte sich an sein erstes Spiel: wie hilflos er sich damals fühlte. Wie gerne er jemanden gehabt hätte, der ihm zeigte, wo es langging. Er war damals sehr froh, als er Hanekoma kennen lernte und ihm mit ein paar Tipps weiterhalf. So muss es auch den anderen Spielern gegangen sein.
 

Doch er hatte kein Recht auf dieses Vertrauen. Hätten sie gewusst, warum er schon zum 2. Mal mitmacht und was er zwischen seinem ersten und zweiten Spiel gemacht hat, hätte kein einziger auf ihn gehört.

Er fühlte sich schrecklich deswegen. Er fühlte sich, als hätte er jeden einzelnen von ihnen hintergangen, als hätte er das Vertrauen von allen missbraucht. Er hoffte, keinen einzigen von ihnen wieder sehen zu müssen; er könnte ihnen nicht in die Augen sehen. Er könnte sich jetzt nicht mal selbst im Spiegel ansehen. Er verfluchte seine jüngere Vergangenheit und sich selbst, da er wusste, dass er sie wiederholen würde.

Der Selbsthass in ihm wuchs immer mehr. In seinen Gedanken beschimpfte er sich als Heuchler, Widerling, Verräter und Mistkerl. Er blickte auf seine Hände, vor Wut auf sich selbst krampften seine Finger sich zu Krallen. Ihm war nach Schreien zumute, doch stattdessen vergrub er sein Gesicht in seinen Händen. Tränen konnte er nicht mehr zurückhalten.
 

„Was ist los?“

Auch das noch. Jetzt war sie wach und sah ihm in diesen jämmerlichen Zustand. Er blickte sie nur indirekt durch seine Finger an, sah aber ihr besorgtes Gesicht nicht. Er wusste, dass ihre Anteilnahme ehrlich war, doch er wollte sie jetzt lieber nicht sehen. Er antworte nichts und hoffte, sie würde ihn von alleine in Ruhe lassen. Doch das tat sie nicht. Stattdessen fühlte er, wie sie ihre Arme um ihn legte und ihn sanft an sich drückte. Er wehrte sich nicht. Sie sagte nichts, stellte keine Fragen, versuchte auch nicht, ihn mit Worten zu beruhigen, sie hielt ihn einfach nur fest.
 

Insgeheim war er ihr dankbar für diese zurückhaltende Geste. Wann hat ihn schon mal jemand dieses Gefühl von Geborgenheit gegeben? Er wusste es nicht genau. Da gab es jemanden. Doch wer war das?
 

Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigte. Er vertrieb seine Gedanken, so gut es ging. Er wusste, wie sehr er auch darüber nachdachte, er könnte jetzt nichts dran ändern. Wichtig war jetzt erstmal, sich auf das Ende des Spiels zu konzentrieren.
 

„Geht’s wieder?“ fragte sie ihn ganz vorsichtig. Jetzt sah er sie auch wieder an und nickte langsam.

„Ich weiß, es geht mich nichts an, aber… wenn du reden möchtest… ich bin für dich da.“ fügte sie hinzu.

„Ist OK.“ antwortete er.
 

Er richtete sich auf. Ihm war etwas kalt geworden. Es war auch nicht so warm, der Himmel war bewölkt. Er sah sie kurz an. In ihrem Gesicht lag noch Besorgnis, aber gleichzeitig auch Erleichterung darüber, dass es ihm offenbar besser ging. Und plötzlich wollte er ihr alles erzählen. Er war der Meinung, das sie, wenigstens sie das Recht hatte, das zu erfahren, was er bisher jedem verschwieg.
 

„Ich… würde dir gern von mir erzählen. Wie es dazu kam, dass ich erneut mitspiele… und was ich zwischen meinen beiden Spielen gemacht habe.“

„Ist gut. Ich höre dir zu.“ Sie klang nicht neugierig oder so, sondern ernst.

„Manches mag dich vielleicht schocken, also mach dich auf einiges gefasst.“ Sie nickte.
 

„Also… zu allererst: ich bin nicht 2 Mal gestorben, sondern nur einmal. Nur… nach meinem ersten gewonnenen Spiel… entschied ich mich nicht dazu, wieder ins Leben zurückzukehren. Stattdessen… entschied ich mich dazu, ein Reaper zu werden.“

Einer Bewegung zufolge schlussfolgerte er, dass diese Information wirklich überraschend für sie war. Doch sie gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. „Geht das denn so einfach?“ fragte sie.

„Ja, so was geht. Alle Reaper waren irgendwann mal Menschen, einige sicherlich wie ich ehemalige Spieler. Es ist nämlich so, dass nicht alle, die am letzten Tag noch im Spiel sind auch wieder zurück ins Leben kommen. Es gibt immer eine festgelegte Anzahl, die jedes Mal anders ist. Wem eine zweite Chance verwehrt blieb, hat drei weitere Möglichkeiten: das Spiel noch mal spielen, den Reaper beitreten oder schlicht und ergreifend seinem Untergang abwarten.“

Kurze Pause.

„Ich entschied mich bewusst für den Weg des Reapers. Nicht, weil ich scharf auf diese Arbeit bin. Ich hatte etwas anderes vor… und außerdem könnte ich so jemanden anderes die Chance geben, die ich nicht nutzte.“

„… wirst du mir jetzt auch sagen, weswegen du lieber ein Reaper werden wolltest?“ „So weit, wie ich mich erinnern kann. Ich weiß nicht genau warum, aber ich wollte in den Kreisen der Reaper die Karriereleiter aufsteigen, um an den Composer ranzukommen. Ich wollte ihn ausschalten bzw. seinen Platz einnehmen… nur weiß ich nicht genau, warum. Nur, dass es mir unheimlich wichtig war. Vielleicht sogar wichtiger als alles andere.“

„Wenn es so wichtig war… wie kannst du es vergessen haben?“

„Ich glaube, das hängt mit meinem Beitrittspfand für dieses Spiel zusammen. Möglicherweise hat es was mit den Erinnerungen an dieses Ziel zu tun. Ich gehe davon aus, dass ich wieder alles weiß, wenn wir das Spiel geschafft haben. Jedenfalls… der Grund, warum ich erneu spiele ist der, dass ich wie ich dir schon mal sagte, Mist gebaut habe.“

„Was ist denn passiert?“

„Ich wurde übermütig… und hab mich mit Megs angelegt, weil ich dachte, ich wäre stark genug, um den Composer auszuschalten. Aber ich hab mich überschätzt, wurde besiegt und außerdem meines Amtes als Reaper entledigt. Damit hatte ich wieder den Status eines Spielers, der gerade das Spiel gewonnen hatte, aber keine Chance auf ein zweites Leben hatte. Und da ich ja gerade quasi Verrat begangen hab, hat man mir selbstverständlich die Möglichkeit verweigert, gleich wieder Reaper zu werden. Also machte ich zum 2. Mal mit.“
 

Sie machte ein trauriges Gesicht. Jetzt wusste sie also Bescheid. Was ihm wohl so wichtig ist, dass er solche Schwierigkeiten auf sich nimmt?

„Und… wenn wir jetzt wieder gewinnen… willst du wieder den Reapern beitreten?“

„…ja.“

„…Schade… aber das war ja anzunehmen.“

„Warum ist das schade für dich?“

„Ich… hatte nur gehofft, wir könnten beide wieder ins Leben zurückkehren und richtig Freunde werden.“ sagte sie mit einem gespielten Lächeln. Er durchblickte aber die Fassade und wusste, dass sie das ernst meinte und es bedauerte, dass es wohl nicht so kommen würde.

„Auch, wenn ich Reaper bin, können wir Freunde sein…“ sagte er etwas unsicher und blickte dabei zur Seite.

„Was? Wie das denn?“

„Als Reaper kann man beliebig zwischen den Real Ground und dem Underground wechseln. Also wenn ich nichts zu tun habe, könnten wir uns theoretisch im Real Ground treffen… .“

Ihr Blick erhellte sich wieder. „Ja, das wär schön.“

„Aber erstmal müssen wir den heutigen Tag überstehen.“

„Ja… egal, was kommt, ich bin bereit.“ Ihr Blick sagte ihm, dass sie das ernst meinte.

„Gut. Lass uns schon mal aufbrechen. Ich denke, ich weiß, wo wir für die heutige Mission hinmüssen.“
 

Sie waren keine 5 Minuten unterwegs, da kam die Mission dann auch schon rein. „Bahnt euch den Weg an den sechs Game Master dieser Woche vorbei. Euer Ziel ist der Shibuya River. Ihr habt 10 Stunden Zeit. Wenn keiner dieser Aufgabe gerecht wird, werden alle gelöscht. Viel Erfolg.“
 

„Oh… soll das etwa heißen, dass wir gegen jeden Game Master kämpfen müssen?“

„Sieht ganz danach aus… das wird hart. An Tag 7 hat man es zwar grundsätzlich mit dem jeweiligen Game Master zu tun, aber das ist… .“

„Ist das überhaupt machbar?“

„Es ist alles machbar. Die Frage ist nur, wie leicht es ist. Das Zeitlimit wird nicht umsonst so großzügig gewählt worden sein.“

„Glaubst du, wir packen das?“

„Kann ich nicht genau sagen… ich kenne zwar fast alle der Reaper, die diesmal Game Master waren, aber nur von Kariya weiß ich genau, dass er auch im Kampf gefährlich werden kann. Minamimoto und Konishi sind zwar brillante Köpfe, aber wie gut sie im Kampf sind, weiß ich nicht. Wir können nicht mehr tun als es versuchen. Ich glaube nicht, dass einer der anderen Teams dieser Aufgabe gewachsen ist. Außer, die 6 Reaper lassen Nachsicht walten.“

„Und wo ist der Shibuya-River?“

„Genau da, wo ich ohnehin hinwollte. Also kein Grund, sich deswegen Sorgen zu machen.“

„Na dann… sollen wir uns dann auf den Weg machen?“

„Immer mit der Ruhe. Wir haben Zeit.“

„Hast du nicht gesagt, dass die 10 Stunden vermutlich sehr bewusst gewählt sind?“

„Das habe ich. Trotzdem denke ich, dass wir noch Zeit haben. Schau mal, wenn wir für jeden Kampf eine Stunde einberechnen, haben wir noch 4 Stunden über. Lass uns diese Zeit doch etwas anders nutzen.“

„Was willst du denn machen?“
 

Er blickte kurz ins Leere, dann sagte er zu ihr mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht:

„Erinnerst du dich, was ich am Ende von Tag 3 sagte? Dass wir deine verlorene Zeit so gut wie möglich nachholen sollten? Ich glaube, wir haben das die restlichen Tage ziemlich vernachlässigt, also warum amüsieren wir uns jetzt nicht noch ein bisschen? Ich für meinen Teil muss langsam mal raus aus diesem Schwarz, das zieht einen auf Dauer ja nur runter.“

Sie war so erstaunt von diesem Vorschlag, dass es ihr glattweg die Sprache verschlug.

„Also, was ist? Hast du Lust, noch mal ein bisschen shoppen zu gehen?“
 

Nachdem die Nachricht endlich in ihrem Kopf angekommen ist, stimmte sie mit einem Lächeln zu. Sie wusste auch gleich, wo sie hinwollte. Immer, wenn ihre Wege sie zur Cat Street führte, war ihr ein Laden dort aufgefallen: J of the M (Jupiter of the Monkey). Genau dort machten sie dann auch den ersten Bummel und sie kleidete sich komplett neu ein. Nach ihrer eigenen Aussage konnte sie dort sowohl ihren eigenen Geschmack ausleben, sowie auch an die bevorstehende Mission denken. Der Stil von J of the M sagte ihr auf Anhieb zu und ihre Auswahl war sehr sportlich und unhinderlich – so, dass sie keine Schwierigkeiten beim Kämpfen haben würde.
 

Als sie den Laden mit dem schlecht rappenden Verkäufer verließen, war ihre Laune sichtlich gut. Es freute ihn, sie so gut gelaunt zu sehen. Er selbst würde es jetzt genauso machen wie sie: im Laden seines Vertrauens Kleidung seiner Lieblingsmarke einkaufen, die ihm im Kampf nicht behindern würde. Ihr Weg führte sie zu Molco in den Tigre Punks-Shop, wo er offensichtlich auch bereits ein gerngesehener Kunde war. Für ihn gab’s fast das gleiche Outfit, als er es zu Anfang des Spiels trug. Ein schwarzes T-Shirt mit weißer Aufschrift „Rebel“, darüber eine blaue, leichte Weste, dunkelblaue 3/4-Hosen, leichte und bequeme Stoffschuhe in schwarzweiß, obendrauf noch ein rotes Halstuch, dass er so hoch trug, dass es beinahe seinen Mund verdeckte und ein Paar Nietenarmbänder.
 

Da es in der Nähe war und außerdem schon die Mittagszeit nahte, ließen die beiden es sich auch nicht nehmen, wieder beim Mexican Dog vorbeizuschneien und dort zu Speisen. Für ihn gab’s mal wieder die üblichen 3 Definitivo Chili Dogs und ne Cola, sie bestellte sich neben einem Definitivo Chili Dog aber mal noch etwas anderes, was sie bisher auch noch nie gegessen hatte. Und sie unterhielt sich wieder mit der Bedienung auf Spanisch. Vorsorglich nahmen sie sich noch etwas mit für unterwegs – der Tag würde wohl noch lang werden. Als sie das Mexican Dog verließen, waren gerade mal anderthalb Stunden der Missionszeit vergangen. Also noch genug Zeit. Trotzdem waren beide einverstanden, die Mission jetzt anzugehen und so machten sie sich auf den Weg.
 

Der Shibuya River lag jenseits der Bahnunterführung nahe bei Hachiko, an der sie im Verlauf dieser Woche schon so oft gewesen sind. Ein kleiner, halb versteckter Weg, der offenbar nicht für die Öffentlichkeit gedacht war, führte sie weiter in die Kanalisation – den Shibuya River. Sie regte sich zuerst über den Gestank dort auf, doch er gab ihr den Hinweis, sich einfach daran zu gewöhnen. Sie gingen noch mal über ihre angelegten Pins. Sie einigten sich darauf, dass sie ausschließlich Fernkampfpins benutzen würde und er nur Nahkampfpins. So lief es zum einen ohnehin schon fast das ganze Spiel lang, zum anderen konnte er so bedenkenlos sein Standard-Pin-Set anlegen: Shockwave, Gravemarker, Uppercut, Vacuum Blade, einen Teleport-Pin und einen mehrfach nutzbaren Heilpin. Auch sie legte sich 4 Angriffspins an, einen Heilpin und einen unterstützenden Pin. Nachdem sie auch das geklärt hatten, gab es jetzt wohl kein Zurück mehr.
 

Sie mussten gar nicht so weit laufen, bis sie bereits ihr erstes Ziel sahen. Sho stand mitten auf dem weg, den sie einschlugen und wartete mehr oder weniger geduldig auf die Spieler.
 

„Na endlich. Ich dachte schon, ich muss hier Wurzeln ziehen. Zetta erfreut, euch noch im Spiel zu sehen. Aber ich habe ja auch mit nichts anderem gerechnet.“

„Oh Gott, der Mathe-Freak schon wieder!“

„So, Du bist also unser erster Gegner?“

„Korrekt. Die Reihenfolge eurer Gegner heute wird proportional zu den Proxy-GMs der Woche sein. Naja, vorausgesetzt, der erste Faktor in eurer Rechnung wird keine Null.“

„Sorry, aber ich hab nicht die Zeit, dein wirres Gelaber zu entschlüsseln. Wenn du uns nicht freiwillig durchlässt, müssen wir dich eben in deine Einzelteile zerlegen.“

„Heh. Das nenn ich eine Herausforderung. Dann zeigt mal, was ihr Yoctogramme meiner Macht entgegenzusetzen habt. Denn die tendiert gegen UNENDLICHKEIT!“

„Was zu beweisen wäre.“
 

Mit dieser gegenseitigen Herausforderung begann der Kampf. Shuyin stürzte sich zur Abwechslung nicht gleich auf seinen Gegner. Stattdessen blieb er ruhig stehen und verließ sich hauptsächlich auf sein Gehör. Er wusste, dass Reaper in solchen Kämpfen sich nach Belieben teleportieren konnten – nicht so wie er, der er auf einen Pin angewiesen war. Auch Sho teleportierte sich so hin und her, ein klares Muster war nicht auszumachen. Shuyin versuchte nicht mal, seinen Gegner mit dem Blick zu folgen. Er reagierte erst, als er schräg hinter sich etwas hörte, das wie ein Force-Round-Pin klang, zusammen mit Shos Ausruf „Sinus!“.

Ohne sich umzusehen teleportierte sich Shuyin eher blindlings in die Richtung. Etwa 1,5 Meter hinter Shos Rücken kam er raus. Sho bemerkte ihn zu spät; Shuyin hatte den Überraschungsmoment auf seiner Seite. Mit einem Uppercut brachte er Sho in die Luft, dort legte er mit einer Shokwave-Combo nach und beförderte ihn mit einem Gravemarker-Angriff wieder auf den Boden. Nachdem Sho sich von dieser Angriffsserie erholt hatte, teleportierte er sich wieder in der Gegend rum. Shuyin hörte das Auftreten von Schuhen auf dem Boden direkt neben sich. Ohne sich umzusehen setzte er einen Rundumangriff mit dem Vacuum-Blade-Pin ein. Treffer. Sho wollte ihn wohl genauso überraschend aus der Nähe angreifen, doch das konnte Shuyin verhindern.

Als nächstes teleportierte sich Sho direkt in Shuyins Blickfeld – offensichtlich absichtlich, denn sein selbstsicheres Grinsen war noch kein bisschen aus seinem Gesicht gewichen. Mit einem herausfordernden Handwink deutete er Shuyin an, dass dieser herkommen und/oder ihn angreifen solle. Shuyin ahnte, dass er etwas plante, trotzdem ließ er sich auf diese Drohung ein und sprintete auf ihn zu. Mit einem lauten „Tangens!“ feuerte Sho eine Salve Force Rounds auf Shuyin ab – jedoch nicht direkt auf ihn, sondern immer knapp an ihm vorbei. Offenbar wollte er, dass Shuyin sich auf einer bestimmten Bahn bewegt. Er feuerte schließlich einen weiteren Schuss ab, der Shuyin genau mittig auf der Stirn getroffen hätte, doch dieser entging dem Schuss, indem er sich mit einem Teleport von vor dem Schuss nach hinter den Schuss brachte und so noch näher an seinen Gegner rankam.

Sho war fast in Reichweite. Dann erhob sich jedoch ein riesiger Eiszapfen aus dem Boden unter Shuyin, der diesen nun in die Lift beförderte. Dort wurde er wieder von Sho mit Schüssen aufs Korn genommen, doch diesmal traf jeder einzelne Schuss.
 

Als er wieder zu Boden fiel, konnte er sich wenigstens abrollen. Aber er hatte kurzzeitig die Orientierung im Raum verloren. Er schaute sich etwas gehetzt um – Shos schwarzen Schatten, den dieser beim Teleportieren hinterließ, konnte er schwer folgen. In den Augenwinkeln sah er einen solchen Schatten neben sich auftauchen. Ganz nah neben sich. Zu nah.

„Kosinus!“

Mit einer normalen Rolle wich Shuyin gerade so der Salve Force Rounds aus, die ihn sonst aus nächster Nähe getroffen hätten. Sho wollte sie ihm direkt ins Gesicht feuern. Nach diesem Fehltreffer suchte Sho per Teleport erst mal wieder die Distanz zum Gegner. Gut, so konnte Shuyin sich wieder sammeln. Er wusste, dass er in diesem Kampf die Ruhe bewahren musste.

Wieder blieb Sho an einer Stelle stehen, so, dass sie sich beide ansahen. Von links und rechts sah Shuyin graue Flammen auf sich zukommen. Wieder sprintete er auf Sho zu. Doch damit ihm nicht das gleiche wie beim letzten Mal passierte, teleportierte er sich präventiv umher. Einmal. Noch einmal. Beide Male in Shos Blickfeld. Der dritte Teleport brachte ihn direkt an Shos rechte Seite, doch er sagte nur ganz kurz „Buh!“ und ohne Shos Reaktion abzuwarten teleportierte er sich an seine linke Seite. Shuyins kleiner Plan ging auf: Shos Aufmerksamkeit war auf seine rechte Seite gelenkt und Shuyin konnte ihn getrost von der anderen Seite angreifen. Shockwave-Combo, Uppercut und Gravemarker, noch mal Uppercut und Gravemarker, zum Abschluss ein Vacuum-Blade-Angriff. Der letzte Angriff feuerte Sho sogar ziemlich hart direkt gegen eine Wand. So hart, dass diese einen kleinen Riss bekam.
 

Sho taumelte ein paar Schritte von der Wand weg, fiel dann aber mit dem Satz „Unlösbar… .“ rückwärts um. Alle Viere von sich gestreckt lag er auf dem harten Steinboden. Die Tatsache, dass Shuyin seine Partnerin wieder neben sich sah, verriet ihm, dass sie den Kampf gewonnen hatten. Er ging ein paar Schritte auf den reglos am Boden liegenden Sho zu. Dieser fing ganz plötzlich an, lauthals zu lachen. Shuyin sprang daraufhin einen vorsichtigen Satz zurück.
 

„Pahahahahaha!“

„Was ist so lustig?“

„Jetzt habt ihr mich doch glatt… zermalmt (crunched). Hahaha…“
 

Schwerfällig richtete Sho sich wieder auf, wobei er sich den Magen hielt. Er hatte immer noch sein Grinsen, doch es zeichnete eine leichte Schmerzverzerrtheit.
 

„Das war exzellent. Wirklich… zetta wunderschön! Ich sage, ihr habt bestanden. Ihr seid wohl doch etwas mehr, als ein paar Yoctogramme.“

„Bestanden? Sag nicht, dass du schon geschlagen bist? In dir steckt mehr, das weiß ich.“

„Möglich, doch es ist weder meine Aufgabe, noch in meinem Interesse, mit euch bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Megs will den Spielern schließlich noch die Chance einräumen, es bis ganz zum Schluss zu schaffen. Deswegen sollen wir uns ein My zurückhalten.“

„Zurückhaltung passt ja mal gar nicht zu dir.“

„Du sagst es, Zurückhaltung ist totaler Müll! BAM! Das kommt auf den Haufen!“
 

Wieder schlug er bei „BAM!“ mit einer Faust in die andere.
 

„Wie auch immer. Ihr Binome dürft nun weiter. Der Unterricht ist beendet! Jetzt macht, dass ihr mir aus den Augen kommt.“
 

Die letzten zwei Sätze rief er mit einem Megafon, welches er plötzlich wie aus dem Nichts bei sich hatte. Die zwei Spieler ließen sich das nicht zweimal sagen und schritten weiter den immer dunkler werdenden Kanalisationsgang ab. Nachdem Sho außer Sichtweite war, legten sie eine Pause ein. Beide hatten sie nötig, man konnte nicht sagen, wer von beiden mehr. Sie muss wohl sehr viel eingesteckt haben. Sie ließen sich für die Pause lange Zeit, soviel wie sie brauchten, um wieder nahezu gänzlich fit zu sein. Als sie sich wieder auf den Weg machten, war es nicht weit bis zum nächsten Gegner. Yashoro stand, genau wie Sho, mitten auf dem Weg, die Hände wieder wie zum Gebet gefaltet und in aller Seelenruhe wartend.
 

„Ich grüße euch, Oh verirrte Seelen. Es scheint, der Herr gönnte uns die Gelegenheit, uns noch einmal zu treffen, um gebührend voneinander Abschied nehmen zu können.“ sagte er wie immer mit monotoner und emotionsloser Stimme.

„Argh! Der schon wieder! Reiko, darf ich ihm das Maul stopfen?“

„Was? Äh… ja klar, aber… warum fragst du nach meiner Erlaubnis?“

Erst jetzt wurde ihm klar, was er da gerade fragte.

„Ähm… weiß auch nicht…“

mit einem Blick auf Yashoro fiel ihm aber etwas ein:

„Naja, wenn ich mit ihm fertig bin, könnte das echt unschön werden. Das ist vielleicht nichts, was du sehen solltest…“

Mit einem gutmütigen Schulterzucken antwortete sie: „Ach, ist in Ordnung. Halt dich nicht zurück. Mir geht er eigentlich auch auf den Keks.“

„OK, dann wird ich diesem Spinner mal die Geister austreiben!“ sagte er und schlug dabei mit einer Faust in die andere.

„So empfanget nun eure Erlösung.“ sprach Yashoro schließlich und nahm eine Kampfhaltung ein, die an Kung-Fu erinnerte. Um seine Hände leuchtete (Psych-) Energie und dadurch, dass Shuyin seine Partnerin nicht mehr sah, wusste er, dass der Kampf somit begann.
 

Ohne zu zögern stürzte er sich gleich auf den Gegner und nahm in mit einer Angriffsserie aus Shockwave-Angriffen aufs Korn. Doch sein Gegner blockte die Angriffe. Die Energie, die er um seine Hände konzentrierte, negierte offenbar die Energie, die Shuyin mit seinen Angriffen freisetzte. Er setzte mit einem Uppercut und einem Gravemarker nach. Wieder nutzte sein Gegner seine Energie, um Shuyins Angriffe zu neutralisieren. Shuyin verwendete nur Pins solcher Art. Konnte er etwa gar nichts in diesem Kampf ausrichten?
 

Bevor er sich großartig seinen Gedanken hingeben konnte, startete sein Gegner einen Gegenangriff. Auch sein Kampfstil erinnerte stark an Kung-Fu. Mit schnellen Tritten und Handkantenschlägen setzte er Shuyin zu. Dieser konnte zwar den meisten Angriffen, aber nicht allen entgehen. Ein kräftiger Stoß mit der flachen Hand stieß ihn schließlich ein gutes bisschen zurück. Yashoro nahm wieder die Anfangsposition ein und wartete offenbar auf weitere Angriffe seines Gegners. Er sah wenig erschöpft aus, während Shuyin schon ein kleines bisschen hechelte. Er dachte verbissen darüber nach, wie er diesen Kampf für sich entschieden könnte.
 

„Sind das einfache Psychs aus Pins? Oder ist es eine Kampfkunst, die auch außerhalb des Spiels funktioniert? Oder ist es gar… eine Kombination? Ja, das muss es sein!“

Shuyin ging wieder zum Angriff über diesmal setzte nur einen einzigen Shockwave-Angriff ein, keine Combo. Yashoro blockte ihn wieder mit seiner Energie – so, wie Shuyin es plante. So erzeugte er eine winzige Lücke in der Verteidigung seines Gegners. Mit der anderen Hand schlug er zu – er zielte direkt mit der Faust frontal aufs Gesicht des Gegners. Und er traf. Diesmal taumelte Yashoro ein Stück zurück.
 

So war das also. Shuyin hatte sich bisher immer nur auf die Psychs der Pins verlassen, nicht aber auf die Bewegungen seines eigenen Körpers, die er selbst zum Aktivieren der Pins ausführte. Er konnte im Kampf also theoretisch auch wie ein normaler Schläger vorgehen. Allerdings… er musste neidlos anerkennen, dass der kombinierte Stil von Yashoro die effektivste Nahkampfmethode war, die es wohl gäbe. Er fühlte sich auch nicht schlecht dabei, als er beschloss, genau diesen Stil mit seinen Pins zu imitieren – womöglich nicht nur für diesen Kampf, sondern auch für die Zukunft.

Auch, wenn er diesen Glaubensfanatiker bis aufs Mark verachtete – er respektierte ihn dafür, dass er sich auf den Nahkampf ver- und einließ, dass er die gefährliche Nähe zum Gegner nicht scheute.
 

Mit dieser neuen Einstellung – Gleichwertigkeit statt Herabsehen – stürzte er sich wieder in den Kampf. Mit der gleichen Taktik waren sie auch einander ebenbürtig. Ein wilder Schlag- und Trittabtausch entfachte zwischen den beiden. Shuyin traf zwar seltener als sein Gegner, dafür aber umso härter. Der Kleine war zwar flink, hatte aber offensichtlich nicht viel Kraft. Trotzdem verzog er trotz all der Treffer keine Miene.
 

Fühlt er etwa keinen Schmerz? Oder hat er tatsächlich so viel Übung, dass er ihn ignoriert? Er wollte es herausfinden, indem er noch einmal besonders hart traf. Er fand auch diese Gelegenheit; er rammte seinem Gegner das Knie auf das Nasenbein. Kein Schmerzensschrei, keine Änderung der Mimik. Aber Nasenbluten.

„Sag mal, fühlst du keinen Schmerz?“ fragte Shuyin schließlich direkt.

„Schmerz ist nur eine Illusion. Auch du wirst dies erkennen, sobald ich dich erlöst habe.“
 

Also doch: er war so versiert, dass er Schmerz ignorieren kann. Ein Gegner, der keinen Schmerz spürt… klingt fast wie ein unlösbarer Kampf. Aber zufällig erinnerte Shuyin sich sofort an etwas. So was hatte er schon mal in einem Anime gesehen: ein übermächtiger Gegner, der keinen Schmerz spürt. Er konnte schließlich doch besiegt werden, indem man immer wieder die gleiche Stelle angriff. Denn kein Schmerz heißt nicht, dass Treffer keine Wirkung haben. Ob das auch in der Realität klappen würde? Er würde es ausprobieren. Er konzentrierte sich auf einen Punkt, den man normalerweise nicht angreifen würde: die Schulter.
 

Er konzentrierte sich auf nichts anderes. Immer die linke Schulter. Er selbst kassierte im wilden Schlagabtausch natürlich auch einige Treffer, aber mit denen kam er vergleichsweise gut klar. Außerdem hatte er noch den Heilpin, den er auch mal benutzen musste. Zusätzlich nutzte er seinen Teleport-pin, um immer mal wieder überraschend von einer anderen Richtung aus anzugreifen und die Schulter zu treffen.
 

Der Kampf zog sich ganz schön in die Länge. Doch auf Dauer zeigte Shuyins Taktik Wirkung: alles, was Yashoro mit dem linken Arm machte, verlor mit der Zeit an Wirkung. Angriffe fühlten sich schwächer an, Blocks waren weniger wirkungslos oder wurden gar vollkommen durchbrochen. Schließlich fing Yashoros linker Arm an zu zittern, wenn er ihn in seiner Kampfhaltung nah oben hielt. Das war für Shuyin das Zeichen.
 

Er setzte erneut den Heilpin ein, um für die nächsten Angriffe wirklich fit zu sein. Seine Erschöpfung hatte auch schon wieder höhere Ausmaße angenommen, offenbar steckte Reiko etwas in Schwierigkeiten. Er fragte sich schon hin und wieder, wie sie wohl mit diesem Gegner fertig werden würde. Aber darüber nachzudenken, dafür hatte er keine Zeit. Wieder ging er auf den Gegner los. Yashoros linken Arm schlug er kurz beiseite. Auch, wenn Yashoro nach wie vor so gut wie keine Anzeichen der Erschöpfung zeigte: der Arm war mittlerweile so schwach, dass Shuyin das ohne großen Kraftaufwand schaffte. Yashoros rechten Arm hielt Shuyin schließlich fest und schlug dann nur noch mit seinem rechten Arm zu. Immer und immer wieder. Mittlerweile benutzte er wirklich keine Psychs mehr, sondern griff nur mit seiner eigenen rohen Muskelkraft an. Es reichte. Yashoro wurde so mit Angriffen zugedeckt, dass er ihm nichts mehr entgegensetzte. Shuyin konnte schließlich sogar auch den Arm loslassen und selbst mit beiden Händen angreifen. Sein Gegner war mittlerweile zu angeschlagen, um sich zu wehren. Schließlich setzte Shuyin wieder zu seiner Pin-Combo an, die er durch Yashoros Technik verfeinert einsetzte.
 

Sein Gegner taumelte rückwärts, bis er an einer Wand lehnte. Shuyin kam langsam auf ihn zugeschritten. Jetzt sah man dem Kleinen an, dass er erschöpft und vor allem stark lädiert war.

„Mein Herr wird… dich für deine… Sünden bestrafen!“

Jetzt platzte Shuyin wieder der Kragen.

„Dein ach-so-feiner Herr hat mich erst in diese ganze Scheiße rein gebracht!“ schrie er, als er zu einem letzten, äußerst kraftvollen Vacuum-Blade-Angriff ansetzte, der mit maximaler Effektivität traf.
 

Nachdem der Druck, mit den Shuyins Angriff Yashoro gegen die Wand drückte schwand, fiel dieser mit leeren Augen vornüber. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, löste er sich in einer Art schwarzweißen Flimmer auf – so wie besiegte Noise.
 

Reiko tauchte neben ihm auf. Sie ging sofort in die Knie. Sie sah richtig abgekämpft aus und hatte überall Schrammen und blaue Flecken. Auch er ließ sich auf die Knie sinken. Obwohl er nach dem letzten Einsatz des Heilpins eigentlich keinen Schaden mehr nahm, war er trotzdem sehr erschöpft.
 

„Wo… ist er hin?“ fragte sie schwer atmend.

„Er… ist besiegt…“

„Ja, aber… wo ist er hin?“

„Naja, er… ist besiegt. Oder anders gesagt… vernichtet…“

„Ver… nichtet? Was… heißt das?“

„Vernichtet heißt… vernichtet. Seine Existenz… gibt es nicht mehr.“

„Er… ist also tot?“

„Ja… nur hier im Spiel nennen wir das ‚vernichtet’…“

„Wir haben… tatsächlich jemandem das Leben genommen?“ Ihr Entsetzen über diese Erkenntnis zeichnete sich nun wesentlich deutlicher ab, als ihre Erschöpfung. Er ahnte, wo das hinführen würde. Also versuchte er, sie irgendwie zu beruhigen.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es an mir lag… also mach dir keine Vorwürfe. Davon mal abgesehen… sah es nicht so aus, als würde er sich zurückhalten. Die Sache mit der Erlösung nahm er wohl wirklich ernst. Also hieß es entweder er oder wir. Welche Wahl hätten wir also gehabt?“

„Bei dem Mathetypen kamen wir alle drei mit dem Leben davon… oder was wir halt noch Leben nennen können.“

„Weil Sho wusste, wann er aufhören musste…“
 

Ja, das war richtig. Aber wie war es jetzt? Wer wusste denn nicht, wann es genug war? Er wusste die Antwort nicht genau, und genau das machte ihm Angst. Doch sie durften sich jetzt, so kurz vor dem Ziel, von so etwas nicht aus der Bahn werfen lassen. Er wollte ihr aufhelfen und nach Möglichkeit vom Thema ablenken.

„Lass uns besser nicht weiter drüber nachdenken. Komm, lass uns-“

„Bleib mir fern, du Monster!“ schrie sie ihn an, schlug seine Hand weg und wich etwas zurück.

Er war entsetzt über diese Reaktion. Und diese Betitelung. Spätestens jetzt musste er sich selbst eingestehen, dass ER zu weit gegangen war. Die Erkenntnis schmerzte ihn zutiefst. War er wirklich so tief gesunken? War er früher nicht jemand, der sonst das Leben in allen Formen achtete? Was war nur aus ihm geworden in all der Zeit? Eine eiskalte Hitze stieg ihm den Rücken hoch.
 

„En… entschuldige bitte… ich hab’s nicht so gemeint… es ist nur…“ sie brachte den Satz nicht zu Ende, stattdessen vergrub sie ihr Gesicht in beiden Händen und fing bitterlich an zu weinen.

Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so mies gefühlt zu haben. Dabei hatte er zu seiner Zeit als Reaper vielleicht schon 3 oder 4 Spieler auf diese Weise ausgelöscht. Aber jetzt fand er es auf einmal falsch. Und seine Partnerin fühlte sich schuldig. Wegen etwas, das ER tat. Er unternahm einen erneuten Versuch, sie zu beruhigen. Auch, wenn er einen Fehler machte, sollte sie sich deswegen nicht so schlecht fühlen. Er kniete sich neben sie hin und legte seine Hände an ihre Schultern.

„Bitte… bitte beruhige dich. Ich weiß, dass das nicht leicht ist… es ist auch für mich nicht leicht… aber ich wollte das nicht. Und bitte denk daran, dass du keine Schuld daran trägst. Es … war alles nur mein Fehler. Aber ich hab das wirklich nicht gewollt! Ich hab es so nicht gewollt…“

Verzweiflung lag in seiner Stimme. Sie ließ sich in seine Richtung fallen.

„Das weiß ich doch…“
 

Dann weinte sie sich lange an seiner Schulter aus. Er hielt sie dabei fest und streichelte sie hin und wieder über den Rücken oder am Hinterkopf. So verbrachten sie ihre nächste „Pause“. Er hätte ja am liebsten noch darauf hingewiesen, dass sie sich von so etwas nicht von ihrem eigentlichen Ziel abhalten lassen sollten, aber so taktlos wollte er dann doch nicht sein.
 

Nach einer ganzen Weile fragte sie: „Sollten wir nicht langsam weiter?“

Er blickte kurz auf den Timer.

„Wir sind nach wie vor gut in der Zeit. Wenn du noch einen Moment brauchst, ist das in Ordnung.“

Ihr Nicken fühlte er nur. Sie ließ sich dann auch wirklich nur ein paar Minuten Zeit, bis sie von ihm abließ und andeutete, dass sie weiter können. Jetzt griffen sie auch mal kurz auf ihr mitgenommenes Essen zurück, aber mehr als einen halben Chili Dog bekamen beide nicht runter.

Tag 7 (Teil 2)

Als nächstes war Uzuki dran. Diese wirkte wiederum recht ungeduldig, als die beiden Spieler bei ihr ankamen. Ihr entging auch nicht, dass die beiden körperlich wie auch seelisch angeschlagen waren.
 

„Was ist denn mit euch los? Ihr seht ja auch, wie 7 Tage Regenwetter! Lacht doch mal!“

„Uns ist grad nicht nach lachen zumute. Bringen wir es hinter uns, Uzuki.“

„Uhhh. euch ist wirklich ne große Laus über die Leber gelaufen, was? Umso besser für mich! Das riecht nach einer Provision!“

„Sorry, aber die wirst du dir wohl doch abschminken müssen, Miss.“
 

Ohne weiteres ging der Kampf los. Er sah seine Gegnerin nur als schwarzes Abbild ihrer selbst. Soso, Reiko würde sich also erstmal mit dem Original rumschlagen müssen. Naja, sie mussten so oder so das Beste aus der Situation machen. Für ihn war es besser, denn so hatte er weniger Skrupel, eine Frau zu schlagen.
 

Uzikus Abbild teleportierte sich noch wilder in der Gegend rum, als Sho. Shuyin hatte Schwierigkeiten, mal für einen Angriff ranzukommen. Dafür war sie aber selbst nicht so gut im Angriff. Ähnlich wie Sho setzte sie fast nur Fernkampf-Pins ein, am meisten Force Rounds und sie zielte nicht sonderlich gut. Er fragte sich schon immer, weshalb sie es trotz ihres Ehrgeizes bei der Arbeit noch nicht so weit brachte, wie sie es gern hätte. Jetzt hatte er wohl die Antwort.

Trotzdem sollte er zusehen, dass er ihr mehr zusetzt, er konnte seine Partnerin nicht gänzlich den Kampf übernehmen lassen. Als er sich gerade etwas ausdenken wollte, änderte Uzukis Schatten plötzlich seine Farbe – er hatte jetzt das Original vor sich und Reiko müsste jetzt mit ihrem Schatten kämpfen. Auch gut, so konnte er mehr zu diesem Kampf beitragen, wenn er seine Gegnerin mal treffen würde. Er entschied sich für die Taktik Aktion-Reaktion, wie er es Anfangs bei Sho versucht hat. Abwarten, bis sie einen Angriff startete, dann schnell zu ihr hinteleportieren und selber angreifen, wenn sie unachtsam ist. Das klappte soweit ganz gut, sogar mehrere Male – offenbar lernte Uzuki nicht so schnell aus ihren Fehlern. Sie wurde dadurch nur wütend. Schließlich brachte sie Shuyin leicht in die Bredoullie, indem sie in sehr schneller Folge sich abwechselnd teleportierte, dann einen gestreuten Schuss-Angriff ausführte und sich wieder woandershin teleportierte um das ganze zu wiederholen. So wurde er von allen Seiten mit Schüssen eingedeckt. Von denen aber auch immer nur ein Bruchteil traf.
 

Als sie schließlich eine weitere Salve auf diese Art abfeuern wollte… passierte nichts. Sie hielt ihre Hand nach vorne, aber es ‚kam nichts raus’. Er schnallte schneller als seine Gegnerin, was Phase war und nutzte diesen Moment zum Gegenangriff. Bevor Uzuki kapierte, dass sie ihre Schusspins momentan alle aufbrauchte und diese wieder aufladen mussten, war Shuyin auch schon wieder ran und deckte sie mit einer Angriffsserie zu, die mit einem Gravemarker endete. Er traf sie offenbar härter als erwartet, sie viel unsanft auf ihr Hinterteil und schrie vor Schmerz auf. Als sie ihn von Weiten wieder auf sie zustürmen sah, schrie sie ihn nur ganz plötzlich an.
 

„Warte! Is ja gut, is ja gut! Ich geb mich geschlagen!!!“

Er hielt inne, bereitete sich aber dennoch darauf vor, dass dies ein Trick sein könnte. Es war aber keiner. Sich das Hinterteil reibend, stand sie auf und Reiko erschien neben ihm.

„Man man, man. Ihr versteht aber auch echt keinen Spaß, oder?“

„Soll es das etwa schon gewesen sein?“ fragte er ungläubig.

„Ich hab doch gesagt, dass ich aufgebe. Reicht das nicht?“

„Das… war ja fast ein bisschen zu einfach.“ stellte Reiko verblüfft fest.

„Nein, ihr seid mir einfach ein bisschen zu hartnäckig. Da warte ich lieber auf ein paar schwächere Spieler. Naja, ich hätte wissen sollen, dass man sich besser nicht mit einem alten Hasen anlegt.“

So langsam bekam Shuyin einen klaren Eindruck davon, warum Uzuki es noch nicht so weit brachte.

„Wenn ihr euch mehr austoben wollt, dann könnt ihr ja Kariya mal etwas in den Hintern treten, dass er sich etwas mehr anstrengt. Haben euch die bisherigen Kämpfe nicht gereicht? Ihr seht nicht so aus, als hättet ihr es leicht gehabt.“
 

Betroffenheit unter den beiden Spielern.

„Was… ist denn los mit euch zwei?“

„…“

„Jetzt sagt schon! Warum die langen Gesichter?“

„Yashoro… ist nicht mehr…“ sagte Shuyin schließlich.

Uzuki bekam große Augen.

„Uuuhh… tatsächlich? So krass seid ihr drauf? Aber… Moment!“

Empört schritt Uzuki auf die beiden zu.

„Warum dann diese Depri-Nasen? Auf diese Leistung dürft ihr euch ruhig was einbilden! Einen Reaper-Officer erlegen. Mitleid mit dem Gegner ist das Letzte, was ihr Spieler gebrauchen könnt! Ich fass es ja nicht…“
 

Ohne ihre Reaktionen abzuwarten griff Uzuki zu ihrem Handy und rief jemanden an.
 

„Kariya? Yashiro hier. Du glaubst nicht, was ich dir jetzt erzählen werde. Die ersten Spieler sind grad bei mir angekommen und… ja, die beiden mit dem Lachgas… ja, wir haben schon gekämpft. …sie hatten natürlich keine Chance, aber weil ich so gnädig bin, lass ich sie trotzdem durch. …nimm dich bloß in Acht. Was ich dir nämlich erzählen wollte: sie haben den kleinen Möchtegern-Prediger erledigt… ja natürlich >richtig< erledigt, was denkst du denn? ... Ja… also leg dich gefälligst mal ins Zeug, hörst du? … … meinetwegen, aber du zahlst. OK, bis dann.“
 

„Hey, hast du etwa grade den Nächsten vorgewarnt?“ stellte Reiko leicht erzürnt fest.

„Klar. Ist doch nicht verboten, Kollegen zu helfen, oder nicht? Aber wie ich ihn kenne, wird er euch eh auf die leichte Schulter nehmen. Er ist so ein Nichtsnutz. Und jetzt macht ne Fliege.“
 

Ohne große Widerworte gingen sie weiter ihren Weg. Unterwegs unterhielten sie sich über den letzten Kampf. Es stellte sich heraus, dass Uzuki mit ihrem Schatten tauschte, weil sie zu viele Probleme mit Reiko hatte. Reiko war eine zu gute Schützin mit ihren Fernkampfpins und Uzuki hat fast ständig Schaden genommen. Auch über den bevorstehenden Kampf wechselten sie ein paar Worte.
 

„Als nächstes ist also der Lollityp dran… du hast gesagt, er sei ne harte Nuss…“

„Das ist richtig…“

„Meinst du, der Kampf wird noch härter, als die, die wir bisher austrugen?“

„Wenn man seinem Ruf glauben schenkt, sollten wir davon ausgehen…“

„Oje… er sieht eigentlich nicht danach aus… ehrlich gesagt, habe ich ein bisschen Angst.“

Shuyin überlegte ein paar Sekunden, ob er aussprechen sollte, was ihm beinahe rausgerutscht wäre. Im Endeffekt sagte er es doch.

„Tröstet es dich, wenn ich dir sage, dass ich auch ein wenig Angst vor diesem Kampf habe?“

„Ja, irgendwie schon.“ sagte sie ehrlich mit einem leichten Lächeln.
 

Kariya war, wie nicht anders zu erwarten, eher der geduldig Wartende. Als er die beiden Spieler sah, freute er sich offenbar.
 

„Hallo, ihr beiden. Schön, euch noch dabei zu haben. Wie läufts denn so?“

„Naja, mehr schlecht als recht…“

„Ach kommt, ihr habt es so weit gebracht und steht kurz vor dem Ziel! Ihr habt sogar meine Mission bewältigt! Wer wird denn da den Kopf in den Sand stecken?“

„Was deine Mission angeht… was genau hast du dir eigentlich vorgestellt?“

„Was ich mir vorgestellt habe? Eigentlich nichts bestimmtes. Mir war einfach langweilig und ich wollte mich überraschen lassen, das ist alles. Übrigens: eure kleine Kostüm-Einlage war ganz nebenbei wirklich bezaubernd, einfach köstlich, grandios!“

„Gelacht hast du aber nicht.“

„Ja, ich hab es vermieden, mein Amusement zur Schau zu stellen… so konnte ich mich noch mehr an euren Ideen erfreuen.“

„Wir haben deine Mission also eigentlich schon viel früher bestanden???“

„Ja, so ist es. Alles in allem hab ich mich wirklich gut amüsiert.“

„Grrr… das ist doch…“

„Ach kommt, wer wird denn gleich sauer werden? Ich hab mir doch nur nen kleinen Spaß erlaub, ist doch nichts weiter Tragisches. Aber was reden wir hier eigentlich über vergangene Tage? Eure Zeit ist kostbar im Vergleich zu meiner; also wenn ihr euren Unmut Luft machen wollt, dann habt ihr jetzt die Gelegenheit dazu.“
 

Ohne weitere Vorrede startete er den Kampf. Kariya fixierte Shuyin die ganze Zeit mit seinem Blick und grinste permanent in sich hinein. Aber wirklich viel machte er nicht. Genau genommen glitt er nur unter Zuhilfenahme seiner Reaper-Flügel in der Gegend rum. Das nicht mal sonderlich schnell, Shuyin konnte eine Menge Treffer landen, die ihn aber offensichtlich nicht so viel anhaben konnten. Mehrere Minuten vergingen so und Kariya griff nicht einmal an. Shuyin merkte dies und ließ es nicht unkommentiert.

„Sag mal, willst du mich verarschen? Warum greifst du nicht an?“

„Angreifen soll ich? Na gut, wenn du unbedingt willst…“
 

Er hob seine Hand und gab eine Salve Force Rounds ab, allerdings verfehlte jeder einzelne sein Ziel.

„Hupps, ich hab daneben geschossen!“ stellte Kariya fast tonlos fest.

Shuyin war ziemlich erbost darüber, dass Kariya es ihm so einfach machte. Er hatte das Gefühl, maßlos unterschätzt zu werden, sein Stolz war wirklich derb angekratzt. Dennoch griff er seinen Gegner immer weiter an. Es blieb dabei, dass Kariya sich offenbar freiwillig treffen ließ und bei den eigenen, selten vorkommenden Angriffen offenbar absichtlich schlecht zielte. Shuyin nahm jedenfalls kein bisschen Schaden. Die Tatsache, dass er sich permanent fit fühlte, sprach auch dafür, dass es Reiko nicht anders erging.
 

Nachdem Kariya offenbar eine ganze Weile so mit den beiden spielte, machte er schließlich einen auf sterbenden Schwan und ließ sich mit den Worten „Oh weh, ihr habt mich niedergerungen!“ rückwärts fallen. Er meinte es offensichtlich ernst, Reiko erschien neben Shuyin.
 

„Was sollte das denn? Warum hast du es uns so leicht gemacht?“

„Leicht gemacht? Glaubst du, das habe ich getan?“

„Allerdings. Oder ist dein guter Ruf etwa nur ein böses Gerücht?“

„Ich hatte auch das Gefühl, dass du mich nur an der Nase rumführst.“

„Euch kann man nicht täuschen, was?“

„Aber hallo. Das war mit Abstand der leichteste Kampf heute. Also, was sollte das?“

„Euch das zu verraten… würde eure Welt erschüttern. Sagen wir es einfach so: ich habe meine Gründe. Seid besser dankbar dafür, ihr seid schließlich noch nicht fertig.“

„Er hat Recht, oder Shuyin? Wir sollten uns besser nicht beklagen.“

„Ja, vermutlich… aber zufrieden bin ich trotzdem irgendwie nicht. Ich hatte erwartet, offen und ehrlich mit dir kämpfen zu können.“

„Ich bin sicher, dass sich die Gelegenheit zu einer Revanche bieten wird. Dann sollst du den Kampf bekommen, den du dir wünschst. Einverstanden?“
 

An so etwas hatte er nicht gedacht, doch Kariyas Angebot klang wie der Vorschlag eines fairen Sportsmannes. Also sprach ja nichts dagegen, dem erstmal zuzustimmen. Kariya, der immer noch der Länge lang auf dem Boden lag, verschränkte den Arm hinter dem Kopf, als wolle er es sich noch ein wenig gemütlich machen.

„Schön. Da wir das nun geklärt haben, schlage ich vor, dass ihr weiter eures Weges zieht, ich will euch nicht länger aufhalten. Ich wünsche euch noch viel Erfolg.“
 

So gingen sie weiter. Als sie unterwegs wieder eine Pause einlegten, griffen sie auch mal richtig auf ihre mitgebrachten Vorräte zu. Ihr nächster Gegner würde Higashizawa sein. Sein massiver Körperbau und der Eindruck, den Shuyin an Tag 5 von ihm bekam, ließen auf einen harten Gegner schließen.
 

Auch Higashizawa wartete mit verschränkten Armen auf sie.

„Ich begrüße euch zu diesem Festmahl des Untergangs. Schön zu sehen, dass meine beiden Hauptzutaten angekommen sind. Seid ihr bereit für euren ersten und letzten Gang?“

„Nein, noch nicht!“

Reiko hielt ihn zurück. Sie schritt entschlossen auf ihn zu, ihre Miene war todernst.

„Ich habe eine Frage!“

„Was darf es sein, junge Lady?“

„Du weißt… was meine Teilnahmegebühr für dieses Spiel ist. Bitte… sag mir, was es ist!“

„Shuyin hatte ein ungutes Gefühl. Er hatte zwar keinen blassen Schimmer, was ihre Teilnahmegebühr war, aber er ahnte, dass es sie sicher schwer treffen würde, wenn sie es erfährt.

„Tze! Diese Frage bestätigt nur deinen grenzenlosen Egoismus. Aber gut, ich will dir diese kleine Leckerei gönnen.“

Sie schluckte. Auch Shuyin war innerlich sehr unruhig und gespannt auf die Antwort.

„Deine Teilnahmegebühr, junge Dame… das, was dir am wichtigsten ist… ist die Krankheit, die dich dein ganzes Leben lang begleitete!“
 

Bingo. Wie Shuyin es erwartete, traf Reiko diese Information schwer. Sie atmete erschrocken auf, als sie es hörte und stand dann ganz starr da.

„Was? Meine… Krankheit? Aber… was… warum sollte mir so etwas wichtig sein?“

„Weil du nur an dich denkst, deshalb! Nur durch diese Krankheit hattest du immer die Aufmerksamkeit aller! Ohne diese Krankheit würde sich deine Familie weitaus weniger mit dir beschäftigen. Das weißt du und genau davor hast du Angst! Du willst immer im Mittelpunkt sein, die Leute sollen nur an das pflegebedürftige Mädchen denken, das niemand vernachlässigen darf! Alles andere ist dir egal. Und nun, da dir deine Krankheit, die Zutat um Aufmerksamkeit zu erhalten fehlt, spielst du dieses Spiel. Um sie wiederzubekommen! Damit alle nur noch an dich denken!“
 

Shuyin musste sich selbst eingestehen, dass diese Argumentation einfach nur logisch ist. Allerdings gab es da noch ein paar Sachen mehr zu beachten. Sachen, die ihr gerade offenbar nicht einfielen. Obwohl sie aufrecht neben ihm stand, wirkte sie gerade ganz klein.

„Bin ich… wirklich so egoistisch?“

Er legte seine Hand auf ihre Schulter.

„Du wirst dich davon doch wohl nicht etwa einschüchtern lassen, oder?“

„Was?“

„Ich gebe zu, so wie er es beschreibt, ergibt es durchaus Sinn, aber mal ehrlich: was weiß dieser aufgeblasene Möchtegern-Koch schon über dich? Du selbst weißt doch wohl am besten, ob er Recht hat oder nicht.“

„Ja, aber… ich… ich weiß nicht… ich denke, er hat-“

„Ich finde, dass er nicht Recht hat. Ich halte dich nicht für egoistisch.“ fiel Shuyin ihr ins Wort.“

Überrascht sah sie zu ihm auf.

„Zumindest bist du keinesfalls egoistischer als andere Menschen. Denn eine kleine Sache hat er nicht erwähnt…“

„W… was denn?“

„Jeder einzelne Spieler setzt das aufs Spiel, was ihm am wichtigsten ist und er kämpft, um es zurückzubekommen. Und, weil er wieder leben will. Wenn du seinen Worten also Glauben schenken willst, dann ist jeder einzelne Spieler ein riesen Egoist. Du, ich, Marco… alle. Derjenige, der nicht wenigstens ein bisschen Egoist wäre, hätte sich erst gar nicht dazu entschieden, dieses Spiel mitzuspielen.“
 

Seine Worte gingen offenbar sehr sorgfältig durch ihren Kopf. Schweigend und mit großen, feuchten Augen sah sie ihn eine Weile an. Dann fügte er noch hinzu:

„Und selbst, wenn du lieber ihm als mir glaubst und deswegen die Flinte ins Korn werfen willst, dann hast du immer noch die Möglichkeit seine These zu widerlegen, indem du wenigstens MIR zuliebe weiterkämpfst und mich an MEIN Ziel führst.“

Ihr Blick erhellte sich leicht.

„Oh, siehst du? Da spricht auch schon wieder der Egoist aus mir. Auch der da handelt sicher nicht aus selbstlosen Gründen. Er will schließlich Spieler ausstechen, damit er eine gute Wertung bekommt und die Karriereleiter bei den Reapern hochsteigt. Also, wenn das mal nicht egoistisch ist…“
 

Immer noch sah sie ihn mit großen Augen an. Dann wich sie seinem Blick aus, indem sie ihren Kopf senkte. Dann murmelte sie etwas.

„Wie bitte?“

Sie sah wieder zu ihm auf. Ihr Blick versprühte pure Zuversicht und auch etwas Kampfgeist.

„Trau deinem Partner.“

„Was?“

„Trau deinem Partner. Das hat Herr Hanekoma doch gesagt. Und genau das tue ich. Ich vertraue lieber dir, als dem da drüben.“

Er konnte sein Grinsen nicht mehr unterdrücken.

„Sehr schön. Also: treten wir diesem Großmaul mal so ordentlich in den Hintern?“

„Na aber so was von!“
 

Furchtlos gingen die beiden auf den Riesen zu. Shuyin ließ sogar die Knöchel knacken. Higashizawa, der die ganze Konversation mit anhörte, war offenbar wenig begeistert davon, dass sein Plan, seine Ziele mit Worten zu verunsichern, sogar ins Gegenteil umschlug.

Im Kampf hatte Shuyin es wieder mit dem Original zu tun. Langsam fragte er sich, ob es einen Grund dafür gab, dass die ganzen Reaper-Gegner zum größten Teil immer ihr jeweiliges Original gegen ihn antreten ließen und Reiko mit ihren Schatten beschäftigten. Aber diesmal war es ihm recht. So konnte er die Rechnung begleichen, die er noch von Tag 5 offen hatte.
 

Shuyin wurde schnell klar, welchen Vorteil er gegenüber seinen Gegner hatte: wie es Higashizawas Statur vermuten ließ, war er äußerst kräftig und schwer ins Wanken zu bringen – dafür war er ausgesprochen langsam. Shuyins Kampfstil basierte wiederum aus einer Mischung aus Kraft und Schnelligkeit; gerade letztere würde ihm hier zum Sieg verhelfen. In der Tat war Higashizawa so langsam, dass er Shuyin so gut wie nie traf, während Shuyins Angriffe ausschließlich trafen. Jedoch zeigten diese noch weniger Wirkung, als schon bei Kariya zuvor, was ihn ganz schön frustrierte.
 

Schließlich entschied er sich dazu, mit Yashoros Kampftaktik gezielt die natürlichen Schwachpunkte des menschlichen Körpers (Nacken, Kniekehlen, Solarplexus) anzugreifen. Es zeigte durchaus Wirkung. Mit Treffern in der Kniekehle brachte er den Gegner zum einbrechen, bei Treffern auf den Solarplexus stöhnte er immer wieder leicht vor Schmerz. Als er es schließlich schaffte, Higashizawa einmal zu Fall zu bringen, baute sich sein Ego wieder durch ein bisschen Stolz auf.
 

Allerdings machte Higashizawa dann offenbar Ernst. Zumindest änderte er seine Taktik. Mit einem Erdbeben-Psych ließ er den Boden bröckeln, mit Psychokinese-Psychs riss er große Steinbrocken aus dem Boden und schleuderte sie Shuyin entgegen. Der konnte den meisten allerdings durch bloße Bewegungen ausweichen, im Notfall setzte er den Teleport-Pin ein.
 

Mit der Zeit war der ganze Weg zerstört. Überall lagen Gesteinsbrocken rum, die Higashizawa nach Shuyin warf. Dieser konnte deshalb kaum noch richtig laufen, weil der Boden total uneben war. Er war also mehr und mehr auf den Teleport-Pin angewiesen, wenn er den Felsen ausweichen wollte. Auch hatte er so Schwierigkeiten, an seinen Gegner ranzukommen. Plötzlich ließ Higashizawa fast alle Steinbrocken mit einem Mal um Shuyion herum schweben. Er brachte sie in Rotation – Shuyin stand also im Auge eines Fels-Tornados. Er wollte sich hinausteleportieren, jedoch… es klappte nicht! Er hatte wieder seinen Pin verbraucht und musste warten, dass er wieder aufgeladen war. Das hatte Higashizawa wohl geplant. Shuyin hatte sich so oft teleportiert, dass sein Gegner wohl erkannt hat, wie oft der Pin wirkt, bevor er sich aufladen muss. Jetzt war Shuyin leicht in der Klemme. Mit einer Kreuzbewegung der Arme ließ Higashizawa alle Brocken, die Shuyin umkreisten, auf diesen zufliegen.
 

Zu seinem Glück hatte dieser noch seinen Vacuum-Wave-Pin in petto, mit dessen mehrfacher Rundumdrehung er einen Großteil der Felsen zurückschlagen konnte, aber nicht alle. Einige kleinere bekam er ab, sodass er wohl blaue Flecke und eine kleine blutende Wunde an der Schläfe davontrug. Dafür hatte er zumindest für den Moment wieder freie Bahn auf Higashizawa. Er stürmte auf ihn zu, doch der Riese hatte noch einen besonders großen Stein in der Hinterhand, den er frontal auf den entgegenkommenden Shuyin schleuderte. Dieser reagierte rein instinktiv mit einem Shockwave-Angriff – und schleuderte den Fels somit direkt zurück auf seinen Absender. Higashizawa wurde von seinem eigenen Fels direkt am Kopf getroffen, was ihn auch stark ins Taumeln brachte. Shuyins darauf folgende Angriffsserie brachte ihn schließlich zu Fall, mit einem Gravemarker stampfte er ihn noch mal extra in den Boden hinein.
 

Immer noch kampfbereit beobachtete er den am Boden liegenden Higashizawa, behielt aber auch die Umgebung im Auge, damit er nicht eventuell von irgendwelche Felsen überrascht wurde. Der Riese richtete sich schwerfällig auf. Blut lief aus seinem Mundwinkel. Als er kniete, spuckte er auch Blut, bevor er sich wieder gänzlich aufrichtete.

„Willst du noch mehr?“ fragte Shuyin herausfordernd.

„Nein. Ich bin satt… ich gebe mich geschlagen. Urgh…“

Reiko tauchte wieder neben Shuyin auf. Sie sah sehr mitgenommen aus. Hatte er gegen sie auch die fliegenden Felsbrocken eingesetzt?

„Haben wir es geschafft?“

„Ja. Er sagte gerade, dass er sich geschlagen gibt.“

„Ein Glück… ich hab die Schnauze ein bisschen voll. Mir tut fast alles weh.“

„Ich gebe zu, ich bin… nrrrgh, beeindruckt. Es wundert mich nicht, dass ihr so weit gekommen seid. Aber dennoch… die größte Portion ist noch nicht gegessen. Ich bin gespannt, ob ihr die auch noch schafft.“

„Wir sind so weit gekommen, da werden wir den letzten Kampf nicht in den Sand setzen.“ sagte Reiko ruhig, aber entschlossen.

„Wohlan. So beschreitet weiter den Weg, den ihr gewählt habt. Ich werde euch nicht mehr aufhalten.“
 

Ohne weitere Worte mit Higashizawa zu wechseln, gingen sie weiter, jedoch nicht sehr weit. Sie waren beide sehr erschöpft und mussten wieder eine große Pause einlegen. Diese Pause wurde die längste, die sie an diesem Tag einlegten.
 

„Hey, du blutest ja!“

„Ist nicht so schlimm. Du siehst übrigens auch nicht viel besser aus. Hat er auch mit Felsen nach dir geworfen?“

„Ja, das war echt schlimm. Ich hab bestimmt ne ganze Menge blaue Flecken. Aber deine Wunde macht mir mehr sorgen, die sieht echt schlimm aus.“

„Ach was, ist wirklich halb so-“

„Zeig mal her.“

Ohne zu fragen sah sie sich die Wunde genauer an und tupfte sie mit einer Serviette aus den Mitnehmtüten vom Mexican Dog ab. Er sog die Luft scharf ein.

„Sssshh! Ahh…“

„Hab dich nicht so. Ich denke, du bist ein Kerl?“

„Das heißt nicht, dass ich keinen Schmerz spüre.“
 

Sie lächelte ganz leicht, während sie die Wunde abtupfte. Warum sie das tat, entzog sich seinem Verständnis.

Danach aßen sie die Reste ihres mitgenommenen Essens und setzten sich an eine Wand gelehnt um sich zu entspannen. Er holte ein winziges Kästchen mit einem dünnen Kabel aus der Tasche und steckte sich die beiden Enden des Kabels in die Ohren.

„Was machst du da?“

„Musik hören.“

„Mit dem kleinen Ding da?“

„Klar. Hast du noch nie von mp3-Player gehört?“

„Und was hörst du für Musik?“

„Punk Rock… wahrscheinlich nichts für dich. Du würdest es mir wohl nicht glauben, aber das entspannt mich.“

Er legte die Arme lang auf die angewinkelten Knie, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie sah in kurz an. Dann zog sie einen der Kopfhörer aus seinem Ohr, setzte sich ganz dicht neben ihn und steckte sich den Hörer selbst ins Ohr. Sie ließ die Musik eine Weile gespannt auf sich wirken, dann schloss auch sie die Augen, während sie hörte.

„Das ist ähnlich wie die Musik, die sie neulich bei dem Konzert spielten.“

„Richtig… aber eben nur ähnlich.“

„Ich finde es zwar nicht entspannend… aber dafür weckt es irgendwie den Kampfgeist.“

„Das ist der zweite Grund, weshalb ich diese Richtung so mag.“

„Sowas würden mich meine Eltern oder Lehrer nicht hören lassen.“

„Gefällt es dir?“

„Ja, irgendwie schon. Es hat was… Befreiendes.“
 

So saßen sie noch ein gutes Weilchen da und hörten nur Musik. Er blickte auch zwischenzeitlich mal auf den Timer. Sie waren verdammt gut in der Zeit. Nur noch ein Kampf stand ihnen bevor und sie hatten noch fast die Hälfte der Zeit übrig.
 

„Als letztes kommt diese Konishi, richtig?“

„Ja… schätze schon.“

„Glaubst du, dass du vernünftig gegen sie angehen kannst?“

„Warum fragst du?“

„Naja, sie… hat es dir doch so angetan.“

„Das tut nichts zur Sache. Es ist eher allgemein ein Problem, dass sie eine Frau ist. Ich will keine Frauen schlagen…“

„Also bleibt der Kampf wohl eher an mir hängen, was?“

„Keinesfalls! Ich lass dich doch nicht im Stich. Ich werd mich halt überwinden müssen, sie anzugreifen. Vielleicht leg ich ja ein paar andere Pins an…“

„Meinst du, wir werden mit ihr fertig?“

„Wir müssen. Ich hab keine Ahnung, wie stark sie ist, aber da sie offenbar nach Kitaniji die Ranghöchste ist, sollten wir mit allem rechnen. Sie hat bestimmt einige ausgeklügelte Tricks und Taktiken für uns parat.“

„Ich werd ihr schon Feuer unterm Hintern machen.“

„Warum das denn?“

„Ich… mag sie irgendwie nicht. Weiß auch nicht warum.“

„Oje… das riecht nach Zickenterror.“

„Hey, wen nennst du hier eine Zicke?“

„War doch nur Spaß!“

„Das weiß ich doch.“
 

Das war nicht das erste mal, dass sie „Das weiß ich doch“ sagte. Er mochte es. Es gab ihm das Gefühl, verstanden zu werden. Etwas, was ihm seit seinem ersten Spiel sehr selten passiert ist.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es ihr auch wirklich gut genug ging, um weiterzumachen, gingen sie weiter.
 

Als sie bei Konishi ankamen, war sie damit beschäftigt, etwas auf ihrem Klemmbrett aufzuschreiben. Ohne den Blick von diesem abzuwenden sprach sie zu ihnen.
 

„Soso, da seid ihr also. Aufgrund eures Wochenberichts war es anzunehmen, dass ihr es bis hierhin schafft. Allerdings seid ihr 12 Minuten später dran, als erwartet.“

„Gibt es eine Möglichkeit, diesen Kampf zu umgehen?“

Dass Shuyin diese Frage stellte, überraschte Reiko.

„Natürlich gibt es die und das weißt du. Ihr müsst nur umkehren und andere Spieler die Arbeit machen lassen.“

„So meinte ich das nicht.“

„Dann solltest du deine Fragestellung überdenken.“

„OK… würdest du uns vielleicht durchlassen, ohne dass wir gegen dich kämpfen müssen?“

„Ausgeschlossen. Ich muss euch wenigstens testen. Davon mal abgesehen ist es eine eindeutige Missionsanweisung, gegen mich zu kämpfen. Es brächte euch also nichts, kampflos an mir vorbeizugehen.“

„Na schön. Dann zieh dich mal warm an! Komm schon, Shuyin!“

„Ja, OK. Es hilft wohl alles nichts.“

„Also schön. Beginnen wir mit der Datensammlung.“
 

Zum Erstaunen der beiden Spieler nahm sie ihre Brille ab… und verwandelte sich in eine tigerähnliche Gestalt mit Flügeln, was die beiden ganz schön einschüchterte. Shuyin sah sich einer dunkelgrauen Tigergestalt gegenüber. Ihr Original würde also auf Reiko losgehen. Das gehört dann wohl zu ihrem Plan: der Teil, der offensichtlich stärker ist, geht auf den schwächeren der beiden Spieler los. Aber er sah wieder das Positive: die Tigergestalt hatte weniger Menschliches an sich, also würde er weniger Skrupel haben, diese „Frau“ anzugreifen. Also: auf ins Gefecht.
 

Wieder einmal stürmte er frontal auf den Gegner zu. Dieser überraschte ihn jedoch sofort: aus dem Schatten, gegen den Shuyin kämpfte, kam ein weiterer, identischer Schatten mit vorangestreckter Kralle auf Shuyin zu. Er konnte gerade so ausweichen. Sie erzeugte also im Kampf Abbilder ihrer selbst, die sie kämpfen ließ? Das könnte schwer werden, da er somit praktisch allein gegen mehrere Gegner kämpfte. Dazu kam, dass er die Schatten nicht vom Original-Schatten unterscheiden konnte.
 

Insgesamt vier Schatten umzingelten ihn, einer davon war das Original. Alle griffen ihn mit einem Mal an. Er reagierte diesmal mit einer Abwehrhaltung. Zu seiner Überraschung ging es glimpflicher aus, als er dachte. Er spürte nur einen einzigen Angriff. Die anderen Schatten gingen durch ihn hindurch, als hätten sie keine festen Körper.
 

Es waren also nur Illusionen. Er kämpft also doch nur gegen einen einzigen Gegner. Das war zwar dahingehend günstig, dass er nicht so viel getroffen werden würde, aber es änderte nichts daran, dass er selbst kaum angreifen könnte. Er müsste das Original irgendwie unterscheiden können. Doch wie?
 

Er brauchte ein Weilchen, um sich etwas auszudenken. In dieser Zeit wich er nur aus, meistens durch Teleport. Schließlich kam ihm eine Idee. Der echte Schatten müsste für ihn selbst auch spürbar sein. Und er müsste Anstalten machen, seinen Angriffen auszuweichen, wenn Shuyin auf den richtigen zielte. Er müsste also so oder so eher blindlings angreifen.

Wieder wurde er von allen Schatten gleichzeitig von allen Seiten angegriffen. Hier sah er seine erste große Chance. wie in vorigen Kämpfen wehrte er sich gegen den Angriff von allen Seiten mit seinem Rundumschlag seines Vacuum-Wave-Pins. Das war schon immer seine Interpretation des Spruches „Angriff ist die beste Verteidigung“. Auch diesmal klappte es; er spürte einen Widerstand schräg hinter sich. Das Original! Konishis Schatten war wohl überrascht von diesem Gegenangriff und Shuyin hatte die Gelegenheit, auf ihren Schatten loszugehen und zum ersten Mal erfolgreich eine Angriffscombo auf die loszulassen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass für den Moment, in dem er seinen Gegner traf, die Illusionsschatten verschwanden. Nachdem sie sich wieder gefangen hat, erschienen die Schatten wieder. Dabei stellte er fest, dass er die Illusionen doch vom Original unterschieden konnte: die Illusionen warfen keine Schatten auf dem Boden, das Original jedoch schon. Mit dieser Erkenntnis startete er die nächste erfolgreiche Angriffsserie. Und noch eine. Dann merkte Konishi (bzw. ihr Schatten), dass sie so wohl nicht weiterkommen würde. Also wechselte sie die Ebenen und ihr wirkliches Original, das bisher gegen Reiko kämpfte, stellte sich ihm gegenüber.
 

Lange sah er sie aber nicht. Sie erhob ihre Hände mit den scharfen Krallen… und mit einem Mal war alles um ihn herum Weiß. Strahlend weiß, sodass es im ersten Moment blendete. Alles, was er sah, war sein eigener recht langer Schatten auf dem Boden. Konishi selbst war nicht zu sehen. Aber er spürte einen Angriff aus einer nicht näher bestimmbaren Richtung. Und wieder aus einer anderen Richtung. Hatte sie sich unsichtbar gemacht? Und warum drehte sich sein schatten immer, wenn er einen Angriff einkassierte? Es musste einen Zusammenhang geben. Konishi mochte offenbar Täuschungen.
 

Auch, wenn es ihn einiges kosten würde, entschied er sich, das Verhältnis zu seiner Schattenbewegung und den gegnerischen Angriffen zu untersuchen, indem er sich angreifen ließ. Seinen Heilpin hatte er bisher noch nicht benutzt, das konnte er also riskieren. Er erkannte auch sehr schnell das System dahinter: die Angriffe kamen immer aus der entgegen gesetzten Richtung, in die sein Schatten zeigte. Als ob sein Gegner die Lichtquelle wäre, die seinen Schatten erzeugte.

Das half ihm aber nur bedingt, denn um seinen Gegner zu treffen, müsste er immer so angreifen, dass sein eigener Schatten genau im Rücken ist. Aber er hat hinten keine Augen, mit dem er seinen Schatten beobachten konnte. Trotzdem griff er einfach mal ins Leere an und traf gelegentlich auch etwas, was er nicht sah. Allerdings standen die Treffer in keinem Verhältnis zu den fehlgeschlagenen Angriffen.
 

Dann erhöhte Konishi die Schwierigkeit noch etwas: statt einen einzigen Schatten hatte Shuyin nun mehrere Schatten, die alle in verschiedene Richtungen zeigten. So hatte er nun keine Möglichkeit mehr, seinen Gegner auszumachen. Ihre Angriffe kamen zu schnell, als dass er als Reaktion darauf angreifen könnte. Auf seine Augen konnte er sich jetzt also gar nicht mehr verlassen. Aber worauf dann? Sein Gehör?
 

Ja, sein Gehör war noch die beste Alternative. Es war zwar nur leise, aber wenn er sich selbst ganz ruhig verhielt, konnte er Konishi hören. Ihre Bewegung und ihr Atmen. Das reichte, um den unsichtbaren Gegner hin und wieder zu treffen. Und je mehr er sie traf, umso schwieriger und lauter wurde ihr Atmen und umso besser konnte er sie ausmachen.
 

Nachdem er sie schließlich immer öfter traf, gab sie dann irgendwann doch klein bei und beendete den Kampf. Die Umgebung war wieder die dunkle Kanalisation vom Shibuya River und Reiko stand wieder neben Shuyin. Obwohl Konishi schon allein durch Shuyin insgesamt einiges einstecken musste, sah man ihr den Kampf nicht sonderlich an. Sie setzte ihre Brille wieder auf und zog sich ein paar Falten in der Kleidung zurecht, dann sah sie wieder aus ‚wie neu’. Wieder nahm sie ihr Klemmbrett zur hand und schrieb etwas drauf, während sie zu den Spielern sprach.
 

„Gut, der Test ist damit beendet. Ihr habt hervorragende Ergebnisse erzielt. Ihr habt zwar länger gebraucht, um hierher zu kommen, aber eure Daten aus diesem Kampf sind besser als erwartet. Ihr dürft weiter voranschreiten. Eine letzte Aufgabe erwartet euch noch.“

„Wie jetzt? Das war es? Du lässt uns einfach so weitergehen?“

„Was heißt hier ‚einfach so’? Eure Aufgabe war es, gegen mich zu kämpfen und ihr habt den Kampf bestanden, also dürft ihr weiter. Was wollt ihr noch mehr? Eine ausführliche Bewertung des Kampfes? Eine Siegerehrung? Das bekommt ihr, wenn ihr auch die letzte Aufgabe bewältigt. Meinen Berechnungen zufolge solltet ihr das auch schaffen. Also geht einfach weiter. Ihr seid hier fertig.“
 

Das ließen sich die zwei Spieler nicht zweimal sagen. Unterwegs ließen sie den letzten Kampf Revue passieren und unterhielten sich auch noch über das, was wohl noch kommt.
 

„Und? Wie fandest du den Kampf?“ fragte sie.

„Es passte zu Konishis Art. So etwas hab ich erwartet. Ich musste mir ganz schön das Hirn zermartern, um hinter ihre Taktiken zu kommen.“

„Hat sie also auch versucht, dich zu täuschen?“

„Allerdings. Zum Glück hab ich immer irgendwie nen Weg gefunden, sie zu treffen… wenn sie an diesen Taktiken arbeitet, kann sie zu nem nahezu unüberwindbaren Gegner werden.“

„Allerdings… aber das kann uns jetzt doch egal sein, oder? Ich bin jetzt eher gespannt, was der letzte Test sein wird… laut Missionsvorgabe sind wir doch eigentlich fertig, oder?“

„Schon… aber das wäre kein… ‚würdiges Ende’ dieser Woche. Irgendein großes, spektakuläres Finale wird bestimmt noch kommen. Ich rechne noch mit einem weiteren Kampf.“

„Na dann… machen wir wohl noch ein letztes Mal Pause, was?“
 

Wieder kümmerte sie sich in dieser Pause um seine Wunde(n) so gut es ihr mit dem, was sie bei sich hatten, möglich war. Er hatte eine größere Wunde in der Seite, die Konishi ihm mit ihren Krallen eingekratzt hat. Seine neuen Klamotten waren gleich wieder lädiert. Aber Reiko ging es auch nicht sehr viel anders. Davon mal abgesehen sollte man von 6 harten Kämpfen in Folge auch nichts anderes erwarten.

Wieder lächelte sie leicht, als die sich um seine Verletzung kümmerte. Diesmal fragte er, warum.

„Weiß auch nicht… es ist irgendwie schön… sich zu Abwechslung mal um jemanden zu kümmern. Außerdem… ohne dich wäre ich in diesem Spiel ja total aufgeschmissen… eigentlich hast du dich ja die ganze Zeit um mich gekümmert… und das möchte ich halt gerne irgendwie gut machen. Auch, wenn es nicht viel ist…“
 

Diese Erklärung reichte ihm und er verlor auch kein Wort mehr darüber. Nach einer letzten Ruhepause machten sie sich dann wieder auf den Weg.

Tag 7 (Teil 3)

Sie liefen nicht sehr weit, bis sie an eine Tür kamen, die für Kanalisation recht ungewöhnlich wirkte. Sie dachten aber nicht groß weiter über diese Tür nach und gingen einfach durch. Der Ort, an dem sie sich dann wieder fanden, überraschte sie sehr. Sie waren in einem größeren Raum, der einer gehobene Bar oder eine Lounge glich. Die Einrichtung – Couch, Glastische, einfach alles – wirkte, als sei es eine sündhaft teure Designer-Einrichtung. Es gab eine große Bar mit offensichtlich teureren Spirituosen, einen Pool-Billard-Tisch und einen Kicker-Tisch gab es auch. An einigen Wänden lief kunstvoll Wasser hinab. Die Krönung war aber der Fußboden: eine Glasscheibe unter der sich ein ganzes Aquarium mit exotischen Fischen befand.
 

Reiko kam aus dem Staunen nicht mehr raus. So ein Raum tief in der Kanalisation. Shuyin blieb nur deshalb ruhig, da er den Raum bereits kannte. Aber trotzdem mochte er den Stil dieses Raumes irgendwie.

Aus einer hinteren Ecke bei der Bar vernahmen sie Schritte. Ein hoch gewachsener Mann trat aus dem Halbdunkel hervor und begrüßte sie.
 

„Herzlich willkommen, Spieler. Meinen Glückwunsch, dass ihr es so weit geschafft habt.“

Die roten Kopfhörer und die auffallend große Sonnebrille sagten Shuyin gleich, wer das war. Auch Reiko erkannte ihn.

„Hey, Sie sind doch… der Typ, der mir die Hälfte zu diesem ganzen Spiel verschwiegen hat.“

„Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung, junge Dame. Aber als Conductor bin ich ein viel beschäftigter Mann und habe leider nicht die Zeit, jedem einzelnen Spieler alles ausführlich zu erklären. Aber da du jetzt hier vor mir stehst, war das ja offensichtlich sowieso nicht nötig. Oh, und wen haben wir denn hier? Planst du wieder ein Attentat auf mich?“

„Hah… nein, so dumm bin ich nicht, dass ich zweimal den gleichen Fehler mache. Ich hab eigentlich genug für heute.“

„Ah, schön zu wissen, dass es noch gesunden Menschenverstand gibt. Nun gut. Bevor wir zur letzten Aufgabe kommen, macht es euch doch so lange bequem. Es ist ja noch Zeit und ich habe ein paar Fragen an euch, wenn ihr gestattet.“

Sie sahen sich kurz an und waren beide sehr misstrauisch, setzten sich dann aber doch auf eine der Designer-Couchs. Kitaniji stellte ihnen ein Tablett mit Gläsern und Getränken hin und setzte sich auf die Couch gegenüber.
 

„So… kommen wir gleich zu meiner wichtigsten Frage: wie habt ihr diese Woche… dieses Spiel empfunden? Welchen Eindruck habt ihr? Vor allem von diesem Shibuya? Das frag ich vor allem dich, junge Dame, denn deinem Partner sollte das Meiste ja nicht neu sein, denke ich.“
 

Shuyin überlegte erst ein Weilchen. Er dachte an den Anfang des ersten Tages, wo er feststellte, dass in Shibuya immer noch alles beim Alten war und dass er es gut fand. Auch über die Woche hinweg änderte sich daran nichts. Shibuya war noch so, wie er es mochte. Wirklich Schwierigkeiten hatte er nur mit Dingen, die direkt mit dem Spiel und den Reapern zu tun hatten. Und mit Reiko. Anfangs. Doch bevor er seine Gedanken äußern konnte, plapperte Reiko schon drauf los.
 

Auch sie nannte zuerst die Dinge, die ihr positiv in Erinnerung blieben, was größtenteils Punkte waren, die nicht so viel mit dem Spiel zu tun hatten. Vor allem die Vielfalt Shibuyas hatte es ihr angetan. Was sie negativ anmerkte, waren die rätselhaften Formulierungen der Missionen, deren Schwierigkeitsgrad und das Aufeinander treffen mit bestimmten Reapern. Shuyin schloss sich vor allem beim Schwierigkeitsgrad der Missionen an, da er dies so nicht kannte. Kitaniji schien besonders die Faszination über die Vielfalt zu interessieren.
 

„Ja, Shibuya ist in der Tat voll von vielfältigen Menschen. Jeder sieht anders aus und tickt auch anders. Aber sagt: hat diese Vielfältigkeit nicht auch zu Problemen geführt?“
 

Ihm fiel ein, wie er das erste Mal auf Reiko traf. Weil sie nicht seinen Vorstellungen entsprach war er ihr gegenüber abweisend.

Ihr fiel spontan Tag 3 ein, wo der Türsteher vor A-East sie nicht durchlassen wollte, weil sie offensichtlich nicht zur „Szene“ gehörten. Auch die unterschiedlichen Gedanken, die sie wahrnahm, wenn sie die Menschen scannte, fielen ihr ein.

Beide mussten daher zugeben, dass Unterschiedlichkeit auch zu Problemen führt. Doch Kitanijis Idee, dass es leichter und schöner wäre, wenn alle gleich wären, unterstützten sie nicht. ‚Das wäre zwar einfacher, aber langweilig’, da waren sich beide einig.
 

„Nun gut. Kommen wir zu meiner nächsten Frage: Wie würdet ihr… euer Verhältnis zueinander beschreiben? Wie empfindet ihr eure Partnerschaft? Lasst euch ruhig Zeit, ich weiß, dass das keine einfache Frage ist.“

Sie überlegten beide ein bisschen. Sie hauptsächlich deshalb, weil sie nicht wusste, wie sie es sagen sollte; er deshalb, weil er sich selbst nicht ganz sicher war, wie er es überhaupt empfand. Beide ließen die ganze Woche in ihren Köpfen noch einmal ablaufen und achteten dabei vor allem auf die Entwicklung ihres Verhältnisses.
 

Beide kamen nicht drum rum, zu erwähnen, dass sie einen schwierigen Start miteinander hatten. Auch sind sich beide einig geworden, dass es hauptsächlich an Shuyins Sturheit lag.

Alles in allem empfand sie ihr Verhältnis zueinander jetzt aber als das, was man wohl Freundschaft nennt und sie war ihm vor allem für all die Unterstützung dankbar, die er ihr gab. Vor allem auch die moralische Unterstützung.

Er war nicht so gut mit Worten und musste außerdem an die paar Mal zurückdenken, wo er von ihr wirkliche seelische Unterstützung bekam und wie gut ihm das tat. Allerdings war er zu stolz um das zuzugeben, also beschrieb er das Verhältnis zu ihr schlicht als ‚bemerkenswert gut’.

Sie merkte wohl, dass er mit dieser Frage leichte Schwierigkeiten hatte. Auch Kitaniji begriff offenbar die Schwere hinter diesen wenigen Worten.
 

„Gut. Als letztes möchte ich ein ganz kurzes, allgemeines persönliches Fazit von dieser Woche. Wie fühlt ihr euch jetzt? Abgesehen von der Erschöpfung aus den vielen Kämpfen?“

Diesmal war Shuyin ganz schnell mit der Antwort. Er blickte dabei ins Leere und suchte offenbar sehr sorgfältig nach den richtigen Worten.

„Ich denke, die Woche war… in gewisser Weise gut für mich. Sie hat mir ein paar wichtige Dinge zurück ins Gedächtnis gerufen, die ich irgendwann vergessen zu haben schien. Ich hab das Gefühl, mich selbst ein bisschen wieder gefunden zu haben und wenn das Ganze hier das von mir gewünschte Ende nimmt, bin ich im Endeffekt froh, diese Woche gespielt zu haben.“
 

Kitaniji nahm diese Antwort offenbar mit einem gewissen Wohlwollen zur Kenntnis. Sie fuhr fort:
 

„Also ich bin auf jeden Fall dankbar für diese Woche, auch wenn es viele Schwierigkeiten gab. Ich hab das Gefühl, zum ersten Mal richtig gelebt zu haben. Wenn diese ganzen dummen Missionen und Kämpfe nicht wären, würde ich so am liebsten weitermachen. Shibuya ist ja groß und ich hab bestimmt noch nicht alles gesehen und erlebt… .“
 

„Höchst interessant. Wirklich höchst interessant. Ich danke euch für diese aufschlussreichen Antworten. Meine Fragen wären soweit geklärt. Wenn ihr also bereit seid, würde ich dann gern zu eurer letzten Aufgabe kommen.“

Kitaniji erhob sich von dem Designersofa und trat in die Mitte des Raumes.

„Ich dachte, diese Fragestunde wäre der letzte Test…“

„Nun, eure Antworten waren sicherlich wichtig für euer Endergebnis, aber der letzte Test war es nicht. Eure letzte Aufgabe wird noch mal eine Herausforderung der besonderen Art.“

„Da bin ich aber gespannt.“
 

„Oh, und ich erst. Zum Glück ist diese Aufgabe einfach formuliert: Ihr zwei sollt gegeneinander kämpfen.“

„Bitte WAS?“

„Ich dachte, die Aufgabenstellung sei klar. Oder rede ich so leise?“

„Ich hab dich verstanden, aber ich glaub das nicht! Du willst Partner gegeneinander kämpfen lassen? Ist das überhaupt erlaubt?“

„Alle Anweisung kommen vom Composer höchstpersönlich. Also was gibt es da zu zweifeln?“

„Ich glaub das nicht. Das mach ich auch nicht. Was, wenn wir uns beide weigern?“

„Genau, ich werde auch nicht gegen ihn kämpfen!“
 

Kitaniji schob sich mit einer Hand die Brille zurecht, die andere erhob er bedeutungsvoll in Richtung der beiden Spieler.

„Glaubt mir, ich habe Mittel und Wege, euch schon dazu zu bringen…“
 

Er hörte sie ganz kurz neben sich stöhnen. Als er sich zu ihr umdrehte stand sie ganz leicht gebeugt da, als müsse sie sich übergaben.

„Was ist los mit dir?“

Sie hob ihre Hand langsam in seine Richtung. Er sah, wie sich Energie in ihrer Hand sammelte. Er konnte grade rechtzeitig den Force-Round-Angriff ausweichen, den sie ich mitten ins Gesicht ballern wollte. Dort, wo der Schuss traf, hörte er Glas zerspringen.

„Was zum… was soll das?“
 

Sie reagierte nicht, sondern ging auf ihn zu, immer noch mit erhobener Hand, in der sich wieder Energie sammelte. Wieder wich er aus. Meinte sie es etwa ernst? Offensichtlich schon, denn sie hob noch die andere Hand und kam ihm dann schnell näher. Scheinbar wollte sie ihn aus nächster Nähe treffen. Er gab es gleich auf, weiter auf sie einzureden, denn irgendwas stimmte nicht mit ihr. Stattdessen kam er ihr nahe und hielt ihre beiden Arme an den Handgelenken fest, sodass sie nicht mehr in seine Richtung zielen konnte. Jetzt sah er sie aus der Nähe an. Sie hatte ein boshaftes Grinsen, lachte genauso boshaft leise in sich hinein und ihre Augen leuchteten leicht rot. An ihrem Kopf vorbeiblickend sah er in einiger Entfernung Kitaniji, der mit den Händen in den Hosentaschen stehend das Ganze mit seinem üblichen Pokerface beobachtete. Sah Shuyin da ein leichtes rotes Leuchten hinter den dunklen Gläsern von Kitanijis Sonnenbrille?
 

Er hatte keine Zeit, genauer nachzusehen. Er hielt zwar ihre Handgelenke fest, aber ihre Hände konnte sie trotzdem so drehen, dass sie Force Rounds in seine Richtung abfeuern konnte. Was sie auch tat – genau in sein Gesicht.
 

Durch den Treffer ging er zu Boden. Als er sich langsam auf alle Viere hiefte, sah er, dass sie wieder vor ihm Stand. An ihren Beinen vorbei sah er erneut zu Kitaniji. Ja, da leuchteten definitiv ein paar rote Augen hinter den Gläsern.

Die Tatsache, dass Sie offenbar ihre Pins nutzen konnte, sagte ihm, dass er das auch konnte. Als er sich ganz aufrichtete, stieß er sie etwas unsanft beiseite, sodass sie hinfiel, er ging an ihr vorbei und stürmte auf Kitaniji zu. Dieser schaltete schnell genug, erhob einen Arm in Shuyins Richtung und feuerte eine große rote Energiekugel ab. Shuyin wich ihr mit einem Teleport aus und war dann nah genug an Kitaniji dran, um anzugreifen. Der Shockwave-Combo wich er allerdings ungewöhnlich gut aus.
 

„Warum gehst du auf mich los? Dein Gegner steht da drüben.“

Noch bevor sich Shuyin umsehen konnte, spürte er ein paar Treffer im Rücken. Reiko hatte sich wieder aufgerappelt und griff ihn wieder an. Trotzdem ging er nicht auf sie, sondern auf Kitaniji los. Er würde sie nicht angreifen, auf keinen Fall.

„Verarsch mich nicht! Ich weiß, dass du sie kontrollierst!“

Wieder wich Kitaniji Shuyins Shockwave-Angriffen aus und behielt weiter sein Pokerface.

„Warum denn gleich so gereizt?“ fragte Kitaniji, während er eine Salve der roten Energiekugeln auf ihn abfeuerte.

„Weil ich das jetzt persönlich nehme!“
 

Nachdem er den Kugeln durch Teleport auswich, täuschte Shuyin einen Shock-Wave-Angriff an, teleportierte sich dann aber über Kitaniji um einen Gravemarker-Angriff auszuführen. Er traf auch und er sah seine Chance für weitere Angriffe. Instinktiv setzte er mit einem Uppercut nach, gefolgt von einer Shock-Wave-Serie. Diese wurde jedoch unterbrochen: Reiko feuerte schon wieder auf ihn. Er wurde nicht ganz so hart getroffen, also probierte er etwas aus. Wenn Kitaniji zu unlauteren Mitteln greifen konnte, dann konnte er das auch. Shuyin packte Kitaniji und hielt ihn mit einem Griff fest wie einen menschlichen Schild oder eine Geisel vor sich.

„Na, wirst du sie jetzt auch auf mich feuern lassen?“

„Du solltest wissen, dass das nicht so einfach ist, junger Mann…“ sagte Kitaniji und teleportierte sich prompt aus Shuyins Griff heraus neben Reiko. Diesmal feuerten beide aus vollen Rohren, Shuyin sah nur noch verschiedenfarbige und verschieden große Energieprojektile auf sich zufliegen. Er teleportierte sich in eine ganz andere Ecke des Raumes und dachte erst, er wäre in Sicherheit. Doch die roten Kugeln von Kitaniji änderten ihre Flugrichtung und verfolgten ihn, ohne dass der Absender sich groß umsah. Das kam zu überraschend für Shuyin und er bekam eine volle Breitseite ab, die ihn gegen die Wand schleuderte, woraufhin er zu Boden sank.
 

Die Treffer waren recht hart, er hatte Schmerzen und Schwierigkeiten, wieder hochzukommen. Als er wieder aufblickte, stand Reiko vor ihm und hielt ihm ihre Hand entgegen. Er sah, wie sich wieder Energie in ihr sammelte.
 

„Na, wie ist es, von der eigenen Partnerin angegriffen zu werden? Bestimmt nicht schön, oder? Schließlich soll man seinem Partner doch vertrauen… aber hast du das denn je? Ich glaube nicht, oder was meinst du?“

„Was weißt du schon? Sicher, anfangs war es schwer… aber ich vertraue meinem Partner. Ich vertraue ihr. Deine Psycho-Spielchen kannst du knicken.“

„Oh, wie kannst du ihr jetzt noch trauen, wo sie sich doch so offen gegen dich wendet? Weißt du, sie hat dir nämlich von Anfang an genauso wenig vertraut, wie du ihr. Deswegen war es mir auch ein leichtes, sie dazu zu bewegen, dich anzugreifen. Glaub mir, sie ist nicht so vertrauenswürdig, wie du es dir einbildest.“
 

„Aber deinem Gelabere soll ich vertrauen, oder wie?“ sagte er schließlich und stürzte sich mit letzter Kraft auf Kitaniji. Dass er einen Heilpin benutzen könnte, fiel ihm in dem Moment nicht ein.

Es war Kitaniji ein Leichtes, Shuyins Angriffe abzuwehren und einen Gegenangriff zu starten, der Shuyin schließlich wieder zu Boden brachte. Stark angeschlagen und unter noch größeren Schmerzen lag er auf dem Rücken, zu geschwächt, um sich noch mal aufzurichten. Wieder sah er Reikos Hand vor seinem Gesicht, wie sie Energie sammelte.

„Tjaja, das kommt davon. Wenn man sich auf andere verlässt, ist man verlassen. Ich schätze, das Spiel ist somit für dich gelaufen.“
 

Das Gefühl hatte er auch. Reikos Angriff würde ihm den Rest geben und er war nicht in der Verfassung, ihm auszuweichen. Sein verzweifelter Blick war auf die Energie gerichtet, die sich in Reikos Hand konzentrierte. Doch diese schien kurz zu schwinden. Dann wieder zu steigen. Und wieder zu schwinden. Dann schoss sie.
 

Aber nicht auf ihn, sondern auf Kitaniji, und er wurde auch voll getroffen. Er stand zwar einige Meter von den beiden Spielern entfernt, dennoch konnte Shuyin hören, wie Kitaniji leise in sich hineinmurmelte „Sie… entzieht sich meiner Kontrolle?“

Shuyin blickte zu Reiko. Sie zitterte und hielt sich beiden Hände an den Kopf.

„Lass… mich… los. Ich… will… das nicht!“ sagte sie krampfhaft.
 

Jetzt sah Shuyin eine Chance, das Blatt zu wenden. Er benutzte endlich den Heilpin, teleportierte sich zu Kitaniji, der die Wendung der Ereignisse immer noch nicht fassen konnte oder wollte, und griff mit einer besonders harten Angriffscombo an, die diesmal Kitaniji in das Mobiliar schleuderte. Shuyin sah sich nach Reiko um. Sie hatte immer noch die verkrampfte Haltung und schien irgendwie mit sich selbst zu kämpfen.

„Schnell… greif… ihn an!“ sagte sie zu ihm.

Er blickte wieder zu Kitaniji, der mittlerweile versuchte, wieder aufzustehen. Shuyin ließ es aber nicht dazu kommen. Er versenkte seine Faust in Kitanijis Magengegend, woraufhin dieser vornüber kippte. Doch damit nicht genug, Shuyin packte ihn und knallte ihn mit einem Schulterwurf auf den Boden. Um ihn herum lagen ein paar Scherben und zerbrochene Gläser und Glasflaschen. Shuyin griff sich eine zerbrochene Flasche und hielt Kitaniji die scharfe Glaskante an den Hals.
 

„Lass… sie frei.“ drohte er Kitaniji. Ohne, dass er sich selbst dessen bewusst war, hatte er einen eiskalten Blick in den Augen.

Kitaniji seufzte resigniert und ließ den Kopf auf den gläsernen Untergrund sinken. Dann teleportierte er sich aus Shuyins Reichweite an die Bar, wo er sich schwerfällig abstützte. Er setzte sich auf einen Barhocker und schob sich die Brille zurecht.
 

„Also schön. Ihr habt gewonnen… wieder mal eine beeindruckende Leistung. Von euch beiden.“

Doch fürs Erste wurde Kitaniji ignoriert. Shuyin war mehr daran interessiert, ob Reiko wieder sie selbst war.
 

„Hey, geht es dir gut? Bist du wieder du selbst?“

„Ja, es geht, danke... Bitte entschuldige, dass ich dich angegriffen habe! Das wollte ich nicht, aber ich konnte nicht anders! Ich war nicht mehr ich selbst, ich…“

„Das weiß ich doch, beruhige dich. Es ist jetzt ja vorbei.“

„Nein, du verstehst nicht. Ich…“

„Ist schon gut. Du musst mir nichts erklären oder dich rechtfertigen.“

„Doch, ich muss das wirklich loswerden. Weißt du, ich… für einen gewissen Moment wollte ich dich wirklich angreifen… irgendwas in mir verspürte eine unglaubliche Wut auf dich und wollte dir wirklich schaden… es war… wirklich schrecklich…“

„Aber du hast es überwunden, nicht war? Du hast mich nicht angegriffen, als es ernst war, oder?“

„Ja… weil du gesagt hast, dass du mir trotzdem vertraust… aber, verstehst du nicht? Ich habe Angst, dass dieses etwas… dieses Monster in mir irgendwann wiederkommt… und dich wieder verletzen könnte…“

„Das liegt ganz an dir, junge Dame.“ mischte sich Kitaniji ein.
 

„Ich habe dich nicht wirklich kontrolliert. Ich habe lediglich die Finsternis in deinem Herzen hervorgerufen, die in jedem von uns steckt. Doch du hast sie überwunden und wieder zu dir selbst gefunden. Ob durch deine eigene Willenskraft oder durch die Hilfe anderer, das ist dabei sogar nebensächlich. Los wirst du das nie, aber es ist an dir, damit umzugehen.“

„War es das dann jetzt mit deinen Tests?“

„Ja, das war es in der Tat. Ihr habt auch diesen Test bestanden.“

„Wozu sind diese Test überhaupt gut? Gibt es einen Sinn dahinter?“

„Den gibt es selbstverständlich, doch ein Spieler wie du hat sich um so etwas nicht zu kümmern. Die Mission ist damit beendet. Bitte folgt mir.“
 

Demonstrativ drehte Kitaniji einen Playerpin in der Hand und verschwand daraufhin in einer Art unsichtbaren Tür in der Mitte des Raumes. Die beiden Spieler warteten erst ein bisschen. Der Timer war verschwunden.
 

„Komm, lass uns auch gehen.“ sagte er schließlich, doch sie hielt ihn zurück.

„Warte… Shuyin.“

„Was ist denn?“

„Bist du… nicht sauer?“

„Nein. Warum sollte ich?

„Naja… du weißt schon. Ich habe schließlich…“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir vertraue. Und die Tatsache, dass du mich nicht hast hängen lassen, zeigt mir doch nur, dass ich mich in dir nicht getäuscht habe. Also: warum sollte ich sauer sein?“

Darauf wusste sie nichts mehr zu erwidern, also lächelte sie nur schwach. Sie scannten beide die Umgebung und gingen durch die Tür, die dadurch zum Vorschein kam. Vorher nahm sie aber noch seine Hand.
 

Der weitere Weg war ähnlich wie der bisherige im Shibuya River: ein dunkler Gang. Nur war hier kein Wasser, das nebenbei floss und die Wände waren voll mit kunstvollem Graffiti. Das Graffiti kam ihnen sogar erstaunlich bekannt vor. Aber sie waren doch jetzt nicht in Udagawa.

Am Ende der langen Graffitiwand sahen sie helles Licht, das durch einen Türgang leuchtete. Auf halbem Wege hielt er plötzlich an. Er hatte auf einmal bemerkenswerte Kopfschmerzen, die nicht natürlichen Ursprungs waren.
 

„Was ist los mit dir? Geht’s dir nicht gut?“

„Mein Kopf… dröhnt…“

„Hast du dich irgendwo gestoßen?“

„Nein, es ist… was anderes. Da ist…. etwas…“

„Was denn? Wo ist etwas?

„…“
 

Er stützte sich an der Wand ab, während er sich weiterhin den Kopf hielt. Nach einer kurzen Weile kam er dann dahinter.

„Ich… kann mich wieder erinnern…“

„Woran denn?“

„An… alles. Ich denke, ich hab gerade mein Beitrittspfand wiederbekommen…“

„Oh… was war es denn?“

„Erinnerungen… an meine Freundin.“
 

Er sackte an der Wand entlang zu Boden. Sie war neugierig und hätte gerne nachgefragt, unterließ es aber.

„Naja… jetzt weiß ich wenigstens wieder genau, warum ich die ganze Nummer hier durchziehe… schön.“

„Wegen deiner Freundin?“

„Ja. Wir sind beide zusammen gestorben und nahmen zusammen am ersten Spiel teil. Wir haben jedoch kein Team gebildet sondern hatten beide fremde Partner. Ihr Team… hat es nicht geschafft… eine größere Gruppe starker Noise hat sie erwischt.“

„Das ist ja… schrecklich… tut mir leid…“

„Muss es nicht. Ich hab ja schließlich einen Plan, wie ich sie zurückholen will…“

„Du meinst, das ist möglich? Was soll das denn für ein Plan sein?“ Jetzt fragte sie doch nach.

„Das, was ich dir größtenteils schon erzählt habe. Ich will an den Composer ran. Der Composer hat sicherlich die Macht, sie mir zurückzugeben. Also will ich seinen Platz einnehmen. Deshalb will ich in den Rängen der Reaper aufsteigen, um an ihn ranzukommen.“

„Warum… gehst du nicht einfach zu ihm hin und bittest ihn darum, deine Freundin wieder lebendig zu machen?“

„He. Das ist nicht so einfach. Ich hab den Composer noch nie zu Gesicht bekommen. Ich glaube fast, dass nur Megs ihn bisher gesehen hat. Außerdem… glaubst du, wer sich so ein beknacktes Spiel ausdenkt, wird die Gnade haben, mir meine Freundin wiederzugeben, wenn ich einfach hingehe und lieb ‚Bitte’ sage?“

„Ja… da hast du wohl recht…“

„Naja. Hoffen wir, dass ich einen zweiten Versuch als Reaper bekomme. Andernfalls war alles umsonst.“

„Und einfach wieder ins Leben zurückkehren?“

„Nicht ohne sie. Das hätte keinen Sinn für mich.“

„Sie bedeutet dir echt viel, was? So viel, was du nur für sie auf dich nimmst…“

„Sie bedeutet mir alles – und das kannst du wörtlich nehmen. Man könnte mir alles nehmen; solange ich sie noch hätte, könnte ich immer noch glücklich leben.“

„Schön zu hören, dass es solche Liebe wirklich gibt. Ich dachte immer, so was gibt’s nur in Romanen oder Filmen.“

„Ha. Das dachte ich auch, bis ich sie kennen lernte. Aber ganz ehrlich, ich denke, so eine Roman-Liebe ist noch nichts verglichen zu ihr und mir. So was wirst du im wahren Leben so schnell kein zweites Mal finden, denke ich.“

„Hihi. Da werd ich glatt ein bisschen neidisch. Und ich hatte schon gehofft, dass aus uns beiden was werden konnte. Aber das kann ich wohl an den Nagel hängen.“

„Ja… aber wenn es dich tröstet: du hättest gute Chancen, wenn meine Freundin nicht schon wäre.“
 

Kurzes Schweigen, aber kein unangenehmes.

„Und dein Beitrittspfand war also…“

„Ich vermute, es waren sämtliche Erinnerungen an sie. Mehr als das ist mir ja nicht geblieben.“

„Hm… und warum hab ich mein Pfand noch nicht zurück? Ich fühl mich immer noch wohl.“

„Wer weiß. Vielleicht kommt’s noch… aber solltest du fürs Erste nicht froh drüber sein?“

„Ja, da hast du recht.“

„Wollen wir langsam weiter?“
 

Zusammen gingen sie durch die Tür aus Licht. Sie kamen in einen riesigen, hell erleuchteten Raum an. In der Ferne sahen sie drei hochhausähnliche Gebilde stehen, konnten aber wegen dem ganzen Licht nichts Genaueres erkennen. Was sie sahen, war eine Gruppe von Spielern, vielleicht 5 Teams, sowie Kitaniji und Konishi mit ihrem Klemmbrett. Als Shuyin und Reiko zu den anderen stießen, erhob Kitaniji das Wort.
 

„Nun gut, damit wären nun alle versammelt. Ich begrüße euch alle und gratuliere euch. Ihr alle, die ihr nun vor mir steht, habt diese Woche überstanden und könnt euch als Gewinner dieses Spiels betrachten. Jedoch, bevor ihr euch zu früh freut, lasst euch gesagt sein, dass nicht jedem das Recht gegeben ist, wieder sein altes Leben aufnehmen zu dürfen. Der Composer gewährt dieses Recht in dieser Woche an… 6 Spieler.“
 

6 Spieler. Also 3 Teams. Das war vielleicht die Hälfte der versammelten Spieler. Trotzdem war das eine recht hohe Zahl; Shuyin hörte schon von Wochen, wo nur ein Spieler zurück ins Leben kam.
 

„Nichts desto trotz sei es jedem von euch gegönnt, sein Beitrittspfand wieder in Empfang zu nehmen. Nun, kommen wir zum interessanten Teil: Die Auswertung. Nur jene, die durch gute Leitungen in dieser Woche glänzten, dürfen zurück ins Leben kehren. Eure Leistung wird anhand von Punkten gemessen, die sich wiederum aus verschiedensten einzelnen Parametern zusammensetzt, die sich auf eure Handlungen in den Missionen beziehen. Ich rufe nun die gesammelten Punkte aus, beginnend mit dem besten Ergebnis. Ein glorreicher Platz eins geht natürlich an jemanden aus dem Team, welches die heutige Mission bis zum Schluss konsequent durchzog.“
 

Natürlich war Shuyin damit gemeint. Ohne arrogant zu sein wunderte ihn selbst das nicht.

Platz 2 war mit recht deutlichem Punkteabstand irgendjemand aus einem anderen Team.

Platz 3 war Marco.

Platz 4 war wieder jemand aus einem anderen Team.

Langsam machte sich Shuyin Sorgen. Wann würde Reiko genannt werden? Sie hatte es seiner Meinung nach mehr als alle anderen verdient, wieder ins Leben zurückzukehren. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie Platz 2 belegen würde.

Platz 5 … war Reiko. Als sie das hörte, umarmte sie ihn erleichtert. Zusätzlich zu ihrem Punktestand hatte Kitaniji noch eine gesonderte Mitteilung für sie:
 

„Mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Composers wurde übrigens beschlossen, dein Beitrittspfand weiterhin einzubeziehen, und dich ohne ihn wieder zurück ins Leben zu schicken. Wir hoffen, dass du damit einverstanden bist?“
 

Sie machte große Augen und es verschlug ihr sofort die Sprache. Ganz aufgeregt sah sie ihn an.

„Shuyin, hast du das gehört? Hast du das gehört? Die wollen… oh Gott… ich… ich… Waaah!“

Dann fiel sie ihm um den Hals und er wusste nicht so recht, ob das Lachen oder Weinen war, was er hörte. Da er sie als immer schwerer empfand, nahm er an, dass ihre Knie nachgaben und so ließ er sich mit ihr sinken. Mittlerweile war ihm klar, dass sie lachte UND weinte. Dass plötzlich alle Augen auf die Beiden gerichtet waren, merkten sie gar nicht. Sie fing sich wieder halbwegs und mit Tränen in den Augen und einem Lächeln sah sie ihn an.

„Hast du das gehört? Ich werde… nicht mehr krank sein. Ich werde gesund sein.“

„Ja, das wirst du.“

„Ich werde… richtig leben können. Wie ein normaler Mensch!“
 

Er nickte. Er zeigte es nach außen hin kaum, aber er freute sich tierisch für sie, fast genauso wie sie selbst. So viel Gnade hätte er in diesem kranken Spiel, wo es doch sonst um Leben und Tod geht, nicht erwartet. Zu seiner Überraschung fiel sie ihm noch mal um den Hals und flüsterte etwas in sein Ohr.

„Das hab ich dir zu verdanken… danke.“

„Äh… nicht ganz. Mir hast du höchstens zu verdanken, dass du diese Woche überstan-“

„Ach, halt die Klappe!“ schnitt sie ihm das Wort ab.
 

Dann las Kitaniji noch den letzten Kandidaten vor. Dann wollte er dazu übergehen, den übrigen Spielern ihre weiteren Möglichkeiten aufzuzählen, doch Shuyin unterbrach ihn.
 

„Halt, Moment, einen Augenblick bitte, Megs.“

„Hm? Was ist denn? Deine Punkte wurden doch schon genannt, was willst du denn?“
 

Er zögerte einen Moment. Er wusste, dass ihm gerade alle zuhörten und wenn er sagen würde, was er wollte, würden sie ihn alle verachten. Aber das musste er einfach in Kauf nehmen.

„Ich… möchte mein Recht, ins Leben zurückzukehren an jemand anderes abtreten. Ich möchte stattdessen den Reapern beitreten.“

Er vernahm einige Reaktionen der Überraschung und des Unverständnisses aus den Reihen der anderen Spieler. Kitaniji nahm eine leicht nachdenkliche Haltung ein.
 

„Nun, das kommt nicht sehr überraschend. Aber ich denke, man kann dir eine zweite Chance einräumen. Aber ich behalte dich im Auge. Solltest du erneut Mist bauen, wird das dein letzter Versuch gewesen sein.“

„Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht so dumm bin, den gleichen Fehler zweimal zu begehen.“

„Nungut. Dann begrüße ich dich hiermit herzlich in den Reihen der Reaper – erneut. Ich erwarte, dass du gute Arbeit leistest. Konishi, wer wird dann stattdessen ins Leben zurückkehren dürfen?“
 

Konishi las einen Namen vor. Derjenige freute sich riesig, jubelte und machte Freudensprünge. Kitaniji fuhr dann fort.

„Was den Rest von euch angeht, es stehen euch mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. Ihr könnt es ihm hier gleich tun und den Reapern beitreten. Wir freuen uns über jedes neue Mitglied. Wem das nicht zusagt, der kann am Spiel der nächsten Woche teilnehmen und erneut um eine zweite Chance spielen. Hierbei fällt selbstredend ein erneutes Beitrittspfand an. Wer sich auch gegen diese Option stellt, dem bleibt nichts anderes übrig, als seinen eigenen ultimativen Untergang abzuwarten.“
 

Raunen und Diskussionen unter den übrigen Spielern. Die meisten einigten sich darauf, das Spiel erneut zu spielen. Ein einziger wollte auch den Reapern beitreten. Es war derjenige, der sich an Tag 6 als einziger gegen die Zusammenarbeit sträubte.
 

„Nun, wenn keiner mehr etwas zu sagen hat, schlage ich vor, dass ihr euch jetzt vielleicht verabschiedet oder so was. Die Gewinner werden in Kürze wieder ihr Leben aufnehmen.“
 

Er spürte ein leichtes Ziehen am Ärmel. Als er sich umdrehte, stand Reiko da. Nachdem er sich erneut bei den Reapern anmeldete, vermied er es, den Blick in die Richtung der anderen Spieler zu lenken, daher merkte er nicht, dass sie auf ihn zukam. Ihr Blick drückte Freude und Trauer aus und sie wusste offenbar nicht genau, was sie sagen wollte oder sollte.
 

„Hey, schau nicht so. Jetzt wird doch alles gut, oder nicht? Wir haben’s überstanden.“

„Ja, ich weiß… aber irgendwie bin ich trotzdem traurig… dass wir uns jetzt verabschieden müssen. Mir wäre es immer noch lieber, wenn du einfach wieder mitkommst…“

„Du weißt, dass ich noch was zu erledigen habe.“

„Ja… ich wünsche dir auf jeden Fall viel Erfolg. Wir sehen uns doch wieder, oder? Spätestens…, wenn du sie zurück hast?“

„Definitiv. Das versprech’ ich dir.“

„OK…“
 

Sie sahen sich noch einen kurzen Moment an. Dann umarmte sie ihn noch mal. Diesmal so liebevoll wie noch nie zuvor. Er erwiderte die Umarmung.
 

„Ich danke dir. Für alles.“ sagte sie leise.

„Ich danke dir auch. Ohne dich wäre ich nicht soweit gekommen.“
 

Dann spürte sie plötzlich etwas an seinem Rücken, was vorher noch nicht da war. Reaper-Flügel. Sie wurde von einem weißen Licht umgeben und wurde wie von Zauberhand langsam in die Luft gehoben.

„Schätze, das war es dann jetzt.“

„Ja, sieht so aus… ah Halt! Wo werden wir uns denn wieder sehen?“

„Bei Hachiko. Wenn du mich sehen willst, komm dort hin. Ich werde kommen, wenn ich kann.“

„Ist gut. Ich werde auf dich warten.“

„Mach’s gut.“
 

Und damit war sie verschwunden. Genauso wie die anderen Spieler, die ins Leben zurückkehrten.
 

Ende des letzten Tages „Trennung“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück