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The World Ends with You

Another Game
von

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Tag 7 (Teil 3)

Sie liefen nicht sehr weit, bis sie an eine Tür kamen, die für Kanalisation recht ungewöhnlich wirkte. Sie dachten aber nicht groß weiter über diese Tür nach und gingen einfach durch. Der Ort, an dem sie sich dann wieder fanden, überraschte sie sehr. Sie waren in einem größeren Raum, der einer gehobene Bar oder eine Lounge glich. Die Einrichtung – Couch, Glastische, einfach alles – wirkte, als sei es eine sündhaft teure Designer-Einrichtung. Es gab eine große Bar mit offensichtlich teureren Spirituosen, einen Pool-Billard-Tisch und einen Kicker-Tisch gab es auch. An einigen Wänden lief kunstvoll Wasser hinab. Die Krönung war aber der Fußboden: eine Glasscheibe unter der sich ein ganzes Aquarium mit exotischen Fischen befand.
 

Reiko kam aus dem Staunen nicht mehr raus. So ein Raum tief in der Kanalisation. Shuyin blieb nur deshalb ruhig, da er den Raum bereits kannte. Aber trotzdem mochte er den Stil dieses Raumes irgendwie.

Aus einer hinteren Ecke bei der Bar vernahmen sie Schritte. Ein hoch gewachsener Mann trat aus dem Halbdunkel hervor und begrüßte sie.
 

„Herzlich willkommen, Spieler. Meinen Glückwunsch, dass ihr es so weit geschafft habt.“

Die roten Kopfhörer und die auffallend große Sonnebrille sagten Shuyin gleich, wer das war. Auch Reiko erkannte ihn.

„Hey, Sie sind doch… der Typ, der mir die Hälfte zu diesem ganzen Spiel verschwiegen hat.“

„Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung, junge Dame. Aber als Conductor bin ich ein viel beschäftigter Mann und habe leider nicht die Zeit, jedem einzelnen Spieler alles ausführlich zu erklären. Aber da du jetzt hier vor mir stehst, war das ja offensichtlich sowieso nicht nötig. Oh, und wen haben wir denn hier? Planst du wieder ein Attentat auf mich?“

„Hah… nein, so dumm bin ich nicht, dass ich zweimal den gleichen Fehler mache. Ich hab eigentlich genug für heute.“

„Ah, schön zu wissen, dass es noch gesunden Menschenverstand gibt. Nun gut. Bevor wir zur letzten Aufgabe kommen, macht es euch doch so lange bequem. Es ist ja noch Zeit und ich habe ein paar Fragen an euch, wenn ihr gestattet.“

Sie sahen sich kurz an und waren beide sehr misstrauisch, setzten sich dann aber doch auf eine der Designer-Couchs. Kitaniji stellte ihnen ein Tablett mit Gläsern und Getränken hin und setzte sich auf die Couch gegenüber.
 

„So… kommen wir gleich zu meiner wichtigsten Frage: wie habt ihr diese Woche… dieses Spiel empfunden? Welchen Eindruck habt ihr? Vor allem von diesem Shibuya? Das frag ich vor allem dich, junge Dame, denn deinem Partner sollte das Meiste ja nicht neu sein, denke ich.“
 

Shuyin überlegte erst ein Weilchen. Er dachte an den Anfang des ersten Tages, wo er feststellte, dass in Shibuya immer noch alles beim Alten war und dass er es gut fand. Auch über die Woche hinweg änderte sich daran nichts. Shibuya war noch so, wie er es mochte. Wirklich Schwierigkeiten hatte er nur mit Dingen, die direkt mit dem Spiel und den Reapern zu tun hatten. Und mit Reiko. Anfangs. Doch bevor er seine Gedanken äußern konnte, plapperte Reiko schon drauf los.
 

Auch sie nannte zuerst die Dinge, die ihr positiv in Erinnerung blieben, was größtenteils Punkte waren, die nicht so viel mit dem Spiel zu tun hatten. Vor allem die Vielfalt Shibuyas hatte es ihr angetan. Was sie negativ anmerkte, waren die rätselhaften Formulierungen der Missionen, deren Schwierigkeitsgrad und das Aufeinander treffen mit bestimmten Reapern. Shuyin schloss sich vor allem beim Schwierigkeitsgrad der Missionen an, da er dies so nicht kannte. Kitaniji schien besonders die Faszination über die Vielfalt zu interessieren.
 

„Ja, Shibuya ist in der Tat voll von vielfältigen Menschen. Jeder sieht anders aus und tickt auch anders. Aber sagt: hat diese Vielfältigkeit nicht auch zu Problemen geführt?“
 

Ihm fiel ein, wie er das erste Mal auf Reiko traf. Weil sie nicht seinen Vorstellungen entsprach war er ihr gegenüber abweisend.

Ihr fiel spontan Tag 3 ein, wo der Türsteher vor A-East sie nicht durchlassen wollte, weil sie offensichtlich nicht zur „Szene“ gehörten. Auch die unterschiedlichen Gedanken, die sie wahrnahm, wenn sie die Menschen scannte, fielen ihr ein.

Beide mussten daher zugeben, dass Unterschiedlichkeit auch zu Problemen führt. Doch Kitanijis Idee, dass es leichter und schöner wäre, wenn alle gleich wären, unterstützten sie nicht. ‚Das wäre zwar einfacher, aber langweilig’, da waren sich beide einig.
 

„Nun gut. Kommen wir zu meiner nächsten Frage: Wie würdet ihr… euer Verhältnis zueinander beschreiben? Wie empfindet ihr eure Partnerschaft? Lasst euch ruhig Zeit, ich weiß, dass das keine einfache Frage ist.“

Sie überlegten beide ein bisschen. Sie hauptsächlich deshalb, weil sie nicht wusste, wie sie es sagen sollte; er deshalb, weil er sich selbst nicht ganz sicher war, wie er es überhaupt empfand. Beide ließen die ganze Woche in ihren Köpfen noch einmal ablaufen und achteten dabei vor allem auf die Entwicklung ihres Verhältnisses.
 

Beide kamen nicht drum rum, zu erwähnen, dass sie einen schwierigen Start miteinander hatten. Auch sind sich beide einig geworden, dass es hauptsächlich an Shuyins Sturheit lag.

Alles in allem empfand sie ihr Verhältnis zueinander jetzt aber als das, was man wohl Freundschaft nennt und sie war ihm vor allem für all die Unterstützung dankbar, die er ihr gab. Vor allem auch die moralische Unterstützung.

Er war nicht so gut mit Worten und musste außerdem an die paar Mal zurückdenken, wo er von ihr wirkliche seelische Unterstützung bekam und wie gut ihm das tat. Allerdings war er zu stolz um das zuzugeben, also beschrieb er das Verhältnis zu ihr schlicht als ‚bemerkenswert gut’.

Sie merkte wohl, dass er mit dieser Frage leichte Schwierigkeiten hatte. Auch Kitaniji begriff offenbar die Schwere hinter diesen wenigen Worten.
 

„Gut. Als letztes möchte ich ein ganz kurzes, allgemeines persönliches Fazit von dieser Woche. Wie fühlt ihr euch jetzt? Abgesehen von der Erschöpfung aus den vielen Kämpfen?“

Diesmal war Shuyin ganz schnell mit der Antwort. Er blickte dabei ins Leere und suchte offenbar sehr sorgfältig nach den richtigen Worten.

„Ich denke, die Woche war… in gewisser Weise gut für mich. Sie hat mir ein paar wichtige Dinge zurück ins Gedächtnis gerufen, die ich irgendwann vergessen zu haben schien. Ich hab das Gefühl, mich selbst ein bisschen wieder gefunden zu haben und wenn das Ganze hier das von mir gewünschte Ende nimmt, bin ich im Endeffekt froh, diese Woche gespielt zu haben.“
 

Kitaniji nahm diese Antwort offenbar mit einem gewissen Wohlwollen zur Kenntnis. Sie fuhr fort:
 

„Also ich bin auf jeden Fall dankbar für diese Woche, auch wenn es viele Schwierigkeiten gab. Ich hab das Gefühl, zum ersten Mal richtig gelebt zu haben. Wenn diese ganzen dummen Missionen und Kämpfe nicht wären, würde ich so am liebsten weitermachen. Shibuya ist ja groß und ich hab bestimmt noch nicht alles gesehen und erlebt… .“
 

„Höchst interessant. Wirklich höchst interessant. Ich danke euch für diese aufschlussreichen Antworten. Meine Fragen wären soweit geklärt. Wenn ihr also bereit seid, würde ich dann gern zu eurer letzten Aufgabe kommen.“

Kitaniji erhob sich von dem Designersofa und trat in die Mitte des Raumes.

„Ich dachte, diese Fragestunde wäre der letzte Test…“

„Nun, eure Antworten waren sicherlich wichtig für euer Endergebnis, aber der letzte Test war es nicht. Eure letzte Aufgabe wird noch mal eine Herausforderung der besonderen Art.“

„Da bin ich aber gespannt.“
 

„Oh, und ich erst. Zum Glück ist diese Aufgabe einfach formuliert: Ihr zwei sollt gegeneinander kämpfen.“

„Bitte WAS?“

„Ich dachte, die Aufgabenstellung sei klar. Oder rede ich so leise?“

„Ich hab dich verstanden, aber ich glaub das nicht! Du willst Partner gegeneinander kämpfen lassen? Ist das überhaupt erlaubt?“

„Alle Anweisung kommen vom Composer höchstpersönlich. Also was gibt es da zu zweifeln?“

„Ich glaub das nicht. Das mach ich auch nicht. Was, wenn wir uns beide weigern?“

„Genau, ich werde auch nicht gegen ihn kämpfen!“
 

Kitaniji schob sich mit einer Hand die Brille zurecht, die andere erhob er bedeutungsvoll in Richtung der beiden Spieler.

„Glaubt mir, ich habe Mittel und Wege, euch schon dazu zu bringen…“
 

Er hörte sie ganz kurz neben sich stöhnen. Als er sich zu ihr umdrehte stand sie ganz leicht gebeugt da, als müsse sie sich übergaben.

„Was ist los mit dir?“

Sie hob ihre Hand langsam in seine Richtung. Er sah, wie sich Energie in ihrer Hand sammelte. Er konnte grade rechtzeitig den Force-Round-Angriff ausweichen, den sie ich mitten ins Gesicht ballern wollte. Dort, wo der Schuss traf, hörte er Glas zerspringen.

„Was zum… was soll das?“
 

Sie reagierte nicht, sondern ging auf ihn zu, immer noch mit erhobener Hand, in der sich wieder Energie sammelte. Wieder wich er aus. Meinte sie es etwa ernst? Offensichtlich schon, denn sie hob noch die andere Hand und kam ihm dann schnell näher. Scheinbar wollte sie ihn aus nächster Nähe treffen. Er gab es gleich auf, weiter auf sie einzureden, denn irgendwas stimmte nicht mit ihr. Stattdessen kam er ihr nahe und hielt ihre beiden Arme an den Handgelenken fest, sodass sie nicht mehr in seine Richtung zielen konnte. Jetzt sah er sie aus der Nähe an. Sie hatte ein boshaftes Grinsen, lachte genauso boshaft leise in sich hinein und ihre Augen leuchteten leicht rot. An ihrem Kopf vorbeiblickend sah er in einiger Entfernung Kitaniji, der mit den Händen in den Hosentaschen stehend das Ganze mit seinem üblichen Pokerface beobachtete. Sah Shuyin da ein leichtes rotes Leuchten hinter den dunklen Gläsern von Kitanijis Sonnenbrille?
 

Er hatte keine Zeit, genauer nachzusehen. Er hielt zwar ihre Handgelenke fest, aber ihre Hände konnte sie trotzdem so drehen, dass sie Force Rounds in seine Richtung abfeuern konnte. Was sie auch tat – genau in sein Gesicht.
 

Durch den Treffer ging er zu Boden. Als er sich langsam auf alle Viere hiefte, sah er, dass sie wieder vor ihm Stand. An ihren Beinen vorbei sah er erneut zu Kitaniji. Ja, da leuchteten definitiv ein paar rote Augen hinter den Gläsern.

Die Tatsache, dass Sie offenbar ihre Pins nutzen konnte, sagte ihm, dass er das auch konnte. Als er sich ganz aufrichtete, stieß er sie etwas unsanft beiseite, sodass sie hinfiel, er ging an ihr vorbei und stürmte auf Kitaniji zu. Dieser schaltete schnell genug, erhob einen Arm in Shuyins Richtung und feuerte eine große rote Energiekugel ab. Shuyin wich ihr mit einem Teleport aus und war dann nah genug an Kitaniji dran, um anzugreifen. Der Shockwave-Combo wich er allerdings ungewöhnlich gut aus.
 

„Warum gehst du auf mich los? Dein Gegner steht da drüben.“

Noch bevor sich Shuyin umsehen konnte, spürte er ein paar Treffer im Rücken. Reiko hatte sich wieder aufgerappelt und griff ihn wieder an. Trotzdem ging er nicht auf sie, sondern auf Kitaniji los. Er würde sie nicht angreifen, auf keinen Fall.

„Verarsch mich nicht! Ich weiß, dass du sie kontrollierst!“

Wieder wich Kitaniji Shuyins Shockwave-Angriffen aus und behielt weiter sein Pokerface.

„Warum denn gleich so gereizt?“ fragte Kitaniji, während er eine Salve der roten Energiekugeln auf ihn abfeuerte.

„Weil ich das jetzt persönlich nehme!“
 

Nachdem er den Kugeln durch Teleport auswich, täuschte Shuyin einen Shock-Wave-Angriff an, teleportierte sich dann aber über Kitaniji um einen Gravemarker-Angriff auszuführen. Er traf auch und er sah seine Chance für weitere Angriffe. Instinktiv setzte er mit einem Uppercut nach, gefolgt von einer Shock-Wave-Serie. Diese wurde jedoch unterbrochen: Reiko feuerte schon wieder auf ihn. Er wurde nicht ganz so hart getroffen, also probierte er etwas aus. Wenn Kitaniji zu unlauteren Mitteln greifen konnte, dann konnte er das auch. Shuyin packte Kitaniji und hielt ihn mit einem Griff fest wie einen menschlichen Schild oder eine Geisel vor sich.

„Na, wirst du sie jetzt auch auf mich feuern lassen?“

„Du solltest wissen, dass das nicht so einfach ist, junger Mann…“ sagte Kitaniji und teleportierte sich prompt aus Shuyins Griff heraus neben Reiko. Diesmal feuerten beide aus vollen Rohren, Shuyin sah nur noch verschiedenfarbige und verschieden große Energieprojektile auf sich zufliegen. Er teleportierte sich in eine ganz andere Ecke des Raumes und dachte erst, er wäre in Sicherheit. Doch die roten Kugeln von Kitaniji änderten ihre Flugrichtung und verfolgten ihn, ohne dass der Absender sich groß umsah. Das kam zu überraschend für Shuyin und er bekam eine volle Breitseite ab, die ihn gegen die Wand schleuderte, woraufhin er zu Boden sank.
 

Die Treffer waren recht hart, er hatte Schmerzen und Schwierigkeiten, wieder hochzukommen. Als er wieder aufblickte, stand Reiko vor ihm und hielt ihm ihre Hand entgegen. Er sah, wie sich wieder Energie in ihr sammelte.
 

„Na, wie ist es, von der eigenen Partnerin angegriffen zu werden? Bestimmt nicht schön, oder? Schließlich soll man seinem Partner doch vertrauen… aber hast du das denn je? Ich glaube nicht, oder was meinst du?“

„Was weißt du schon? Sicher, anfangs war es schwer… aber ich vertraue meinem Partner. Ich vertraue ihr. Deine Psycho-Spielchen kannst du knicken.“

„Oh, wie kannst du ihr jetzt noch trauen, wo sie sich doch so offen gegen dich wendet? Weißt du, sie hat dir nämlich von Anfang an genauso wenig vertraut, wie du ihr. Deswegen war es mir auch ein leichtes, sie dazu zu bewegen, dich anzugreifen. Glaub mir, sie ist nicht so vertrauenswürdig, wie du es dir einbildest.“
 

„Aber deinem Gelabere soll ich vertrauen, oder wie?“ sagte er schließlich und stürzte sich mit letzter Kraft auf Kitaniji. Dass er einen Heilpin benutzen könnte, fiel ihm in dem Moment nicht ein.

Es war Kitaniji ein Leichtes, Shuyins Angriffe abzuwehren und einen Gegenangriff zu starten, der Shuyin schließlich wieder zu Boden brachte. Stark angeschlagen und unter noch größeren Schmerzen lag er auf dem Rücken, zu geschwächt, um sich noch mal aufzurichten. Wieder sah er Reikos Hand vor seinem Gesicht, wie sie Energie sammelte.

„Tjaja, das kommt davon. Wenn man sich auf andere verlässt, ist man verlassen. Ich schätze, das Spiel ist somit für dich gelaufen.“
 

Das Gefühl hatte er auch. Reikos Angriff würde ihm den Rest geben und er war nicht in der Verfassung, ihm auszuweichen. Sein verzweifelter Blick war auf die Energie gerichtet, die sich in Reikos Hand konzentrierte. Doch diese schien kurz zu schwinden. Dann wieder zu steigen. Und wieder zu schwinden. Dann schoss sie.
 

Aber nicht auf ihn, sondern auf Kitaniji, und er wurde auch voll getroffen. Er stand zwar einige Meter von den beiden Spielern entfernt, dennoch konnte Shuyin hören, wie Kitaniji leise in sich hineinmurmelte „Sie… entzieht sich meiner Kontrolle?“

Shuyin blickte zu Reiko. Sie zitterte und hielt sich beiden Hände an den Kopf.

„Lass… mich… los. Ich… will… das nicht!“ sagte sie krampfhaft.
 

Jetzt sah Shuyin eine Chance, das Blatt zu wenden. Er benutzte endlich den Heilpin, teleportierte sich zu Kitaniji, der die Wendung der Ereignisse immer noch nicht fassen konnte oder wollte, und griff mit einer besonders harten Angriffscombo an, die diesmal Kitaniji in das Mobiliar schleuderte. Shuyin sah sich nach Reiko um. Sie hatte immer noch die verkrampfte Haltung und schien irgendwie mit sich selbst zu kämpfen.

„Schnell… greif… ihn an!“ sagte sie zu ihm.

Er blickte wieder zu Kitaniji, der mittlerweile versuchte, wieder aufzustehen. Shuyin ließ es aber nicht dazu kommen. Er versenkte seine Faust in Kitanijis Magengegend, woraufhin dieser vornüber kippte. Doch damit nicht genug, Shuyin packte ihn und knallte ihn mit einem Schulterwurf auf den Boden. Um ihn herum lagen ein paar Scherben und zerbrochene Gläser und Glasflaschen. Shuyin griff sich eine zerbrochene Flasche und hielt Kitaniji die scharfe Glaskante an den Hals.
 

„Lass… sie frei.“ drohte er Kitaniji. Ohne, dass er sich selbst dessen bewusst war, hatte er einen eiskalten Blick in den Augen.

Kitaniji seufzte resigniert und ließ den Kopf auf den gläsernen Untergrund sinken. Dann teleportierte er sich aus Shuyins Reichweite an die Bar, wo er sich schwerfällig abstützte. Er setzte sich auf einen Barhocker und schob sich die Brille zurecht.
 

„Also schön. Ihr habt gewonnen… wieder mal eine beeindruckende Leistung. Von euch beiden.“

Doch fürs Erste wurde Kitaniji ignoriert. Shuyin war mehr daran interessiert, ob Reiko wieder sie selbst war.
 

„Hey, geht es dir gut? Bist du wieder du selbst?“

„Ja, es geht, danke... Bitte entschuldige, dass ich dich angegriffen habe! Das wollte ich nicht, aber ich konnte nicht anders! Ich war nicht mehr ich selbst, ich…“

„Das weiß ich doch, beruhige dich. Es ist jetzt ja vorbei.“

„Nein, du verstehst nicht. Ich…“

„Ist schon gut. Du musst mir nichts erklären oder dich rechtfertigen.“

„Doch, ich muss das wirklich loswerden. Weißt du, ich… für einen gewissen Moment wollte ich dich wirklich angreifen… irgendwas in mir verspürte eine unglaubliche Wut auf dich und wollte dir wirklich schaden… es war… wirklich schrecklich…“

„Aber du hast es überwunden, nicht war? Du hast mich nicht angegriffen, als es ernst war, oder?“

„Ja… weil du gesagt hast, dass du mir trotzdem vertraust… aber, verstehst du nicht? Ich habe Angst, dass dieses etwas… dieses Monster in mir irgendwann wiederkommt… und dich wieder verletzen könnte…“

„Das liegt ganz an dir, junge Dame.“ mischte sich Kitaniji ein.
 

„Ich habe dich nicht wirklich kontrolliert. Ich habe lediglich die Finsternis in deinem Herzen hervorgerufen, die in jedem von uns steckt. Doch du hast sie überwunden und wieder zu dir selbst gefunden. Ob durch deine eigene Willenskraft oder durch die Hilfe anderer, das ist dabei sogar nebensächlich. Los wirst du das nie, aber es ist an dir, damit umzugehen.“

„War es das dann jetzt mit deinen Tests?“

„Ja, das war es in der Tat. Ihr habt auch diesen Test bestanden.“

„Wozu sind diese Test überhaupt gut? Gibt es einen Sinn dahinter?“

„Den gibt es selbstverständlich, doch ein Spieler wie du hat sich um so etwas nicht zu kümmern. Die Mission ist damit beendet. Bitte folgt mir.“
 

Demonstrativ drehte Kitaniji einen Playerpin in der Hand und verschwand daraufhin in einer Art unsichtbaren Tür in der Mitte des Raumes. Die beiden Spieler warteten erst ein bisschen. Der Timer war verschwunden.
 

„Komm, lass uns auch gehen.“ sagte er schließlich, doch sie hielt ihn zurück.

„Warte… Shuyin.“

„Was ist denn?“

„Bist du… nicht sauer?“

„Nein. Warum sollte ich?

„Naja… du weißt schon. Ich habe schließlich…“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir vertraue. Und die Tatsache, dass du mich nicht hast hängen lassen, zeigt mir doch nur, dass ich mich in dir nicht getäuscht habe. Also: warum sollte ich sauer sein?“

Darauf wusste sie nichts mehr zu erwidern, also lächelte sie nur schwach. Sie scannten beide die Umgebung und gingen durch die Tür, die dadurch zum Vorschein kam. Vorher nahm sie aber noch seine Hand.
 

Der weitere Weg war ähnlich wie der bisherige im Shibuya River: ein dunkler Gang. Nur war hier kein Wasser, das nebenbei floss und die Wände waren voll mit kunstvollem Graffiti. Das Graffiti kam ihnen sogar erstaunlich bekannt vor. Aber sie waren doch jetzt nicht in Udagawa.

Am Ende der langen Graffitiwand sahen sie helles Licht, das durch einen Türgang leuchtete. Auf halbem Wege hielt er plötzlich an. Er hatte auf einmal bemerkenswerte Kopfschmerzen, die nicht natürlichen Ursprungs waren.
 

„Was ist los mit dir? Geht’s dir nicht gut?“

„Mein Kopf… dröhnt…“

„Hast du dich irgendwo gestoßen?“

„Nein, es ist… was anderes. Da ist…. etwas…“

„Was denn? Wo ist etwas?

„…“
 

Er stützte sich an der Wand ab, während er sich weiterhin den Kopf hielt. Nach einer kurzen Weile kam er dann dahinter.

„Ich… kann mich wieder erinnern…“

„Woran denn?“

„An… alles. Ich denke, ich hab gerade mein Beitrittspfand wiederbekommen…“

„Oh… was war es denn?“

„Erinnerungen… an meine Freundin.“
 

Er sackte an der Wand entlang zu Boden. Sie war neugierig und hätte gerne nachgefragt, unterließ es aber.

„Naja… jetzt weiß ich wenigstens wieder genau, warum ich die ganze Nummer hier durchziehe… schön.“

„Wegen deiner Freundin?“

„Ja. Wir sind beide zusammen gestorben und nahmen zusammen am ersten Spiel teil. Wir haben jedoch kein Team gebildet sondern hatten beide fremde Partner. Ihr Team… hat es nicht geschafft… eine größere Gruppe starker Noise hat sie erwischt.“

„Das ist ja… schrecklich… tut mir leid…“

„Muss es nicht. Ich hab ja schließlich einen Plan, wie ich sie zurückholen will…“

„Du meinst, das ist möglich? Was soll das denn für ein Plan sein?“ Jetzt fragte sie doch nach.

„Das, was ich dir größtenteils schon erzählt habe. Ich will an den Composer ran. Der Composer hat sicherlich die Macht, sie mir zurückzugeben. Also will ich seinen Platz einnehmen. Deshalb will ich in den Rängen der Reaper aufsteigen, um an ihn ranzukommen.“

„Warum… gehst du nicht einfach zu ihm hin und bittest ihn darum, deine Freundin wieder lebendig zu machen?“

„He. Das ist nicht so einfach. Ich hab den Composer noch nie zu Gesicht bekommen. Ich glaube fast, dass nur Megs ihn bisher gesehen hat. Außerdem… glaubst du, wer sich so ein beknacktes Spiel ausdenkt, wird die Gnade haben, mir meine Freundin wiederzugeben, wenn ich einfach hingehe und lieb ‚Bitte’ sage?“

„Ja… da hast du wohl recht…“

„Naja. Hoffen wir, dass ich einen zweiten Versuch als Reaper bekomme. Andernfalls war alles umsonst.“

„Und einfach wieder ins Leben zurückkehren?“

„Nicht ohne sie. Das hätte keinen Sinn für mich.“

„Sie bedeutet dir echt viel, was? So viel, was du nur für sie auf dich nimmst…“

„Sie bedeutet mir alles – und das kannst du wörtlich nehmen. Man könnte mir alles nehmen; solange ich sie noch hätte, könnte ich immer noch glücklich leben.“

„Schön zu hören, dass es solche Liebe wirklich gibt. Ich dachte immer, so was gibt’s nur in Romanen oder Filmen.“

„Ha. Das dachte ich auch, bis ich sie kennen lernte. Aber ganz ehrlich, ich denke, so eine Roman-Liebe ist noch nichts verglichen zu ihr und mir. So was wirst du im wahren Leben so schnell kein zweites Mal finden, denke ich.“

„Hihi. Da werd ich glatt ein bisschen neidisch. Und ich hatte schon gehofft, dass aus uns beiden was werden konnte. Aber das kann ich wohl an den Nagel hängen.“

„Ja… aber wenn es dich tröstet: du hättest gute Chancen, wenn meine Freundin nicht schon wäre.“
 

Kurzes Schweigen, aber kein unangenehmes.

„Und dein Beitrittspfand war also…“

„Ich vermute, es waren sämtliche Erinnerungen an sie. Mehr als das ist mir ja nicht geblieben.“

„Hm… und warum hab ich mein Pfand noch nicht zurück? Ich fühl mich immer noch wohl.“

„Wer weiß. Vielleicht kommt’s noch… aber solltest du fürs Erste nicht froh drüber sein?“

„Ja, da hast du recht.“

„Wollen wir langsam weiter?“
 

Zusammen gingen sie durch die Tür aus Licht. Sie kamen in einen riesigen, hell erleuchteten Raum an. In der Ferne sahen sie drei hochhausähnliche Gebilde stehen, konnten aber wegen dem ganzen Licht nichts Genaueres erkennen. Was sie sahen, war eine Gruppe von Spielern, vielleicht 5 Teams, sowie Kitaniji und Konishi mit ihrem Klemmbrett. Als Shuyin und Reiko zu den anderen stießen, erhob Kitaniji das Wort.
 

„Nun gut, damit wären nun alle versammelt. Ich begrüße euch alle und gratuliere euch. Ihr alle, die ihr nun vor mir steht, habt diese Woche überstanden und könnt euch als Gewinner dieses Spiels betrachten. Jedoch, bevor ihr euch zu früh freut, lasst euch gesagt sein, dass nicht jedem das Recht gegeben ist, wieder sein altes Leben aufnehmen zu dürfen. Der Composer gewährt dieses Recht in dieser Woche an… 6 Spieler.“
 

6 Spieler. Also 3 Teams. Das war vielleicht die Hälfte der versammelten Spieler. Trotzdem war das eine recht hohe Zahl; Shuyin hörte schon von Wochen, wo nur ein Spieler zurück ins Leben kam.
 

„Nichts desto trotz sei es jedem von euch gegönnt, sein Beitrittspfand wieder in Empfang zu nehmen. Nun, kommen wir zum interessanten Teil: Die Auswertung. Nur jene, die durch gute Leitungen in dieser Woche glänzten, dürfen zurück ins Leben kehren. Eure Leistung wird anhand von Punkten gemessen, die sich wiederum aus verschiedensten einzelnen Parametern zusammensetzt, die sich auf eure Handlungen in den Missionen beziehen. Ich rufe nun die gesammelten Punkte aus, beginnend mit dem besten Ergebnis. Ein glorreicher Platz eins geht natürlich an jemanden aus dem Team, welches die heutige Mission bis zum Schluss konsequent durchzog.“
 

Natürlich war Shuyin damit gemeint. Ohne arrogant zu sein wunderte ihn selbst das nicht.

Platz 2 war mit recht deutlichem Punkteabstand irgendjemand aus einem anderen Team.

Platz 3 war Marco.

Platz 4 war wieder jemand aus einem anderen Team.

Langsam machte sich Shuyin Sorgen. Wann würde Reiko genannt werden? Sie hatte es seiner Meinung nach mehr als alle anderen verdient, wieder ins Leben zurückzukehren. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie Platz 2 belegen würde.

Platz 5 … war Reiko. Als sie das hörte, umarmte sie ihn erleichtert. Zusätzlich zu ihrem Punktestand hatte Kitaniji noch eine gesonderte Mitteilung für sie:
 

„Mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Composers wurde übrigens beschlossen, dein Beitrittspfand weiterhin einzubeziehen, und dich ohne ihn wieder zurück ins Leben zu schicken. Wir hoffen, dass du damit einverstanden bist?“
 

Sie machte große Augen und es verschlug ihr sofort die Sprache. Ganz aufgeregt sah sie ihn an.

„Shuyin, hast du das gehört? Hast du das gehört? Die wollen… oh Gott… ich… ich… Waaah!“

Dann fiel sie ihm um den Hals und er wusste nicht so recht, ob das Lachen oder Weinen war, was er hörte. Da er sie als immer schwerer empfand, nahm er an, dass ihre Knie nachgaben und so ließ er sich mit ihr sinken. Mittlerweile war ihm klar, dass sie lachte UND weinte. Dass plötzlich alle Augen auf die Beiden gerichtet waren, merkten sie gar nicht. Sie fing sich wieder halbwegs und mit Tränen in den Augen und einem Lächeln sah sie ihn an.

„Hast du das gehört? Ich werde… nicht mehr krank sein. Ich werde gesund sein.“

„Ja, das wirst du.“

„Ich werde… richtig leben können. Wie ein normaler Mensch!“
 

Er nickte. Er zeigte es nach außen hin kaum, aber er freute sich tierisch für sie, fast genauso wie sie selbst. So viel Gnade hätte er in diesem kranken Spiel, wo es doch sonst um Leben und Tod geht, nicht erwartet. Zu seiner Überraschung fiel sie ihm noch mal um den Hals und flüsterte etwas in sein Ohr.

„Das hab ich dir zu verdanken… danke.“

„Äh… nicht ganz. Mir hast du höchstens zu verdanken, dass du diese Woche überstan-“

„Ach, halt die Klappe!“ schnitt sie ihm das Wort ab.
 

Dann las Kitaniji noch den letzten Kandidaten vor. Dann wollte er dazu übergehen, den übrigen Spielern ihre weiteren Möglichkeiten aufzuzählen, doch Shuyin unterbrach ihn.
 

„Halt, Moment, einen Augenblick bitte, Megs.“

„Hm? Was ist denn? Deine Punkte wurden doch schon genannt, was willst du denn?“
 

Er zögerte einen Moment. Er wusste, dass ihm gerade alle zuhörten und wenn er sagen würde, was er wollte, würden sie ihn alle verachten. Aber das musste er einfach in Kauf nehmen.

„Ich… möchte mein Recht, ins Leben zurückzukehren an jemand anderes abtreten. Ich möchte stattdessen den Reapern beitreten.“

Er vernahm einige Reaktionen der Überraschung und des Unverständnisses aus den Reihen der anderen Spieler. Kitaniji nahm eine leicht nachdenkliche Haltung ein.
 

„Nun, das kommt nicht sehr überraschend. Aber ich denke, man kann dir eine zweite Chance einräumen. Aber ich behalte dich im Auge. Solltest du erneut Mist bauen, wird das dein letzter Versuch gewesen sein.“

„Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht so dumm bin, den gleichen Fehler zweimal zu begehen.“

„Nungut. Dann begrüße ich dich hiermit herzlich in den Reihen der Reaper – erneut. Ich erwarte, dass du gute Arbeit leistest. Konishi, wer wird dann stattdessen ins Leben zurückkehren dürfen?“
 

Konishi las einen Namen vor. Derjenige freute sich riesig, jubelte und machte Freudensprünge. Kitaniji fuhr dann fort.

„Was den Rest von euch angeht, es stehen euch mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. Ihr könnt es ihm hier gleich tun und den Reapern beitreten. Wir freuen uns über jedes neue Mitglied. Wem das nicht zusagt, der kann am Spiel der nächsten Woche teilnehmen und erneut um eine zweite Chance spielen. Hierbei fällt selbstredend ein erneutes Beitrittspfand an. Wer sich auch gegen diese Option stellt, dem bleibt nichts anderes übrig, als seinen eigenen ultimativen Untergang abzuwarten.“
 

Raunen und Diskussionen unter den übrigen Spielern. Die meisten einigten sich darauf, das Spiel erneut zu spielen. Ein einziger wollte auch den Reapern beitreten. Es war derjenige, der sich an Tag 6 als einziger gegen die Zusammenarbeit sträubte.
 

„Nun, wenn keiner mehr etwas zu sagen hat, schlage ich vor, dass ihr euch jetzt vielleicht verabschiedet oder so was. Die Gewinner werden in Kürze wieder ihr Leben aufnehmen.“
 

Er spürte ein leichtes Ziehen am Ärmel. Als er sich umdrehte, stand Reiko da. Nachdem er sich erneut bei den Reapern anmeldete, vermied er es, den Blick in die Richtung der anderen Spieler zu lenken, daher merkte er nicht, dass sie auf ihn zukam. Ihr Blick drückte Freude und Trauer aus und sie wusste offenbar nicht genau, was sie sagen wollte oder sollte.
 

„Hey, schau nicht so. Jetzt wird doch alles gut, oder nicht? Wir haben’s überstanden.“

„Ja, ich weiß… aber irgendwie bin ich trotzdem traurig… dass wir uns jetzt verabschieden müssen. Mir wäre es immer noch lieber, wenn du einfach wieder mitkommst…“

„Du weißt, dass ich noch was zu erledigen habe.“

„Ja… ich wünsche dir auf jeden Fall viel Erfolg. Wir sehen uns doch wieder, oder? Spätestens…, wenn du sie zurück hast?“

„Definitiv. Das versprech’ ich dir.“

„OK…“
 

Sie sahen sich noch einen kurzen Moment an. Dann umarmte sie ihn noch mal. Diesmal so liebevoll wie noch nie zuvor. Er erwiderte die Umarmung.
 

„Ich danke dir. Für alles.“ sagte sie leise.

„Ich danke dir auch. Ohne dich wäre ich nicht soweit gekommen.“
 

Dann spürte sie plötzlich etwas an seinem Rücken, was vorher noch nicht da war. Reaper-Flügel. Sie wurde von einem weißen Licht umgeben und wurde wie von Zauberhand langsam in die Luft gehoben.

„Schätze, das war es dann jetzt.“

„Ja, sieht so aus… ah Halt! Wo werden wir uns denn wieder sehen?“

„Bei Hachiko. Wenn du mich sehen willst, komm dort hin. Ich werde kommen, wenn ich kann.“

„Ist gut. Ich werde auf dich warten.“

„Mach’s gut.“
 

Und damit war sie verschwunden. Genauso wie die anderen Spieler, die ins Leben zurückkehrten.
 

Ende des letzten Tages „Trennung“



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