Splitterwelt von angelneko ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Ich stehe auf einer Wiese. Der Himmel ist blau. Die Vögel zwitschern. Sanfte Sonnenstrahlen wärmen meinen Körper. In einem nahen Teich plätschert Wasser. Das Plätschern wirkt beruhigend. Ich entspanne mich. Plötzlich bebt der Boden. Risse ziehen sich zwischen Bäumen und Blumen entlang. Mit einem grässlichen Knirschen bricht der Boden auf. Ich habe Angst. Ich klammere mich panisch an den Erdbrocken, auf dem ich eben noch stand, doch ich kann mich nicht halten. Ich stürze ab. Unter mir sind Wolken und Nebelschleier. Im Fallen kann ich sehen, wie der Boden über mir mehr und mehr zerbröckelt. Erde und Geröll umgeben mein Fallen. Die Sonne wird undeutlich und verschwindet in den Nebelschwaden. Ich will schreien, doch kein Geräusch kommt über meine Lippen. Ein Wind umwirbelt mich im Sturz. Er fühlt sich warm an. „Hilf mir!“, flüstert eine Stimme. Ich war nicht sicher, ob es das unsanfte Klopfen an der Tür war, das mich geweckt hatte, oder ob ich zuerst aus dem seltsamen Traum hochgeschreckt war. Ich rieb mit beiden Händen über mein Gesicht. Ich war wohl doch noch eingenickt. Durch das kleine Bullauge drang Tageslicht in die Kabine. Scheinbar war es wieder hell. Es klopfte erneut. Heftiger. Dann stemmte sich jemand gegen die Tür. „Was fällt dir ein, die Tür zu versperren?!“, knurrte die Stimme des unverschämten jungen Kerls. „Verschwindet!“, fauchte ich zurück. Ich konnte noch immer spüren, wo der Pirat mich gepackt und gezerrt hatte. Sicher war ich voller blauer Flecken. „Elendes Miststück! Dann verhungere eben da drin!“, fluchte der Mann vor meiner Tür wieder und ich konnte hören, wie sich wütende Schritte entfernten. Zum Glück hatte meine Barrikade gehalten! Mühsam erhob ich mich vom Bett und streckte mich. Mein Rücken und meine Schultern ließen ein unangenehmes Knacken ertönen. In dieser Position zu schlafen war alles andere als bequem gewesen. Ein Blick durch das Bullauge sagte mir, dass wir noch immer in der Luft waren. Weit und breit nur Wolken und trüber Himmel. Keine Landmasse, an der ich unsere Position hätte festmachen können. Mit den Händen versuchte ich mein Haar zu entwirren. Irgendwann gab ich auch dies auf. Mein knurrender Magen erinnerte mich schließlich daran, dass ich noch nichts gegessen hatte. Verhungere eben, hatte der unverschämte Kerl gerufen. Das konnte er nicht ernst meinen. Oder doch? Wäre ich in abgehärmtem Zustand noch ein Lösegeld wert? ...und würde Vater sich überhaupt die Mühe machen, für seine unfolgsame, ungeliebte, anstrengende Tochter zu bezahlen? Hatte er überhaupt schon gemerkt, dass ich verschwunden war? In meinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Meine Finger verkrampften. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, untersuchte ich die Kammer, in der ich untergebracht war. Das kleine Bullauge war fest vernietet. Ohne Werkzeug würde es sich nicht öffnen oder herausnehmen lassen. Die Decke war niedrig, so dass ich sie leicht mit den Händen abtasten konnte. Doch wie an den Wänden, waren die Holzplanken sehr ordentlich verarbeitet und boten weder Halt für meine Finger, noch gaben die gelegentlichen winzigen Schlitze mehr als das dämmrige Dunkel der umliegenden Räume preis. Auch der Boden gab sich auf den ersten Blick fest und unnachgiebig. Doch beim verzweifelten Umherkriechen auf den Knien, hörte ich plötzlich ein Knarzen von einer der Bodendielen. Ein Nagel, der sie an ihrem Platz halten sollte, hatte sich ein wenig gelockert. Nur so viel, dass ich meine Fingernägel darunterschieben konnte. Ich begann ein wenig zu zupfen und zu puhlen. Sehr schnell wurde mir aber klar, dass es wohl einfacher wäre, ein Loch durch das Holz zu kratzen, als den Nagel mit bloßen Fingern herauszuziehen. Enttäuscht lehnte ich mich an den Bettpfosten. Ich dachte darüber nach, ob Frank und Wrone wohl schon verzweifelt nach mir suchten, als es erneut Klopfte. Diesmal jedoch leise und vorsichtig. „Was wollt Ihr?!“, rief ich barsch. „Möchtest du nicht doch etwas essen?“, rief eine Stimme durch die Tür, die viel viel jünger klang, als ich erwartet hatte. Beinahe kindlich. Überrascht trat ich an meine Barrikade und schob mühsam die Möbel so weit zur Seite, dass ich die Tür einen Spalt weit hätte öffnen können. Doch die Tür war noch immer verriegelt. Ich konnte hören, wie der Schlüssel leise quietschend im Schloss gedreht wurde. Dann blickten mir helle, violette Augen zwischen strubbeligem, weißblondem Haar entgegen, welches jemand schräg nach hinten zu zwei Zöpfen gebändigt hatte. Das Mädchen war einen Kopf kleiner als ich und vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. „Hallo!“, grinste sie. Schnell rückte ich die Möbel weiter beiseite und zog das Mädchen am Arm in meine Kabine. Ich schlug die Tür zu und lehnte mich von innen dagegen. Hoffentlich hatte keiner der Piraten das Kind gesehen. „Mädchen! Bei den bodenlosen Tiefen der Abgründe, wie kann sich ein Kind nur auf ein Piratenschiff schleichen! Das ist gefährlich!“, schimpfte ich entsetzt. Die kleine Lachte laut auf. Dann studierte sie meine Gesichtszüge. „Du bist wirklich hübsch. Kommst du aus einer sehr reichen Familie?“ „Das tut jetzt nichts zur Sache. Winde! Was hast du auf diesem Schiff zu suchen?!“ Das Mädchen schnaubte. „Irgendwer muss doch die Maschinen am Laufen halten.“ Während sie das aussprach, deutete sie auf einiges Werkzeug, das am Gürtel ihrer ölfleckigen Hose baumelte. Als ich sie weiter entgeistert ansah, fügte sie stolz hinzu: „Ich mag jung sein, aber ich bin eine weltklasse Mechanikerin.“ Sie setzte sich rittlings auf die umgekippte Kommode, die ich als Barrikade verwendet hatte. „Ich hab‘ dir etwas mitgebracht.“, sie nestelte ein Päckchen hervor und öffnete es. Zwei Scheiben Brot und ein Stück Käse kamen zum Vorschein. „Lokan wollte dich am liebsten zwei Tage hungern lassen.“, erklärte sie während des Auspackens, „Aber Ravio meinte, das sei unanständig und ich finde auch, dass hungrig sein eine blöde Sache ist.“ Schließlich streckte sie mir das Essen entgegen. „Mein Name ist übrigens Kishna. Und wie heißt du?“ „Mein Name ist Lillja...“, antwortete ich langsam. „Ein schöner Name.“, lächelte das Mädchen. Dann sprang die Kleine auf und schickte sich an, den Raum wieder zu verlassen. Ich hielt sie am Arm fest, ehe sie hinaus auf den Flur schlüpfen konnte. „Wo willst du hin?!“, fragte ich energisch. Ein kleines Mädchen, das sich auf einem Piratenschiff herumtrieb. Allein der Gedanke, was dem Kind zustoßen konnte, ließ mir den Appetit sofort vergehen. Mechanikerin. Sicher hatte sie sich zum spielen hier herein geschlichen, als das Schiff irgendwo angelegt hatte. Was wenn die Piraten sie entdeckten und einsperrten? Wenn sie sie schlugen? So ein hübsches Mädchen... womöglich würden sie sie... Ich musste das Kind vor solchen Dingen bewahren! „Lokan mag nicht, wenn ich zu viel mit unseren Gefangenen spreche... ich muss wieder in den Maschinenraum!“, antwortete das Kind verunsichert, „Tut mir wirklich leid, aber ich darf dich nicht rauslassen.“, fügte sie mitleidig hinzu. Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich nahe der Tür Schritte vernahm. Ehe ich mich versah, wurde die Tür aufgedrückt. Der junge, unverschämte Pirat packte das Mädchen und zog es unsanft hinaus auf den Flur. „Kishna, was habe ich dir gesagt?!“ „Lokan!“, stammelte sie kleinlaut. Wutentbrannt zerrte ich die Möbelstücke von der Tür weg und drückte mich selbst durch den Türspalt, ehe der Pirat etwas dagegen unternehmen konnte. Ich warf mich zwischen den überraschten Mann und das Mädchen und versuchte ihn weg zu stoßen. Ehe ich mich nochmals gegen den Kerl werfen konnte, erschien der ältere Herr im Flur und hielt mich fest. Verzweifelt wehrte ich mich gegen seinen Griff, während das Mädchen überrascht in die Runde blickte. „Lasst das Kind in Frieden!“, fauchte ich die Männer an. Der ältere Lachte laut und lockerte seinen Griff ein wenig. Zwar schmerzte sein Griff nun nicht mehr, jedoch war ich noch immer nicht in der Lage, mich daraus zu befreien. „Wir werden uns hüten, unserer Mechanikerin etwas anzutun.“, lächelte er schließlich, „Ohne sie wäre die Dämmerschwinge ein absturzgefährdeter Schrotthaufen.“ Auch der jüngere Mann rappelte sich nun langsam hoch und rieb sich die schmerzenden Rippen. Dann reichte er dem mittlerweile wieder grinsenden Mädchen die Hand und half ihm hoch. „Lokan, ich denke es ist nicht gut, wenn wir dieses Energiebündel von einer jungen Dame die ganze Fahrt über einschließen. Es wäre sicher besser für uns alle, wenn jemand ein Auge auf sie hat.“ Der junge Mann, Lokan, musterte mich eine Weile grimmig. Dann schnaubte er und machte auf dem Absatz kehrt. „Mach, was du willst, alter Mann! Aber lass sie keinen Unsinn anstellen!“, rief er seinem Kumpanen zu, ehe er den Flur verließ. Der Alte ließ von mir ab und ich rieb mir die Schulter, während ich ihn misstrauisch musterte. „Du musst keine Angst vor Ravio haben, Lillja.“, ermunterte mich das Mädchen, „Er macht nur Damen in seinem Alter den Hof. Und für alle anderen ist er wie ein Opa der die tollsten Märchen und Geschichten erzählen kann, die du dir vorstellen kannst.“ „Kishna, bitte!“, schimpfte der Mann. Dann verbeugte er sich. „Ravio Danetti, zu Euren Diensten.“ Als ich noch immer nicht reagierte, richtete er sich wieder auf. Er trug wieder das schelmische Lächeln auf dem Gesicht. Genau so wie am Vortag, als er mir als Obsthändler Früchte angeboten hatte. Mit einer Handbewegung deutete er zur Treppe die an Deck führte. „Würdet Ihr mir heute Gesellschaft leisten, Fräulein Lillja? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr den ganzen Tag in Eurer Kabine sitzen wollt.“, da meine Miene noch immer Misstrauen zeigte, fügte er hinzu: „Wir mögen Piraten sein, wir sind jedoch weder Barbaren noch Unholde. Auch Gesetzesbrecher schätzen manchmal Stil.“, er zwinkerte mir zu und Kishna kicherte. Ich brauchte nicht lange abzuwägen. In meiner Kabine würde sich keine Fluchtmöglichkeit auftun. Und vielleicht konnte ich mehr über diese Piraten in Erfahrung bringen. Tatsächlich jagte mir der alte Herr kaum Angst ein. Sollte mich das beunruhigen? Ich willigte ein und ließ mich von den beiden hinaus aufs Deck führen. Nach dem ich schon Stunden im Zwielicht des Schiffrumpfes verbracht hatte, blendete mich die Helligkeit des Tageslichts und ich hob den Arm vor mein Gesicht. Ein Luftzug ließ mich frösteln. Es roch nach Regen. Unter meinem Arm hindurch schielte ich zu den Planken am Boden und stellte fest, dass sie nass waren. Teilweise standen noch kleine Pfützen auf dem Holz. Der Regen konnte noch nicht lange aufgehört haben. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse. Noch immer bedeckten graue, schwere Wolken den Himmel über uns. Weit in der Ferne zeichnete sich die matte Silhouette einer Insel ab. Gebannt betrachtete ich das Schauspiel der Wolken, die zu unserer Rechten in einiger Entfernung noch immer die Welt hinter Regenschleiern verschwinden ließen. Zu unserer Linken brach die Wolkenmasse hingegen an einigen wenigen Stellen auf und sanfte Sonnenstrahlen schoben sich durch die grauen Massen. Meine Augen glänzten bei diesem wundervollen Anblick. „Ihr scheint nicht oft solchen Naturschauspielen beiwohnen zu dürfen.“, lächelte der Mann, der sich als Ravio vorgestellt hatte und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich fühlte mich ertappt. „Ich möchte Euch meine Steuerkabine zeigen. Dort kann ich ein Auge auf Euch haben. Wenn Ihr bitte vorgehen würdet, Fräulein Lillja?“ Ich war noch immer die Gefangene dieser Piraten. Dennoch gab sich Ravio alle Mühe, mich wie einen Gast zu behandeln. Ich stieg die Stufen nach oben, auf die er gewiesen hatte und er hielt mir die Tür zu einem kleinen Aufbau am Heck des Schiffes offen. Ich trat ein und hörte noch wie Kishna sich verabschiedete und etwas von Öfen murmelte. Der Raum wirkte von Innen größer als ich erwartet hatte. Durch die großen Fenster ringsherum konnte man alles um das Luftschiff herum beobachten. In der Mitte des Raumes befanden sich ein Steuerrad und allerhand Hebel. Zum Deck hin ausgerichtet stand ein Tisch auf dem einige Karten ausgebreitet waren sowie eine schmale Bank. Auf Ravios Bitte hin ließ ich mich auf der Bank nieder. Ich betrachtete die Karten, die vor mir lagen. Zunächst glaubte ich, es handle sich um ferne Orte, die ich nicht kannte. Dann aber las ich den Namen einer der Inseln und stellte fest, dass diese nur in einem völlig anderen Maßstab gezeichnet waren, als die Karte von Vater, die ich mir heimlich genommen hatte. „Wir legen bald in Trendon an.“, sagte Ravio unvermittelt. Ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht erwartet, dass er meine Blicke bemerkt hatte. „Wir werden dort unsere Lösegeldforderung stellen. Danach werden wir noch zwei Tage weiterreisen bis zum Übergabeort. Bei diesen Wetterverhältnissen könnten es aber auch drei werden. Wenn alles so läuft wie geplant, werdet Ihr bald wieder zu Hause sein.“ „Ist es eine gute Idee, mir all das zu verraten?“, gab ich zurück, „Was, wenn ich mit diesem Wissen an die Garde herantrete und man Jagd auf euch macht?“ „Ich würde Euch solche Dinge sicher nicht sagen, wenn wir Angst vor der Garde haben müssten. Das alte Mädchen hier ist noch jedem entkommen.“, der alte Mann lächelte und tätschelte sanft das Steuerrad. „Wieviele Piraten sind noch hier an Bord? Außer euch dreien bin ich noch niemandem begegnet und auch sonst hört man keine Menschen hier...“ „Wohl deshalb, weil sonst niemand hier ist.“, Ravio lächelte wissend. „Drei Piraten? Auf einem solch großen Schiff? Wollt Ihr mich aufziehen? Eure Welt mag mir fremd sein, aber dass ein solches Schiff von vielen Personen gewartet und gesteuert werden muss ist selbst mir geläufig.“ „Oh, unsere kleine Kishna ist ein Genie, was das Automatisieren von Dingen angeht. Hier muss kaum etwas mit Muskelkraft gesteuert werden. Außerdem ist es kaum möglich, sich mit einer Horde Männern irgendwo einzuschleichen oder heimliche... Geschäfte... zu machen. Und genau damit verdienen wir unseren Lebensunterhalt. Wir führen soetwas wie ein Nischendasein.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Im übrigen war die alte Mannschaft letztlich nicht mehr so gut auf uns zu sprechen...“ Seine Worte hatten mich verwirrt und machten mich neugierig, doch Ravio blockte meine folgenden Fragen geschickt ab. Ich sah mir nocheinmal die Karten an und entdeckte zwischen den Pergamenten eine Füllfeder, die jemand achtlos hatte liegen lassen. Als Ravio sich an den Hebeln zu schaffen machte, schob ich die Feder unbemerkt in meinen Ärmel. Möglicherweise konnte mir dieses kleine Werkzeug zurück in die Freiheit verhelfen, wenn ich lange genug unbeobachtet war. Ich fand nichts weiter auf den Karten, was mir bekannt war, also konzentrierte ich mich auf die vorbeiziehenden Wolkenformationen. Ich lag wieder in meiner Kabine auf dem Bett und rieb mir müde die Augen. Auch in dieser Nacht hatten mich die Piraten in der Kammer eingeschlossen, damit ich nichts Dummes tat. Den Tag über ließen sie mich auf dem Schiff umherwandern, doch war ich immer in Begleitung von Kishna oder Ravio. Der dritte Pirat, Lokan, ging mir aus dem Weg. Von den anderen hatte ich erfahren, dass er Kapitän dieses Schiffes war. Dieser Gedanke ließ sich kaum mit dem Bild vereinen, dass ich von dem ungehobelten Mann hatte. Auf der anderen Seite hatte ich die Reaktionen von Kishna und Ravio beobachtet, wenn Lokan ihnen Befehle gab. Es war sehr eindeutig, wer im Zweifelsfall das letzte Wort hatte. Wie konnte es aber sein, dass ausgerechnet er Kapitän wurde, wo Ravio doch so viel älter und erfahrener war? Durch das kleine Bullauge fiel nur wenig Licht. Ich konnte erkennen, dass der Mond noch immer hinter Wolkenschleiern verborgen war. Nach Ravios Aussage würden wir morgen die Insel Trendon erreichen und dort anlegen. Sobald wir am Boden waren, würden sie mich wieder hier einschließen. Ich tastete nach der Füllfeder, die ich zwischen Ravios Karten entdeckt und heimlich eingesteckt hatte. Vielleicht würde ich damit das Schloss von innen öffnen können? Sie waren nur zu dritt. Die Chancen standen gut, dass ich mich auf der Insel davonstehlen konnte, ehe sie mich entdeckten. Ich müsste nur bis zum Quartier der Garde kommen, dann wäre ich in Sicherheit. Vielleicht würden die Soldaten sogar meine Heimreise organisieren? Dann wäre ich in wenigen Tagen wieder zu Hause... Ich hielt inne. Ein quälender Gedanke formte sich und ich vergrub den Kopf in meinem Kissen. Wollte ich denn zurück? Es war verrückt so etwas zu denken, doch hatte ich in den wenigen Tagen auf diesem Piratenschiff so viel mehr entdeckt und erlebt, als in den ganzen letzten Jahren. Es war beinahe, als hätte ich für einen Augenblick die Freiheit durch die Nebelschwaden meines Lebens schimmern sehen. Die Erinnerungen überfielen mich. Wrendon, der Sohn des Tuchhändlers. Die festen, schweren Mauern unseres Anwesens. Die strengen Blicke meines Vaters. All die Zwänge. All das Lächeln... immer dieses falsche Lächeln... Ich versuchte wieder zur Vernunft zu kommen. Ich war hier nichts als eine Gefangene. Die Piraten wollten nur Lösegeld und mich dann umgehend loswerden. Was stellte ich mir denn vor? Dass ich auf ihrem Schiff anheuern wollte? Das war mehr als lächerlich. Ich war eine junge Frau von Stand. Keine schmutzige Gesetzesbrecherin. Auf einem solchen Schiff hatte ich nichts verloren. Und wie kam ich auf die Idee, dass die Piraten mich überhaupt haben wollten? Welch ein Unfug. Während ich mir Mühe gab, mich zu beruhigen und endlich einzuschlafen formte sich ein letzter Gedanke, dessen schaler Nachgeschmack mich bis in die Träume begleitete: Ob nun zu Hause oder hier auf diesem Schiff, eine Gefangene war ich auf beiden Seiten. Es ist eng. Ich fühle mich eingesperrt. Um mich herum ist Glas. Ich kann mich kaum bewegen. Selbst das Atmen ist schwer. Eine dicke Flüssigkeit umgibt mich und die wenige Luft, die durch einen Maske auf meinem Gesicht dringt, riecht nach Öl. Nach Qualm. Sie kratzt in meiner Kehle. Meine Umgebung wird dunkel. Ich spüre einen Lufthauch. Kühl. Klar. Lindernd. Langsam umspielt er mich. Als er mein Ohr erreicht, vernehme ich eine leise Stimme: „Hilf mir!“ „Wer bist du?“, rufe ich der Stimme zu. Heiser. Hustend. „Hilf mir!“, erwidert diese nur. Ich spüre die Verzweiflung in der Stimme. Die Not. Das Grauen. Ich möchte helfen. Aber ich kann mich selbst nicht befreien. Die Stimme wird leiser. Der Lufthauch flaut ab. „Warte!“ rufe ich. Nach und nach blieb mehr von diesen eigenartigen Träumen in meiner Erinnerung hängen. Ich hatte früher nie solch seltsame Dinge geträumt. Insgeheim wünschte ich mir, endlich wieder ruhig schlafen zu können. Doch das schien mir vorerst nicht vergönnt zu sein. Ravio hatte mich gerade wieder in meine Kabine gebracht, da die Insel Trendon in Sicht gekommen war. Die Insel zu erreichen hatte länger gedauert, als er berechnet hatte. Durch das kleine Bullauge konnte ich beobachten, wie die Landmassen langsam näher kamen. Am Himmel bäumten sich noch immer die Wolken auf. Schwarz und dunkel. Unheilverkündend. Die Piraten landeten das Luftschiff weit außerhalb. Vermutlich war es so gut genug versteckt um kein Aufsehen zu erregen. Erneut brach Regen aus den dicken Wolken hervor. Ich konnte die Stimmen der drei Piraten undeutlich hören. Vermutlich sprachen Sie gerade darüber, wer sich in der Stadt um die Forderung kümmern würde. Dann wurden ihre Stimmen von den heulenden Windböen verschluckt, die das Schiff langsam zum schwanken brachten. Regen trommelte gegen die Außenhülle, genau so wie gegen mein kleines Fenster. Ein Blitz erhellte das Innere der Kabine für einen Moment. Wenig später erschütterte Donnergrollen den Rumpf des Schiffes. Ich saß zusammengesunken auf den Holzplanken am Boden, verunsichert was ich tun sollte. Die dünne Bettdecke hatte ich um meine Schultern gezogen. Die Füllfeder – mein Schlüssel zur Freiheit – lag auf der Bettkante. Die Stimmen waren nun schon eine ganze Weile verklungen. Sollte ich den Versuch wagen, das Schloss der Tür zu öffnen? Einfach fliehen? Nach Hause zurückkehren? Meine Hände wanderten zu der Halskette mit dem filigranen Anhänger, die noch immer um meinen Hals hing. Ich hielt die kristalline Feder vor mein Gesicht und betrachtete ihr feines Muster. Was war das Richtige? Noch ehe ich mich entschieden hatte, hörte ich ein Geräusch. Es kam jedoch nicht vom Flur. Es kam von Draußen. Die Piraten konnten noch nicht wieder hier sein. Dafür war zu wenig Zeit verstrichen. Verwundert drehte ich mich um und sah den Umriss einer Gestalt, die durch das Bullauge in meine Kabine blickte. Ein Blitz verzerrte den Schatten. Ehe ich etwas hätte erkennen können, war die Gestalt verschwunden. Der Wind heulte erneut auf. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Was war das gewesen? Ich huschte zum Bullauge und blickte hinaus. Vielleicht hatte der Wind nur den Ast eines Baumes vor das kleine Fenster gedrückt? Nein. Die Bäume waren viel zu weit weg, als dass ein Ast bis hier heran reichen könnte. Hatte ich mir den Schatten vielleicht nur eingebildet? Aber er hatte so wirklich ausgehen... Ich griff nach der Füllfeder und wandte mich wieder der Tür zu. Was es auch gewesen war, ich wollte lieber nicht hier sein, wenn es zurückkam. Nervös begann ich, mit der schmalen Metallspitze im Türschloss herumzustochern. Ich hatte noch nie versucht ein Schloss zu öffnen und bereute, dass ich in den Nächten zuvor keinen Testlauf unternommen hatte. Zwar hörte ich den Schlüssel auf der anderen Seite zu Boden fallen, jedoch wollte der Riegel nicht so leicht nachgeben. Gerade als ich glaubte, endlich einen der Bolzen erwischt zu haben, wurde die Tür heftig erschüttert. Beinahe als hätte jemand dagegen geschlagen. Ich hatte aber keine Schritte gehört. Panisch ließ ich die Füllfeder fallen und rutschte rittlings zum Bett. Eine tiefe, raue Stimme mit starkem Akzent erklang vom Flur. „Gehen weg.“, sagte sie knapp. Ich drückte mich noch fester gegen das Bett. Mein Herz schlug heftig und ich hielt den Atem an. Mit weit aufgerissenen Augen fixierte ich die Tür. Einen Augenblick später ertönte erneut ein Schlagen oder Treten und die Tür splitterte um das Schloss herum. Ein weiteres Mal und das Schloss brach aus dem Holz, als die Tür aufschwang und an die Wand knallte. Ich schrie entsetzt auf. Im Türrahmen stand eine Gestalt mit dunkler Haut. Ich brauchte einige Augenblicke um zu erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Sie war groß und sah regelrecht abgemagert aus. Ihr Kopf wurde zur Hälfte von einem dunklen, halblangen Haarschopf bedeckt, dessen spitzen rot gefärbt waren. Zwei längere Haarsträhnen waren mit Bändern umwickelt und schwangen sich bis zu ihrer Hüfte. Die andere Hälfte ihres Kopfes war kahlrasiert. Nur drei dunkle, zackige Linien verliefen dort über ihren Schädel. Beinahe wie Narben. Auch ihr Gesicht war mit dunklen Tätowierungen an Mund und Augen versehen. Kühl blickte sie zu mir herab, und die Tücher, die Sie um ihren Körper gewickelt hatte, waren durchnässt vom Regen und hinterließen kleine Pfützen auf den Planken. Meine Finger krallen sich in das Holz des Bodens. Dann richtete die Frau eine Waffe auf mich, die einer Hellebarde ähnelte. Jedoch war der Griff mit allerhand Bändern und Fellstücken verziert und die Klinge seltsam geschwungen. „Kommen mit.“, knurrte die Frau leise. Erst einen Augenblick später wurde mir klar, dass sie unsere Sprache nur gebrochen beherrschte und wollte, dass ich mit ihr kam. Ich schüttelte panisch den Kopf und versuchte mich in die Ecke neben dem Bett zu zwängen. Alles nur das nicht! Unsanft riss sie mich am Arm hoch und verdrehte mir die Schulter, so dass ich aufkeuchte. „Hören, was ich sagen!“, fuhr sie mich an. Ich begann um Hilfe zu kreischen, doch eine knochige Hand presste sich mir auf Mund und Nase, so dass ich kaum Luft bekam. „Sein ruhig und folgen. Dann dir werden nichts passieren.“, zischte sie mich an und zerrte mich aus dem Raum und aufs Deck. Der Regen prasselte wütend auf uns herab und immer wieder erhellten Blitze die Wolkendecke. Wind umpeitschte mich, so dass meine Augen tränten. Ich versuchte mich noch ein paar mal aus dem Griff der Frau zu winden, doch trotz ihres ausgemergelten Aussehens schien sie sehr viel Kraft zu besitzen. Sie zerrte mich die Treppe hoch und kauerte sich mit mir neben der Steuerkabine nieder. Dann beobachtete sie die Umgebung. Lautlos, schoss es mir durch den Kopf. Lautlos wie ein Raubtier. Eine Jägerin, die auf ihre Beute wartet. Ich zitterte. Vor Angst. Vor Kälte. Vor Nässe. Tränen mischten sich mit dem Regenwasser, das über mein Gesicht lief. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, ehe ich wieder eine Reaktion von der Frau vernahm. Sie zuckte mit dem Kopf und fixierte eine Stelle zwischen den Bäumen und Felsen um uns herum. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis mir klar wurde, weshalb. Ich konnte die Stimmen nun auch hören. Das Aufquietschen eines jungen Mädchens während eines Windstoßes, gefolgt vom Lachen zweier Männer. Die Piraten. Still lauerte die seltsame Frau, mich noch immer fest in ihrem Griff haltend. Ich konnte sehen, wie die drei Piraten langsam näher kamen. Kishna versuchte verzweifelt ein Päckchen unter ihrem Cape vor dem Regen zu schützen, während Lokan sie langsam vorwärts schob. Regentropfen rannen in meine Augen. Ich blinzelte sie weg. Über eine Strickleiter kletterten die drei Piraten nacheinander an Deck. Kaum waren sie zwei Schritte über die Planken gelaufen, sprang die Frau aus ihrem Versteck und zerrte mich mit sich. Sie wuchtete mich gegen das Geländer des oberen Deckabschnitts, so dass ich zu Husten begann. Zwar hatte sie endlich die Hand von meinem Gesicht genommen, meine Schulter hielt sie jedoch noch immer eisern fest. Sie selbst war auf dem Geländer in die Hocke gegangen. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sie ihre Hellebarde auf die kleine Gruppe auf dem Deck unter uns richtete. „Fliegen Mouq co‘on. Sofort.“, knurrte sie mit ihrem starken Akzent. Ravio stellte sich umgehend vor Kishna und Lokan schob seinen Mantelsaum beiseite und legte eine Hand auf den Griff der Schusswaffe an seinem Gürtel. „Wer bist du?“ „Nicht wichtig. Aufbrechen. Sofort.“ Die Frau duckte sich ein wenig tiefer und blitzte Lokan mit ihren kalten Augen an. „Lass unsere Geisel in Ruhe! Und verschwinde von unserem Schiff!“, knurrte Lokan zurück. Er hatte die Waffe mittlerweile auf die Jägerin gerichtet. Auf dem tätowierten Gesicht bildete sich ein grausiges Grinsen. Unerwartet stieß die knochige Hand mich zur Seite. Ich stolperte auf die Treppe zu und stürzte einige Stufen hinab, ehe ich zum liegen kam. Ich rappelte mich hoch, so gut ich konnte und sah gerade noch, wie die Jägerin behände Lokans Kugel auswich und sich auf ihn stürzte. Lokan ging rittlings zu Boden und die Frau rammte ihre Hellebarde dicht neben seinem Kopf in die Planken. Regenwasser spritzte auf. Kishna kreischte. Das Päckchen fiel ihr aus der Hand und allerhand Backwaren rollten über die Planken. Zuckerguss zerlief in den Regenpfützen. Ravio wollte seinem Gefährten zur Hilfe eilen, doch die Frau hob die Hand und gebot ihm mit ihrer Geste und ihrem kalten Blick, stehen zu bleiben. Dann wandte sie sich wieder Lokan zu. „Aufbrechen. Jetzt. Du verstanden?“ Die Schusswaffe war Lokan aus der Hand gerutscht und lag außerhalb seiner Reichweite. Zu dem fixierte die Jägerin seine Arme am Boden. Das Metall der Klinge glänzte neben seinem Gesicht auf, erhellt von den Blitzen des Sturms. Der Regen bildete Tropfen an der Klinge, aus denen Lokan sein eigenes Spiegelbild erschüttert entgegenstarrte. Er richtete seinen Blick wieder auf das Gesicht der Jägerin. Auf die kalten, grimmigen Augen. „Ravio.“, flüsterte Lokan mir rauer Stimme, „Nimm Kurs auf die äußeren Bezirke. Kishna, mach die Maschinen startklar.“ Die beiden zuckten zusammen, als der Kapitän das Wort an sie richtete. „Los!“, schrie Lokan heiser und riss die beiden damit aus ihrer Starre. Daraufhin eilte Ravio zu seinem Posten. Kishna kam mit Tränen in den Augen zu mir gelaufen. Ich drückte sie kurz, dann schob ich sie zu der Tür, die zum Maschinenraum führte. Dieser Kampf war offensichtlich verloren und es war besser zu tun, was die Jägerin verlangte. Nicht einmal eine Kugel hatte sie treffen können. Bevor ich mit dem Mädchen zwischen den dampfenden und zischenden Rohren hinabstieg, warf ich noch einen Blick auf Lokan, der sich langsam aufsetzte und sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Zermürbt erhob er sich, ohne die Jägerin dabei aus den Augen zu lassen. Die Jägerin fixierte ihrerseits weiterhin den Kapitän. Ich zog die Tür zu und schob Kishna nervös tiefer in den Bauch des Schiffes. Wenig später hob das Luftschiff ab und wurde von den gewittrigen Wolkenmassen verschluckt. 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