Schwarzes Licht von Okiro ================================================================================ Prolog: Denn ich bin der Tod ---------------------------- Guten Tag, allerseits! Schön, dass es euch hier her verschlagen hat. Wer ich bin, fragt ihr? Nun, diese Frage lässt sich leicht beantworten. Eigentlich kennt ihr mich alle, doch ihr habt mich noch nie zu Gesicht bekommen und persönlich kennen gelernt schon gar nicht. Wie das geht? Tja, mein, sagen wir mal, „Beruf“ ermöglicht es mir. Ich bin allgegenwärtig und wandle ruhelos unter euch auf leisen Sohlen und in den tiefsten Schatten. Jeden Moment bin ich da, auch wenn ihr euch meistens meiner Anwesenheit nicht bewusst seid. Doch es kommt hin und wieder die Gelegenheit, da werdet ihr meiner bewusst, so schmerzlich und entsetzlich es auch sein mag. Allerdings führe ich nicht nur Schmerz mit mir. Ich kann auch euer größter Freund sein. Ein Erlöser und Rechtschaffener sozusagen. Und dann seid ihr mir dankbar. Ich richte über euch und kann euch dennoch nicht schaden. Niemand entkommt meinem Urteil, denn ich erledige meine Sache sehr genau. Ich tauche nur im allerletzten Moment auf. Ich bin das Letzte und das Erste, das ihr wahrnehmen werdet. Ohne mich gäbe es keine Ordnung mehr und die Welt würde ins Chaos stürzen. Der Wahnsinn würde hereinbrechen. Doch, glaubt mir, ihr wollt euch gar nicht erst ausmalen, was ohne meine Anwesenheit alles passieren würde. Ich übertreibe, meint ihr? Auch, wenn ich euch sage, dass dies der Wahrheit entspricht? Nun ja, ihr würdet sicherlich anders denken, wenn ihr mich kennt. Ihr habt meinen Namen schon oft gehört oder gelesen. Was heißt hier einen Namen? Ich habe prinzipiell gesehen viele Namen. Unzählig viele. Doch unter einem bin ich jedem wohlbekannt. Da ich heute gut aufgelegt bin, werde ich ihn euch verraten, wenn ihr ihn nicht schon längst selbst erraten habt. Denn ich, werte Damen und Herren, bin der Tod. Ja, ihr habt richtig gehört. Mein Name lautet Tod, Gevatter, Sensenmann, Schnitter, der schwarze Mann, das Sterben oder wie ihr mich sonst noch so nennt. Doch glaubt nicht, die Geschichte wäre hiermit zu Ende. Oh nein, der Grund, weshalb ich euch dies alles erzähle ist, DASS ich etwas zu erzählen habe. Was es ist? Da müsst ihr schon weiter lesen, wenn ihr das herausfinden wollt. Aber eines kann ich euch verraten: Es ist eine Geschichte, wie ihr sie noch nie gehört habt. Denn wer schreibt denn schon gerne vom Tod? Dies soll sich jetzt ändern. So lehnt euch zurück und genießt es. Oder verkriecht euch vor Schreck in einer Ecke, das ist mir auch recht. Hier kommt meine Geschichte. Spitzt die Ohren und hört mir zu. Ich bin zwar das Ende, doch dies ist erst der Anfang. Kapitel Den ich bin der Tod Ende Kapitel 1: Das Elixier ---------------------- Die Luke fiel klappernd zu Boden. Vorsichtig huschte ich durch die Öffnung und landete auf dem Boden. Der Staub, der dabei aufgewirbelt wurde und sich in meinen Klamotten festhing, wischte ich mit einer geschmeidigen Handbewegung weg. Staub machte sich nicht so gut auf Schwarz, denn schwarz war alles an mir: Eine schlichte schwarze Hose zierte meine Beine und ein schwarzes Hemd meinen Oberkörper. Zudem trug ich noch Schuhe der gleichen Farbe. Um mein Outfit noch abzurunden, trug ich auch noch einen schwarzen, bodenlangen Umhang. Man musste ja das Klischee in gewissem Maße erfüllen. Doch nicht nur die Klamotten, die ich trug, waren von der selben Färbung. Nein, auch mein Haar und meine Augen sind kohlrabenschwarz. Also konnte man sagen: Alles an mir war schwarz! Okay, das war eine Lüge. Fast alles. Mit Ausnahme meiner abnormalen blassen Haut gab es noch etwas, das ich euch verschwiegen hatte: Mein Haar war nicht komplett schwarz. In den Haaren, die meine Stirn bedeckten, hob sich deutlich eine etwas breitere, weiße Strähne ab. Tja, ich gebe es zu, auch der Tod war nicht perfekt. Im Allgemeinen sah ich aus wie Anfang 20. Doch der Schein trug. Ich war älter als die Welt. Nun gut, so viel zu meiner bescheidenen Person. Wer ich bin, wisst ihr ja schon. Doch ihr fragt euch sicher, wo ich mich gerade befand. Nun, ich würde euch gerne erklären, wie es in meiner Umgebung aussah, doch das war gerade der springende Punkt: Meine Sichtweite betrug gerade einmal fünf Meter. Doch ich wusste, dass ich mich in dem oberen Stockwerk einer großen Lagerhalle befand. Die Lagerhalle selbst stand etwas abseits von einer Stadt. Ist euch München ein Begriff? So hieß die Stadt, in der ich mich momentan aufhielt. Ein leises Geräusch ließ mich aufblicken, obwohl ich sowieso nicht viel sah. Wind streifte plötzlich meine Kapuze und hätte sie mir beinahe vom Kopf gerissen. Anschließend war ein lautes Krachen zu hören, als ob jemand gegen etwas metallenes stieß, dicht gefolgt von einem leisen Fauchen. Daraufhin kam erneut ein kleiner Windhauch und etwas landete ungeschickt auf meinem Kopf, wo es die Spitze meiner Kapuze gekonnt auf die Seite drückte. Entnervt blickte ich nach oben, als dieses Etwas sich bewegte und sich ein buschiger kleiner Kopf von oben in mein Sichtfeld schob. „Uhh uhh … uhh“, begrüßte mich das kleine struppige Wesen. Ich fuhr genervt mit der Hand nach oben und verscheuchte somit das Tierchen. „Ach, du blödes Federvieh! Du bringst mich noch irgendwann einmal um mit dem Krach, den du veranstaltest!“, fluchte ich leise und bot dem Tier meinen Arm an. Das kleine Geschöpf ließ sich widerstrebend darauf nieder. Ich wusste, dass es viel lieber auf meinem Kopf saß, doch das konnte ich in diesem Moment nicht gebrauchen. Auf meinem Arm saß nun ein kleiner, wuscheliger und schwarzer Kauz mit einer geradezu erbärmlichen Größe von 20 cm. Auf seinem runden Kopf hatte er zwei kleine Ohren, die immerzu in Bewegung waren. Der Kauz legte seinen Kopf in einem 90° Winkel auf die Seite, woraufhin ein kurzes Knacksen zu hören war. Auf meinem Gesicht zeigte sich ein schiefes Lächeln. „Na, Knacks. Hast du auch endlich den Weg hier herein gefunden?“, flüsterte ich leise und strich kurz über das weiche, glatte Gefieder. Der Kauz schloss kurz die schwarzen Augen und gab ein Gurren von sich. Nun ich weiß … Knacks war ein komischer Name für eine Eule, doch er passte perfekt. Einerseits wegen des komischen Geräusches, wenn er seinen Kopf bewegte und nun … Knacks hatte wirklich einen Knacks im Kopf! Die Eule drehte ihren Kopf auf die andere Seite und wieder vernahm ich das Knacksen. „Ach, hör auf damit!“ Die Eule prustete sich auf. Knacks verstand mich sehr wohl. Natürlich verstand er meine Worte. Wir waren ja Partner und das schon … nun, eigentlich schon immer. Ich konnte die Leute nicht verstehen, die dachten, dass ein Rabe der Begleiter des Todes sei. Ich meine, Raben waren keine Nachtgeschöpfe und schon gleich dreimal nicht leise Jäger in der Luft. Ich, der Tod, komme leise, also so auch mein Tierpartner. Doch ich konnte mir schon denken, wieso sich dieses Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Knacks besaß neben dem runden Eulenkopf einen schlanken Körperbau wie ein Rabe. Doch das beste Merkmal an ihm war sein etwas spitzerer Schnabel, der nicht gebogen, sondern wie bei einem Raben gerade und spitz zulief. Man nahm zudem noch sein schwarzes Gefieder und die Täuschung war perfekt. Niemand vermutete eine Eule als des Todes Partner. Ich konnte das Gerücht sowieso nicht ändern, aber Knacks gefiel es gar nicht, mit Raben verglichen zu werden. Knacks drehte sich etwas auf meinem Arm, um die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Er hatte bessere Augen als ich … manchmal. Ihr habt ja vorhin gehört, dass er gegen etwas gekracht war. So viel zum Thema „er hat einen Knacks weg“. Als er sich einmal herumgedreht hatte, schimmerte sein Gefieder im Licht, das von der Luke hereinfiel. Erneut lachte ich, als mein Blick die Brust meines Partners streifte. Ja, wir waren uns sogar etwas ähnlich. Denn Knacks war auch nicht gänzlich schwarz. Über seiner Brust wuchsen nicht nur schwarze Federn, sondern ebenso ein paar Weiße. Passend zu meiner weißen Strähne über der Stirn. Knacks bemerkte meinen Blick und plusterte sich erneut auf, als würde er mich tadeln, ihn nicht so anzustarren. „Ach, sei nicht so empfindlich, Knacks!“, sagte ich lachend in dem Wissen, dass er es mal wieder übertrieb. Dies war nur gespielter Ärger. Wenn ich Knacks wirklich ärgern wollte, dann … nun dann würde ich verrückt sein. Knacks war keine gewöhnliche Eule und ihn verärgerte man lieber nicht, das konnte ich euch sagen. Doch ich möchte nicht sofort alles verraten. Sonst war Knacks eigentlich immer friedlich und auf ihn war immer Verlass. Ich senkte meinen Arm etwas und Knacks flog in die Luft, um gleich wieder auf meinem Kopf zu laden. Ich brauchte nun meinen Arm und da durfte er sich dort hin hocken, wo er wollte. Für gewöhnlich war aus unerklärlichen Gründen mein Kopf sein Lieblingsplatz. Ich zog meinen Umhang zurecht und ging vorsichtig weiter. Langsam hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ich befand mich in einem großen Raum mit haufenweise Regalen, wo unnützes altes Zeugs herumlag. Ich entdeckte etwas weiter oben auch eine metallene Wanne, gegen die wohl Knacks gekracht sein musste. Während der Bewegung rückte ich auf meinem Rücken meine Waffe zurecht. Oder, besser gesagt, Waffen. Ich besaß eine Doppelsense. Klassisch, wie der Tod in vielen Vorstellungen, bloß in zweifacher Ausführung. So verließ ich langsam den Raum und kam an eine kleine Wendeltreppe. Ich mochte die Umgebung jetzt schon nicht, doch Auftrag war Auftrag und dieser musste erledigt werden. Ihr fragt euch sicher, was mein Auftragt besagte und, wieso ich in einem riesigen leeren Lagerhaus herumschlich, wo ich doch so viele Menschen von ihrem Leben erlösen müsste? Nun, da habt ihr etwas falsch verstanden. Ich, der Tod, nahm nur die schwierigen Fälle an mich. Viele Lebewesen schafften den Übertritt alleine, ohne meine persönliche Anwesenheit. Klar war ein bisschen Präsenz von mir immer gegenwärtig, doch ich musste nicht jeden bei der Hand nehmen und sagen, dass es Zeit war zu gehen. Das würde ich bei Millionen von Lebewesen auch gar nicht schaffen. So etwas war Kinderkram. Schlief ein Lebewesen friedlich ein, so war die Präsenz von mir bei ihm, die ihn wie ein Nebel begleitete. Doch war ein anderes widerspenstig, so musste ich nachhelfen. Manchmal bekam ich aber auch ganz andere Aufträge, wie es heute der Fall war. Diese Aufträge nannte ich „Spezialaufträge“ (Hört sich speziell an, nicht wahr?), da sie von meinem eigentlichen Schema abwichen. Bei diesen Aufgaben ging es häufig nicht darum, dass ich irgendetwas begleitete, sondern etwas nachsah und gegebenenfalls das Problem beseitigte. Manchmal bestand dieses 'Beseitigen' darin, dass jemanden das Zeitliche segnete, doch das musste nicht immer so vonstatten gehen. Die Spezialaufträge bekam ich direkt von 'den Wächtern'. Ihr fragt euch sicher, wer oder was für eine verrückte Truppe das sei, doch ihr täuscht euch. Die Wächter kann man nicht mit einem „wer oder was“ beschreiben. Sie waren einfach da und befanden sich in einer Zwischendimension. Dort wachten sie über alle anderen Dimensionen, vor allem dem Übergang von der Welt der Lebenden in die der Toten. Sie hielten das Gleichgewicht und kontrollierten die Gefüge. Nicht, dass ihr denkt, das sei eine göttliche Spezies oder so. Nein, da muss ich euch leider enttäuschen. Mit 'die Gefüge kontrollieren' meine ich nichts anderes, als mir, den Tod, solche Spezialaufträge zu geben, um eben das hochgeschätzte Gleichgewicht zu bewahren. Ich weiß … das war jetzt sehr hilfreich. Doch auch der Tod unterlag gewissen Regeln. Nicht, dass ich mich vor jemanden unterwürfig beuge und meinen Kopf vor Angst einzog, sondern so, wie das Leben bestimmten Maßstäben funktioniert, so habe auch ich mich gewissen Normen anzupassen. Das liegt einfach in der Natur. Akzeptiert es oder nicht. In meinem heutigen speziellen Auftrag ging es darum, ein Gerücht zu untersuchen. Ein einfaches Gerücht, das schon seit längerer Zeit herumgeisterte. Nun, ihr wundert euch sicherlich, wieso ich euch so etwas Langweiliges erzählen möchte. Eine langweilige Expedition, in der ich nur einem Gerücht hinterherjage? Doch diese Erkundung war nicht wie alle anderen, oh nein. In dieser Untersuchung stieß ich auf etwas, das ich mir noch nie vorstellen konnte. Etwas, das ich noch nie gefühlt, geschweige denn gesehen hatte. Doch lasst euch überraschen. Ich ging leise die Wendeltreppe hinunter, um ins Erdgeschoss zu gelangen. Genau dort wollte ich hin. Die gesuchte Person sollte sich in der Nähe befinden. Somit ging ich weiter durch eine Tür in den nächsten Raum. Das Erdgeschoss war ganz anders aufgebaut als das obere Stockwerk. Ein Raum reihte sich an den anderen und ich ging vorsichtig weiter. Ich blickte mich kaum um, denn mich interessierten die kleinen Maschinen und Teile nicht, die hier und dort herumlagen. Gelegentlich huschten Ratten und Ungeziefer über den Boden, doch ich nahm kaum Notiz von ihnen. Sie wussten nicht, wer ich war. Noch nicht. Erst, wenn sie sterben, wird es ihnen klar, denn der Tod kam zu jedem Lebewesen, ob groß oder klein. Somit ging ich vorsichtig durch die Räume. Ich hatte nicht die Absicht, einfach auf eine Kellerassel zu treten, wenn sie noch leben konnte. Nur wegen eines kleinen Fehlers würde ich das Leben dieses Wesens zu früh beenden. Nein, jeder hatte das Recht zu leben, egal wie groß er war. Ich achtete das Leben so sehr, wie wahrscheinlich kein anderer. Denn ich nahm den Lebewesen bekanntlich genau diesen Schatz. Oh ja, das Leben war ein Schatz und es gab viele Wesen, die das nicht so sahen. Solche verabscheute ich für gewöhnlich, doch dies tat heute nichts zur Sache. Somit betrat ich auch schon den fünften Raum und stöhnte erleichtert auf. Direkt einen Meter vor mir befand sich ein Geländer, das sich um ein riesiges Loch herumzog. Ich ging in die Hocke und Knacks flatterte leise von meinem Kopf auf eine nahe Stange. Vorsichtig ging ich näher an das metallene Gitter und spähte nach unten. Keine zehn Meter unter mir erschien der Boden und in der Mitte des Loches fand ich das, was ich gesucht hatte: Ein Mann, der sich über einen Tisch beugte und mir seinen Rücken zugewandt hatte. Doch eigentlich war nicht der Mann mein Ziel und somit huschte ich vorsichtig an dem Gitter entlang, um eine bessere Sicht auf den Tisch zu haben, oder, besser gesagt, auf das, was auf dem Tisch stand. Knacks warf mir einen vorsichtigen Blick zu und beobachtete mich genau. Er würde auf mein Zeichen warten. Auch, wenn es oft den Anschein hatte, er sei ungehorsam, so war er dennoch ein treuer Begleiter, der ein Fünkchen Verstand besaß. Aber so etwas sagte man ihm lieber nicht. Als ich ein paar Schritte gegangen war, konnte ich endlich auf den Tisch und auf die Vorderseite des Mannes blicken. Der Mann war relativ klein, hatte einen weißen Kittel an und genauso weißes und wirres Haar. Eine dicke Brille saß auf seiner Nase und er blickte mit einem triumphierenden Lächeln auf den Tisch. Mein Blick folgte diesem und mein Herz - sofern ich eines hatte - machte einen Sprung: Ein Behälter mit einer klaren Flüssigkeit. Sie strahlte ein trübes, blaues Licht aus und ich kniff verwirrt meine Augen zusammen. Denn kaum, als ich es länger begutachtete, stach der Schein einer Nadel gleich in meine Augen. Ich hatte gehofft, diese Flüssigkeit nicht zu finden und die Gerüchte für falsch zu erklären, doch anscheinend war dem nicht so. Ein grimmiger Ausdruck legte sich auf mein verdunkeltes Gesicht, als der Mann hysterisch zu lachen begann. „Ja! Ich habe es geschafft!“, schrie er durch den Raum, wohl im Glauben, er sei alleine. „Endlich ist es mir gelungen, das Elixier ewigen Lebens herzustellen.“ Erneut lachte der verrückte Mann auf. Na super, was hatte ich da wohl für einen Typen erwischt. Das Elixier des ewigen Lebens. Das Gerücht, das mich hier her geführt hatte und schon seit Wochen in dieser Gegend verbreitet wurde. Man munkelte, dass jemand versuchte, es herzustellen, um somit dem Tod zu entkommen. Als ich dies das erste Mal gehört hatte, musste ich selbst lachen. Ihr könnt mich ja verstehen, wer entkommt schon dem Tod? Nun, es gab Menschen, die das glaubten und anscheinend war es dem Mann tatsächlich gelungen, etwas herzustellen. Ob das Elixier auch so wirkte, wie man es sich von ihm versprach, wusste ich nicht und, um ehrlich zu sein, mochte ich dies jetzt auch gar nicht wissen. Ich begegnete Knacks besorgtem Blick. Er sah wirklich beunruhigt aus, denn er verstand ebenso gut die Worte des Mannes dort unten und wusste, was dies für mich bedeutete, wenn das Elixier tatsächlich hergestellt war. Menschen würden einfach nicht mehr zu ihrer bestimmten Zeit sterben und weiterleben, als gäbe es kein Ende. Alles würde aus dem Gleichgewicht geraten und das Chaos heraufbeschwören. Zudem würde ich quasi arbeitslos werden. Ich mochte mir gar nicht ausdenken, was alles geschehen könnte, wenn das in die Finger einer falschen Person geraten würde. Einer Person wie dieser offensichtlich verrückte Forscher. Zum Glück hatte ich ihn rechtzeitig gefunden. Vorsichtig stand ich auf und ging zu Knacks zurück. Ich nickte ihm zu, schwang mich leise über das Gitter und landete ebenso lautlos auf dem Boden. Etwas, das ich sehr gut beherrschte, war das Anschleichen. Meine Kapuze zog ich mir tiefer in das Gesicht, sodass man dieses nicht mehr erkennen konnte. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass dieser Typ ein sogenannter 'Engelloser' war. Ein engelloser Mensch besitzt keinen Beschützer. Die Beschützer sind gefiederte Wesen, die ihr Menschen nicht sehen könnt und über euch wachen. Jedermann bekam einen Engel, der für gewöhnlich ein Leben lang an eurer Seite blieb. Doch es kam auch vor, dass die geflügelten Beschützer ihre Schäfchen verließen. Meistens geschah das, wenn die Engel von den Taten der Person bitter enttäuscht wurden und nicht zufrieden mit ihnen waren. So etwas passierte zwar selten, doch es geschah hin und wieder. Glaubt mir, ihr möchtet nicht solch einem enttäuschten Engel begegnen. Diese Typen sind meistens für Jahrhunderte nicht mehr zu gebrauchen. War die Zeit zu sterben für die Person gekommen, löse ich sozusagen die Engel ab. Die meisten gingen ohne Worte und übergaben mir ihre Schützlinge widerstandslos. Sie wussten, dass irgendwann die Zeit gekommen war, loszulassen und zu gehen. Doch manchmal traf ich auf richtige Nervensägen, die einfach nicht locker lassen wollten. Sie hatten ihren Menschen zu lieb gewonnen und somit kam es nicht selten zu einer kleinen Auseinandersetzung. Dabei ging natürlich immer ich aus Sieger hervor und verletzt wurde ich dabei auch noch nie. Ihr versteht sicherlich, denn wer besiegte schon den Tod? Deswegen war ich froh, dass dieser Mann keinen Engel hatte und ich somit die Sache schnell beenden konnte. Vorsichtig holte ich meine Doppelsense von meinem Rücken und trat nach vorne, dieses Mal so, dass es der Mensch hören musste. Sofort erstarb dessen Gekicher, denn er spürte meine kalte Anwesenheit, die ich nun durch den Raum strömen ließ. Ein bisschen Show musste schließlich sein. Verwirrt hob der Mann das Gefäß auf und drückte es wie einen Schatz an seine Brust. Vorsichtig drehte er sich herum. Der Schreck stand in seinen Augen, als er mich erblickte. Es vergingen einige Sekunden, während keiner von uns beiden etwas sagte. Eigentlich konnten mich die Leute während meines Dienstes nicht sehen. Nur den Sterbenden ist es erlaubt, ihren Richter und Begleiter zu erblicken. Ich blickte die Person wissend an. Sie wusste, wer ich war … kein Wunder. Doch der Schreck verflog und machte einem diebischen Grinsen Platz. „Na, wen haben wir denn da? Den Tod höchstpersönlich. Dass du mich mit deiner Anwesenheit beehrst! Doch du kannst mir nichts anhaben. Denn meine Zeit ist noch nicht gekommen.“ Ich verdrehte meine Augen, was natürlich niemand sehen konnte. Diesen Satz hatte ich schon oft genug gehört und es wurde langsam nervig. Ich ließ die Sense in meiner linken Hand herumwirbeln. „Die Zeit eines jeden wird kommen!“, flüsterte ich bedrohlich und ging einen Schritt auf den Mann zu. Ich sah, wie sich seine Finger hilfesuchend um das Elixier klammerten, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Er hatte Angst vor mir und ich musste lächeln. Ein Mensch, der Angst vor dem Tod hatte. Ich traf auf viele solcher Fälle. Doch mir war es im Moment gleichgültig. Der Mann schüttelte den Kopf. „Du hast mich falsch verstanden! Dies hier in meiner Hand wird dich, oh werter Gevatter Tod, daran hindern, mir etwas anzutun.“ Beinahe hätte ich aufgelacht. „'Gevatter Tod'? So nannte man mich in Römerzeiten!“ Nun, aber keiner wusste, dass ich bevorzugt einen bestimmten Namen trug. Zero. Die Menschen gaben mir viele solcher Verschönerungen. Da blieb ich lieber bei dem 'Nichts'. Nun bin ich es, der den Kopf schüttelte. „Das Elixier des ewigen Lebens? Dass ich nicht lache! Deine Zeit ist nun gekommen, alter Mann. Ob du nun willst oder nicht. Du hast dich auf ein gefährliches Gebiet begeben und versucht, das Gleichgewicht zu zerstören. Dein Urteil wurde schon vor langer Zeit gefällt und du kannst nichts daran ändern. Ich bin hier, um sowohl dich, als auch dieses Elixier zu zerstören.“ Dieser Mann war einer von der Sorte, wo man mit Schmeicheleien nicht weit kam und ich musste somit meine härteren Methoden anwenden. Ich ging nun vorsichtig auf den Mann zu, der, aufgrund des Tisches hinter sich, nun nicht mehr weiter zurückweichen konnte. Doch man sah deutlich, dass er eine Fluchtmöglichkeit suchte. Er wollte verschwinden, aber dies werde ich nicht zulassen. Ein leises „Uhhh“ verriet mir, dass Knacks hinter mir war. Knacks flog von seinem Aussichtsposten herunter, umkreiste den Mann und landete auf dem Tisch. Nun hatten wir ihn umzingelt. Der Mann fuhr erschrocken herum, doch Knacks funkelte ihn nur böse an. „Was ist das für ein Federvieh?“, kreischte der Mann, woraufhin Knacks ein boshaftes Fauchen ausstieß. „Oh, ich würde ihn lieber nicht so nennen“, sagte ich und ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. „Er hat es nicht so gern, wenn man ihn so nennt. Und, um deine Frage zu beantworten: Dies ist mein stiller Begleiter.“ Mehr sagte ich nicht, als ich stehen blieb. Drei Meter trennten mich noch von meinem Ziel, das sich nun wieder zu mir umdrehte und versuchte, ein Gesicht unter der Kapuze zu erkennen. Doch sein Versuch scheiterte. Ich sah, wie sich Schweißperlen auf seinem Gesicht bildeten und auch, dass sich seine Hand nach hinten gen Tisch streckte. Mich kümmerte es nicht weiter. „Nun vollstrecke ich mein Urteil über dich. Du kennst das Urteil und deine Zeit ist um.“ Der Mann öffnete seinen Mund und brachte keinen Ton mehr heraus. Ich hatte ihn völlig aus dem Ruder gebracht. Nun, das sagte ich ja: Große Klappe und doch nichts dahinter! Anfangs recht auf cool tun, aber dann sich verkriechen, wenn es hart auf hart kam. Eine dunkle, schwarze und substanzlose Masse bildete sich um meine Finger und kroch die Sensen nach oben, als ich sie über meinen Kopf hob. Dies war ja wirklich zu einfach. Dafür brauchte ich nur einen Streich. Danach werde ich das Elixier nehmen und zurückkehren. Ein Lächeln zeigte sich auf meinem Gesicht und ich ließ meine Sensen herunter sausen. Sie schnitten die Luft, zogen die Seele aus dem Körper des Mannes und schickten sie ins Jenseits. Eine sanfte Begleitung, nicht einmal Schmerz sollte er spüren. Der Mann schrie, doch nicht aus Angst, wie ich zuerst befürchtete, sondern aus Hass. Ich wusste, dass es dem Mann zu schnell ging, dass ich ihm keine Zeit gelassen hatte, das Elixier zu nehmen, doch dies hieß nicht, dass der Mann machtlos war. Während ich meinen Angriff ausführte, hatte der Mann seinerseits seine Hand von hinten nach vorne gerissen und sie in meine Richtung gereckt. Etwas streifte meinen Umhang und der Mann fiel leblos zu Boden. Zuerst lächelte ich und merkte nichts von meinem eigentlichen Unglück. Der Mann hatte eine neue Erkenntnis gewonnen. Die Letzte in seinem Leben: Vertraue nur dem Tod, denn er sagt immer die Wahrheit. Doch auch ich hatte an diesem Tag etwas Wichtiges gelernt. Ich blickte auf den Mann und dann zu Knacks. Erschrocken weiteten sich meine Augen, als ich seinen verwirrten Blick auf mich ruhen sah. Im gleichen Moment kam es über mich und ich ging in die Knie. Es war überwältigend ... Etwas, das ich noch nie zuvor gespürt hatte, überwältigte meinen Körper und mir stockte der Atem. Ich konnte mich nicht bewegen, so überflutet war ich von diesem Gefühl, das sich wie eisige Kälte in mir breit machte. Während des Falls waren mir meine Sensen aus den Händen gefallen, die nun neben mir lagen. Vorsichtig hob ich meine linke Hand an des Übels Ursprung: meine rechte Schulter. Ich schluckte schwer und starrte zu Knacks. „Schmerz …“, war das Einzige, das ich sagen konnte. Knacks hüpfte besorgt an den Rand des Tisches und gurrte beruhigend. Ich keuchte, als hätte ich das Atmen vergessen, hob meine Hand und blickte auf die schwarze Flüssigkeit. Schmerz … der körperliche Schmerz. Noch nie hatte es jemand geschafft, den Tod zu verletzten. Dieses Gefühl war mir fremd, bis zu diesem Augenblick. Ich zog zischend die Luft ein und griff vorsichtig nach der Hand des nun toten Mannes. In dieser Hand ruhte etwas Violettes und Halbrundes. Vorsichtig griff ich danach. Ja, das war das Ding, das mich verletzt hatte. Mein Blut klebte daran, zumindest glaubte ich das. Ich hatte es ja noch nie gesehen. Ich blickte auf meine Schulter. Es war ein ordentlicher Schnitt. Ich überlegte, was Menschen wohl in so einer Situation tun würden. Da fiel mir ein, dass ich den Flüssigkeitsverlust stoppen musste. So trennte ich einen Streifen von dem Kittel des Mannes ab und verarztete mich notgedrungen. Für mein erstes Mal sah es ganz ordentlich aus. Der Schmerz blieb, doch er ließ langsam nach. Ich griff gedankenverloren nach dem Elixier und hängte meine Sensen auf den Rücken. Bei jeder Bewegung zog sich ein schmerzender Stich durch meinen Oberkörper. „Komm, Knacks“, sagte ich noch immer benebelt und öffnete ein Tor, durch das ich hindurch schritt. Ein Tor, das mich von diesem schrecklichen Ort fortbringen sollte. Es war ein einfacher Auftrag wie eh und je gewesen, doch der Schmerz, den ich hier das erste Mal gespürt hatte, ließ mich immer daran zurückdenken. Dies war der Anfang meines Schmerzes. Des Todes Schmerzes. Das Elixier - Ende Kapitel 2: Der Schmerz ---------------------- Ein, zwei Schritte durch das wabernde Tor und ich befand mich plötzlich in einer gänzlich anderen Welt namens Sirant. Die Farben meiner Umgebung waren deutlich blasser als diejenigen, wie ihr sie aus eurer Welt kennt. Allerdings war es hier deutlich farbenfroher als auf eurer Erde. Überall schwirrten kleine Farbkugeln in der Luft, die ihre Färbung regelmäßig wechselten. Auch der Himmel und der Boden hatten eine gänzlich andere Farbstruktur und würden auf euch einen eher verstörenden Eindruck hinterlassen. Doch dies waren Einzelheiten, mit denen ich euch nicht langweilen möchte. Fakt war, dass das Gras nicht grün, sondern rot und der Himmel nicht blau, sondern orange schimmerten. In diesem Moment befand ich mich auf einem kleinen Hügel, nicht weit von einer riesigen Halle, der großen Zentralhalle, entfernt. Dieser Ort war wiederum inmitten einer großen Stadt, die ihr wohl dem Aussehen nach in einem dieser Science-Fiction-Filme erwartet hättet. Aus dem Boden sprossen Türme gen Himmel, sodass man von unten nicht mal mehr das Dach ausmachen konnte. Diese Gebilde waren immer wieder mit einzelnen Überführungen verbunden, sodass man nicht erst ganz nach unten gehen musste, um das Gebäude zu wechseln. Dazwischen flogen und schwirrten in scheinbarem Chaos diverse Schatten umher, ohne sich gegenseitig zu treffen. Verrückt, nicht wahr? Ich sagte ja, es war ein Aussehen, wie ihr ihn wohl als futuristisch bezeichnen würdet. Noch immer erschöpft durch die Wunde schleppte ich mich zur Halle, die sich in einem der besagten Türme befand. Die Kapuze hatte ich vom Kopf gezogen und Knacks saß wieder auf seinem Lieblingsplatz. Von dort hörte ich in regelmäßigen Abständen ein besorgtes Klappern und ein „Uhh uhh... uhh“. Er wusste nur zu gut, dass ich verletzt war und dies verwirrte ihn mindestens ebenso sehr wie mich. Schließlich war dies das erste Mal meiner gesamten Existenz, dass ich verletzt geworden bin. Das Gefühl des Schmerzes war also etwas gänzlich Neues für mich. Müde schritt ich durch das Tor und blickte mich um. Wie erwartet, befanden sich dort meine, sagen wir mal, „Kollegen“ und eilten von einem Ort zum anderen. Wer meine Kollegen waren, fragt ihr euch? Nun, dies war ziemlich leicht zu beantworten. Ihr versteht sicherlich, dass es nicht nur mich, „den Tod“, geben kann, oder? Genau, es gibt auch „das Leben“, „das Glück“, „den Erfolg“, „die Trauer“ und was-weiß-ich-noch-alles für Zustände, wie ihr sie kennt. Und eben diese und noch viele, viele mehr waren meine Kollegen. Sie kümmerten sich ebenso um die Lebewesen eurer Welt wie ich, nur oblag mir als Einziger die Ehre, unter euch zu weilen und zu wandeln. Demnach besaß nur ich die Fähigkeit, zwischen diesen beiden Welten zu wechseln. Alle anderen blieben hier und steuerten die Geschicke von hier aus der Ferne. Doch es gab hier auch niedere Wesen wie Kobolde, die sich um diverse kleine Aufgaben kümmerten, wie das Protokollieren oder einfach nur Botengänge übernahmen. Es waren nicht gerade angenehme Gesellen, was ihrer überaus schlechten Laune zuzuschreiben war, die sie ständig an den Tag legten. Und, falls man doch mal einen netten Kobold traf, so hatte dieser nichts Gutes im Sinn. Ein Kobold war nicht gerade groß, in etwa – an eurer Menschengröße gemessen – kniegroß. Sie hatten unterschiedliche Hautfarben, doch sie alle besaßen am ganzen Körper hässliche Warzen und hatten überdimensionale Ohren. Ein Wunder, dass die Wächter solche Scheußlichkeiten unter uns wandeln ließen. Vorsichtig und angestrengt darauf bedacht, die Wunde nicht noch mehr aufzureißen, ging ich zu einem großen Stuhl, der am Rande der Halle stand, und ließ mich darauf nieder. Mein Blick wanderte ziellos umher. Eigentlich sollte ich weiter gehen und sofort Bericht erstatten, allerdings verspürte ich nicht gerade Lust dazu und ich wollte mich noch ein wenig ausruhen. Somit blieb ich noch sitzen und betrachtete all die Wesen, die in dieser Halle ein- und ausgingen. Diese waren recht schwer in euren Worten zu beschreiben. Die meisten hatten eine menschliche oder gar tierische Gestalt gewählt, die sich aber dennoch deutlich von einem normalen Aussehen unterschieden. Es gab auch ein paar wenige, die nur als Schemen oder blasse Wolken umher wanderten. Schwer seufzend nahm ich meine Doppelsensen vom Rücken und legte sie neben meinem Stuhl. Ich lehnte mich zurück und hob die Hand nach oben. Augenblicklich drückte der kleine Kauz seinen flauschigen Kopf in meine Handfläche und gurrte leise. Lächelnd kraulte ich die Federn hinter seinen Öhrchen. Ja, Knacks war einer der wenigen, die zu mir hielten. Auf ihn konnte ich mich verlassen, egal, was passierte! Auch, wenn er ein recht chaotischer Kauz war. Ein weiterer Seufzer ließ mich aufhorchen. Dieser war nicht aus meinem Mund gekommen. Ich wandte meinen Kopf nach rechts und musste kurz auflachen. „Hallo Soku. Lange nicht mehr gesehen, alter Freund!“, sagte ich und klopfte dem neben mir auf die Schulter. Dieser lächelte und antwortete mit ruhiger und leiser Stimme: „Oh ja, Zero, in der Tat. Hast dich lange nicht mehr hier blicken lassen, du Weltenwanderer.“ Soku wandte sich an Knacks und streichelte ihm über den Kopf. Er war neben mir der Einzige, den der Kauz an sich heran ließ. Jedem anderen würde er in die Hand zwicken, doch bei Soku klapperte er zufrieden mit dem Schnabel und schloss genüsslich die Augen. „Ach, wenn du wüsstest“, antwortete ich und blickte Soku nun direkt an. Neben mir war er wohl derjenige, der am menschlichsten in dieser Welt aussah. Außerdem konnte man auf dem ersten Blick sofort erkennen, dass er äußerlich das genaue Gegenteil von mir war. Er trug einen schlichten Anzug aus strahlendem Weiß. Seine Haare waren weißlich blond und seine Haut besaß eine gesunde Farbe. Soku sah einfach wie das pure Leben aus. Genau genommen absolut passend, denn Soku war schließlich „das Leben“, mein Gegenpart. Sicherlich fragt ihr euch jetzt, wie ich, der Tod, mit Soku so gut zurechtkam. Nun, sagen wir es so: Zwar nahm ich euch Lebewesen der irdischen Welt das Leben und führe es in die unsere, doch ihr dürft nicht denken, dass ich aus purer Lust, euer Leben auszuhauchen, handelte. Oh nein, ganz im Gegenteil. Es gab keinen anderen, der das Leben so sehr achtete wie ich. Und demnach achtete ich auch Soku. Soku wiederum wusste, dass er auf mich angewiesen war, denn ohne den Tod würdet auch ihr Lebewesen das Leben nicht achten. Und aus dieser Achtung zog Soku seine Kraft. Man könnte fast sagen, Soku und ich können ohne den anderen gar nicht sein. Wir waren verbunden wie Licht und Schatten, Schwarz und Weiß, Existenz und Nichts. Soku war auch derjenige, der euch Menschen die Engel zuwies, damit sie über euer Leben wachten und ihm Bericht erstatteten. Demnach wurde ab und zu einer seiner Untergebenen mein Feind, doch das nahm mir Soku nicht übel, denn er wusste, dass ich eine Pflicht zu erfüllen hatte, die seine Engel manchmal nicht verstanden. Er ging sogar so weit, zu behaupten, dass es gut sei, wenn jemand seine Leute hin und wieder zurechtwies, denn er selbst konnte es ja nicht tun, da die Engel auf der irdischen Welt blieben und nicht zu uns gelangen konnten. Vom Ton meiner Antwort verwirrt, blickte auch Soku in meine leer wirkenden, schwarzen Augen und ließ anschließend den Blick an mir herunter wandern. Der weiße Verband und das Blut, das noch immer an meinem Umhang klebte, sprachen wohl für sich. „Eine Wunde? Du hast dich verletzt? Aber wie konnte das sein?“, rutschte es Soku heraus. Seine Stimme war nun nicht mehr so ruhig und beherrscht wie eben. Nun war es wieder an mir, zu seufzen. „Glaub mir, wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen, mein Freund. Ich und auch Knacks sind ebenso sehr verwirrt und überrumpelt wie du. Aber eines weiß ich ganz sicher: Es tut verdammt weh!“ Soku sprach kein weiteres Wort, sondern hob langsam die Hand und legte sie vorsichtig an meine Schulter. Zuerst zuckte ich zurück, als erneuter Schmerz meinen Körper durchflutete, doch dann ließ ich meinen Freund doch die Wunde berühren. Sanftes weißes Licht quoll unter der Handfläche des Lebens hervor. Sofort durchflutete meinen sonst so kalten Körper Wärme, die meiner Wunde offenbar gut tat. Nach einer Weile nahm Soku die Hand wieder runter und schaute sich kritisch sein Werk an. „Nun, leider konnte ich nicht viel ausrichten, da du wohl mein Gegenpart bist und ich kaum Einfluss auf dich habe. Aber ich konnte wenigstens die Blutung stoppen und die Schmerzen etwas lindern. Pass aber dennoch auf, dass die Wunde nicht wieder aufreißt!“, meinte er und lächelte schwach. Man konnte ihm ansehen, dass es ihm leidtat, nicht mehr für mich tun zu können. Doch ich war schon wegen dieser kleinen Tat unendlich dankbar. „Das macht nichts, Soku. Vielen Dank hierfür!“, antwortete ich und stand langsam auf. Knacks auf meinem Kopf protestierte, blieb aber eisern sitzen. „Ich muss nun weiter, Bericht erstatten!“ Man konnte offenbar meiner Stimme anhören, wie wenig Begeisterung ich hierfür verspürte, denn Soku lachte kurz auf. Er wusste genau, was auf mich zukam. „Na, dann wünsche ich dir mal viel Glück bei deinem Vorhaben! Denn das wirst du wohl brauchen. Ich für meinen Teil muss nun auch weiter. Es gibt wie immer viel zu tun für mich“, meinte Soku neckend und stand nun ebenfalls auf. Wir beide verabschiedeten uns mit einem Handschlag – natürlich mit den linken Händen aufgrund meiner Verletzung – und gingen nun wieder eigene Wege. Mein Weg führte mich tiefer in die Halle, auf das andere Ende zu. Vorbei an meinen anderen hunderten Kollegen steuerte ich den größten Gang an, der aus der Halle führte. Dieser Gang war – anders als die restlichen – absolut leer und, sobald ich einen Schritt hinein machte, umgab mich eine drückende Stille. Zwar konnte ich das geschäftige Treiben in der Halle noch hören, doch die Geräusche waren gedämmt, als würde eine Watteschicht zwischen ihr und mir liegen. Unbeirrt ging ich weiter den weißen Gang entlang. Er war schmucklos, nicht ein einziges Bild, Fenster oder gar eine Säule waren zu sehen. Nein, er war einfach nur kahl. Das einzig Farbliche waren die blutroten Fliesen auf dem Boden, die sich mit weißen abwechselten. Dieser Gang führte zu einem Teil des Gebäudes, der sich hauptsächlich mit meiner Arbeit befasste. Die dort arbeitenden Wesen kümmerten sich um die Verwaltung der einkehrenden Toten und überreichten mir die Aufträge, die die Wächter für mich hatten. Ihr mögt vielleicht denken, dass ich wohl der Chef von dieser Abteilung war, doch dem war nicht so. Ich hatte auch eine Art untergeordnete Rolle und musste nur Aufgaben erledigen. Befehle an andere waren da kaum beinhaltet. Ich weiß, es mochte für euch sehr abstrakt wirken, aber auch der Tod unterlag gewissen Regeln. Eure Todeszeitpunkte und –ursachen waren normalerweise strickt festgelegt und wurden durch meine Macht eingehalten. Und, falls mal doch was schief laufen sollte, so bin ich da und werde euch persönlich besuchen. Endlich war ich am Ende des Ganges angelangt, der in einen ebenso kahlen Raum führte, in dem ein einziger Schreibtisch stand. Hinter diesem Schreibtisch saß eine alte Kobolddame namens Härla, deren grünliches Gesicht von Falten übersät war. Obwohl ein Kobold an sich schon hässlich war, war dieses Exemplar besonders scheußlich. Was sagt ihr da? Ich sollte nicht so gemein zu dieser grässlichen Schrulle sein? Na, wartet es einfach nur ab. Als ich an den Schreibtisch trat, beachtete mich die Kobolddame überhaupt nicht. Erst, als ich das dritte Mal ein Räuspern von mir gab, sah sie zu mir auf. „Ah, ist denn unser blasser Trottel auch wieder eingekehrt? Ich dachte, du könntest diesen Auftrag schneller erledigen. Was ist nur aus dem guten, alten Tod von früher geworden? Wirst du etwa müde auf deine alten Tage?“, richtete sie das Wort an mich. Unbewusst ballte ich meine Faust. Ja, das waren die üblichen Begrüßungsworte, die sie an mich richtete. Seid ihr immer noch davon überzeugt, dass ich mich ihr gegenüber unfair ausgedrückt habe? Diesem überaus netten Kobold? Nein? Dann waren wir ja einer Meinung. Wütend über diese Unhöflichkeit wollte ich schon zu einer Antwort ansetzen, doch sie unterbrach mich. „Los und beeil dich! Falru wartet schon ungeduldig auf deinen Bericht, damit er ihn den Wächtern vorlegen kann!“ Sie wies auf eine weiße Tür, die man aufgrund der ebenso weißen Wände auf den ersten Blick nicht sah. Am liebsten wollte ich über den Tisch springen und sie mit meinen Sensen einen Kopf kürzer machen, doch das würde mich in weitaus mehr Probleme verstricken, als dass es sie löste. Demnach wandte ich mich ohne eine Antwort um und schritt durch die Tür. Wie erwartet befand sich dort ein weiterer Schreibtisch. Hinter diesem saß Falru, der Protokollant, und wartete schon eifrig auf meinen Bericht. Man konnte es kaum glauben, aber Falru war so ziemlich der einzige Kobold, der annähernd nett war. „Ah, guten Tag Zero! Setzen Sie sich, setzen Sie sich und berichten Sie mir von Ihrem Ausflug“, war die wesentlich nettere Begrüßung an mich. Ich setzte mich auf einen Stuhl, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand und begann mit meinem Bericht. Natürlich erzählte ich Falru alle Kleinigkeiten von dem Vorfall mit dem verrückten Mann. Was er gesagt hatte, welche Regungen er gezeigt hatte, wie ich ihn zur Strecke brachte und in unsere Welt übergeführt hatte. Nur meine Verletzung erwähnte ich nicht. Dies wollte ich vorerst für mich behalten. Falru schrieb alles, ohne eine Regung zu zeigen, auf. Die Spitze seiner Schreibfeder flog geradezu über das Papier. Im Grunde fand ich diese ständigen Berichterstattungen abgrundtief langweilig. Ich konnte einfach nicht nachvollziehen, wieso es so wichtig war, genau zu wissen, wie ich meine Opfer zur Strecke brachte. Aber das musste leider so sein – Anweisung von ganz oben – und somit konnte ich nichts dagegen machen. Um mir die Zeit etwas zu vertreiben, spielte ich mit Schattenpartikeln und kleinen schwarzen Flämmchen herum, die ich erschuf und wieder zu Staub zerfallen ließ. Knacks beobachtete mich fasziniert und klapperte aufgeregt mit dem Schnabel. Ich musste grinsen. Es gab nach all diesen Jahrtausenden immer noch Dinge, die diesen alten zerzausten Kauz beeindruckten. Plötzlich zuckte sein Kopf vor und er versuchte, ein Schattenpartikel aus meiner Hand zu schnappen, welches ich sofort wieder verschwinden ließ. Verwirrt blickte mein kleiner Freund um sich und gurrte auf. Nun musste ich ein Lachen unterdrücken. Er würde wohl nie erwachsen werden. Als er bemerkte, dass sein Spielzeug verschwunden war, ließ er missbilligend sein Genick knacksen und flatterte aufgeplustert mit den Flügeln. Ein strenges Räuspern ließ mich wieder aufblicken. Falru hatte uns beide beobachtet und wartete nun auf eine Antwort. „Oh, entschuldige, was war die Frage noch einmal?“, sagte ich etwas überstürzt und richtete mich erschrocken auf. „Ich habe gefragt, ob Sie noch etwas hinzufügen möchten oder mit ihrem Bericht nun zu Ende seien.“ „Achso, also ich bin am Ende und habe nichts mehr zuzufügen. Sie können ihn nun den Wächtern zukommen lassen“, meinte ich mit nun festerer Stimme. „Alles klar, dann können Sie sich nun entschuldigen und sich zurückziehen. Falls ein neuer Auftrag reinkommt, werden wir Sie so schnell wie möglich in Kenntnis setzen.“ Erleichtert stand ich auf und stieß ein Seufzen aus. Endlich konnte ich nach Hause gehen! Ich war ohnehin schon geschwächt genug von der Wunde, da konnte ich etwas Ruhe auf alle Fälle gut gebrauchen. Langsam schleppte ich mich nach draußen. Härla, die mir einen missbilligenden Blick zuwarf, ignorierte ich. Sogar, als sie einen Kommentar murmelte, das wie „Dieser Trottel saut den ganzen Boden ein!“ klang, blieb ich gleichgültig und ging weiter den Gang zurück zur großen Halle. Knacks auf meinem Kopf wurde immer beunruhigter, zumal mein Gang zunehmend schleppender wurde und ich nun sogar meinen Oberkörper vor Schwäche krümmte. Kurz blieb ich an einer Ecke stehen und atmete tief durch. Ich musste Kraft schöpfen, bevor ich in die Menge tauchte, die die Zentralhalle füllte. Was war nur mit mir los? Konnte eine Wunde jemanden so sehr Schwächen? Ich fühlte mich, als hätte von meinem Stuhl im Büro von Falru bis hierher einen Marsch hinter mich gebracht, der Ewigkeiten gedauert hatte. Knacks beugte sich nach vorne und starrte mir ins Gesicht. „Huhu? Huuuuhuuuhuuuhu!! Huhu....hu!!!“ „Schon gut, Kleiner. Mir geht es gut. Wir zwei müssen nur schnell nach Hause, dann kann ich mich dort ausruhen. Das wird schon wieder, mach du dir da mal keine Sorgen“, versuchte ich, meinen Freund zu beruhigen, und kraulte ihn mit der linken Hand zwischen den Ohren. Doch dies schien Knacks nicht sonderlich ruhig zu stellen. Unruhig flatterte er von meinem Kopf und schwirrte um mich herum. „Hu! Huuuuuu!!“, war seine Antwort und er stupste mich leicht und vorsichtig an der linken Schulter an, ehe er sich dort wieder nieder ließ. Ich wusste, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als mir zu helfen. Seinen gelben Augen war anzusehen, dass er sich am liebsten verwandeln und mich tragen würde. Doch neuerdings hatte er Probleme damit, die Gestalt zu wechseln. Ich wusste nicht, wieso, aber es gelang ihm momentan nur dann, wenn er sehr aufgebracht und wütend war. Zu früheren Zeiten konnte er sich aber problemlos jederzeit verwandeln. Ihr fragt euch, in was er sich verwandelte? Nun, das war eine Information, die ich nicht vorneweg nehmen wollte. Ihr werdet es sicherlich noch früh genug erfahren. Aber eines konnte ich euch versichern: Knacks sah in seiner anderen Gestalt wesentlich furchteinflößender und größer aus, als es jetzt der Fall war. Schwach lächelte ich noch einmal und wagte nun meine ersten Schritte in die Halle. Es war noch immer ein ganz neues Gefühl für mich, so schwach zu sein. Ja, ich musste sogar zugeben, dass mich das ziemlich beunruhigte. Immer wieder schwirrte in meinem Kopf die Frage, was mich nur so verletzten konnte. Normalerweise konnte mir kein Gegenstand, keine Waffe und nicht einmal eine Krankheit, die auf der Erde und hier in dieser Welt zu finden war, etwas anhaben. Also, was war das? Wisst ihr etwas? Nein? Nun, das hatte ich erwartet. Auch, wenn ich ziemlich durcheinander war, so versuchte ich, mir möglichst wenig anmerken zu lassen. Mir gelang dies zwar nicht komplett, aber immerhin so, dass es keiner der anderen - sehr beschäftigten - Wesen in der Halle bemerkte. Nur Knacks konnte ich nichts vorspielen. Nichtsdestotrotz zwang ich mich zu einem schwachen Lächeln und machte die ersten Schritte hinaus in die Zentralhalle. Noch immer durchstieß mich ein stechender Schmerz, als würde mich etwas von innen zerreißen wollen. Etwas wankend wagte ich mich in die Menge. Zum Glück stieß mich keiner an, denn sonst hätte ich nicht garantieren können, dass ich das Gleichgewicht nicht verloren hätte. Zu diesem Glück trug Knacks erheblich bei, denn ich konnte aus dem Augenwinkel heraus sehen, wie er jeden, der mir zu nahe kam, äußerst böse ansah. Das lag zum einen darin begründet, dass es mir nicht gut ging und zum anderen, dass er eine Art Beschützerinstinkt für mich entwickelt hatte. Nach einer Ewigkeit, so schien es mir, erreichte ich das große Tor. Erleichterung durchflutete mich und ich atmete – so gut es mir möglich war – tief durch. „Siehst du, Knacks, den schwierigsten Teil haben – “, ich unterbrach mich, denn plötzlich durchzuckte mich eine erneute Schmerzwelle. Diese war heftiger als alle anderen zuvor. Sogar so heftig, dass ich erschrocken nach Luft schnappte und ein Stöhnen ausstieß. Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, dass sich alles um mich herum drehte. Mein Sichtfeld wurde trüb und mir wurde schlecht. Hilfesuchend wollte ich meine linke Hand nach der Wand ausstrecken, doch ich erreichte sie nicht. Als ich einen weiteren Schritt versuchte, zog es mir geradezu den Boden weg. Ich fiel und plötzlich wurde mir Schwarz vor Augen. Das Einzige, das ich noch wahrnahm, war das verzweifelte und erschrockene Kreischen von Knacks. Dann legte sich Dunkelheit über mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)